NEUN

Frauke hatte die üblichen Sicherungsmaßnahmen ergriffen, um sich in ihrer Wohnung vor unliebsamen Überraschungen zu schützen. Sie war erstaunt, dass man keine Versuche mehr unternahm, sie einzuschüchtern oder gar ein Attentat auf sie auszuüben.

Georg fiel ihr ein. Er hatte ihr alles zu erklären versucht. Seine Begründungen waren plausibel, und sie würde es prüfen. Doch bisher hatte sie keine Zeit dazu gefunden. Es war merkwürdig, dass sie seit ihrem Treffen mit Georg und der – zugegeben – wunderbaren Nacht keinen Übergriffen mehr ausgesetzt gewesen war. Konnte sie ihm wirklich vertrauen? Wenn er doch etwas mit der Organisation zu tun hatte, dann hätte er in dieser einen Nacht Gelegenheit gehabt, sie zu töten. Andererseits machten sich die Bosse die Finger nie selbst schmutzig. Davor scheuten sie zurück. Auch wenn Georg Arzt und mit dem Tod vertraut war … Jemanden mit Vorsatz zu töten war etwas anderes.

Es war eine kurze und unruhige Nacht. Frauke wunderte es nicht. Die Anspannungen waren zu groß, die Erwartungen an den Folgetag, an das Finale zu hoch.

Sie fand sich zur verabredeten Zeit im Landeskriminalamt ein und war nicht überrascht, dass die Mitglieder ihres Teams schon anwesend waren. Auf der Fahrt gingen sie noch einmal den Aktionsplan durch. Madsack meldete sich zu Wort und erklärte, er habe mit dem Centermanagement gesprochen.

»Die wollten uns ihre Sicherheitsleute zur Unterstützung bereitstellen«, sagte der Hauptkommissar.

»Die sollen sich heraushalten«, sagte Frauke. »Wir können keinen Aktionismus gebrauchen. Helden sind hier fehl am Platz. Was haben Sie dem Centermanager erzählt?«

»Ich habe vage angedeutet, dass wir eine Observation planen. Natürlich wollte der Mann Details wissen. Ich habe ihn im Unklaren gelassen, auch als er selbst zu phantasieren begann und vermutete, wir würden einen Rauschgiftdeal überwachen. Er war entsetzt. ›So etwas darf es bei uns nicht geben‹, hat er immer wieder erklärt. Zu gern hätte ich ihn beruhigt, dass sein Center sauber ist und er und seine Mitarbeiter alles vorbildlich im Griff haben.«

Madsack wies Putensenf, der am Steuer saß, ein und erklärte ihm, durch welchen Eingang sie unbemerkt Zugang zum Komplex erhalten würden. Sie wurden von einem aufgeregt wirkenden Mann im grauen Anzug empfangen, der sich als Markus Baumgarten vorstellte.

Es bedurfte nochmals einer ausdrücklichen Erklärung Fraukes, dass der Betrieb im Einkaufszentrum wie gewohnt ablaufen sollte.

»Ich würde mir gern die Örtlichkeiten ansehen«, sagte Frauke. »Und der Kollege auch.« Sie wies auf den Leiter des Mobilen Einsatzkommandos, dessen Gruppe in Zivil erschienen war.

Baumgarten führte sie durch das Zentrum. »Es handelt sich um das rekonstruierte Braunschweiger Schloss«, erklärte er dabei. »Wir haben hier nicht nur einhundertfünfzig Geschäfte, sondern auch kulturelle Einrichtungen. Von der Schloss-Lounge haben Sie einen schönen Blick über die Stadt, von der Quadriga-Plattform können Sie sogar bis in den Harz blicken.« Der Rundgang führte sie durch das Basement und das Obergeschoss. Den Beamten vom Mobilen Einsatzkommando interessierten besonders die Ausgänge und möglichen Fluchtwege.

»Haben Sie Personenbeschreibungen möglicher Bodyguards für uns?«, fragte der MEK-Leiter Frauke.

»Leider nicht«, erwiderte sie. »Da müssen wir uns auf die Erfahrung und Intuition Ihrer Mitarbeiter verlassen.«

»Wir können nicht das ganze Areal abriegeln. Nicht unter den gegebenen Bedingungen.«

»Das wird nicht notwendig sein«, erklärte Frauke, obwohl sie selbst nicht sicher war.

Der MEK-Hauptkommissar wies seine Mitarbeiter ein.

»Madsack, Sie setzen sich ins Foyer. Ihr Gesicht dürfte noch unbekannt sein. Schwarczer und Putensenf müssen sich im Hintergrund halten.«

Dem korpulenten Hauptkommissar war anzusehen, dass ihm diese Rolle nicht behagte. Er gab aber keinen Widerspruch von sich.

Alle Vorbereitungen waren getroffen. Selbst der Kommunikationstest war reibungslos verlaufen. Frauke sah auf die Uhr. Die Minuten verstrichen unendlich langsam. Immer wieder galt ihr Blick dem Sekundenzeiger, der an seiner Stelle zu kleben schien. Sie begann zu zählen, merkte aber, dass sie schneller als die Uhr war. Dieser Trick klappte nicht.

Endlich war es halb zehn, und ein Uniformierter des Sicherheitsdienstes öffnete die Tür. Frauke hatte sich neben dem Eingang in einen Young-Fashion-Shop zurückgezogen und beäugte die Ständer in der Nähe des Zugangs. Eine kritische Verkäuferin beobachtete sie dabei und kam nach wenigen Minuten auf sie zu.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Danke, ich möchte nur schauen.«

Die junge Angestellte musterte sie. Ihr war anzumerken, dass sie der Meinung war, eine Frau in Fraukes Alter und die auf dem Ständer präsentierte Ware würden nicht zueinanderpassen. Sie wuselte in Fraukes Nähe herum. Nach fünf Minuten erschien sie erneut.

»Kann ich wirklich nichts für Sie tun? Dahinten haben wir noch andere Ware.«

»Vielen Dank, ich suche hier.«

Demonstrativ blieb die junge Frau neben Frauke stehen. Jetzt wurde es zu auffällig. Frauke zog ihren Dienstausweis hervor, hielt ihn der Verkäuferin hin und sagte: »Ich beobachte etwas. Es wäre nett, wenn Sie mich allein ließen.«

»Oh«, sagte die Frau und zog sich in den Hintergrund des Ladens zurück, um dort angeregt mit einer Kollegin zu tuscheln. Frauke registrierte, wie die beiden Angestellten angeregt in ihre Richtung sahen.

Immer mehr Kunden betraten das Einkaufszentrum. Frauke war überrascht, dass nicht nur ältere Besucher oder Mütter mit kleinen Kindern, sondern auch zahlreiche Leute an ihr vorbeipromenierten, von denen man annehmen sollte, dass sie um diese Zeit an ihrem Arbeitsplatz tätig sein würden.

»Lage?«, fragte Frauke leise in das Mikrofon, das versteckt am Revers ihrer Jacke angeklemmt war.

»Alles ruhig. Keine verdächtigte Person«, meldete sich der Leiter des Mobilen Einsatzkommandos. Keine zwei Minuten später hörte Frauke eine andere Stimme. »Am Eingang Ritterbrunnen hat ein südländisch aussehender Mann das Center betreten. Ungefähr vierzig Jahre alt.«

»Ich seh ihn auch«, fuhr eine andere Stimme dazwischen. »Manni, deine Augen lassen nach. Der ist fast sechzig. Sollen wir ihm folgen?«

»Nein. Alles bleibt auf den Plätzen. Verhaltet euch unauffällig«, wies der MEK-Leiter an. »Gibt es noch weitere verdächtige Personen?«

Niemand meldete sich.

»Er kommt in eure Richtung. Gleich müsste er im Foyer erscheinen.«

»Seh ihn«, meldete sich der Beamte, der im Eiscafé auf der Galerie saß und sich hinter der Braunschweiger Zeitung versteckt hatte. »Jetzt nimmt er die Rolltreppe nach oben.«

Wie in einer Live-Übertragung wurden die Positionen des Mannes durchgegeben. Er blieb im Obergeschoss stehen, beugte sich über das Geländer und suchte das Foyer ab. Frauke hatte sich ein Stück in den Laden zurückgezogen. Sie sah, wie der Blick des Unbekannten bei Madsack haften blieb, der scheinbar desinteressiert den das Center betretenden Kunden nachsah.

In dieser Situation kam ihnen Madsacks Leibesfülle gelegen, dachte Frauke. Niemand vermutete in dem behäbig wirkenden Hauptkommissar einen Polizisten. Sie schmunzelte, als Madsack demonstrativ eine Tüte Gummibärchen aus seiner Sakkotasche angelte und mit spitzen Fingern einzelne davon in den Mund schob.

Schließlich ging der Mann weiter. Er schlenderte gemächlich durch die Schloss-Arkaden, streifte durch das Basement, warf sporadisch einen Blick in einige der Geschäfte, schien aber nichts Auffälliges zu bemerken. Das war ein Beweis, dass die Kollegen des Mobilen Einsatzkommandos ihren Job verstanden. Schließlich griff der Unbekannte zum Handy und telefonierte. Es war ein kurzes Gespräch. Er kehrte zum Foyer zurück und positionierte sich im Obergeschoss vis-à-vis dem Hauptportal, stützte sich auf dem Geländer ab, verschränkte die Beine und sah scheinbar gelangweilt dem Treiben zu. Frauke hatte erkennen können, dass der Mann eine Waffe trug. Sie wollte es gerade durchgeben, als sich einer der Beamten meldete.

»Vorsicht. Der Typ ist bewaffnet.«

»Habe ich schon bemerkt«, sagte der Einsatzleiter.

Der Mann blieb beharrlich auf seinem Posten, ohne dass etwas geschah. Die vereinbarte Zeit war bereits um eine Viertelstunde überschritten. Mehrfach hatte der Leiter des MEK nachgefragt, ob es weitere verdächtige Personen gebe. Niemand war aufgefallen.

»Wenn ich noch mehr Cappuccino trinken muss«, beklagte sich der Beamte mit der Zeitung im Eiscafé, »platzt mir bald die Blase. Wie lange dauert es noch?«

»So ‘nen Job möchte ich auch haben«, beschwerte sich ein Kollege. »Ich steh hier in einem Geschäft für Damendessous und werde von allen Leuten dumm angegafft.«

»Schon etwas Passendes in deiner Größe gefunden?«, unkte ein anderer.

Frauke sah, wie sich der Körper des Mannes auf der Galerie straffte, ohne dass er die Position veränderte. Dann bemerkte sie den Mann, auf den sie warteten. Er sah weder nach links noch nach rechts, schlurfte über den Boden und blieb vor dem kleinen Wasserbecken stehen. Der helle Sonnenstrahl, der durch das Oberlicht auf die Gestalt fiel, wirkte wie ein Scheinwerfer.

»Er ist da«, sagte sie.

»Guido«, hörte Frauke die Stimme des Einsatzleiters. »Jetzt kommt deine große Stunde.«

»Immer ich«, maulte jemand gespielt. Gleich darauf tauchte ein gebeugt gehender Mann in einem blauen Overall auf, der einen Wischeimer in der einen Hand und einen Mopp in der anderen trug. Der Beamte erfüllte seine Aufgabe gut. Er säuberte den Boden an dieser Stelle, dann an einer anderen Stelle und näherte sich vorsichtig dem Beobachter auf der Galerie, dessen Hand vorsichtig in Richtung der Waffe wanderte. »Guido mit dem Wischeimer« beachtete ihn nicht, sondern entfernte sich wieder. Jetzt tauchte eine Frau mit einem Softeis auf und begab sich in Richtung der abwärtsführenden Rolltreppe. In der Nähe des Mannes auf der Galerie rutschte ihr das Eis aus der Hand und landete auf dem Fußboden. Hilflos sah sie sich um.

»Ach, Sie da«, rief sie Guido zu. »Wie gut, dass Sie da sind. Mir ist ein Missgeschick passiert.«

Guido kam näher, stellte den Wischeimer ab und nahm den Mopp in die Hand. Plötzlich schnellte er vor, überwand die Distanz von etwa drei Metern zum Beobachter und hatte ihn mit Hilfe der Kollegin, die nicht mehr ihrem verlorenen Eis nachtrauerte, überwunden, bevor der Mann reagieren konnte. Das alles war in Sekundenschnelle geschehen, sodass die wenigen Kunden des Centers, die sich in der Nähe aufhielten, die Aktion erst nach dem Abschluss registrierten.

Auch der Mann, auf den sie gewartet hatten, benötigte Zeit, bis er sich umdrehte und in Richtung Ausgang aufbrach. Madsack war aufgestanden und hatte sich ihm in den Weg gestellt. Dann war Frauke hinzugetreten, verfolgt von den beiden Verkäuferinnen des Ladens, in dem sie Deckung gesucht hatte.

Endlich stand sie ihm gegenüber, dem Mann im Hintergrund, der die Fäden gezogen hatte, dessen Hirn die teuflischen Pläne entsprungen waren und der zahlreiche Menschenleben auf dem Gewissen hatte.

»Guten Morgen«, sagte sie.

Er nickte müde.

Frauke zeigte auf ein paar schwarze Ledersessel, die um eine in einen Trog gepflanzte Palme gruppiert waren. »Wollen wir uns nicht setzen?«

»Wie immer, wenn wir miteinander geplaudert haben?«

Der Pate war nicht aufgeregt, er wirkte in keiner Weise angespannt. Frauke war überrascht, wie äußerlich unberührt er sich der Situation stellte. Überhaupt schien ihr das Ganze irreal. Wie oft hatte sie an den Moment gedacht, in dem sie dem Verbrecherhirn gegenübertreten würde, dem Mann, der kaltblütig Mörder auf sie angesetzt hatte, der sie vernichten wollte. Jetzt überkam sie keine kalte Wut, kein unkontrollierbarer Zorn. Nüchtern und emotionslos begleitete sie ihn zu einem der Sessel.

Er rückte einen zweiten so zurecht, dass sie dicht nebeneinanderstanden.

»Irgendwann musste es so kommen«, sagte er und legte seine Hand auf ihre. Es war eine vertrauliche Geste. Im ersten Moment wollte Frauke sie zurückweisen, dann gestattete sie es, obwohl ihr ein kalter Schauder den Rücken hinunterlief. Wie oft hatte sie diese Hand berührt, ohne zu ahnen, dass es die des Teufels war.

»Kein Leugnen? Kein Bestreiten?«, fragte sie.

»Beweise?«, fragte er im Gegenzug.

»Die SMS von Richter war ein Fehler. Ein anderer die Liebe.« Merkwürdig, dachte sie, dass ein solcher Mensch Liebe empfinden konnte. Man mochte es nicht glauben.

»Ja, von tiefer Liebe kann sich niemand befreien. Auch keiner wie ich.«

Es war seltsam, diese Worte aus seinem Mund zu hören.

»Und wie verträgt es sich, mit diesem Gefühl im Herzen solche Verbrechen zu begehen?«

»Verbrechen?« Er lachte bitter auf. »Wenn man nicht den Normen folgt, die die Gesellschaft willkürlich formuliert hat, gilt es als Verbrechen. Wer definiert, dass zum Beispiel Prostitution oder der Genuss von Betäubungsmitteln ein Verbrechen ist?«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Frauke. »Der Kopf einer Verbrecherorganisation hat auf der bürgerlichen Seite einen ehrenwerten Beruf, der dem Wohl der Menschen dienen soll, in dem er der Ethik verpflichtet ist.«

Er nickte. »Du hast recht, mein Mädchen.«

Erneut erschauderte Frauke, dass er sie »mein Mädchen« nannte. Ihr war die Vertraulichkeit in dieser Situation unheimlich. Doch wenn sie dagegen aufbegehren würde, würde er möglicherweise schweigen. Frauke spürte, dass er sprechen wollte. Was hatte Georg gesagt, als er mit seiner Arzttasche neben dem angeschossenen Mörder Özden hockte und ihr erklärte, dass sie und nicht er im Fokus der Täter stand? »Wie ich darauf komme? Logik, meine Liebe

»Wir haben ein umfangreiches Register von Straftaten. Muss ich die jetzt alle aufzählen?«

Er schüttelte müde den Kopf. »Nein. Ich weiß, wann es zu Ende ist.« Er tätschelte leicht ihren Handrücken. Frauke schien es, als würde jemand glühend heißes Eisen auf ihre Haut gießen. Sie duldete es trotzdem. »Ich habe nicht viele Fehler gemacht. Es war das Faszinierende daran, auf eine ganz besondere Weise Macht auszuüben, Menschen zu manipulieren und zu wissen, dass die da«, dabei beschrieb seine Hand einen Halbkreis, als würde sie die ahnungslos vorbeigehenden Passanten einfangen wollen, »Angst haben, wenn ich es gewollt habe.«

»Richter –«

Er unterbrach Frauke. »Mein größter Coup. Ein Polizist, der ernsthaft an seine Aufgabe geglaubt hat, der dem Recht dienen wollte. Für mich war es eine persönliche Herausforderung, Richter für unsere Zwecke zu gewinnen, ihn abhängig zu machen von Geld und seine Gier nach Dingen zu wecken, von denen er als Beamter nur hatte träumen können. Ich war selbst erstaunt, wie Richter in den Armen von Frauen alle guten Vorsätze vergaß. Geld! Das war nur ein Nebeneffekt. Er war süchtig nach den weiblichen Wesen, die wir ihm zuspielten. Für mich gab es nichts Größeres, als zu sehen, wie ein Mensch seine Seele verkauft. Das hat Goethe im wohl bedeutendsten Werk deutscher Sprache dargestellt. Und das klappt heute noch.«

»Das war das Motiv für all die Verbrechen?«

Er lachte bitter auf. »Das war faszinierend. Aber nicht der Kern.«

»Was denn? Geld?«

»Dann hätte ich mich schon lange zurückziehen können. Nein. Es war der Reiz, zu manipulieren, Macht auszuüben, Herr über Leben und Tod zu sein, wenn du so willst. Wie war das mit manchem Feldherrn, manchem Diktator? Warum hat Hitler zuerst die Juden, dann sein eigenes Volk und schließlich ganz Europa ins Unglück gestürzt?«

Frauke schüttelte angewidert den Kopf.

»Sie müssen krank sein.« Bewusst hatte sie das distanzierende Sie gewählt. Sie konnte diesen Mann nicht duzen. »Ein gesunder Geist kann sich so etwas nicht ausdenken.«

»Das wirst du nie verstehen, weil deine Empfindungen nicht so weit reichen.« Er tippte sich auf die Brust. »Hier drinnen, da fehlt dir etwas.« Dann führte er den Zeigefinger an die Schläfe. »Dafür hast du hier mehr, als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich habe das Spiel –«

»Spiel?!« Frauke unterbrach ihn. Jetzt keimte Wut in ihr auf. Der Tod so vieler Menschen war für sie kein Spiel.

Der Mann zögerte. Fraukes Regung hatte ihn beeindruckt. Er suchte nach Worten, die vorsichtiger klangen. »Ich habe die geistige Auseinandersetzung als größte Herausforderung meines Lebens angesehen. Ich gestehe, es genossen zu haben, Katz und Maus zu spielen.« Die Hand auf Fraukes Unterarm übte einen leichten Druck aus. »Verzeih, wenn ich wieder diese Vokabel ›spielen‹ verwende. Es ist wie beim Schachspielen. Es macht keinen Spaß, stets zu siegen. Man sucht immer größere Gegner, möchte an bedeutenderen Turnieren teilnehmen, strebt Meisterehren an. Das klappt nicht, wenn man sich nur mit Gelegenheitsspielern misst. Ich habe mich vergeblich nach adäquaten Kontrahenten umgesehen. Gratulation. In dir habe ich meinen Meister gefunden. Zunächst hatte ich es nicht für möglich gehalten. Es war immer ein eigenartiges Kribbeln, wenn wir uns begegnet sind, aber ich hatte immer den Eindruck, dass ich auf dem Pilotensessel saß, auch wenn ihr bemerkenswerte Erfolge erzielt habt. Wäre ich ein General, würde ich anerkennen müssen, dass mir ganze Bataillone verloren gegangen sind, dass wir erhebliche Geländeverluste erlitten haben.« Er fasste sich ans Herz, als müsse er etwas bekunden. »Das wäre der Zeitpunkt gewesen, an dem ich hätte aufhören und mich zurückziehen müssen.«

»Das ging nicht«, erwiderte Frauke und ließ für einen Moment ihren Blick in die Ferne schweifen, als sie daran dachte, dass auch einen Verbrecher Sentimentalität erfassen kann. »Wie sagten Sie? Die Liebe hat Ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht?«

Er nickte ernsthaft. »Daran ist die Organisation zerbrochen.«

Frauke warf einen Blick auf die Galerie. Der Zwischenfall mit dem Bodyguard war unspektakulär abgelaufen. Niemand im Einkaufszentrum registrierte, dass sich die Beamten des Mobilen Einsatzkommandos und Fraukes Mitarbeiter unauffällig im Foyer verteilt hatten. Madsack stand hinter dem kleinen Wasserbecken. Ein Stück entfernt saßen Putensenf und Schwarczer. Frauke schien es, als würde der Kriminalhauptmeister unentwegt auf den jungen Kommissar einreden.

»Bevor wir näher auf das Thema Liebe eingehen, das Ihnen zum Verhängnis geworden ist, würde mich interessieren, welche Bedeutung Stupinowitsch und Don Mateo in der Organisation hatten.«

»Ich werde zu beiden eine Aussage machen«, sagte der Mann. »Don Mateo hatte gute Verbindungen nach Italien. Er war ein idealer Stellvertreter. Ein loyaler und zuverlässiger Partner. Aufrecht. Er war schon lange im Geschäft, wie du es formulieren würdest. Für die Expansion habe ich nach weiteren Teilhabern Ausschau gehalten. So ist Igor Stupinowitsch dazugestoßen. Er verfügte über Verbindungen und die nötige Skrupellosigkeit. Aber beide hatten nicht das Potenzial, die ganze Organisation zu leiten.«

»Sie haben Sie als Paten akzeptiert?«

Er schüttelte den Kopf. »Mir ging es um das Ziehen an den Fäden. Ich habe es genossen, wenn die Marionetten tanzten. Stupinowitsch war eine der Figuren. Nein. Mich kannten nur zwei.«

»Don Mateo und Bernd Richter?«, riet Frauke.

Er nickte. Wieder einmal verspürte sie den verstärkten Druck auf ihrem Unterarm.

»Und Vittorio Gasparone?«

Er winkte ab. »Der war Geschäftsführer. Ein durchsetzungsstarker Kaufmann, aber mit viel Herz.« Frauke erinnerte sich an die begeisterte Zustimmung der beiden älteren Angestellten in der Wolfenbüttler Lucky Holding, die sich lobend über ihren Vorgesetzten ausgesprochen hatten.

»Gasparone gehörte nicht zur Organisation.«

»Was ist mit Herbert L’Arronge?«

»Ein Immobilienfachmann. Der hat vielleicht etwas geahnt, hat dann aber Angst bekommen und ist untergetaucht.«

»Ich verstehe nicht, weshalb Sie mir hier in dieser Offenheit alles beichten?«, sagte Frauke.

Er sah sie lange an. »Ich hatte doch alles. Ein erfülltes Leben. Ich war eine anerkannte Persönlichkeit, ein Ehrenmann. Ich durfte meinen Traum leben. Kann man sich mehr wünschen? Wer von denen …«, erneut ließ er seinen Arm im Halbkreis herumwandern und zeigte auf die Passanten, »hat ein solches Glück haben dürfen?«

»Und die Liebe«, kam Frauke auf seinen Schwachpunkt zurück.

»Ja«, gestand er. »Darüber bin ich gestolpert. Aber jetzt, wo die Liebe unwiederbringlich ein Ende gefunden hat, lohnt auch der Rest nicht mehr. Und darum, mein Mädchen, habe ich dich mit vollem Hass verfolgt, wollte dich töten lassen, so wie du meine Zukunft zerstört hast.« Er sackte in sich zusammen. Sein Blick glitt ins Unendliche, als würde dort das Bild seiner Liebe erscheinen. Es hatte lange gedauert, bis die Polizei diese Frage gelöst hatte. Frauke hatte immer geahnt, dass es ein Schlüssel des ganzen Falls sein könnte. Und sie hatte recht behalten.

»Sie hingen sehr an Ihrem Neffen, Dottore Carretta?«, fragte sie.

Der alte Anwalt nickte müde. »Wie ein Sohn. Nachdem die Polizia di Stato meinen Bruder erschossen hatte, habe ich meinen Neffen an Kindes statt angenommen. Er war mein Blut, nachdem mir keine eigenen Kinder vergönnt waren. Er war das Einzige, was ich noch hatte. Man muss die italienische Seele kennen, um das verstehen zu können.«

Der Anwalt nahm die Hand von Fraukes Unterarm. Zunächst begann er zu schluchzen, dann flossen die Tränen aus dem faltenreichen Gesicht. Frauke schien es nicht gespielt. Dottore Carretta zeigte echte Trauer.

Das war der Grund, weshalb er sie auf die Todesliste gesetzt hatte und weshalb er jetzt resignierte. Michele Carretta war von der Organisation in einer bedeutsamen Mission nach Saudi-Arabien geschickt worden. Wenn Marcello Manfredi nicht auf eigene Rechnung Geschäfte mit dem gefälschten Parmaschinken unternommen hätte, wäre der Rauschgifthandel nicht aufgeflogen. Dafür hatte Manfredi sterben müssen. Bis dahin hatte die Organisation im Verborgenen gewirkt. Doch den Befehl zum Töten hatte Dottore Carretta, der sonst so nüchtern die Fäden aus dem Hintergrund zog, allein aus persönlichen Gründen erteilt.

Durch die Ermittlungen der Polizei wurden die Saudis gewarnt. Dafür gab der Advokat Frauke die Schuld. Als erfahrener Jurist wusste er, dass es für seinen Neffen keine Gnade gab. Wer in diesem arabischen Land beim Rauschgifthandel erwischt wurde, dem drohte die Todesstrafe, die zudem auf eine besonders schmähliche Weise nach dem Gesetz der Scharia vollstreckt werden würde. Daraus resultierte sein Hass gegen Frauke.

Sie hatte kein Mitleid mit dem alten Mann, der zusammengesunken im Nebensessel kauerte und dessen Leben hier endete. Es war auch kein Gefühl des Triumphes. Die Polizei hatte das Recht durchgesetzt.

Frauke nickte unmerklich zur Galerie empor. Mehrere Beamte des Mobilen Einsatzkommandos kamen mit der Rolltreppe abwärts.

»Abführen«, sagte sie in geschäftsmäßigem Ton.

Zwei Beamte hakten Dottore Carretta unter, der sich widerstandslos aus den Schloss-Arkaden abführen ließ, ohne Frauke noch eines Blickes zu würdigen. Sie sah dem alten Mann nach, der gebeugt davonschlich, dessen aberwitziger Lebenstraum von Macht gebrochen war.

»Dank Ihres Mikrofons haben wir das ganze Gespräch aufgezeichnet«, sagte der Einsatzleiter und gratulierte Frauke.

Sie gab das Lob gern zurück. Die Beamten des MEK hatten den Einsatz vorbildlich gemeistert.

Ihre drei Mitarbeiter waren herangetreten. Putensenf streckte ihr die Hand entgegen. »Großartig, Chefin«, sagte er, und es klang ehrlich. »Obwohl Sie eine Frau sind«, fügte er leise an und zeigte dabei ein schelmisches Lächeln.

Es war allen anzumerken, dass die Spannung von ihnen abgefallen war.

Putensenf stupste Madsack in die Seite.

»Los, Nathan. Davon kommst du nicht los.«

Madsack zierte sich; als Putensenf ihn aber am Sakkoärmel packte und mitzog, folgte ihm der schwergewichtige Hauptkommissar. Sie umrundeten das rote Seil, das den Zugang zu dem Podest mit dem Flügel versperrte. Putensenf öffnete den Deckel, schob den Hocker an den Flügel heran und drückte Madsack darauf nieder.

Der Hauptkommissar zuckte mit den Schultern, streckte seine Arme vor, dass die Ärmel hochrutschten, verbog seine Finger, dass es knackte, zählte lautlos drei-vier und begann, ansatzlos in die Tasten zu hämmern.

Sofort blieben alle Leute stehen und bildeten einen Kreis um das Podest, auf dem Madsacks Finger in atemberaubendem Tempo über die Tasten zu huschen schienen. Wer war nicht von seinem Boogie-Woogie gefesselt?

Frauke schloss die Augen. Sie ahnte, dass ihre Mitarbeiter sie dabei beobachteten. Vielleicht hielt Putensenf es für einen Akt der Erschöpfung. Madsack war so sehr in sein Spiel vertieft, dass er nichts um sich herum wahrnahm. Schwarczer würde seine eigenen Gedanken anstellen. Doch niemand würde erraten, weshalb ein leises Lächeln ihre Lippen umspielte.

Sie wusste jetzt, wer Georg war!