Kapitel 11

Der Raum wurde durch Fackeln erhellt. Er befand sich im ältesten Teil der Burg, wo bei einem christlichen Grafen die Hauskapelle gewesen wäre. Die Wände waren unverputzt, der Boden aus roh gebrannten Ziegeln, und das Deckengewölbe wurde von sechs Säulen getragen. Die auf Shavick Castle lebenden Werwölfe des Schottlandclans, etwa vierzig an der Zahl, hatten sich hier versammelt. Die meisten trugen schwarze Kleidung, einige graue und dunkelblaue Jacken. Die Frauen kleideten sich entgegen der herrschenden Mode ebenfalls in gedeckten Farben, verzichteten auf die modisch hoch angesetzte Taille. Sogar weit ausladende Reifröcke und turmhohe Frisuren waren zu sehen.

Die Werwölfe standen in Gruppen zusammen, lehnten an Säulen und unterhielten sich. Spannung lag greifbar in der Luft.

Eugene stand in der Tür und beobachtete sie. Sie hatten alle gehört, dass ihr Rudelführer wieder unter ihnen weilte, gerüchteweise hatten sie sicher auch von einer Seelenpartnerin gehört. Alle warteten auf ihn — Rhodry hatte ein Talent für große Auftritte und den richtigen Augenblick.

Endlich kam er. Eugene hörte ihn zwar nicht, spürte ihn sich aber nähern und gab die Tür frei. Rhodry Monroes Auftritt wurde wahrlich großartig. Er trug silberfarbene Kniebundhosen, ein weißes Hemd und ein zu einem Wasserfall gebundenes Halstuch. Die schwarze Weste und der gleichfarbige Rock waren mit silbrigen Fäden bestickt, Blüten und Ranken ergossen sich wie im Mondlicht über den Stoff. Es war eine Balltoilette, und der Alpha der Schottlandwerwölfe war einer der wenigen, die es wagten, Silber zu tragen.

Alle Gespräche verstummten, als Rhodry den Raum betrat. Er schob sich durch die Menge wie ein Boot durch die Wellen, klopfte hier eine Schulter, tätschelte dort eine Wange. Er war der geborene Alphawolf. Nachdem er jeden begrüßt hatte, stellte er sich auf eine Empore, wo wahrscheinlich früher die Priester gepredigt hatten. Alle Gesichter wandten sich ihm zu.

»Freunde, Mitglieder des Schottlandrudels, ich bin wieder unter euch. Ich bin befreit worden und zurückgekommen von einem Ort außerhalb der Zeit. Derenski und das Krakauer Rudel werden für das bezahlen, was sie mir und damit auch euch angetan haben.«

Bei der Erwähnung des Polen bleckten die Werwölfe die Zähne. Mit einem Wink brachte Rhodry sie zum Verstummen.

»Unsere Rache wird schnell und gnadenlos über sie kommen. Ihre Tage sind gezählt, aber wir gehen überlegt vor. Das Schottlandrudel lässt sich nicht vom Hass regieren, das ist unsere Stärke, und damit werden wir Derenski zwingen, uns seine Kehle zu zeigen.«

Zustimmung brandete auf, und Rhodry wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war. »Ich habe meine Seelenpartnerin gefunden — sie ist diejenige, die mich zurückgeholt hat. Sie ist eine Menschenfrau und an unsere Art nicht gewöhnt. Einige haben sie schon gesehen oder von ihr gehört, Eleonore McDullen. Ihr wird kein Haar gekrümmt, und sie wird mit dem gleichen Respekt behandelt wie ich.«

Diesmal unterbrach ihn lauter Beifall. Seinen Seelenpartner zu finden, bedeutete für einen Werwolf das größte Glück. In den Beifall mischte sich aber auch Wehmut, weil die Seelenpartnerin eine Menschenfrau und damit sterblich war. Sie konnte Rhodry nur für die Dauer eines Menschenlebens begleiten, und er wäre für den Rest seines Daseins allein, denn einen Seelenpartner konnte ein Werwolf nur einmal finden. Die Menschin müsste sich zum Werwolf wandeln lassen, um ihn für immer zu begleiten; zu diesem Schritt entschieden sich aber nur wenige Menschen.

Wieder wartete Rhodry, bis der Beifall verebbte. »Wir werden sie willkommen heißen und dazu einen Ball veranstalten. Ich habe bereits Einladungen an die Mitglieder unseres Rudels gesandt, die nicht auf Shavick Castle oder in der Nähe leben. Es sollen alle dabei sein.«

Dieses Mal brandete wahrer Jubel auf. Ein Ball war nach dem Geschmack der Werwölfe. Bei dieser Gelegenheit könnten sie die Menschenfrau kennenlernen — sie brannten darauf.

»Außerdem«, verschaffte Rhodry sich Gehör, »müssen wir uns um Derenski kümmern. Wir müssen ihn wissen lassen, dass ich wieder das Rudel anführe. Das wird ihn herlocken.«

»Ich übernehme das,« meldete sich ein Werwolf namens Malcolm. Niemand fragte, was er vorhatte, und er sagte auch nichts weiter dazu. Rhodry vertraute ihm.

Seine Gedanken waren schon wieder bei Nola. Sie musste geschützt werden. Derenski durfte sie nicht in die Finger kriegen. Er sehnte sich danach, sie zu sehen, sie zu berühren. Am liebsten würde er in ihr Zimmer stürmen, ihre Lust wecken, und sie lieben, bis sie ihn anflehte, sie zur Werwölfin zu machen.

Eugene blickte in seine Richtung, und ihre Blicke trafen sich. Am Schmunzeln des Freundes erkannte Rhodry, dass er die Richtung seiner Gedanken erraten hatte. Früher hätte der Earl sich geärgert, dass er so leicht zu durchschauen war, aber heute war er gelassen. Es hieß nicht umsonst, dass ein Seelenpartner einen Werwolf sanfter machte, ihn mehr an den anderen als an sich selbst denken ließ. Es musste wohl stimmen, denn er dachte schon wieder an Nola. Diesmal waren seine Gedanken nicht ganz so angenehm, denn sie würde es wohl nicht dulden, dass er heute Nacht zu ihr kam. Ihre erste Begegnung war nicht sehr glücklich verlaufen, und er wusste noch keinen Weg, wie er ihr Herz gewinnen konnte. Dass es ihm gelingen würde, daran hatte er keinen Zweifel, schließlich war sie seine Seelenpartnerin.

Rhodry löste die Versammlung auf. Ein paar Werwölfe drängten sich nach vorn, um noch einige Worte mit ihm zu wechseln, die meisten strebten dem Ausgang zu. Er verließ als letzter den Raum, ging jedoch nicht zu Nolas Zimmer, sondern in seine eigenen Gemächer.

Nola hielt ihre Bluse hoch, schaute sie erst von vorn an, drehte sie dann um. Sie war weiß gewesen, als sie bei Ms. Burdens Bed & Breakfast losgewandert war, jetzt war sie am Kragen schmutzig und unter den Armen durchgeschwitzt, außerdem war sie für die Jahreszeit zu dünn. Neben der Bluse besaß sie nur noch das Nachthemd, in dem sie vorgestern Morgen aufgewacht war. Dalton hatte recht gehabt, als er gestern in der vorsichtigen Art eines Butlers ihre Kleidung bemängelt hatte. Mit der schmutzigen Bluse und in Jeans konnte sie das Zimmer nicht mehr verlassen. Was war da zu tun? Sie konnte schließlich nicht zum nächsten Geldautomaten gehen und etwas von ihrem Konto abheben, um sich Klamotten zu kaufen. Auf einem einsamen Landsitz im Schottland des 19. Jahrhunderts gab es ohnehin keinen Laden, in dem man eine Jeans und einen Pullover kaufen konnte. Und überdies gab es auch keinen Strom, keinen Fernseher, keine Autos, natürlich auch keine U-Bahn, Frauen durften nicht studieren, sondern mussten ihren Männern gehorchen. Es gab nichts von dem, was ihre Zeit ausmachte. Kannten die Leute überhaupt Banknoten, oder schleppten sie beutelweise Münzen mit sich herum?

Ihre Fragen blieben ohne Antwort, dafür klopfte es an der Tür. Dalton kam herein, seine Tochter folgte ihm. Sie trug über dem linken Arm ein Kleid, es war aus einem blassblauen, fließenden Stoff.

»Ich bringe Ihnen ein Kleid, Mylady, Meine Tochter wird Euch beim Ankleiden helfen. Gebt der Schneiderin noch ein oder zwei

Tage Zeit, dann hat sie zwei andere fertig. Bis dahin habe ich auch eine geschickte Zofe für Euch gefunden.« Der Butler verneigte sich und verließ das Zimmer wieder.

Seine Tochter verbeugte sich ebenfalls, dabei achtete sie darauf, dass der Saum des blauen Kleids nicht auf dem Boden schleifte. Als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie das Gewand hoch, damit Nola es betrachten konnte. Der Rock floss wie ein Wasserfall zur Erde, die Taille war hoch angesetzt, und das Oberteil hatte kleine Puffärmel. Dazu gehörte eine langärmelige Bluse, die Amelia ebenfalls mitgebracht hatte. Alles sah allerliebst aus, und Nola kam der Gedanke, dass die junge Schottin ihr womöglich eines ihrer eigenen Kleider hinhielt. Das konnte sie nicht annehmen und sagte das auch.

»Mylady?« Die junge Frau klang gekränkt. »Gefällt es Euch nicht? Soll ich etwas anderes heraussuchen?«

In Nola erhärtete sich der Verdacht, dass die junge Frau ihr eines ihrer eigenen Kleider gebracht hatte.

Sie holte tief Luft. »Ist es dein Kleid, Amelia?«

»Oh, nein, nein. Das ist das Kleid einer Lady, nicht einer Frau wie mir. Ich würde es nie wagen, Ihnen eines meiner eigenen zu geben.« Amelia sprach schnell, und eine sanfte Röte überzog ihre Wangen. »Nur die Größe ist von einem meiner Kleider abgenommen — natürlich ein wenig länger, weil Ihr größer als ich seid, Mylady. Darf ich Euch nun beim Ankleiden helfen?«

Betäubt ließ Nola es zu, dass ihr das Nachthemd ausgezogen und ein Spitzenunterhemd übergestreift wurde. Das Kleid war etwas zu kurz und zu eng - die Schottin war eben klein und zierlich.

Amelia rief die Schneiderin, die Nola im ersten Moment für Amelias Mutter hielt. Doch dann erkannte sie, dass sie dafür viel zu jung war. Amelia nannte sie Ms. Burden und erklärte, dass deren Familie eine Farm in der Nähe besaß. Sie habe aber lieber eine Stellung auf Shavick Castle angenommen, als einen Bauern zu heiraten und zur Mehrung des Familienbesitzes beizutragen. Nola schaute der Schneiderin forschend ins Gesicht. War sie eine Vorfahrin der Ms. Burden, in deren Bed & Breakfast sie eine Nacht verbracht hatte, oder war es nur eine zufällige Namensgleichheit? Sie entdeckte keine Ähnlichkeit.

Ms. Burden trug ein Nadelkissen um den linken Arm gebunden und ein Kästchen, aus dem verschiedenfarbige Fäden quollen. Sie ließ eine Naht aus und steckte das Kleid unter dem Busen neu ab. Nola schätzte, dass es nicht länger als eine halbe Stunde dauerte, bis sie das geänderte Kleid überziehen konnte. Amelia hatte sich in der Zwischenzeit um Nolas Haar gekümmert und eine Frisur gezaubert, die sie »ä la Daphne« nannte. Sie hatte eine Unmenge feiner Löckchen gedreht und sie am Hinterkopf hochgesteckt. Ein Wasserfall blonder Locken ergoss sich über ihr Haupt.

Die beiden Frauen ließen Nola allein, als Kleid und Frisur perfekt saßen. Sie zupfte am Rock, der ihr fast bis zu den Füßen reichte. Bei der Arbeit im Savoy trug sie Röcke, die die Knie umspielten, privat überwiegend Hosen. Sie kam sich verkleidet vor, als sie sich im Spiegel betrachtete, musste aber zugeben, dass der hellblaue Stoff hervorragend mit ihrem blassen Teint harmonierte. Sie sah aus wie eine Prinzessin aus einem Märchen — wenn ihr als Kind jemand gesagt hätte, dass sie eines Tages ein solches Kleid tragen würde, hätte sie vor Freude gejuchzt. Bei Kostümfeiern hatte sie immer Prinzessin sein wollen, und ihre Mutter hatte ihr lange Kleider aus billigem Stoff und Flitter genäht. Gewaltsam schob sie den Gedanken an ihre Mutter beiseite, davon würde sie nur wieder verzweifeln. Lieber drehte sie sich, sodass der Rock sich wie eine Glocke um ihre Beine bauschte.

»Perfekt«, murmelte sie und drehte sich weiter und weiter, bis ihr schwindelig wurde. Schließlich ließ sie sich atemlos in einen der Sessel vor dem Kamin fallen.

Nola suchte Rhodry und fand ihn im Frühstückszimmer, wo er eine dicke Scheibe Braten verzehrte. Eugene saß ihm am Tisch gegenüber, ebenfalls mit einer Fleischportion beschäftigt. Sie begrüßte die beiden und wandte sich mit fester Stimme an den Earl of Shavick: »Rhodry, wir müssen reden.«

»Ich lasse euch allein.« Eugene stand auf.

Es kam ihr so vor, als zwinkerten er und Rhodry sich zu.

»Willst du nicht erst essen?«, fragte der Earl, als sie allein waren. »Das Kleid steht dir übrigens fantastisch, die Farbe passt sehr gut zu deinen Augen.«

»Das Kleid ist eines der Dinge, über die wir reden müssen. Fangen wir damit an. Amelia Hillier sagt, das sei das Kleid einer Lady, ich glaube aber, dass sie mir eines ihrer eigenen Kleider gebracht hat.«

»Wenn du mit ihr geredet hast wie jetzt mit mir, muss das arme Ding sich vor Verlegenheit gewunden haben.«

Nola fiel auf, dass er über die Sache mit dem Kleid kein Wort verloren hatte.

»Was ist mit dem Kleid?« Sie war nicht bereit, sich das Gespräch aus der Hand nehmen zu lassen.

Rhodry seufzte, als hätte sie ihn bei einer geheimen Schwäche ertappt. »Es ist für dich. Dalton hat bei mir die Erlaubnis eingeholt, aus deinen Räumen eines heraussuchen zu dürfen. Wahrscheinlich hat er es dann seine Tochter tun lassen. Sie als Frau weiß bestimmt besser als er, was dir steht.«

»Was heißt in meinen >Räumen<?« Nola war verblüfft, und das ließ sie ihren Vorsatz vergessen.

»Die Räume meiner Seelenpartnerin. Dort gibt es ein Ankleidezimmer voll damit. Kleider für jeden Anlass, in verschiedenen Farben und Moden.«

»Für mich? Meine Räume?« Ihre Verblüffung hielt an. »Wieso für mich?«

»Für meine Seelenpartnerin«, wiederholte er geduldig. »In den letzten zweihundert Jahren habe ich sie mir jeden Tag an meine Seite gewünscht. Ich habe immer gewusst, dass ich sie finden werde, und dass sie ihr Gepäck verloren haben wird. Alles sollte für sie vorbereitet sein.«

»Auf eine vage Idee hin hast du ein Zimmer voller Kleider angeschafft?«

»Zuerst waren es drei oder vier, vielleicht fünf, aber die Frauenmoden wechseln schneller als eine Katze Junge bekommt. Deshalb kamen im Laufe der Zeit immer mehr dazu.«

Das musste ihn ein Vermögen gekostet und Ähnlichkeit mit einem Kostümverleih haben. Sie würde ihre Räume und die Kleider gern sehen, vorher wollte sie aber andere Dinge geklärt haben. »Wenn ich angeblich deine Seelenpartnerin bin, warum hast du mich nicht in meinen Räumen untergebracht?«

»Dalton und Amelia haben dich ohne Bewusstsein gefunden und in ein Zimmer für Hausgäste gebracht. Sie wussten nicht, wer du bist. Ich hatte bisher keine Gelegenheit, dir deine Räume zu zeigen.« Er wandte ihr das Gesicht voll zu und zeigte ihr ein weiches, zärtliches Lächeln, das sie dahinschmelzen ließ. »Wenn du dich erinnerst: Du hast mich gestern aus dem Zimmer getrieben, bevor ich dir einen Rundgang durch Shavick Castle anbieten und dir die Räume der Hausherrin zeigen konnte. Beides können wir jetzt nachholen.« Er streckte ihr über dem Tisch die Hand hin.

Nola griff nicht zu. Sie wollte es gerne, aber eine Sache brannte in ihren Gedanken. Enttäuscht zog Rhodry die Hand zurück.

»Was ist zwischen dir und Amelia?«

Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht wie fortgewischt. »Gar nichts. Sie gehört zu der Familie, die den Earls of Shavick den Bluteid geschworen hat, und dient mir. Du bist doch nicht eifersüchtig auf eine Dienerin? Das steht dir nicht, Nola.« Vom lächelnden Verführer hatte er sich übergangslos in den arroganten Grafen verwandelt.

Nola wusste nicht, was sie glauben sollte. Da war Rhodry, der bestaussehendste Mann, den sie kannte, und Amelia, eine hübsche junge Frau, deren Augenlider zu flattern begannen, wenn sie seinen Namen hörte. Nola konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass zwei so schöne Wesen einander nicht anziehend fanden.

»Ich habe euch gesehen, gestern im Park«, stieß sie anklagend hervor.

»Im Park …« Der Werwolf überlegte mit gerunzelter Stirn. Auf einmal hellte sich seine Miene auf. »Richtig. Sie kam zu mir, um mich etwas zu fragen, wegen einer Sache, die sie für mich erledigen soll.«

»Was für eine Sache?«

Diesmal schaute er sie abschätzend an, als überlege er, wie viel er ihr sagen konnte. »Wir werden Gäste bekommen, Mitglieder des Rudels, die nicht auf Shavick Castle oder in der Nähe leben. Es ist ihre Aufgabe, darüber zu wachen, dass alles für deren Ankunft vorbereitet wird. Darüber haben wir gesprochen.«

Darüber hatten sie vielleicht auch gesprochen, aber das war sicher nicht alles gewesen. Dafür musste man dem Earl nicht die Hand auf den Arm legen und ihn mit flatternden Augenlidern anschauen.

»Bist du der Earl of Shavick, als … als …,«, immer noch fiel es ihr schwer, das Wort auszusprechen, »… als Werwolf?«

»Ich wurde von Königin Elisabeth mit der Grafenwürde belehnt, weil ich auf ihrer Seite stand und mich nie der Usurpatorin Maria Stuart anschloss. Das war, bevor ich zum Werwolf wurde.«

Sie hätte ihn gern gefragt, warum er ein Werwolf geworden war und wie man das wurde, aber die Frage kam ihr zu intim vor. Rhodry sprach weiter.

»Ich bin der erste Earl of Shavick, doch für die Menschen bin ich bereits der fünfte Earl. Regelmäßig führen wir eine Scharade auf und geben vor, dass der alte Earl gestorben sei und sein Sohn und Erbe die Nachfolge angetreten habe. Es gibt sogar einen Friedhof, auf dem alle Earls beerdigt sind. Außerhalb des Rudels weiß niemand, was ich wirklich bin. Das war in der Vergangenheit der beste Schutz für uns.« »Wovor braucht ihr Schutz? Ich bin sicher, du kennst ein Dutzend Arten, einen Menschen mit dem kleinen Finger zu töten.«

Wieder schenkte er ihr dieses unwiderstehliche Lächeln. »Es gibt keine einzige Art, einen Menschen mit dem kleinen Finger zu töten. Aber ich könnte dich mit beiden Händen packen und dir den Kehlkopf eindrücken; in weniger als einer Minute wärst du tot. Kein Mensch hat gegen einen Werwolf eine Chance. Unser Problem ist: Wir sind zu wenige. Gegen die geballte Macht der Menschen sind wir chancenlos.«

Sie musste sich gegen seinen Charme wappnen. »Wieso gibt es euch dann noch?«

»Wir sind vorsichtig und nicht leicht zu töten. Außerdem glauben viele Menschen gar nicht an uns. Die Werwolfjäger werden belächelt. Die Menschen sind sich nicht einig.«

»Und die Werwölfe?«

»Wir sind uns auch nicht einig. Die meisten Rudel sind miteinander verfeindet. Die Krakauer sind unsere schlimmsten Gegner.«

»Woher kommt diese Feindschaft?«

»Die Feindschaft besteht seit Jahrhunderten. Wir vom Schottenclan versuchen, mit den Menschen zu leben und so wenig Schaden wie möglich unter ihnen anzurichten. Die Krakauer hingegen sehen die Menschen als niedere Wesen. Der Rudelführer trachtet danach, alle Werwölfe unter seiner Herrschaft zu vereinen, um unter den Menschen Furcht und Schrecken zu verbreiten. Ich versuche, eine Übereinstimmung mit den Menschen zu treffen, die es uns erlaubt, offen unter ihnen zu leben. Wir wollen nicht mehr gezwungen zu sein, uns und das, was wir sind, zu verstecken. Der Aberglaube bei den Menschen hat nachgelassen, und die Zeit ist reif, in ihr Bewusstsein zu treten, um die Bürgerrechte zu bekommen. Die Vampire sind zum Teil meiner Meinung.«

»Vampire gibt es also auch?« Nola schluckte.

»Viel weniger als Werwölfe. Sie sind Einzelgänger und leben verstreut unter den Menschen.«

Er hatte das leicht dahingesagt, sie musste das erst einmal verdauen. Neben Werwölfen nun auch Vampire; es fehlte nur noch, dass es den Leibhaftigen, die Hölle und Dämonen gab.

»Und die Krakauer Wölfe wollen keine Bürgerrechte?«

»Sie wollen sich den Menschen nicht anpassen, sondern die Menschen sollen uns als ihre auserwählten Herren anerkennen. Wenn es nach den Krakauern geht, müssen die Menschen uns fürchten. Ich wünsche mir gegenseitige Achtung.«

Sie konnte sich seinen Worten nicht verschließen, dennoch … »Wie soll das gehen, wenn ihr euch verwandelt und in Wolfsgestalt zu reißenden Bestien werdet, die Menschen töten?«

»Das tun wir nicht«, widersprach Rhodry. Sein Frühstück hatte er vergessen. »Es stimmt, dass wir in Vollmondnächten Fleisch und Blut brauchen, aber es muss nicht menschlich sein. Schafe, Ziegen, Kühe oder Schweine, alles geht, selbst Hühner und Fledermäuse. Ich bezahle extra Leute, dass sie Tiere für uns halten und züchten.«

»Also dreht sich die Feindschaft um eine Kleinigkeit?«

»Keine Kleinigkeit. Politik eben. Unter den Menschen zu leben, bedeutet, einen Teil unserer Traditionen aufzugeben. Das wollen die Krakauer nicht. Darf ich neugierig sein?«

Er schaute sie bittend an, und sie musste lächeln. »Frag!«

»In deiner Zeit, wie steht es da um uns?«

»Nicht anders als heute. Die Menschen sind in ihre Technik verliebt, die meisten glauben nicht an euch.«

Die Hoffnung aus seiner Miene verschwand. »Also sind sie meinen Weg nicht weitergegangen. Wer führt sie an?«

»Das weiß ich nicht.«

»Eugene wahrscheinlich. Er wird genug zu tun gehabt haben, das Rudel zusammenzuhalten und sich gegen die anderen zu behaupten. Schade! Aber jetzt bin ich ja wieder da, um das zu ändern.«

»Wie wird man eigentlich zum Werwolf?« Sie traute sich nun doch, die Fragen zu stellen, die ihr die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte.

»Man wird entweder als Werwolf geboren oder gewandelt. Wenn beide Eltern Werwölfe sind, sind ihre Kinder von unserer Art -wenn sie überleben. Unser Erbe ist stark, zu stark für viele; wir haben nicht viele Nachkommen, und die wenigsten von ihnen überleben das erste Jahr. Eugenes Seelengefährtin, Moira, ist eine geborene Werwölfin, eine der wenigen im Rudel.« Rhodry schüttelte den Kopf, als wollte er die traurigen Gedanken loswerden.

»Wie wird man zum Werwolf gewandelt?«

»Durch Blutaustausch. Es funktioniert aber nur in einer Vollmondnacht, und nur dann, wenn sie auf die kürzeste oder die längste Nacht oder auf die Tagundnachtgleiche fällt. Und der Austausch des Bluts muss freiwillig erfolgen — zumindest bei uns.«

»Ist das in anderen Rudeln anders?«

»Die Krakauer wandeln Menschen ohne deren Einverständnis.«

»Du tust das nicht?« »Natürlich nicht. Es gehört zu den Regeln des Schottlandclans, dass sich jeder frei für uns entscheiden muss.«

»Das gilt auch für mich?«

»Ganz besonders für dich, Nola. Um dich zu retten, würde ich jederzeit mein Leben geben.«

Seine leidenschaftlich hervorgestoßenen Worte stimmten sie traurig. Sie konnte ihm nicht länger ins Gesicht sehen, sondern senkte den Blick auf ihre im Schoß gefalteten Hände. Vielleicht würde er sie gehen lassen, doch wo sollte sie hin im Jahr 1818? Die Vorfahren ihrer Eltern wären sicher nicht beglückt, wenn sie bei ihnen auftauchte und behauptete, eine Ururur-Sonstwas-Enkelin zu sein.

»Du hast mich nicht gefragt, ob ich kommen wollte. Du hast mich durch die Zeit nach Schottland geholt.« Sie hatte beinahe unhörbar gesprochen, mit seinem scharfen Gehör hatte er sie dennoch verstanden. Er kam um den Tisch herum und setzte sich auf einen Stuhl neben ihr, griff nach ihren Händen. Es war die erste Berührung, seit sie auf Shavick Castle war. Nola zuckte zusammen. Statt brutalen Werwolfkrallen lagen seine Hände warm und weich über ihren, seine Daumen streichelten ihre Handrücken.

»Das weiß ich, Prinzessin, und es tut mir mehr leid, als ich sagen kann. Ich bin dir unendlich dankbar, dass du mich aus dieser Zeitschleife befreit hast. Eugene hat mir erklärt, was der Krakauer in jener Nacht getan hat. Was du getan hast — niemand außer einem Seelenpartner hätte das fertiggebracht.«

»Wie hast du mich geholt?«

»Ich weiß es selbst nicht genau. Ich könnte mir vorstellen, dass es zwischen uns ein so starkes Band gibt, dass du gespürt hast, wie sehr ich dich brauche und dass du deshalb durch die Zeit zu mir gekommen bist.«

»Als Letztes habe ich vor deinem Bild gestanden, und dann war ich hier. Kannst du mich zurückbringen in meine Zeit?«

Rhodry streichelte weiter ihre Hände und schaute sie an. Sie glaubte, in seinem Blick zu versinken. War dies das Wesen der Seelenpartnerschaft?

»Ich weiß nicht, wie du hierhergekommen bist.« Rhodrys Worte zerstörten die romantische Stimmung. »Es sollte nicht sein, dass jemand durch die Zeit reist. Ich weiß keinen Weg, dich in deine Zeit zurückzubringen.«

Er schaute sie weiter unverwandt an und senkte auch nicht den Blick, als sie ihm ihre Hände entzog.

»Das soll heißen, ich bin dazu verdammt, für immer im Jahr 1818 und auf Shavick Castle zu leben?« Als sie es aussprach, kam ihr die Sache noch viel ungeheuerlicher vor.

»Irgendwann haben wir 1819«, versuchte er die Stimmung aufzulockern. Ernster fügte er hinzu: »Ich fürchte, das ist so.« Er wollte nach ihren Händen greifen, doch sie wich vor ihm zurück. »Ich weiß keinen Weg, wie ich deinen Wunsch erfüllen soll. Gleichzeitig schwöre ich dir, alles zu versuchen, damit er wahr wird. Selbst wenn das bedeutet, dass du nicht an meiner Seite bleibst.«

Nola hörte die Worte, der Sinn flog an ihr vorbei. Sie hatte nur verstanden, dass ihr Leben sich ab jetzt im Jahr 1818 abspielte. Kein London mehr, keine Einkaufsbummel mit Violet, kein Savoy, keine Familie; stattdessen war sie Herrin über ein Zimmer voller altmodischer Kleider. Wie hatte alles so schiefgehen können?

»Nola.«

»Ich will nichts mehr hören.«

Sie rannte aus dem Frühstückssalon und durch die Halle. Auf der Galerie blieb sie keuchend stehen, als hätte sie einen Marathon hinter sich gebracht.

Rhodry wollte ihr nach. In der Halle traf er jedoch auf Amelia, die sich ihm in den Weg stellte.

»Mylord«, sagte sie mit fester Stimme, »lasst sie gehen! Menschenfrauen sehen die Dinge nicht so klar wie Werwölfinnen. Sie braucht Zeit, um das alles hier zu begreifen.« Mit der Hand machte sie eine Bewegung, die Shavick Castle und alle seine Bewohner umfasste.

Der Earl blieb stehen. Amelia war auch eine Menschin, vielleicht verstand sie Nola besser als er.

Amelia sprach schnell weiter. »Wenn Ihr ihr nachlauft, macht Ihr alles nur schlimmer. Alles muss aus ihr selbst kommen.«

»Du meinst, ich soll warten?«

»Jawohl, Mylord.« Amelia knickste und eilte zu den Küchen.

Der Earl hatte nicht bemerkt, dass Nola oben auf der Galerie stehen geblieben war und heruntergeschaut hatte, aber Amelia hatte sie gesehen.