Kapitel 7

Nola war mit den Polen in einem Starbucks in der Nähe des Savoy verabredet, aber als Nola nach der Arbeit zu dem Treffen kam, war nur die Frau da. Antonia Tworeka trank einen Cappuccino und leckte sich Milchschaum von der Oberlippe. Sie umarmte Nola und küsste sie zur Begrüßung auf beide Wangen, als wären sie beste Freundinnen

»Wo ist dein Bruder?« Nola wusste nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert über seine Abwesenheit sein sollte. Sie hatte während der letzten Stunde ihrer Schicht beinahe ununterbrochen an diesen intensiven Blick aus seinen blauen Augen gedacht.

»Oh, der lässt sich entschuldigen. Er tut, was unsereiner so tut.« Die Polin zog Nola neben sich auf einen Sessel und bestellte für sie auch einen Cappuccino.

»Was wäre das?«

»Er geht Hinweisen nach, spürt Werwölfe auf. Erst die Sache in dem Nachtclub, und dann stand heute in der Zeitung auch noch was von einem Mord, bei dem nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein soll. Das überprüft Pawel.«

»Und du hilfst ihm nicht dabei?«

»Bei so was bin ich ungefähr so nützlich wie ein Elefant im Porzellanladen. Meine Spezialität ist die Jagd, das Zupacken, der Kampf.« Antonia lachte, trank den letzten Schluck Kaffee und stibitzte dann den Keks von Nolas Untertasse. »Lass uns einkaufen gehen! Zeig mir die richtig edlen angesagten Boutiquen Londons.«

»Edel« und »angesagt« war nicht unbedingt dasselbe in London, und Nola hatte eigentlich keine große Lust, einkaufen zu gehen. Nach ihrer Schicht und der letzten Nacht fühle sie sich ausgelaugt.

Nachdem sie ihren Cappuccino ausgetrunken hatte, erfüllte sie der Polin widerwillig ihren Wunsch. Sie entschied sich für »edel« und bummelte mit Antonia durch die High Street in Kensington und anschließend durch das nicht weniger edle Knightsbridge. Ihr taten die Füße weh, sie hatte Durst und in ihrem Portemonnaie klaffte bald eine riesige Lücke. Wider Erwarten machten der Bummel und die Gesellschaft Antonias Nola jedoch Spaß. An Nolas Handgelenk baumelte eine Tragetasche, in der sich ein sündhaft teurer Bikini befand. Das meiste Geld hatten an dem Bikini wohl die Teile gekostet, die fehlten, anders ließ sich der Preis für das winzige bisschen Stoff nicht erklären.

Die Polin war mit mehreren Tüten in jeder Hand beladen. Geld schien für sie keine Rolle zu spielen, nicht ein einziges Mal hatte sie auf den Preis geschaut. Sie hatte Schuhe, Kleider und sogar einen Hut erstanden, ein verrücktes Ding mit einem Schleier vor dem Gesicht. Nola fragte sich, wann sie den tragen wollte, er passte höchstens für die Rennen in Ascot.

Im Gegensatz zu Nola wirkte Antonia kein bisschen erschöpft, der Lippenstift saß ebenso perfekt wie ihre Haare. Sie sah aus, als könnte sie durch alle Geschäfte Londons gehen und hätte noch nicht genug.

Antonia kam anschließend mit in Nolas Wohnung. Dort drang sie bis ins Schlafzimmer vor, warf ihre Tüten aufs Bett, schlüpfte aus ihren hochhackigen Sandalen und rieb sich die Fußballen.

Nola nahm neue Unterwäsche aus der Kommode. »Ich gehe duschen.«

Als sie zurückkam, stand Antonia nur mit einem Höschen bekleidet vor der Spiegeltür des Kleiderschranks und hielt sich ein pflaumenfarbenes Kleid an. Sie hatte es für mehrere hundert Pfund in einer Boutique erworben. Bei Nolas Eintritt wirbelte sie herum.

»Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es mir wirklich so gut steht, wie ich im Laden dachte«, sagte sie munter.

»Dir steht alles.«

»Ich weiß nicht. Ist die Farbe nicht - zu lila?« Sie hielt das Kleid Nola an. »Zu deiner Haarfarbe sieht es elegant aus.«

Der Seidenstoff schmiegte sich kühl gegen Nolas Schulter und Bauch. Sie trat einen Schritt zurück.

»Ich finde die Farbe zu dunkel für mich.«

»Probier es mal an!« Die Polin trat hinter sie und hielt ihr das Kleid wieder an. Dabei streifte ihr Atem Nolas Nacken, eine Fingerspitze strich ihren Hals entlang. Gegen ihren Willen wurde Nola von der schönen Frau in den Bann geschlagen.

»Du wirst sehen.« Antonia streichelte ihr Dekollete und ließ das Kleid fallen. Sie stand so dicht hinter Nola, dass diese jede Kontur ihres Körpers spürte.

Nola hielt still, und die andere wurde kühner. Ihre Finger wanderten unter die Träger des Spitzen-BHs und schoben sie von den Schultern. Sie tupfte Küsse auf die sanften Rundungen.

»Pflaumenfarben steht dir«, murmelte Antonia.

Sie ließ ihre Hände über Nolas Brüste gleiten, streifte den BH nach unten und umkreiste die Nippel, bis sie sich aufrichteten. Die Schwüle des Zimmers und die lockende Erotik der Polin brachten Nola dazu, sich von ihren Gefühlen treiben zu lassen. Sie wandte ihren Kopf nach hinten, ihre Lippen fanden Antonias. Zuerst tauschten sie nur spielerische Küsse aus, dann wurden sie mutiger und ihre Zungen berührten sich. Sie streichelten einander und küssten sich, und lagen nicht viel später auf dem Bett zwischen den Einkaufstüten.

Es war anders als mit einem Mann, aber nicht weniger aufregend. Die Polin entdeckte erogene Zonen, von denen Nola bisher nicht einmal gewusst hatte, dass sie sie besaß. Besonders viel Aufmerksamkeit widmete die Polin ihrem Rückgrat; sie leckte, küsste und knabberte von unten nach oben und wieder zurück zum Steißbein. Wie eine kühne Schlange fuhr ihre Zunge in Nolas Pospalte, doch da versteifte sich Nola. Antonia spürte es sofort, und ihre streichelnden Hände beruhigten sie wieder. Mit der Zunge fuhr sie über Nolas Hintern, streichelte die Innenseiten ihrer Oberschenkel - und biss dann auf einmal sanft zu. Nola gab einen überraschten Laut von sich.

Die Polin lachte auf. »Das gefällt dir, nicht wahr? Sanft und wild. Ich werde dich nicht verletzen!«

Das Lecken und Streicheln gefielen ihr besser als die Bisse, aber Nola wusste nicht, wie sie Antonia das sagen sollte, ohne sie zu beleidigen, und sie ließ sich treiben. Bald schwebte sie auf einer Welle der Lust. Die Lippen der Polin näherten sich ihrer Scham, und Nola zitterte in Erwartung der feuchten Zunge in sich. Als es dann endlich so weit war, gab sie einen Laut des Entzückens von sich. Sie wollte die Gefährtin ebenfalls berühren, suchte ihren schlanken Leib und bekam die Schultern zu fassen.

Antonia drehte sich so, dass Nola ihren Po und die Oberschenkel erreichen konnte, dabei stand ihre Zunge keinen Augenblick still. Nola streichelte eine Weile Rücken, Po und Oberschenkel der Polin, dann wurde sie kühner. Ihre Finger glitten über die rasierte Scham, schlüpften in ihre feuchte Wärme. Sie hatte das bisher nur für sich selbst gemacht, doch sie machte es offenbar richtig. Antonias Stöhnen verriet ihr, dass sie genauso erregt war wie Nola selbst. Die geschickte Zunge der Polin trieb sie dem Höhepunkt entgegen, den Nola auf einer Welle der Lust erklomm. Ein Aufstöhnen und einige polnische Worte der Lust zeigten auch Antonias Orgasmus an.

Hinterher lagen sie entspannt und zufrieden nebeneinander.

»Du hast es noch nie mit einer Frau gemacht?«, fragte Antonia träge.

»Nein.«

»Keine Angst, du bist deswegen nicht lesbisch.« »Das weiß ich.« Nola war sich trotzdem nicht sicher, ob sie das Erlebnis so einfach akzeptieren konnte, wie die Polin es offenbar tat. Sie fand keine Worte für ihre Gefühle.

»Du bist auch nicht bi, aber es ist eine besondere Erfahrung. Es ist oft viel zärtlicher und intimer als mit einem Mann, der nur an seinen Schwanz denkt und hinterher wissen will, wie er war. Als ob wir A-und B-Noten verteilen würden! Mit einem Mann ist der Sex härter, und manchmal brauchen wir das eine und manchmal das andere.« Antonia drehte sich auf den Rücken.

»Willst du wissen, wie toll du es mir besorgt hast?« Nola drehte sich ebenfalls um.

Sie lachten beide.

»Freundinnen tun das füreinander, und wir sind doch jetzt Freundinnen, oder?«, erkundigte sich die Polin.

Nola ging auf die Frage nicht ein, stattdessen sagte sie: »Es war schön mit dir.«

»Igors Verlust mag ein Rückschlag sein, aber der Weg ist nun trotzdem frei für uns, mein lieber Maksym«, sagte Antonia später im Wohnzimmer der Suite im Carlton zu ihrem Seelenpartner. Sie gab ihrer Stimme eine sinnliche Färbung, die nur eine Deutung ihrer Worte zuließ.

Der Rudelführer nickte unbestimmt, ein gefährliches Glitzern in den Augen. Im Geiste sah er zwei schlanke Frauen auf einem Bett liegen, die eine schwarzhaarig, die andere blond. Die Dunkle leckte und küsste die Blonde. Er legte eine Hand auf Antonias Hintern, kniff zu.

»Sie war nicht gerade aufregend, deine kleine Nola. Muss noch eine Menge lernen. Prüde Engländerin.«

»Du bist die Richtige, um ihr alles beizubringen. Mach sie dir hörig, dann werden wir sehen, wie die Schotten damit fertig werden.«

»Wenn es um geniale Pläne geht, bist du unschlagbar.«

Nola schaute auf, als der Portier die Tür für einen Gast öffnete und seinen Zylinder lupfte. Der Werwolfjäger Pawel Tworek betrat die Halle. Er trug einen schwarzen Anzug — in etwas anderem hatte sie ihn noch nie gesehen — und sah aus, als herrsche draußen laues Frühlingswetter und nicht 35° C im Schatten. Er zwinkerte ihr zu und setzte sich in eine Nische der Hotelhalle, wo er selbst nicht leicht entdeckt werden konnte, dafür aber alles im Blick hatte.

Seit sie sich vor einigen Tagen erneut mit den Werwolfjägern getroffen und sich deren Schutz anvertraut hatte, konnte sie keinen Schritt mehr allein durch die Londoner Straßen machen. Man hatte ihr eingeschärft, nirgendwo ohne Begleitung hinzugehen und sich mit niemand Unbekanntem zu treffen - Werwölfe konnten überall auf sie lauern. Heute war Tworek persönlich an der Reihe, sie nach der Arbeit nach Hause zu begleiten. Die ganze Situation war ihr unangenehm. Inzwischen bereute sie, dass sie sich Antonia hingegeben hatte. Nicht den Sex an sich - der war aufregend und zärtlich gewesen -, aber die Stellung, die sie der anderen damit in ihrem Leben eingeräumt hatte. Und die Blicke, die Pawel Nola seitdem zuwarf … sie waren lockend, aber Nola fand, es lag auch eine Spur Verachtung in ihren. Gerade seine Verachtung wollte sie aber auf keinen Fall, sie wollte - was .? Sie wusste es nicht.

Nach der Arbeit musste sie zunächst zu New Scotland Yard und ihre Zeugenaussage über den Toten vor ihrer Haustür wiederholen. Maksym Derenski brachte sie hin und bedachte sie mehrmals mit diesem Blick, der ihre Seele streichelte. Deshalb widersprach sie auch nicht, als er hinterher den Vorschlag machte, ins Carlton zu gehen. Er legte ihr eine Hand auf den Rücken, während sie sich nach einem Taxi umsahen. Nola wagte es, die Frage zu stellen, die ihr seit dem ersten Treffen unter den Nägeln brannte: »Welchen Werwolf hast du getötet? Gibt es einen, der bekannt ist?«

Pawel Tworek überlegte. »Das ist nicht einfach zu beantworten. Wir üben unsere Kunst im Verborgenen aus und versuchen, keine Spuren zu hinterlassen. Mord ist nichts, dessen man sich in der Öffentlichkeit rühmt.«

»Aber es sind Bestien.«

»Im Tode nehmen sie ihre menschliche Gestalt an, und damit sieht es aus wie Mord. Wir . aber vielleicht hast du von Rosemarie Nitribitt gehört. Sie war ein Callgirl in Deutschland und starb 1957. Sie wurde ermordet, die Tat gilt bis heute als nicht aufgeklärt. Sie war eine Werwölfin, und mit dem diesen Bestien eigenen Charme nahm sie die Männer reihenweise für sich ein.«

»Du hast sie …?«

»Ich nicht, damals war ich noch nicht einmal geplant. Mein Vater hat sie — beseitigt. Wir vererben unsere Kunst oft in der Familie.«

Nola hatte von dieser Sache nichts gehört. Sie schaute Pawel Tworek von der Seite an und verlor sich wieder in seinen Augen.

Im Carlton führte er sie in eine Suite. Seine Schwester war nicht da.

Der Werwolfjäger zog sein Jackett aus und öffnete den Hemdkragen.

»Endlich sind wir beide allein, und ich kann das mit dir tun, woran ich seit unserem ersten Treffen ununterbrochen denke.« Er kam auf sie zu.

Unter seinem Blick sank Nola in seine Arme, und sein erster Kuss raubte ihr die letzte Willenskraft. Seine Zunge suchte ihre. Seine Hände öffneten den Reißverschluss ihres Kleids am Rücken, hakten ihren BH auf, und dann waren sie überall. Die beiden sanken auf ein breites Loungesofa. Pawel Tworek schlüpfte aus Hose und Hemd, löste dabei seine Lippen nicht ein Mal von ihren. Seine Hände fanden ihre empfindlichsten Stellen, die Innenseiten ihrer Oberschenkel, ihre Nippel, ihre Scham, und entlockten ihr einen Entzückensschrei nach dem anderen.

Sie lag halb unter ihm, als sie noch jemand im Zimmer entdeckte. Eine Gestalt im weißen Hotelbademantel stand neben der Tür. Antonia Tworeka.

»Lasst euch nicht stören. Ich kann euch zuschauen.«

Bevor Nola etwas sagen konnte, traf sie wieder dieser hypnotische Blick von Pawel, und sie verstummte.

»Warum nur zuschauen, komm doch her!«, lockte der Jäger.

Der Bademantel fiel zu Boden, seine Schwester glitt neben sie auf das Sofa und griff nach Nola. In diesem Moment fiel der Zauber seines Blicks von ihr ab. Sie waren zu dritt und sie machten … Sie empfand Abscheu vor sich selbst, vor dem, wozu sie sich beinahe hätte hinreißen lassen.

»Das kann … kann …« Ihr fehlten die Worte. Sie sprang auf, suchte hektisch nach ihrem Kleid, angelte mit den Füßen nach den Sandalen, griff ihre Handtasche.

»Komm schon!« Antonia legte ihr eine Hand auf den Oberschenkel. »Zu dritt ist es fantastisch.«

Nola schüttelte die Hand auf ihrem Oberschenkel ab, raffte ihre Sachen und sprang auf. Weg hier, weg von diesen sonderbaren Menschen!

Sie hastete zur Tür, das Kleid an ihre Brust gepresst, floh aus der Suite.

»Halt sie auf!«, hörte sie Pawel Tworek rufen.

Im Hotelflur rempelte sie einen Mann an, der vor der Suite gestanden hatte, als wollte er gerade eintreten. Er wollte sie festhalten, aber sie entriss ihm ihren Arm wieder, rannte an ihm vorbei und auf die Treppe zu. Dabei zog sie sich das Kleid über den Kopf, zupfte es zurecht und versuchte es am Rücken zu schließen. Sie rannte die Treppe hinunter und durch die Halle aus dem Carlton. Erst, als sie um eine Ecke gebogen und das Hotel außer Sichtweite war, atmete sie auf.

Passanten schlenderten an ihr vorbei, manche warfen ihr Blicke zu, als wüssten sie genau, dass sie auf der Flucht war. Sie strich sich das Haar zurecht und versuchte, sich wieder zu fassen. Ein Taxi kam vorbei, Nola hielt es an, stieg ein und nannte dem Fahrer Violets Adresse.

Hoffentlich ist sie zu Hause, betete Nola während der Taxifahrt. Der Fahrer warf ihr im Rückspiegel forschende Blicke zu, während sie sich notdürftig das Haar richtete, die Riemchen der Sandalen und das Kleid im Nacken schloss.

Bei Violet angekommen, nahm sie den Finger nicht vom Klingelknopf, bis die Tür geöffnet wurde. Sie hastete zwei Treppen hoch und drängte sich an der Freundin vorbei in deren EinZimmer-Apartment.

»Mach die Tür zu, schnell. Und kein Licht!«

»Nola .«

»Mach es einfach!«

Perplex gehorchte Violet. Sie trug Trägerhemd und Boxershorts, schien geradewegs aus dem Bett gekommen zu sein. Nola schaute sich in der Wohnung um und sank schließlich in der Küche auf einen unbequemen Bistrostuhl. Ihre Freundin setzte sich auf den zweiten.

»Willst du mir jetzt sagen, was los ist?«

»Ich muss weg aus London.«

»Die Werwölfe? Hat sich einer gezeigt?«

»Nein.« Nola schüttelte den Kopf. »Pawel Tworek und seine Schwester bewachen mich strenger als die Queen. Ich kann keinen Schritt ohne sie tun. Ich brauche deine Hilfe, ich muss verreisen!«

»Wohin?«

»Je weniger du weißt, desto besser für dich.«

»Nola, Himmel, das klingt nach Flucht.«

»Gib mir ein paar Sachen, Jeans, T-Shirts, was du in London sowieso nicht trägst - und deine Wanderschuhe.«

»Auch Socken, Unterwäsche und so weiter?« Violet hatte ihre Überraschung überwunden, ging ins Schlafzimmer und stellte eine Reisetasche auf das zerwühlte Bett. Sie begann einzupacken, was man für einen Kurztrip nach Wohin-auch-immer brauchte. Die flippige Vi war gern gewandert, bis sie vor einigen Jahren bei »Daily 16« angefangen und keine Zeit mehr gehabt hatte. Die Hosen, Socken, Blusen und Shirts aus dieser Zeit besaß sie noch, diese stopfte sie in die Reisetasche.

»Nimm dir im Bad, was du brauchst«, rief sie Nola zu. »Eine neue Zahnbürste ist im Schrank.«

Nola nahm das Angebot an und packte eine kleine Kulturtasche zusammen. Die legte sie zuoberst in die Reisetasche.

»Ich habe dir auch ein hübsches Kleid eingepackt. Wo du auch hinfährst, das kann Frau immer gebrauchen.«

»Du bist die beste Freundin, die man sich wünschen kann.«

Die beiden Frauen umarmten sich. Die Umarmung brachte die Erinnerung an Antonias Liebkosungen zurück. Beim Gedanken daran hatte Nola einen sauren Geschmack im Mund.

»Jetzt fehlen noch die Wanderstiefel, aber wo die sind?« Violet bückte sich und verschwand mit dem Oberkörper in den Tiefen ihres Kleiderschranks.

Nola setzte sich aufs Bett und spürte, wie sie ruhiger wurde, jetzt wo die Entscheidung gefallen und sie praktisch schon auf dem Weg war. Vor Werwölfen hatte sie jedenfalls keine Angst, denn unheimlicher als diese Werwolfjäger konnte kein Werwolf sein.

»Hier sind sie.« Violet tauchte wieder auf und hielt staubige Stiefel in der Hand.

Nola zog sie an, ihre Sandalen stopfte sie in die Reisetasche. Wanderstiefel zum Sommerkleid - sie musste einen merkwürdigen Anblick bieten. Ihre Füße wurden sofort heiß.

»Rufst du mir ein Taxi?«, bat sie.

»Kommt nicht infrage. Ich fahre dich. Zum Bahnhof, zum Flughafen, wohin du willst«, fügte Violet hinzu. »Ich werde nicht versuchen, herauszufinden, wohin du unterwegs bist. Ich schwöre.« Sie hob zwei Finger.

»Victoria Station«, gab Nola nach.

»Brauchst du noch was? Geld zum Beispiel?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es wird hoffentlich nicht für lange sein, und ich habe das Geld, das ich für meinen Urlaub gespart habe. Ruf mich nicht an, ich schalte das Mobiltelefon aus. Wenn es geht, melde ich mich bei dir.«

Auf dem Bahnhof wartete Nola auf einen Zug nach York, von dort gab es einen Anschluss nach Edinburgh. Während des Wartens schaute sie sich immer wieder um, musterte die anderen Reisenden. Von den Tworeks Gott sei Dank keine Spur. Dennoch hämmerte ihr Herz so laut, dass es in ihren Ohren dröhnte. Sie hielt es nicht lange im Wartebereich aus, stattdessen schlenderte sie durch die Ladenzeile, ohne die Geschäfte richtig wahrzunehmen. Es war nach Mitternacht, trotzdem herrschte auf dem Bahnhof so viel Betrieb wie andernorts zur Hauptverkehrszeit. London schlief nie, und das galt auch für seine Bahnhöfe. Immer wieder blickte sie um sich, voller Angst, dass die Tworeks sie womöglich doch noch aufstöberten und ihr Fluchtversuch scheiterte.

Nola stieg als eine der Ersten in den Zug nach York. Sie suchte sich ein leeres Abteil, wuchtete die Reisetasche auf die Gepäckablage und setzte sich ans Fenster. Als der Zug abfuhr, blieb sie allein im Abteil.

Das Geräusch der rollenden Räder schläferte sie ein. Die Füße hatte sie auf den gegenüberliegenden Sitz gelegt, ihr Kopf sank nach vorn. Der Wagen ratterte über eine Weiche, und sie schreckte hoch. War ihre Eingebung, nach Schottland zu fahren, richtig, oder hätte sie lieber in die Türkei fliegen sollen? Oder vielleicht in London bleiben und die Tworeks aus ihrem Leben verbannen sollen? Aber wie? Diesem Pärchen war sie nicht gewachsen. Oft hatte sie sich ein aufregenderes Leben gewünscht, als tagein und tagaus zwischen ihrer Wohnung und dem Savoy hin-und herzupendeln. Doch jetzt, wo ihr Leben Aufregung in Hülle und Fülle bot, würde sie alles darum geben, zu wissen, was die nächsten Tage bringen würden. Die Erschöpfung übermannte sie, erneut sank ihr Kopf nach vorn.

Sie begegnete Rhodry am Ufer eines Sees. Er saß im Gras und wartete. Sie näherte sich ihm von hinten, wollte ihn überraschen, doch kurz bevor sie ihn erreichte, drehte er sich um. Er sprang auf und umarmte sie.

»Prinzessin«, flüsterte er in ihr Haar. »Ich habe so lange auf dich gewartet.

Sie lagen nebeneinander im Gras, er streichelte sie mit Blicken. Sie genoss es, begehrt zu werden, atmete schneller, als er ihr über die Wange strich und den Finger im Ausschnitt ihres Kleids verschwinden ließ. Die zarte Haut ihres Dekolletes prickelte. Sacht malte er mit dem Fingernagel ein Muster auf ihre Haut, spielte auf ihr eine geheime Melodie, die nur sie hören konnten. Dann lagen sie nackt am Seeufer, ihre Kleidung wehte ihm Wind davon. Nola öffnete sich ihm mit allen Sinnen und fand vollkommene Erfüllung.

Kurz bevor der Zug in York einfuhr, wachte sie auf. Sie rieb sich die Augen, reckte die steifen Glieder und entdeckte einen langen

Kratzer an der Innenseite ihres linken Oberschenkels sowie einen weiteren auf ihrer linken Brust. Diesmal war sie nicht erschrocken.

»Ich komme, Rhodry, ich komme«, flüsterte sie. Und tatsächlich hatte sie das Gefühl, er antwortete ihr, indem er sehnsüchtig ihren Namen rief.