Kapitel 6

In Schottland wurde ebenfalls die »Times« gelesen. Hier war es sommerlich warm, es herrschte aber keine

“—^ Hitzewelle. Der Leser saß entspannt unter einem Apfelbaum auf einem Plastikgartenstuhl, auf einem Tisch lagen die ungelesenen Teile der »Times«, daneben stand ein halb volles Bierglas.

»Das gibt es nicht!« Eugene schlug mit der flachen Hand auf den Plastiktisch. Der machte auf dem unebenen Boden einen Satz, Zeitung und Bierglas kippten herunter. Der Mann kümmerte sich nicht darum.

»Moira!«, rief er.

Die Gerufene steckte den Kopf zu einem der geöffneten Fenster des Farmhauses heraus.

»Ich muss nach London.« Er hielt die Zeitung hoch und erzählte, was er entdeckt hatte.

Sie zog ein Mobiltelefon aus der Tasche ihres Sommerkleids und warf es ihm zu. »Consett Enderby«, sagte sie.

Falls sich Eugene über die im Mobiltelefon seiner Seelenpartnerin gespeicherte Nummer wunderte, sagte er jedenfalls nichts. Er wählte, und der Anführer des Londoner Rudels war nach dem zweiten Klingeln dran. Er wisse von nichts, behauptete er. Die ganze Sache habe ihn genauso überrascht wie alle anderen — aus dem Londoner Rudel sei das niemand gewesen, dafür lege er seine Pfote ins Feuer, und aus den Freien sei nichts herauszubekommen.

Eugene beendete das Gespräch. »Es ist immer dasselbe mit Consett: Nichts hören und sehen.«

»Macht der Premierminister es anders?«

Der Rudelführer ging nicht darauf ein. »Consett wird sich nicht mehr ändern. Ich muss nach London.«

Im Gegensatz zu Maksym Derenski widerstrebte es ihm nicht, mit dem Flugzeug zu reisen. Er fuhr am Nachmittag nach Edinburgh und nahm von dort einen Flieger nach Heathrow.

In London angekommen, traf er sich mit Raphael Langdon, dem Führer der Freien, auf der Tower Bridge. Das war ein neutraler Ort, wie alle Brücken. Eugene stellte sich breitbeinig hin und wartete, Raphael Langdon kam genauso breitbeinig von der anderen Seite heran. In Lederhose und weißem Muskelshirt sah er aus wie ein Mittzwanziger, tatsächlich war er in Eugenes Alter. Das blonde Haar wehte ihm offen um die Schultern.

Sie begrüßten einander auf die höfliche Art unter Werwölfen, indem jeder den Kopf zurückwarf und dem anderen die Kehle bot. Unter ihnen gurgelte das Wasser der Themse, übte seinen Sog auf sie aus. Feuchter Gestank stieg auf.

»Werwölfe in London!« Eugene hielt dem Freien die »Times« hin. »Was bedeutet das?«

»Maksym Derenski von den Krakauern ist mit seiner Seelenpartnerin in London. Er hat sich in einer Menschenmenge verwandelt — kann sich einfach nicht beherrschen, der Kerl.«

»Ich weiß, wer Maksym Derenski ist«, schnaubte Eugene. Der Name, sorgte für Wut in ihn. »Wo hast du ihn gesehen?«

»Ich habe ihn gesehen, in der Nacht im >Fox in the Night< .«

»Was hat er getan?« Der Freie sollte endlich zur Sache kommen.

»Nichts.« Raphael strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn und hakte die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Lederhose. Er sah aus wie jemand, der sich der Wichtigkeit seiner Informationen bewusst war.

Eugene knurrte.

»Ich war mit den roten Brüdern zusammen«, fuhr der Freie fort. »Wir haben die Derenskis ein wenig in die Mangel genommen, und als wir sein scharfes Stück am Wickel hatten, konnte er sich nicht mehr beherrschen. Wir haben uns aus dem Staub gemacht, als die Hysterie unter den Menschen am Überkochen war. Jetzt ist er gewarnt — London gehört uns!«

Letzteres war auch eine unmissverständliche Warnung an Eugene. Er ging darüber hinweg. »Du hast was getan?«

»Ich habe sie in die Mangel genommen. Das hättest du auch gemacht.«

Raphael warf sein Haar zurück und zuckte mit den Schultern.

Am liebsten hätte Eugene ihn stehen gelassen, aber noch gab es Dinge, die er wissen musste. Er ließ sich die Verärgerung nicht anmerken, als er fragte: »Was machen die Derenskis jetzt? Sie werden doch beobachtet, oder?«

»Natürlich. Sie sind im Carlton abgestiegen und haben sich bisher nicht wieder blicken lassen.«

»Und?«

»Ich lasse sie weiterhin beobachten.«

»Und?«

»Sie sind nicht allein in London. Wir haben auch fünf ihrer Schergen entdeckt.« »Was machen die?« Wieder ließ sich Langdon die Informationen wie Kaugummi aus der Nase ziehen. Eugene krampfte die Hände um die Zeitung.

»Sie beobachten eine Menschenfrau, und meine Wölfe beobachten die Beobachter. Eleonore McDullen heißt sie, arbeitet im Savoy. Mehr wissen wir nicht.«

»Wo wohnt sie?«

Langdon nannte eine Adresse. »Das ist in Camden, flippiger Stadtteil.«

»Ich will alles sehen, den Nachtclub, die Menschenfrau. Ich muss wissen, was die Krakauer planen. Die Freien und mein Rudel müssen in diesem Punkt zusammenarbeiten.«

»Müssen wir das?« Langdon grinste. Er wusste genau, was im Januar 1818 passiert war und genoss es, dass ein Rudelführer die Hilfe der Freien brauchte. Üblicherweise blickten die Rudelwölfe auf sie herab.

Eugene wurde von Sekunde zu Sekunde ungeduldiger, zwang sich jedoch, locker und gelassen zu erscheinen. »Nur dieses eine Mal.«

Der Freie nickte endlich, und zur Besiegelung ihres Paktes boten sie dem anderen wieder die Kehle.

Die Fassade des »Fox in the Night« war grau und einfallslos, die wenigen Fenster zur Straßenseite mit blickdichten Gardinen verhängt. An der Tür verkündete ein handgeschriebener Zettel: »Vorübergehend geschlossen«. Eugene war in Begleitung von Langdon und zwei anderen Freien gekommen, die noch kein Wort gesagt hatten und die Straße zu beiden Seiten hin absicherten.

Eugene schnüffelte in der Luft nahe der Tür, suchte den scharfen Geruch eines Werwolfs unter den unzähligen der Menschen. Er bückte sich sogar und tat so, als binde er seinen Schuh neu, dabei roch er an der Schwelle.

»Ihr Geruch liegt noch der Luft.« Er richtete sich wieder auf und trat gegen die Tür aus stabilem Holz, die mit drei Schlössern und einem zusätzlichen Riegel gesichert war. Sie flog auf.

»He, was …?« Ein Fußgänger war stehengeblieben und schaute empört drein. Sofort bauten sich die beiden Wächter vor ihm auf. Sie waren nicht größer als er und sahen nicht besonders kräftig aus, aber ihre Ausstrahlung war drohend. Der Mann wich zurück. »Ist ja gut, Leute. Wahrscheinlich hat das nichts zu bedeuten und geht mich auch nichts an.« Sekundenbruchteile später konnte er sich nicht mehr an den Vorfall erinnern und schritt davon.

Eugene trat in den Gang hinter der Tür, schnüffelte nach Maksym Derenski. Sein Geruch lag in der Luft, viel deutlicher war jedoch seine Seelenpartnerin zu riechen; ihr Parfüm überlagerte den Rest, für seine feine Nase war es Gestank. Ordinäre Schlampe.

Anschließend suchten sie die angegebene Adresse der Frau in Camden auf. Es war ein hübsches viktorianisches Haus, hoch und schmal, doch bei genauem Hinsehen stellte man fest, dass es seine besten Tage bereits hinter sich hatte.

»Im Dachgeschoss«, sagte Langdon leise.

Eugene schaute zu den Fenstern hoch. Sie waren dunkel, auf der Straße war alles ruhig. »Ist sie zu Hause?«

»Wahrscheinlich.« Der Freie deutete unauffällig auf einen schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Derenskis Schergen halten sich für gewöhnlich dort verborgen.«

Sie schlenderten an dem Haus vorbei, als wären sie nächtliche Müßiggänger, und Eugene warf einen kurzen Blick in den schmalen Durchgang. Trotz seiner scharfen Augen entdeckte er niemanden.

»Sind sie da?«

Eine Antwort wurde ihm erspart, denn plötzlich kamen lautlos zwei Gestalten aus dem Durchgang über die Straße und bauten sich vor Eugene und dem Freien auf. Einen erkannte der Schotte: Igor Igorowitsch, Derenskis russischer Leibwächter. Derjenige, der damals die silbergespickte Peitsche gegen Rhodry geschwungen hatte.

Eugene sprang ihn an, legte ihm die Hände um den Hals. Der Schwung riss sie beide von den Füßen, und krachend schlugen sie auf dem Pflaster auf. Der zweite Krakauer wollte Igor zu Hilfe kommen, doch Langdon nahm ihn in den Polizeigriff und drückte seinen Kopf nach unten. Die beiden Wächter eilten heran und kesselten ihn so ein, dass er kein Glied mehr rühren konnte.

Eugene und Igor wälzten sich derweil auf dem Bürgersteig, Eugene hatte sich halb verwandelt. Umbarmherzig drückte er den Kehlkopf des anderen zusammen. Igor traten die Augen aus den Höhlen, er hatte seine Klauen in die Schultern des Schotten geschlagen, zog tiefe Furchen in dessen Fleisch. Eugene spürte davon nichts, er war nur von einem Ziel beherrscht: dem verhassten Russen die Kehle herauszureißen. Das tötete einen Werwolf so sicher wie eine Silberwaffe.

Im Haus hinter ihnen ging ein Licht im ersten Stock an, ein Fenster wurde geöffnet und eine Frauenstimme rief: »Ruhe! Oder ich rufe die Polizei!«

Eugene hörte die Worte, bezog deren Inhalt aber nicht auf sich. Igor war gerade in seinen Armen erschlafft, deshalb nahm der Schotte die Hände von dessen Hals. Der Russe tat einen tiefen Atemzug. Sofort kehrten Eugenes Kraft und Kampfbereitschaft zurück, diese eine Sekunde des Luftholens reichte ihm als Auslöser, um sich in der Kehle des Feindes zu verbeißen. Er riss und zerrte, fühlte schließlich den Kehlkopf knacken. Igors Kopf fiel zurück, der Leib erschlaffte erneut — diesmal für immer.

In der Ferne heulten Polizeisirenen, die sich aber rasch näherten. Eugene richtete sich auf und spuckte aus, während der überlebende Krakauer ein langgezogenes Heulen ausstieß. In den umliegenden Häusern gingen mehr Lichter an. Ein Fausthieb brachte den Krakauer zum Verstummen, dann ließen die Freien ihn los, und Langdon zischte ihm ins Ohr: »Lauf zu deinem Herrn und sage ihm, dass es jedem so ergehen wird, der sich uns entgegenstellt. Die Freien und die Schotten haben einen Pakt geschlossen!«

Der Werwolf rannte davon.

Eugene stieß den Toten, der in einer Blutlache auf dem Bürgersteig lag, mit dem Fuß an. Er hatte noch dessen Geschmack im Mund. Seine Rache hatte er befriedigt, und langsam klärten sich seine Sinne; er nahm die Straße wieder wahr, die anderen Werwölfe, die Polizeisirene.

»Sie werden gleich hier sein. Lasst uns verschwinden!«, sagte er. Seine Stimme war noch belegt, mehr Knurren als Reden.

Eine Polizeisirene drang in Nolas Traum. Sie setzte sich auf und merkte, dass sie nicht im Bett, sondern angezogen im Wohnzimmer auf der Couch lag. Das Zimmer wurde von Blaulicht erhellt, die Sirenen schwiegen inzwischen. Nola streckte sich und tappte zum Fenster.

Drei Polizeiwagen standen unten, eine Menge Polizisten liefen herum. Direkt vor dem Haus wurde ein Areal mit gelbem Polizeiband abgesperrt. Ein Leichenwagen kam, ein Zinksarg wurde ausgeladen. Nola traute ihren Augen kaum. Ein Toter? Vor ihrem Haus? Sie eilte aus der Wohnung und die Treppe hinunter. Im Stockwerk darunter linste Ms. Murphy aus der Tür.

»Schlimme Sache, das«, sagte sie. »Ich habe die Polizei gerufen, weil so ein Krach auf der Straße war und jetzt sowas. Haben Sie nichts gehört?«

Sie kam aus der Tür, als Nola den Kopf schüttelte. »Ich bin von den Sirenen aufgewacht.«

Gemeinsam gingen sie auf die Straße hinunter. Sie waren nicht die ersten und nicht die einzigen Neugierigen.

Ein Polizist verstellte ihnen am Absperrband die Sicht, doch Nola gelang es trotzdem, einen Blick hinter die Absperrung zu werfen. Blut auf dem Pflaster, schwarzes Haar, eine verdrehte Körperhaltung. Ein Mann im weißen Schutzanzug richtete sich auf und gab den Sargträgern ein Zeichen, die daraufhin von der Polizei in die Absperrung gelassen wurden.

»Treten Sie zurück, Ladys, hier gibt es nichts zu sehen«, sagte der junge Polizist vor ihnen.

Nola trat zurück und zog Ms. Murphy mit sich.

»Er wurde umgebracht«, flüsterte sie der älteren Nachbarin zu. »Das ganze Blut!«

»Oh Gott! Hätte ich die Polizei bloß früher gerufen.«

Ein Kommissar in Zivil trat auf sie zu, offensichtlich indischer Abstammung. »Sergeant Hamilton«, stellte er sich vor. »Wohnen Sie in der Nähe, Ladys?«

»In dem Haus.« Nola zeigte hinter sich.

»Beantworten Sie mir bitte einige Fragen. Einzeln und nacheinander.« Er machte mit Ms. Murphy den Anfang.

Nola beobachtete derweil, was hinter der Absperrung vor sich ging. Den Toten hatten sie weggebracht, die Spurensicherung war noch bei der Arbeit.

»Ich würde mich wundern, wenn an dieser Sache irgendetwas normal ist. Der Bursche sah aus, als hätte ihm jemand oder etwas die Kehle herausgerissen«, sagte einer - wahrscheinlich der Pathologe - zu einem weiteren Kommissar in Zivil.

»Kannst du was über den Todeszeitpunkt sagen?«

»Ist nicht lange her. Halbe Stunde, Stunde. Mehr nach der Obduktion, Inspektor, wenn die Laborwerte da sind.«

»Das sieht nicht aus wie Menschenhaar.« Einer der Spurensicherer im weißen Plastikanzug hielt ein Büschel Haare mit einer Pinzette hoch, bevor er es in ein Plastiktütchen schob und ein Etikett beschriftete.

»Alles muss untersucht werden, alles.«

»Glaubst du an Werwölfe, Inspektor?«, fragte der Pathologe.

»Nein. Und du?«

»Nachdem ich das hier gesehen habe, weiß ich es nicht mehr. Ein menschliches Gebiss kann solche Wunden nicht reißen. Und zeige mir einen Hund, der jemandem so gezielt an die Kehle geht.«

»Ein Kampfhund?«

»Warum ist dann in dem Blut kein einziger verdammter Pfotenabdruck?« Er seufzte. »Ganz London wird noch verrückt bei der Hitze und mit der Werwolfgeschichte in der Zeitung!«

Nola schüttelte den Kopf. Auf einmal fiel überall das Wort Werwölfe. Ein brutaler Mord, genau vor dem Haus, in dem sie lebte. Und jemand war in ihre Wohnung eingedrungen. Sie schauderte.

Der Sergeant war mit Ms. Murphy fertig und kam zu ihr herüber. Er bemerkte ihr Zittern.

»Geht es Ihnen nicht gut, Ms. …?«

»Eleonore McDullen. Doch. Es ist alles so … Ich habe gehört, was der Inspektor und der Pathologe geredet haben.«

Der indische Sergeant mit dem englischen Namen schrieb etwas in sein Notizbuch und sah Nola danach fragend an.

Einen Augenblick überlegte sie, ob sie ihm von den Kratzern erzählen sollte, dass Polen in der Stadt aufgetaucht waren und sich als Werwolfjäger ausgaben, dass sie sich beobachtet fühlte und ihre Wohnung durchsucht worden war. Er wirkte so mitfühlend und verständnisvoll. Aber als sie seine Fragen beantwortete, hielt sie etwas davon ab, ihm ihr Herz auszuschütten.

Schließlich ging sie hinter Ms. Murphy ins Haus zurück und hinauf in ihre Wohnung. Dort setzte sich in die Küche und trank Wasser direkt aus der Flasche.