Kapitel 9

Eben hatte sie noch vor Rhodrys Bild gestanden, jetzt lag sie auf der Erde und konnte sich nicht mal daran erinnern, dass sie gestolpert war. Die Taschenlampe war ihr aus der Hand gefallen und ein Stück fortgerollt. Der Strahl beleuchtete einen Handschuh, der unter einem Sofa lag. Nola kniete sich hin und angelte ihn hervor. Er war aus glattem, feinem Leder, in den Nähten haftete kaum Staub — und unter dem Sofa lag auch kaum welcher. Der Raum sah aus, als sei er gestern noch benutzt worden und nicht, als befände sie sich in einer seit Jahren unbewohnten Burgruine.

Nola sah sich um. Rhodrys Bild hing an seinem Platz, sonst kam ihr alles verändert vor. Auf dem Tisch in der Mitte des Raums stand ein Kerzenleuchter mit halb heruntergebrannten Kerzen. Und merkwürdig — hatten die Sessel und Sofas schon hier gestanden, als sie den Salon zum ersten Mal betreten hatte? Sie hätte schwören können, dass außer dem Bild nichts da gewesen war. Und die Fenster, waren die nicht mit Brettern vernagelt gewesen? Das war jetzt nicht mehr der Fall: Trübes Licht fiel durch die Scheiben, eine klapperte unter einer Windböe. Sie rannte zu einem Fenster und schaute hinaus. Der Hügel, auf dem die Burg lag, fiel steil ab, Felsen brachen durch die Grasnarbe, dahinter erstreckte sich ein Park bis zum See. Sie sah kiesbestreute Wege, geschnittene Hecken, Rosenbeete, kahle Bäume - und dahinter das schimmernde Gewässer. Doch wo sich die mittägliche Sommersonne auf dem Wasser spiegeln sollte, erblickte sie nichts als eine trübe, von kleinen Wellen gekräuselte Fläche. Sie hatte das Gefühl, in einem Albtraum gefangen zu sein.

Die Eingangshalle wirkte auf den ersten Blick unverändert, aber der Teufel steckte im Detail, denn die Fenster waren nicht mehr vernagelt und die Türen nicht verbarrikadiert.

»Gibt es hier einen Butler?«, fragte sie in die Stille, in der ihre Stimme unnatürlich laut klang.

Nichts rührte sich daraufhin. Wie auch, sie war in einer Ruine, die seit über zweihundert Jahren leer stand. Nola ging in die Küche zurück, dabei kam sie wieder durch die Geschirrkammer. Obwohl sie nicht darauf achtete, nahm sie aus dem Augenwinkel wahr, dass die Regale auf einmal mit Geschirr und Tischwäsche gefüllt waren. In der Küche lag im großen Kamin ein Haufen Asche, der vorhin ganz bestimmt nicht da gewesen war. Sie hockte sich davor und streckte die Hand aus; die Asche war noch warm. In ihre

Verwirrung mischte sich Angst. Etwas hielt sie zum Narren — oder jemand. Antonia und Pawel Tworek kamen ihr in den Sinn. Aber nein, sie konnten mit dieser Sache nichts zu tun haben. Sie waren in London oder sogar längst wieder in Warschau. Aber hätten die beiden vielleicht eine Erklärung?

Nola durchsuchte das Erdgeschoss der Burg und begegnete keiner Menschenseele, dennoch wirkte alles bewohnt. Als Letztes blieb sie vor einer Tür stehen, an der mehrere starke Riegel angebracht waren. Sie waren ge-, aber nicht verschlossen. Nola zog die Riegel zurück und öffnete die Tür, hinter der eine gewundene Treppe in den Keller führte. Erst wollte sie sich abwenden, aber dann setzte sie doch einen Fuß auf die erste Stufe. Der Keller wirkte nicht wie ein finsteres mittelalterliches Verlies, und nachdem sie so weit gekommen war, wollte sie nicht umkehren. Mit ihrer Taschenlampe beleuchtete sie die in der Mitte ausgetretenen Stufen, während sie hinunterging. Unten empfingen sie gekalkte Wände, ein Geruch nach Erde. Es war nicht so feucht, wie sie befürchtet hatte, es gab nirgendwo Schimmel an den Wänden oder heruntergefallenen Putz.

Schließlich blieb Nola vor einer verschlossenen Tür stehen, zögerte. Sie hatte das Gefühl, hinter dieser Tür wartete die Erklärung und zugleich etwas, das diesen Ungereimtheiten die Krone aufsetzte. Eine Weile starrte sie das uralte, dunkle Holz an, bevor sie die Hand ausstreckte. Das Schloss war gut geölt, der Schlüssel ließ sich leicht bewegen, die Tür geräuschlos öffnen.

Nola leuchtete mit der Taschenlampe den Raum aus. Außer einer Steinkiste und zwei hohen Kerzenleuchtern rechts und links befand sich nichts darin. Die Kiste sah aus wie ein Sarkophag, an der Wand hinter der Kiste hing eine Steintafel, auf der ein Datum eingraviert war: 6. Januar 1818. Ein Todestag? Es würde passen, denn der Raum machte den Eindruck einer Gruft auf sie. Alles in ihr drängte sie, umzukehren und wegzulaufen, aber statt zu fliehen, trat sie an die Kiste heran, als würde eine unsichtbare Macht sie vorwärts ziehen.

Die Steinkiste war tatsächlich ein Sarg. Er war offen und darin lag — Rhodry! Sie erkannte ihn sofort.

Er war also bereits 1818 gestorben; sie hatte von einem Toten geträumt. Nola betrachtete sein schönes ebenmäßiges Gesicht — die Haut lag glatt über den Wangen als wäre er eben eingeschlafen und nicht vor zweihundert Jahren gestorben. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Nie würde sie Rhodrys Umarmungen im wahren Leben spüren.

Bevor sie sich fragen konnte, was über sie gekommen war, beugte sie sich zu ihm herab. Sie wollte ihn nur für einen Moment betrachten und sich von ihm verabschieden. Doch dann beugte sie sich tiefer, berührte seine Stirn mit den Lippen, seine Augenlider und zuletzt seinen Mund. Rhodry fühlte sich nicht so kühl und tot an, wie sie es erwartet hatte.

Und auf einmal, beim letzten Kuss, schlug er die Augen auf. Ein pfeifender Atemzug entwich ihm. Dann pressten sich seine Lippen auf ihre. Der Kuss eines Toten.

Jäh wich sie zurück und griff sich an die Kehle. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, der immer höher und höher wurde und erst abbrach, als ihr die Luft ausging. Danach keuchte sie, als schnürte ihr jemand die Luft ab.

Rhodry war gar nicht tot! Was war er, ein Vampir? Ein Zombie?

Er richtete sich auf, sein Kopf wurde länger und schmaler, überall spross ihm Fell aus der Haut, die Kleidung riss auf. Vor ihren Augen verwandelte er sich in einen … Sie würgte.

Er sprang aus dem Sarg, stieß sie zur Seite und hetzte zur Tür hinaus. Als er verschwunden war, begann sie wieder zu schreien. Irgendwann wurde ihr schwarz vor Augen.

Über Rhodry spannte sich der Himmel einer sternenklaren Vollmondnacht, und er rannte aus purer Freude an der Bewegung. Seine Sinne waren angespannt, er nahm den Geruch der feuchten, dunklen Erde überdeutlich wahr und hörte den Wind durch das Heidekraut und die niedrigen Büsche streifen. Er sah die entfernten Lichter eines Dorfs — obwohl es gegen Mitternacht ging, brannten Kerzen in den Fenstern und würden es bis zur Morgendämmerung tun.

Die Menschen wollten sich mit dem Licht vor dem Bösen schützen, das angeblich in jeder Vollmondnacht umging. Lächerlich, als ob diese winzigen Flämmchen Werwölfe schrecken könnten. Silberne Kreuze oder Münzen in Fenstern und Türen könnten sie abhalten, aber die Leute waren zu arm, um sich Silber leisten zu können. Er und sein Rudel ließen sie in Ruhe, sie hatten kein Interesse daran, unter den Menschen Angst zu verbreiten. Sollten die an die Kraft der Kerzen glauben.

Aus der Dunkelheit kamen andere Werwölfe heran, schlossen sich ihm an. Einer rannte neben ihm. Er erkannte seinen Weggefährten Eugene. Alles war wie in unzähligen Vollmondnächten zuvor, und dennoch spürte er eine Veränderung. Da seine Wolfsinstinkte im Moment die anderen

Sinne überlagerten, kam er nicht dahinter, was es war. Diese Unruhe ließ ihn allerdings im Lauf früher innehalten als gewöhnlich, während die anderen weiterrannten auf der Suche nach frischen Fleisch und Blut. Schafherden waren ihr Ziel.

Eugene blieb bei Rhodry. Treuer Freund. Wenn er nur darauf käme, was heute anders war. Rhodry setzte sich auf die Hinterläufe und heulte. Von den umliegenden Hügeln erhielt er Antwort. Rhodry verspürte einen seltsamen Drang — nicht nach der Jagd, nicht nach Fleisch und Blut; es war … war … er kam sich verändert vor. Der Wind zauste das dichte Fell in seinem Nacken und schob eine Wolke vor den Mond. Er heulte noch einmal, bevor er mit gestreckten Sprüngen nach Shavick Castle zurückrannte, Eugene an seiner Seite.

Mehrmals war sie kurz aufgewacht und dann wieder auf dem Meer der Träume dahingeglitten. Sie hörte Rhodry. »Komm zu mir, Geliebte!«

Nola lag in demselben Bett, in dem sie auch in ihrem allerersten Traum gelegen hatte. Diesmal trug sie kein hochgeschlossenes Nachthemd, sondern eines der hauchzarten Dinger aus wenig Stoff, die sie zusammen mit Violet bei Harrod’s gesehen hatte. Kräftige, schmale Finger legten sich um ihr Handgelenk, und als sie die Augen aufschlug, sah sie Rhodrys Gesicht über sich. Inzwischen kannte sie jede Einzelheit. Blasse Haut, dunkle Augen, denen nichts entging, und schwarzes Haar. Eine Locke fiel ihm in die Stirn. Er war so vollkommen, dass es beinahe schmerzte.

»Rhodry«, flüsterte sie.

»Prinzessin. Bist du müde?«

»Ich habe auf dich gewartet.«

»Brave Kleine.« Er streifte sich das offene Hemd von den Schultern und setzte sich auf den Bettrand.

Sie sah das Verlangen in seinen Augen, und ihr Körper reagierte unmittelbar darauf. Sie sehnte sich nach seiner Berührung. Danach, dass er ihre Lust erst entfachte und dann stillte. Sie streckte eine Hand aus, ließ sie über seinen flachen Bauch gleiten.

»Komm zu mir!«

»Ich habe etwas für dich mitgebracht.«

Er hielt einen Seidenschal hoch. »Du wirst dich mir völlig hingeben, Prinzessin, und nichts von dir zurückhalten.« Er verband ihr die Augen. Seltsamerweise störte es sie nicht, dass sie ihm nun ausgeliefert war.

Mit einem Zeigefinger fuhr er die Innenseite ihres linken Arms entlang. Sein manikürter Nagel schrammte über ihre Haut. Der sanfte Schmerz gefiel ihr.

»Du gehörst zu mir, Prinzessin.«

Er machte das Gleiche mit ihrem rechten Arm. Strich danach über ihre Schultern und schob die Daumen unter die Träger ihres Nachthemds. Ein Ruck, und die Spitze riss. Er befreite ihre Brüste von der spärlichen Stoffumhüllung.

»So zart und schön.«

»Alles für dich«, wisperte sie und reckte sich ihm entgegen.

»Ich werde dich nehmen, Prinzessin.«

»Tu es!«

»Soll ich es langsam oder schnell tun?« Er küsste ihre Schläfen dicht neben dem Seidentuch, seine Zungenspitze schob sich darunter. »Prinzessin.«

»Wie du willst, aber lass mich nicht länger warten.« Sie fühlte die Sehnsucht in ihrem Leib brennen. Es gab nur einen Weg, sie zu löschen.

»Was magst du, Prinzessin?« Er beugte sich über sie. Sein Atem streichelte ihren Leib, seine Lippen folgten.

Sie strichen über die nackte Haut ihrer Schultern. Auf einmal packten seine Zähne zu, rissen an den Überresten ihres Nachthemdes. Vor Schreck bäumte Nola sich auf dem Bett auf. Rhodry zerfetzte ihr Hemd mit den Zähnen und zog es ihr vom Körper.

»Ich weiß jetzt, wie ich es haben will«, stöhnte Nola. »Mach’s mir hart! Ich will dich tief in mir spüren.«

»Du wirst mir völlig ausgeliefert sein, Prinzessin.«

Er kniete sich vor sie. Sein Penis stand steil vom Körper ab, und sie wollte ihn in sich spüren. Aber zuerst küsste und streichelte er ihre Brüste, ihren Bauch, die Innenseiten ihrer Oberschenkel. Mal nahm er die Fingerspitzen, mal die Hand, mal packte er kräftig zu, dann wieder nahm er Lippen und Zähne. Sanft und hart wechselten einander ab, und immer dann, wenn sie glaubte, das eine nicht mehr aushalten zu können, verwöhnte er sie auf die andere Art. Sie wollte ihn auch berühren, ihn streicheln, ihn dirigieren, aber weil ihre Augen verbunden waren, reichte es zu nicht mehr als einem Tasten. Doch ihre Fingerspitzen ließen sie den Männerkörper intensiver erleben als je zuvor. Sie war ihm ausgeliefert und genoss dieses Gefühl der totalen Hingabe.

Wellen der Erregung liefen durch ihren Leib, und endlich kniete Rhodry sich zwischen ihre Beine. Er küsste sie, spielte mit ihrer

Zungenspitze und drang dann langsam in sie ein. Nola stöhnte wollüstig und passte sich seinem Rhythmus an. Die Leidenschaft schwoll in ihrem Leib an. Sie klammerte sich an Rhodry und stöhnte, riss sich die Binde von den Augen. Ihre Fersen trommelten einen wilden Rhythmus auf die Matratze.

Eine kühle Hand legte sich auf ihre Stirn und jemand sagte: »Ruhig, Mylady. Sie sind schwach und müssen sich ausruhen. Das war nur ein schlimmer Traum.«

Wenn die Sprecherin wüsste, dass sie gerade den besten Sex ihres Lebens gehabt hatte … Nola wollte das Gefühl der Befriedigung festhalten und glitt wieder in den Schlaf.

Als sie das nächste Mal wach wurde, war sie fest entschlossen, es auch zu bleiben. Sie klammerte sich an diesen Gedanken und wer einen Gedanken hatte, der konnte nicht einschlafen, oder? Dennoch fiel es Nola schwer, die Augen zu öffnen. Sie befahl es sich, doch für diese Bewegung, die sie sonst nicht den Hauch von Anstrengung kostete, musste sie jetzt ihre ganze Kraft aufwenden.

Zuerst sah sie nichts. Allmählich schälten sich helle Flecken aus dem sie umgebenden Dunkel. Nola blinzelte, und die hellen Flecken wurden zu einem dreiarmigen Kerzenhalter an der gegenüberliegenden Wand. Die Kerzen brannten. Sie erkannte Vorhänge neben sich, stellte fest, dass sie sich nicht mehr im Keller befand, sondern in einem Himmelbett . Die Kissen waren weich, sie lag unter einer dicken Decke, und das ganze Bett war so breit, dass drei Personen darin Platz gehabt hätten.

Nolas Sinne klärten sich zusehends. Das Bett sah alt aus, oder besser gesagt: Der Stil war alt, das Bett selbst neu.

Sie zog die Hände unter der Decke hervor, wollte sich aufsetzen.

»Es geht Ihnen wieder besser, ich bin so froh.«

Eine weibliche Stimme - vage bekannt. Nola zuckte zusammen.

An der linken Seite ihres Betts saß eine junge Frau in einem Sessel, die Füße auf eine Bank gestellt. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einer altmodischen Frisur hochgesteckt, bei der sich einige Löckchen um Stirn und Ohren ringelten. Dazu trug sie ein einfaches dunkelbraunes Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Ihre Miene zeigte pure Freundlichkeit, dahinter glaubte Nola jedoch Neid und Falschheit zu erkennen.

»Ich …« Nolas Stimme kratzte. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal: »Wer sind Sie?«

»Ich heiße Amelia Hillier. Mein Vater ist Butler auf Shavick Castle, und ich helfe ihm bei der Arbeit im Haushalt.«

Die Tochter eines Butlers, so was Lächerliches. Wer hatte heutzutage noch einen Butler oder Bedienstete? Shavick Castle brauchte sicher keine. Nola richtete sich auf. Sofort sprang ihr Amelia zur Seite und schob ihr fürsorglich ein Kissen in den Rücken.

»Sie müssen vorsichtig sein, Mylady, Sie waren ohne Bewusstsein, als wir Sie im Keller fanden, und danach noch mehrere Stunden. Haben Sie Schmerzen?«

Hatte sie Schmerzen? Nola bewegte die Finger, die Zehen, die Beine, zuletzt schüttelte sie den Kopf. Nicht einmal die linke Ferse schmerzte.

»Ich habe Durst.«

»Ich bringe Ihnen gleich etwas.«

Amelia huschte aus dem Zimmer, und Nola hatte Muße, sich weiter umzuschauen. Durch die beiden Fenster sah sie grauen Himmel. Der Kerzenleuchter, den sie als Erstes bemerkt hatte, stand auf einem Sims über dem Kamin, in dem ein Feuer glimmte. Auf einem Nachttisch neben ihrem Bett stand ein weiterer Kerzenleuchter — unangezündet -, und vor dem Kamin ein Sessel; den anderen hatte Amelia ans Bett gerückt. Auf der anderen Seite des Zimmers befanden sich neben der Tür ein Sekretär und ein Vitrinenschrank, hinter dessen Glastüren sich allerlei Porzellanfiguren und Zierteller die Regalböden teilten.

Das Schlafzimmer einer Lady aus dem 19. Jahrhundert. Der Raum passte perfekt nach Shavick Castle, so musste es in der Glanzzeit des Schlosses ausgesehen haben. Ob Shavick Castle womöglich nur äußerlich verfallen war, die oberen Räume jedoch voll ausgestattet waren?

Amelia Hillier kam zurück. Sie trug ein Tablett mit einer Karaffe, in der eine milchig-grüne Flüssigkeit schwappte. Außerdem standen auf dem Tablett ein Glas, das nach Kristall statt nach Ikea aussah, und ein Teller mit Kuchen.

»Kalter Pfefferminztee«, verkündete Amelia. »Sehr erfrischend. Es gibt nichts Besseres, um Sie wieder auf die Beine zu bringen, Mylady. Und für den Hunger Kuchen.«

Nola nippte vorsichtig an dem Getränk. Tatsächlich kalter Pfefferminztee — und soweit sie herausschmecken konnte, auch nichts anderes. Er löschte ihren Durst hervorragend, sie trank zwei Gläser.

»Wieso sind Sie hier?« Sie musste mehr über diese Frau erfahren, musste wissen, was sie vorhatte und was von ihr zu halten war. Und vor allen Dingen, wie sie zu Rhodry stand.

»Ich arbeite und wohne hier.«

»Die Burg ist doch eine Ruine.«

»Na, hören Sie!« Amelia spitzte empört die Lippen. »Die Burg steht seit dreihundertfünfzig Jahren. Es ist vielleicht nicht mehr alles neu, aber sie ist keine Ruine! Und der Earl tut, was er kann.«

Die Altersangabe kam Nola kurz vor, ihrer Meinung nach müssten Shavick Castle etwa fünfhundertfünfzig Jahre alt sein — genau erinnerte sie sich nicht, wann es erbaut worden war.

»Ich bin mittags zur Burg gekommen, und es war mitten im Sommer. Jetzt sieht es nicht aus wie im Sommer.« Sie deutete zum Fenster. »Ich will wissen, was hier gespielt wird.«

»Gar nichts, Mylady. Niemand ist unaufrichtig zu Ihnen. Sie müssen mit dem Earl sprechen, er wird Ihnen alles erklären.«

»Was wird er mir erklären?«

Mit Amelias Ruhe und Freundlichkeit war es vorbei. Sie hatte die Stirn gerunzelt, sodass die Augenbrauen gerade Striche waren. »Sie müssen mit dem Earl sprechen.«

»Wo ist er, der Earl?«

»Er wird zu Ihnen kommen, sobald er bereit ist. Er weiß, dass Sie da sind.«

»Was war mit dem Toten im Keller?«

»Das … oh …« Amelia schlug eine Hand vor den Mund. »Sie müssen mit dem Earl sprechen, bitte!« Mit diesen Worten floh sie aus dem Zimmer.

»Verdammt!« Nola schlug auf die Matratze. Das war ein fieses Spiel, und der Earl bestimmt ein Betrüger. Sie würde bei seinen Plänen nicht mitmachen. Entschlossen schlug sie die Zudecke zurück und schwang die Beine aus dem Bett.

Ihre Kleidung fand sie auf einer Bank am Fußende des Betts. Hinter der voluminösen Federbettdecke war ihr dieses Möbelstück bisher verborgen geblieben. Sie zog sich an.

»Das verstehe ich nicht.« Rhodry saß neben Eugene auf dem Brunnenrand im Hof von Shavick Castle. Mit den Fersen schlug er leicht gegen die Steine. »Du sagst, heute sei der 23. März 1818, und damit ist es zwei Monate her, seit die Krakauer mich überwältigt haben. Ich habe aber das Gefühl, es sind inzwischen etwa zweihundert Jahre vergangen.«

»Du warst an einem Ort außerhalb der Zeit, das hat dein Gefühl getrübt.«

Rhodry runzelte die Stirn. Er glaubte nicht, dass es so einfach war. Einer Lösung kam er jedoch keinen Schritt näher.

Bei Sonnenaufgang hatten die Werwölfe sich wieder in ihre menschliche Gestalt verwandelt und den Kopf unter die Brunnenpumpe gehalten, um nach dem Rausch der Jagd einen klaren Kopf zu bekommen. Die Rudelmitglieder waren gegangen, um zu tun, was sie eben so taten — und auch das verwirrte Rhodry: dass er nicht wusste, was sie taten. Rhodry war mit Eugene am Brunnen geblieben. Außer dieser Differenz von zweihundert Jahren war da noch eine weitere Sache …

»Die Frau, die mich befreit hat, was ist mit ihr passiert?«

»Dalton hat sie bewusstlos neben deinem Sarkophag gefunden und in eines der Gästezimmer gebracht. Amelia kümmert sich um sie. Bessere Pflege kann sie nicht bekommen. Du wirst mit ihr reden müssen.«

»Das muss ich.« Rhodry schlug härter mit den Fersen gegen den Brunnenrand. Er hatte die junge Frau nur einen Wimpernschlag lang gesehen. Sie war hübsch, und normalerweise fiel es ihm nicht schwer, mit Frauen umzugehen. Sie erlagen schnell seinem Charme. Doch bei dieser jungen Dame hatte er das Gefühl, das Zusammentreffen würde sich schwierig gestalten. Gleichzeitig war ihm das Gespräch mit ihr enorm wichtig, sogar wichtiger, als Rache an Maksym Derenski zu nehmen. Das Wort Seelenpartnerin geisterte durch seine Gedanken.

»Wie war das, als du und Moira …« Verdammt, das war kein Thema für Männer! Über sowas sprachen Frauen in der Abgeschiedenheit ihres Salons.

»Wir wussten beide sofort, dass wir zueinander gehörten«, antwortete Eugene bereitwillig. »Wir waren allerdings beide Werwölfe und wussten, was eine Seelenpartnerschaft bedeutet. Menschen wissen davon in der Regel nichts, sie sind flatterhaft und auf ein schnelles Glück fixiert.« Eugene warf einen Seitenblick auf seinen Rudelführer. »Verständlich, angesichts ihrer kurzen Lebensspanne.«

»Da werde ich ein Stück Überzeugungsarbeit leisten müssen.«

»Du glaubst, sie ist deine Seelenpartnerin?«

Rhodry nickte ohne rechte Begeisterung. »Diesmal bin ich mir sicher.«

Zweimal hatte er schon geglaubt, sein weibliches Gegenstück gefunden zu haben, aber sobald er die nähere Bekanntschaft der Damen gemacht hatte, hatte er seinen Irrtum erkannt. Die Enttäuschung war beide Male schwer zu verkraften gewesen. Seitdem gab es Zeiten, da glaubte er, sich damit abgefunden zu haben, allein zu bleiben; dann wieder wünschte er sich verzweifelt eine Partnerin. Für einen oder zwei Tage hatte er sogar einmal geglaubt, Amelia sei ihm bestimmt, obwohl es ausgeschlossen war, dass jemand aus der Dienstfamilie Seelenpartner wurde, denn der Bluteid war eine unüberwindbare Trennlinie. Nachdem er Amelia einen Kuss geraubt hatte, war die Sache ohnehin klar gewesen.

Aber diese Frau … Er hatte immer geglaubt, eine unbändige Freude müsse ihn erfüllen, wenn es so weit war, und er hätte keinen anderen Wunsch mehr, als in ihren Armen zu liegen, sie auf Händen zu tragen und ihr bis ans Ende aller Tage jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Im Moment kannte er jedoch nicht einmal seine eigenen Wünsche.

»Und seitdem du und Moira … Ich meine, wie läuft es zwischen euch?« In die Partnerschaften seiner Rudelmitglieder mischte er sich normalerweise nicht ein und fragte auch nicht danach.

Wieder antwortete Eugene bereitwillig. »Wir haben unsere Höhen und Tiefen, darin unterscheiden Werwölfe sich nicht von Menschen. Moira macht längst nicht immer, was ich von ihr erwarte, manchmal scheint sie geradezu darauf zu lauern, das Gegenteil zu tun. Dennoch wissen wir, dass wir zusammengehören. In Dingen von wirklicher Bedeutung widerspricht sie mir nicht. Das wird bei deiner Lady nicht anders sein. Obwohl sie eine Menschenfrau ist, fühlt sie dasselbe wie du. Geh hin und offenbare dich ihr, danach nehmen wir uns die Krakauer vor.«

Rhodry rutschte vom Brunnenrand herunter und machte sich auf den Weg ins Haus. Er vergrub die Hände in den Hosentaschen, und jeder Schritt fiel ihm schwer.