SECHS
Über Nacht hatte es zu regnen begonnen. Von der Fensterscheibe perlte das Wasser ab. Frauke sah hinaus. Pfützen standen auf den Straßen, von denen kleine Fontänen hochspritzten. Dicke Tropfen klatschten auf die Dächer der parkenden und vorbeifahrenden Autos.
Von alldem hatte Frauke nichts mitbekommen. Sie wusste nicht, wie lange der Wecker geklingelt hatte, bis sie ihn endlich wahrgenommen hatte und aufgestanden war.
Sie ließ sich Zeit im Badezimmer und fuhr anschließend ins Landeskriminalamt. Merkwürdig, dachte sie. Wenn es regnet, wirkt sich das auf den Fahrstil vieler Leute aus. Es war nur ein kurzes Stück, aber sie geriet in einen Stau, in dem die Autos nur mühsam vorankamen.
Frauke war nicht überrascht, dass Nathan Madsack schon an seinem Schreibtisch saß. Sie huschte an der offenen Bürotür vorbei, ohne von ihm bemerkt zu werden, stellte ihre Tasche in ihrem Zimmer ab und suchte die Kantine auf.
Kaffee und Brötchen waren eine ideale Ergänzung zur wohltuenden heißen und ausführlichen Dusche. Frauke war zwar immer noch müde, aber langsam kehrten die Lebensgeister zurück.
Auf dem Flur wurde sie von einem aufgelöst wirkenden Madsack erwartet.
»Guten Morgen. Ich suche Sie schon im ganzen Haus.« Madsack musste sich wirklich bewegt haben. Er sprach kurzatmig.
»Moin. Wo brennt es denn?«
»Wenn es nur brennen würde … Man hat einen Toten gefunden.«
In Sekundenschnelle war Fraukes Gelassenheit einer Anspannung gewichen.
»Wer? Wo?«
Madsack holte tief Luft. »Alessandro Boccone. Eine Gruppe aus einer Kindertagesstätte hat ihn auf einem Spielplatz gefunden.«
Frauke zeigte aus dem Fenster. »Bei dem Wetter? Ist die Geldnot bei den Kommunen jetzt schon so groß, dass man den Nachwuchs nur noch im Freien betreuen kann?«
»Das weiß ich auch nicht.« Madsack schnaufte. »Herr Ehlers hat gesagt, wir sollen sofort hinkommen, wenn ich Sie gefunden habe. Er ist schon am Tatort.«
»Ehlers ist am Tatort?«
Madsack nickte.
Das verhieß nichts Gutes, wenn der Kriminaloberrat persönlich hinausging.
»Ich hole meine Sachen«, sagte Frauke. »Kommen Sie.«
Sie fuhren mit ihrem Golf. Mit einem kritischen Seitenblick sah sie, wie Madsack sich mühsam auf den Beifahrersitz zwängte.
»Sie können den Sitz zurückschieben«, sagte sie.
»Danke, es geht.« Es klang eine Spur beleidigt.
Madsack dirigierte sie zur Celler Straße, die in die Wedekindstraße überging. Sie bogen in die Bödekerstraße ein, in der noch viele alte Häuser aus der Zeit vor dem Krieg standen.
»Ein Stück weiter ist die Musikhochschule«, erklärte Madsack. »Davor müssen wir scharf links abbiegen. Kurz danach können Sie parken.«
Ein Fußweg führte in das weite Areal der Eilenriede, deren westlichster Zipfel hier begann. Der Weg war nach dem Bürgerrechtler Holtorf benannt.
Madsack führte Frauke in das mit hohen Bäumen bestandene Erholungsgebiet. Radfahrer und Jogger kreuzten trotz des Regens ihren Weg. Frauke zog den Kopf zwischen die Schulterblätter, während Madsack neben ihr herstapfte. Der Hauptkommissar war wie immer korrekt mit einem Anzug, Schlips und Kragen bekleidet. Im Nu waren beide durchnässt. Madsack schien es nichts auszumachen. Zumindest zeigte er keine Regung.
»Hier entlang.« Der Hauptkommissar zeigte nach halb links. Sie überquerten eine Brücke, an der eine Plastik wachte. »›Der Steinbock‹ von Ernst Gorsemann«, sagte Madsack und blies ein paar Regentropfen von der Lippe.
Der Tümpel, den die Brücke überspannte, war schmutzig und versumpft. Jetzt sah Frauke den Eingang zu einem groß angelegten Spielplatz, der von Bäumen umgeben war. Es war trotz der Lage inmitten der Großstadt ein idyllisches Plätzchen.
Fraukes Blick fiel auf eine gewaltige Blutbuche. Manche Symbole passen, dachte sie, als sie die Ansammlung von Uniformierten sah, die sich um ein Klettergerüst scharte. Die Spurensicherung war schon am Werk. Ein wenig abseits stand Kriminaloberrat Ehlers unter einem Regenschirm.
»Guten Morgen«, begrüßte er Frauke und nickte Madsack zu. »Sie triefen vor Nässe«, meinte Ehlers. »Das nenne ich keine optimale Vorbereitung.«
Es klang unzufrieden. Irgendetwas schien dem Kriminaloberrat zu missfallen.
Ehlers wies mit dem Regenschirm in Richtung des Spielgeräts, in dessen Zentrum ein hölzerner Turm stand. Von ihm ging eine Rutsche in den heute nassen Sand. Leitern, Sprossenwände, ein krummer Baumstamm zum Balancieren und eine Kletterwand boten vielerlei Möglichkeiten, den Turm zu erobern. Von einem etwas abseitsstehenden Podest führte eine Art waagerechte Strickleiter ebenfalls zum Turm. Zwei gehobelte Baumstämme links und rechts boten den Kindern Haltemöglichkeiten. Die gesamte Strecke war etwa zwei Meter lang. Mitten auf der Strickleiter lag ein Mann, dessen Hände und Füße mit Kabelbindern an den Leinen der Leiter befestigt waren. Sein Gesicht war dunkelviolett angelaufen.
»Der ist erstickt«, stellte Frauke auf Distanz fest.
Ehlers nickte und hob zweimal den Schirm. »Kommen Sie her. Stellen Sie sich mit unter.«
Sie schlüpfte unter den Schirm.
»Die Kollegen von der Spurensicherung haben Sand in Mund und Nase festgestellt. Man hat ihm mit dem Sand die Körperöffnungen verstopft. Ich würde es als Zeichen dafür deuten, dass der Mann ein Verräter war.« Ehlers musterte Frauke mit einem merkwürdigen Blick. »Er heißt Alessandro Boccone.«
»Madsack nannte vorhin den Namen. Mir sagte er bisher nichts.«
»Finden Sie das nicht eigenartig?«, fragte Ehlers.
Frauke schüttelte den Kopf, dass der Regen aus ihren Haaren flog.
»Ich bin ihm gestern Abend das erste Mal begegnet.« Sie berichtete von dem Treffen. »Seinen Namen hat er nicht genannt. Wir waren heute im LKA verabredet. Dort wollten wir Einzelheiten abstimmen.«
»Das erklärt die Sache mit dem Sand. In den Augen der Organisation war Boccone ein Verräter. Deshalb musste er sterben.«
Ehlers winkte einen Spurensicherer herbei.
»Zeigen Sie Frau Dobermann, was Sie in der Tasche des Toten gefunden haben.«
Der Mann bückte sich und holte aus einem Metallkoffer eine Klarsichttüte hervor, in der Fraukes Visitenkarte lag, die sie Boccone am Abend zuvor ausgehändigt hatte. Darauf war mit schwarzem Filzstift ein großes schwarzes Kreuz gemalt.
»Die reagieren schnell«, sagte Frauke. Ihre Stimme klang emotionslos.
Der Kriminaloberrat wandte sich ihr zu.
»Das Ganze nimmt Dimensionen an, die alles sprengen, was uns bisher begegnet ist. Sind Sie sich sicher, dass Sie den Ermittlungen mit Ihrem kleinen Team noch gewachsen sind?«
Es war eine vorsichtige Umschreibung. Frauke hatte verstanden. Ehlers begann an ihrer Kompetenz zu zweifeln. Vermutlich stand der Kriminaloberrat seinerseits unter Druck. Die Morde und Aktionen der Organisation fanden viel Aufmerksamkeit in den Medien. Unter Beobachtung der Presse sah sich mancher Politiker, aber auch die Behördenleitung dem Zwang zum Handeln ausgesetzt, mochte der Aktionismus auch unkoordiniert und wenig zielführend sein. Und da selbst der NDR sich des Themas angenommen hatte und Dieter Eigenbrodt »an der Sache dranhing«, wurde der Druck nach unten weitergegeben.
»Wir kommen nicht mit Quantität weiter, sondern nur mit Qualität«, sagte Frauke. »Es ist kein Chinesenproblem.«
Ehlers sah sie fragend an.
»Wenn ein Arbeiter eine Grube ausheben soll und dafür einhundert Stunden benötigt, können Sie über den Dreisatz ausrechnen, dass hundert Arbeiter eine Stunde benötigen. Wenn Sie schnell sein wollen, auch über Dreisatz errechenbar, setzen Sie tausend Arbeiter ein. Dann haben Sie die Grube in sechs Minuten ausgehoben.«
»Das geht doch nicht«, erwiderte der Kriminalrat. »Tausend Arbeiter können nicht gleichzeitig an einer Grube schaufeln.«
Frauke lächelte ihn an. »Dann lassen Sie unser Team in Ruhe weiterarbeiten.«
»Finden Sie nicht, dass Ihre Vorgehensweise gestern Abend unkonventionell war?«, versuchte es Ehlers auf eine andere Weise. »Vielleicht würde Boccone jetzt noch leben.«
»Wenn er gewusst hätte, dass man ihm auf der Spur ist, hätte er überhaupt nicht den Kontakt zu mir gesucht. Den Mann haben keine Gewissensbisse geplagt. Er wollte nur auf die andere Seite wechseln. Das hat nicht geklappt.«
»Sie sind reichlich cool«, stellte Ehlers fest.
»Als aufgeregter Hitzkopf können Sie gegen die Organisation keine Punkte machen.«
»Seien Sie vorsichtig. Wir haben schon einen Kollegen verloren«, sagte Ehlers mit besorgter Stimme.
»Ich glaube nicht, dass ich im Fokus stehe«, antwortete Frauke. »Professionelle Verbrecher akzeptieren, dass es Aufgabe der Polizei ist, sie zu stellen. Die sehen es sportlich. Wenn Drohungen gegen Ermittler ausgestoßen werden, dann nur von erregten Kleinkriminellen.«
Ehlers musterte sie. In seinen Augen las sie, dass der Kriminaloberrat ihren Worten keinen Glauben schenkte.
»Wir müssen die Ergebnisse der Autopsie abwarten, obwohl mir das Bild, das sich uns hier bietet, eigentlich schon alles verrät«, sagte Frauke. »Als Nächstes werden wir zu Boccones Wohnung fahren.«
»Wollen Sie warten, bis die Spurensicherung hier fertig ist?«
»Nein«, sagte Frauke. »Wir können hier im Augenblick nichts unternehmen.« Sie wandte sich an den Beamten im durchsichtigen Schutzanzug. »Wo wohnt das Opfer?«
»In Ricklingen.«
»Dann werde ich dorthin fahren.«
»Aber nicht allein«, mahnte Ehlers.
»Ich werde Schwarczer mitnehmen«, beschloss Frauke. »Madsack kann hier vor Ort alles Weitere koordinieren und nach Zeugen suchen. Irgendwie müssen Täter und Opfer ja hergekommen sein.«
Von der stark befahrenen Frankfurter Allee zwischen Ricklinger und Landwehrkreisel, die Teil der Westumgehung Hannovers war, drang der Straßenlärm herüber, der nur durch die mehrgeschossigen Häuser auf der anderen Straßenseite ein wenig abgeschirmt wurde. Es war ein ebenmäßiges Rauschen, das die Waßmannstraße erfüllte. Eine Kette gleicher Mehrfamilienhäuser prägte das gesamte Straßenbild. Jedes Gebäude war durch einen sauber gepflegten Vorgarten von der Wohnstraße abgegrenzt. In einem der Häuser wohnte Boccone.
Niemand interessierte sich für die beiden Beamten, die direkt vor der Haustür einen Parkplatz gefunden hatten. Es rührte sich auch nichts, als der Schlüsseldienst die Tür öffnete.
»Die Spurensicherung hat bei Boccone keinen Schlüssel gefunden«, erklärte Frauke Thomas Schwarczer. »Das überrascht mich nicht. Vermutlich haben die Täter, wenn wir davon ausgehen, dass es mehrere waren, sie dem Opfer abgenommen.«
Beim Betreten der Wohnung sahen sie, warum. Jemand hatte die Räume gründlich durchsucht und sich dabei nicht der Mühe unterzogen, es zu verbergen. Die Schubladen waren geöffnet, die Inhalte auf den Boden ausgekippt. Das galt auch für die Schränke. Selbst in der Küche waren die Schränke leer geräumt. Allerdings hatten die Besucher darauf verzichtet, das Porzellan zu zerschlagen. Ihnen war es nicht auf Zerstörung angekommen. Sie hatten etwas gesucht.
»Vermutlich dasselbe wie wir«, sagte Frauke. Sie musste nicht mehr ausführen. Schwarczer hatte ihren unausgesprochenen Gedanken erraten.
Sie unternahmen den Versuch, noch etwas zu finden, was die vorherigen Besucher vielleicht übersehen hatten. Es war ein vergebliches Hoffen. Alle persönlichen Gegenstände waren verschwunden. Es gab keine Bilder, keine Briefe oder Kontoauszüge, keine Rechnungen oder Notizen. Selbstverständlich hatten die Täter auch Notebook und Datenträger mitgenommen, falls sie vorhanden gewesen waren.
»Die Leute waren gründlich. Sie haben dem Opfer auch das Handy abgenommen«, sagte Frauke. »Ich hatte nichts anderes erwartet. Die Organisation arbeitet schnell und gründlich. Und konsequent. Ordern Sie die Spurensicherung, Schwarczer«, wies sie ihren Kollegen an. »Vielleicht finden die noch etwas, was wir und die Täter übersehen haben.«
Anschließend fuhren sie zur Justizvollzugsanstalt und ließen Bernd Richter vorführen.
Der ehemalige Hauptkommissar hatte eingefallene Wangen. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Er war schlecht rasiert, sodass die dunklen Bartstoppeln Schatten warfen. Mit unstetem Blick musterte er abwechselnd Frauke und Schwarczer. Es war unübersehbar, dass die Haft an seinen Nerven zerrte. Frauke hoffte, dass der Druck der Untersuchungshaft, der nicht zuletzt durch die Mithäftlinge ausgeübt wurde, Richter irgendwann weich werden ließ.
In jedem Gefängnis gab es eine Hierarchie, die die Häftlinge untereinander ausmachten. Kinderschänder und ehemalige Polizeibeamte standen auf der untersten Sprosse. Da half auch Richters möglicherweise herausragende Position in der Organisation nichts. Vielleicht lag es auch daran, dass in dieser JVA keine Unterstützer für Richter einsaßen. Diesen Gedanken wollte Frauke verfolgen.
»Na, Richter? Sie sehen nicht gut aus. Beißen Ihre Zellengenossen?«
»Fuck you.« Richter zeigte den Mittelfinger. So hatte er sich früher nie ausgedrückt.
»Es scheint einsam um Sie zu sein. Haben Sie keinen Supporter hinterm Stacheldraht? Sie müssen sich nur ein wenig gedulden. Wer aus Ihrer Truppe noch nicht auf Engesohde liegt«, damit nannte Frauke den Namen des Stadtfriedhofs, »der wird in einem der Krankenhäuser gesund gepflegt, damit er ebenso wie Sie die tägliche Vollverpflegung genießen kann. Aber nicht hier in Hannover. Wir werden Ihre Kumpel gut verteilen. In Wolfenbüttel, in Celle. Und an anderen reizvollen Plätzen. Es wird keine Unterstützung für Sie geben. Und Simone Bassetti hat gestanden. Haben Sie ihn schon von Weitem gesehen?«
Frauke ließ unerwähnt, dass sie angewiesen hatte, dass sich die beiden nicht begegnen sollten.
»Sie sind ein Führer ohne Volk. Das ist ein schlimmer Zustand.« Frauke legte die Fingerspitze an die Nase, als hätte sie einen plötzlichen Einfall.
»Ach, noch etwas. Mateo Zafferano hat den kürzesten Weg. Wenn er seine Nierentransplantation gut überstanden hat, wird er in Wolfenbüttel zur Reha nur über die Mauer gereicht. Sie wissen, dass Ihre Klinik direkt an die dortige JVA grenzt.«
»Das ist nicht meine Klinik. Und Don Mateo kenne ich auch nicht.«
Frauke wechselte einen Blick mit Schwarczer. Sie ließ sich Zeit dabei, damit Richter es mitbekam. Dann lächelte sie süffisant.
»Der Aufenthalt hinter Gittern scheint Sie zu zermürben. Sie haben sehr schnell verlernt, was man Ihnen beigebracht hat. Richter. Richter.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich sprach von Mateo Zafferano. Nicht von Don Mateo. So wird der Pate nur innerhalb der Organisation genannt. Ist das nicht blöde?«
Richter sprang auf und wollte zur Tür laufen. »Ich will hier raus«, schrie er.
»Natürlich. Das ist ein berechtigter Wunsch«, sagte Frauke amüsiert. »Äußern Sie ihn noch einmal in zwanzig Jahren. Dann dürfen Sie das Gefängnis verlassen und kommen direkt ins Pflegeheim, weil der Aufenthalt Sie fertiggemacht hat.« Frauke zeigte ihm Daumen und Zeigefinger, zwischen denen sie einen Zentimeter Platz gelassen hatte. »So klein, Richter.«
»Das ist Psychoterror, was Sie hier veranstalten«, rief der ehemalige Polizist und wischte sich den Speichel aus den Mundwinkeln.
»Psycho ist wesentlich harmloser als das, was Sie getan haben. Lars von Wedell haben Sie auf dem Gewissen. Kaltblütig von hinten erschossen. Einen jungen Kollegen, der Ihnen vertraut hat. Gibt es Widerwärtigeres, als auf diese Weise zu meucheln? Nicht nur die Zeit hinter diesen Mauern, sondern auch die Art und Weise, wie Sie sie verbringen werden, wird sehr unangenehm. Sie wissen, dass sich viele Abhängige unter Ihren Mitbewohnern befinden. Die würden alles dafür geben, um an Stoff zu kommen. Wie reagieren diese Leute, wenn sie erfahren, dass Sie, Richter, einer der Bosse eines Drogenkartells sind, der auch im Knast uneingeschränkt an Stoff kommt, aber nichts abgeben will?«
Richter trommelte mit beiden Fäusten auf die Tischplatte. »Ich will hier raus«, schrie er. Mit wirrem Blick sah er Frauke an. »Und ich werde hier herauskommen. Schneller, als du glaubst, du Schlampe.«
Frauke nahm die Beschimpfung gelassen hin. Sie hatte Richter an den Punkt geführt, an dem sie ihn haben wollte.
»Vielleicht sollten Sie es mit einem guten Anwalt probieren. Wie wäre es mit Dr. Eigelstein? Oder Dottore Carretta? Ach, den können Sie nicht nehmen. Stimmt. Der vertritt zwar viele Mitglieder der Gang, aber er rät ihnen stets, ihre Schuld zu bekennen. Vielleicht manchmal auch ein wenig mehr, um damit von denen abzulenken, die noch draußen sind. Ich vermute, dass der Advokat diese Taktik zuvor mit den Bossen bespricht und deren Entscheidung dann hinter die Gefängnismauern trägt. Das klappt bei Ihnen nicht. Sie sind ja einer der Bosse.«
Richter legte sich über die Tischplatte und beugte sich ganz an Schwarczer heran. »Die spinnt doch, die Alte. Die ist doch nicht ganz dicht. Jakob Putensenf hatte völlig recht. Oder ist das ein Hormonproblem?«
Schwarczer saß bewegungslos da und wich Richters Blick nicht aus. Er schwieg. Manchmal war er sogar Frauke unheimlich.
»Wenn Sie mir ein Hormonproblem andichten wollen, Richter, dann wüsste ich, wie ich das beseitigen könnte. Aber Sie?«
»Ich komm hier raus«, schrie Richter. »Ich komm hier raus.«
Frauke stand auf, weil der ehemalige Hauptkommissar einen hysterischen Anfall bekommen hatte. Immerzu schrie er diese Worte, auch als ihn der Vollzugsbeamte der JVA gemeinsam mit zwei zu Hilfe geeilten Kollegen abführte. Sie mussten Richter förmlich über den gefliesten Boden schleifen.
»Das dauert nicht mehr lange«, sagte Frauke zufrieden, als sie gingen. »Und da wir so gut in Form sind«, sagte sie fast fröhlich, »statten wir jetzt Igor Stupinowitsch einen Besuch ab.«
Das weiße Haus in der Scharnhorststraße im vornehmen Zooviertel lag friedlich da. Lag es am Regen, dass weit und breit kein Passant zu sehen war? Sie hatten Glück. Die Haustür stand offen. Sie klingelten an der Wohnungstür, aber nichts rührte sich.
Frauke blieb hartnäckig. Sie legte den Zeigefinger auf die Lippen und wählte Stupinowitschs Handy an. Deutlich war der Klingelton durch die Wohnungstür zu vernehmen. Der Mann war zu Hause.
Schwarczer schlug mit der flachen Hand gegen das Holz, dass die Tür im Rahmen vibrierte. Irgendwo im Haus wurde eine Tür geöffnet, und jemand rief: »Eh, was ist da los?«
»Wir sind von der Polizei«, antwortete Frauke laut, sodass es nicht nur der Nachbar, sondern auch der Wohnungsinhaber hören musste. »Wir wollen zu Stupinowitsch.«
»Warum das?«, fragte die Stimme.
»Warten Sie ein paar Minuten, dann sagen wir es Ihnen«, rief Frauke.
Kurz darauf wurde die Wohnungstür geöffnet, und Igor Stupinowitsch erschien. Er war unrasiert und trug einen seidenen Morgenmantel.
»Seien Sie leise«, sagte er wispernd. »Dürfen Sie das überhaupt?« Dann bat er sie in die Wohnung und führte die Beamten in das Zimmer, das sie schon vom ersten Besuch kannten.
»Stupinowitsch«, begann Frauke, wurde von dem Weißrussen aber unterbrochen.
»Herr heißt das.«
»Es freut mich, dass Sie gut mit unserer Sprache vertraut sind. Es wird eng für Sie. Wir haben Sie umzingelt. Die Lucky Holding in Wolfenbüttel ist aufgeflogen.«
Stupinowitsch versuchte ratlos auszusehen.
»Was ist damit? Ich glaube, daran bin ich beteiligt.«
»Nun spielen Sie uns hier nicht den dummen Affen vor«, herrschte Frauke ihn an, sodass der Mann sie irritiert ansah. Mit einem solchen Frontalangriff hatte er nicht gerechnet. »Sie wissen genau, mit welch schmutzigen Geschäften Sie Ihr Geld verdienen. Wir haben das Geflecht um die Reichenberger Immobilien Verwaltung, die diversen Vermögensverwaltungen und die Lucky Holding enttarnt. Sie haben sich alle Mühe gegeben, den Weg des gewaschenen Geldes zu verschleiern. Aber es reichte nicht.«
Stupinowitsch hielt die Hände vors Gesicht und stöhnte: »Bozhe mo˘ı. To, chto bylo so mno˘ı sdelali?«
Frauke wollte ihn gerade anschnauzen, dass er Deutsch mit ihr reden sollte, als Schwarczer leise übersetzte: »›Mein Gott. Was hat man mir angetan.‹«
Stupinowitsch riss sich fast die Hände vom Gesicht. Er gab sich keine Mühe, seine Überraschung zu verbergen.
»Mo˘ı drug! Woher kennst du meine Sprache?«
»Ich bin nicht Ihr Freund«, erwiderte Schwarczer höflich, aber bestimmt.
»Nun heulen Sie uns hier nichts vor. Sie haben genau gewusst, worauf Sie sich eingelassen haben.«
Stupinowitsch schlug sich mit der Faust auf die Brust, als würde er sich geißeln wollen. »Es ist nicht gut, wenn man sogenannten Freunden vertraut. Erst das Pech mit dem ungetreuen Danielo Battaligia –«
»Sie wollen nicht behaupten, dass Sie nichts von den Geschäften in Ihrem Bordell geahnt haben?«
»Ich bin ein Businessmann«, jammerte Stupinowitsch. »Natürlich wusste ich, dass sich in meinem Klub in der Reitwallstraße Männer vergnügen. Warum auch nicht? Die Deutschen und wir Russen sind uns ähnlich. Beide Völker lieben das Schöne, nicht wahr, Madame?«
»Sparen Sie sich solche Sprüche.«
»Aber … Madame. Haben Sie eine Vorstellung, wie teuer die Renovierung des Klubs ist, damit es dort wieder mit rechten Dingen zugeht?«
»Und der Gemüsehandel mit Ihrer Heimat?«
»Ich tue Gutes, wenn ich meine darbenden Landsleute mit frischem Gemüse beliefere.«
»Hören Sie mit dem Blödsinn auf. Die Ware ist nach dem Ausladen vergammelt. Es ging Ihnen nur um den getarnten Schmuggel schmutziger Arzneimittel nach Deutschland.«
Erneut schlug sich Stupinowitsch an die Brust.
»Ich frage Sie ehrlich: Man ist umgeben von Leuten, die einen ausnutzen. Wie kann ich die Bösen erkennen? Dazu muss man ein geübtes Auge wie Sie haben. Wenn Sie nicht mehr bei der Polizei arbeiten möchten, so könnten Sie mich beraten, damit ich nicht mehr auf solche Menschen hereinfalle. Ich zahle gut.«
Das war nicht nur ein gut getarnter Bestechungsversuch, sondern gleichzeitig auch das Bestreben, sich als der Hintergangene darzustellen. Es fehlte an handfesten Beweisen gegen den Weißrussen. Das wusste auch Stupinowitsch.
»Ihre Geldwaschanlage ist aufgeflogen«, sagte Frauke.
»Ich habe nur investiert. Das wird Ihnen auch mein Anwalt bestätigen. Alle anderen Dinge hat mein Partner organisiert.«
Frauke horchte auf. Boccone hatte schon angedeutet, dass es hinter den Kulissen knirschte.
»Hat Don Mateo Sie über den Tisch gezogen?«
Erneut zeigte Stupinowitsch eine unfreiwillige Reaktion, als Frauke den Namen des Italieners nannte. Seine Augenlider flackerten nervös.
»Don Mateo ist mein Freund. Ein Ehrenmann.«
»Das passt. Wir sprechen bei der Mafia auch von der ehrenwerten Gesellschaft. Nun würde mich interessieren, wer von Ihnen der Pate ist, der hinter den ganzen Verbrechen steckt?«
»Verbrechen?«, echote Stupinowitsch. »Herrje. Was sagen Sie da. Welche Verbrechen?«
Frauke zählte auf, was sie und ihr Team bisher gegen die Organisation ermittelt hatten. Sie hatte keinen Anlass, etwas zurückzuhalten. Stupinowitsch war nicht der Ehrenmann, als der er sich hier präsentieren wollte. Für Frauke reduzierte sich der Kreis der Männer, die im Hintergrund die Fäden zogen, auf vier Namen. Ihr Gegenüber, Don Mateo, möglicherweise Bernd Richter und der unheimliche Georg, der es geschafft hatte, sie einzuwickeln, sodass sie alle Vorsichtsmaßnahmen und jedes Fingerspitzengefühl hatte vermissen lassen. Mein »Animus« hat mich verlassen, dachte sie und meinte damit nicht den Glauben an anthropomorphe seelische Mächte, sondern die innere »Ahnung«, die der Husumer Große Jäger schlicht als »mein Bauchgefühl« bezeichnen würde.
Ein Hauch Blässe zeigte sich auf Stupinowitschs Antlitz.
»Das alles hat Don Mateo hinter meinem Rücken begangen? Das kann ich nicht glauben.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn immer für meinen Freund gehalten.« Stupinowitsch beugte sich vor, faltete die Hände wie zum Gebet und streckte sie gen Himmel. »Was raten Sie mir? Ich werde sofort meinen Anwalt konsultieren.«
»Dr. Eigelstein.«
»Ein tüchtiger Mann. Er hat mich in allen geschäftlichen Dingen gut beraten.«
»Dann sollten Sie ihn fragen, ob er auch Ihre Strafverteidigung übernimmt. Sonst müssten Sie Dottore Carretta bitten.«
»Ich habe volles Vertrauen zu Dr. Eigelstein. Wer ist der andere, Dr. Lametta?«
Frauke unterließ es, den falsch ausgesprochenen Namen des Advokaten zu korrigieren. Stattdessen tippte sie sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.
»Wir haben ein gutes Gedächtnis. Ich habe Sie mit Don Mateo, Giancarlo Rossi und dem Anwalt in dem Restaurant im Zooviertel getroffen.«
Stupinowitsch war ein schlechter Schauspieler. »Ach, den alten Herrn meinen Sie. Der ist Anwalt? Don Mateo hatte die beiden Herren als Gäste mitgebracht.«
»Und worüber haben Sie gesprochen?«
Der Weißrusse tat, als müsse er überlegen. »Ich erinnere mich. Mit Rossi hatte ich geschäftlich zu tun. Der hatte diesen fürchterlichen Unfall.«
»Das war kein Unfall. Der Mann ist ermordet worden.« Frauke erinnerte sich, dass sie Stupinowitsch gegenüber eine Andeutung gemacht hatte, dass die Polizei Rossi für einen Mittäter hielt. Wenig später hatte der Italiener sterben müssen. Für Frauke war das ein weiterer untrüglicher Beweis für die Vernetzung von Stupinowitsch und Don Mateo.
»Schlimm. Schlimm«, sagte Stupinowitsch.
»Und welche Rolle hat der Anwalt bei diesem Gespräch gespielt?«
»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte Stupinowitsch. »Ich glaube, Don Mateo hatte ihn dabei, damit er ihn rechtlich berät. Es ging schließlich um vertragliche Angelegenheiten.«
»Was haben Sie geplant?«
Stupinowitsch winkte ab.
»Das hat sich erledigt. Die Leute sind tot für mich. Alle.«
»Hoffentlich nehmen Sie das nicht wörtlich«, sagte Frauke und stand auf. »Wir werden Sie unter Beobachtung halten. Haben Sie vor, in der nächsten Zeit zu verreisen?«
»Ich bin Geschäftsmann und ständig unterwegs.«
»Dann sollten Sie in Hannover bleiben und hier Ihre Geschäfte abwickeln. Vielleicht macht es Sinn, die Verbindung zu den Italienern abzubrechen und auf weitere gemeinsame Unternehmungen zu verzichten.« Sie streckte ihm den Zeigefinger entgegen und bewegte ihn wie in einer Drohgebärde. »Nun haben Sie von mir einen guten Rat bekommen. Und das völlig kostenfrei.«
Sie ließen einen verunsicherten Igor Stupinowitsch zurück. Trotz aller nach außen gezeigten Gelassenheit begann der Weißrusse die Nerven zu verlieren. Fraukes Ansinnen war aufgegangen. Sie hatte die Saat der Zwietracht erfolgreich ausgebracht.
Im Landeskriminalamt wurden sie von Nathan Madsack erwartet.
»Es gibt Neuigkeiten«, strahlte der Hauptkommissar und begann schon auf dem Flur zu berichten, während er neben Frauke herwatschelte. »Die Analyse der Buchhaltung und die Auswertung der beschlagnahmten Computer bestätigt unsere Vermutung, dass die gewaschenen Gelder über die fingierten Pensionserlöse bei Reichenberger in Braunschweig zusammengelaufen sind. Von dort wurden die Gelder über die sogenannten Vermögensverwaltungen zur Lucky Holding weitergeleitet. Die hat, nachdem alles ordnungsgemäß versteuert worden ist, den Gewinn an die beiden Gesellschafter ausgeschüttet. Mit den aus illegitimen Geschäften generierten Gewinnen hat die Organisation übrigens kräftig in legale Objekte investiert. Wer Anteile an diesem Firmengeflecht besitzt, ist ein gemachter Mann. Das ist wie eine Gelddruckmaschine. Die haben Objekte erworben, teilweise saniert und weiterverkauft. Es ist sicher auch zu prüfen, warum manche Eigentümer weit unter Marktpreis an Reichenberger veräußert haben. Ob bei denen, die sich vertrauensvoll an die Immobiliengesellschaft gewandt haben, ein Kommando der Organisation erschienen ist und den potenziellen Verkäufern klargemacht hat, dass sie ihre Preisvorstellungen zugunsten Reichenbergers reduzieren sollen, prüfen die Kollegen vor Ort.«
Sie hatten Fraukes Büro erreicht. Madsack stand vor ihrem Schreibtisch und holte tief Luft. Sein langer Vortrag während des Gehens hatte ihn atemlos werden lassen.
»Was ist mit Herbert L’Arronge und Vittorio Gasparone?«
»Von beiden haben wir noch nichts gehört. Die sind untergetaucht und bleiben verschwunden. Das ist aber noch nicht alles.« Er sah Frauke an und wartete auf ein Lob. Für Frauke hatte sein Verhalten Ähnlichkeit mit dem eines Hundes, der für ein vollbrachtes Kunststück ein Leckerli erwartete.
»Was gibt es sonst noch?«
»Der Abgleich der Phantombilder, die wir aufgrund der Aussagen der Pensionsinhaber angefertigt haben, war erfolgreich.«
»Ja? Und? Haben wir einen Namen?«
Madsack nickte. »Es gibt fast keine Zweifel mehr, dass es Alessandro Boccone war.«
»Das würde Sinn machen«, sagte Frauke nachdenklich. »Mir gegenüber hat Boccone gesagt, dass er als ›Buchhalter‹ für die Organisation tätig war.« Frauke spreizte ihre zehn Finger, hielt sie in die Luft und klappte hintereinander fünf Finger ab. »Es ist wie bei den zehn kleinen Negerlein, Madsack. Die Organisation verliert immer mehr ihrer Leute. Es wird nicht mehr lange dauern, bis der Pate selbst das Geld einsammeln muss.«
»Über die Verträge haben wir auch den Namen des angeblichen Mieters bei den Pensionen herausgefunden. Da war die Organisation ziemlich einfallslos.«
»Kennen wir das Unternehmen?«
Madsack schüttelte den Kopf. »Das gibt es nicht. Die Adresse lautet ›Hohenzollernring‹. Es ist eine wunderschöne alte Stadtvilla gegenüber der Musikhochschule, in der ein renommierter Arzt und ein Institut für Gesundheitscoaching untergebracht sind. Die sind über jeden Verdacht, mit unlauteren Machenschaften in Verbindung zu stehen, erhaben.«
»Moment«, stoppte Frauke. »Unweit davon wurde doch Boccone ermordet aufgefunden?«
»Schon«, sagte Madsack gedehnt. »Das ist aber Zufall.«
»Hoffentlich haben Sie recht«, erwiderte Frauke skeptisch.
»Ganz bestimmt. Die haben seit Jahren einen exzellenten und untadeligen wissenschaftlichen Ruf.« Sie sah auf die Uhr. Es wurde Zeit, den Georgsplatz aufzusuchen. Dort war sie ›Georg‹ das erste Mal begegnet. Vielleicht fand sie Biker, die ihr bei der Suche nach seiner wahren Identität behilflich sein konnten.
Im Treppenhaus traf sie den Mitarbeiter der Kriminaltechnik, dem sie ihren Kühlschrankinhalt zur Analyse anvertraut hatte. Er war mit einem halben Dutzend Kollegen auf dem Weg in die Kantine.
»Ach, Frau äh …«, sagte er so laut, dass die ganze Gruppe aufhorchte und stehen blieb. »Die Lebensmittel … Ich würde das nicht mehr essen.«
»Also haben Sie etwas gefunden?«
»Das nicht, aber um ein paar abgelaufene Lebensmittel zu analysieren, war das mit reichlich Aufwand verbunden. Die interne Abrechnung der Laborkosten geht an Herrn Ehlers?«
Frauke überlegte kurz, ob sie die Kosten selbst übernehmen sollte. Aber das hätte sie auch in Erklärungsnot gebracht.
»Funny Money«, sagte sie.
»Was, bitte?«
»Funny Money. So nennt man es in der Wirtschaft, wenn innerhalb eines Unternehmens die einzelnen Betriebsteile interne Leistungen gegeneinander verrechnen. Geld, das nicht wirklich existiert.«
»Versuchen Sie das nächste Mal, von Ihrem Kühlschrankinhalt selbst zu kosten«, riet ihr der Labormitarbeiter, bevor er lachend seinen Weg fortsetzte.
Frauke nahm den Wagen, um den Kern der Innenstadt zu umrunden, und steuerte den Georgsplatz an. Es war eine Enttäuschung, obwohl sie nichts anderes erwartet hatte. Bei dem heute herrschenden Regen hatte sich kein einziger Biker auf dem Platz eingefunden. Missgelaunt kehrte sie zum Landeskriminalamt zurück und verschanzte sich hinter ihrem Schreibtisch.
Sie schreckte auf und warf dem Telefon auf dem Schreibtisch einen bösen Blick zu, bevor sie den Hörer abnahm.
»Knast Hannover, Mahlstedt«, meldete sich eine sonore Stimme.
»Bitte?«
Ein tiefes Lachen, das eher einem Brummen ähnelte, kam aus der Leitung.
»Justizvollzugsanstalt Hannover. Das ist viel zu lang. Wenn ich mich anders melde, weiß jeder, von wo aus ich anrufe. Man hat mir verraten, dass einer unserer Langzeitgäste ein Zögling von Ihnen ist.«
»Bernd Richter?«
»Jo. Und weil der wohl in Sorge darum ist, einem gestrengen Namensvetter gegenübertreten zu müssen, hat er anwaltlichen Rat eingeholt.«
»Dottore Alberto Carretta?«, riet Frauke.
»Jo. Da wir Beamte im Allgemeinen schlecht entlohnt werden, sollten Sie versuchen, ein wenig als nebenberufliche Hellseherin dazuzuverdienen.«
»Und Sie? Arbeiten Sie nach Feierabend als Maurer, weil bei Ihnen keine Fuge bleibt, durch die etwas entschlüpfen könnte?«
»Nee.« Frauke schien es, als wenn das Grinsen Mahlstedts aus dem Telefonhörer dringe. »Ich habe einen Nebenjob bei der Feuerwehr, weil ich nichts anbrennen lasse. Was haben Sie heute Abend vor?«
»Moment«, erwiderte Frauke, wartete einen Augenblick und fuhr fort: »Ich habe auf den Nummernautomaten gesehen, den ich für diese Situation installiert habe. Vor Ihnen sind noch vierunddreißig andere Herren dran.«
»Schade. Dann werde ich heute Abend doch mit meiner Frau vorliebnehmen müssen.«
»Vergessen Sie die Schwiegermutter nicht.«
Mahlstedt stöhnte theatralisch auf. »Bis eben waren Sie mir sympathisch.«
»Nutzen Sie Ihre Kräfte, um Richter zu bewachen.«
»Der entkommt mir nicht. Dem schmiede ich eine Kugel ans Bein.«
Hoffentlich reicht das, dachte Frauke, da Richter so selbstsicher davon ausging, bald wieder frei zu sein. Sie wünschte Mahlstedt einen schönen Tag.
Also doch Dottore Carretta. Zu gern hätte Frauke gewusst, ob Richter sich nach ihrem Besuch in der JVA an den Anwalt gewandt hatte oder die Organisation dem ehemaligen Polizisten den Juristen aufgezwungen hatte, um ihm auf diese Weise Anweisungen zukommen zu lassen.
Sie rief beim Finanzamt Braunschweig an. Es war nicht zuständig. Beim zweiten Versuch wurde sie mit Frau Sonnenschein verbunden.
Die Finanzbeamtin zeigte sich reserviert und wollte keine Auskünfte geben. Sie war vorsichtig und wollte erst mit Frauke sprechen, nachdem sie diese beim LKA zurückgerufen hatte.
»Ich bitte um Ihr Verständnis, aber ich kann Ihnen weder telefonisch noch auf andere Weise behilflich sein.«
»Ich verstehe Ihre Pflicht zur Verschwiegenheit. Können Sie mir nicht verraten, dass es auch ehrliche Steuerzahler gibt?« So großzügig das Finanzamt auch den Datenschutz zu seinen Gunsten unterlief und illegal erworbene Daten von angeblichen Steuersündern käuflich erwarb, so verschwiegen ging es mit Informationen um, die ihm über die Steuerpflichtigen bekannt wurden.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Frau Sonnenschein, die ein wenig gehetzt wirkte.
»Steht jemand hinter Ihnen?«, fragte Frauke.
»Nein. Ich bin eine alleinerziehende Mutter und muss nach Hause, ganz bis Goslar. Mein Sohn … Die Schule …«, beließ sie es bei Andeutungen.
»Es geht um vielfachen Mord«, sagte Frauke. »Ich möchte Sie nicht zum Bruch des Steuergeheimnisses verleiten, aber Sie könnten uns sehr behilflich sein.«
Frau Sonnenschein schwieg. Frauke nahm zur Kenntnis, dass sie nicht protestierte.
»Frau … Ich habe Ihren Vornamen nicht verstanden.«
»Gaby Sonnenschein«, verriet die Frau.
»Ihr Name ist Programm«, schmeichelte Frauke. »Ich möchte Ihnen jetzt ein paar Firmennamen nennen und nur wissen, dass alle Unternehmen unauffällige Steuerzahler sind.«
Gaby Sonnenschein hörte sich alle Namen an, notierte sie, bat um etwas Geduld und bestätigte schließlich, dass es sich um steuerlich völlig unauffällige Unternehmen handelte.
»Sie sind hier übrigens mit der Rechtsbehelfsstelle verbunden«, klärte sie Frauke auf. »Gibt es, hm … Anhaltspunkte, die für unsere Prüfer von Interesse sein könnten?«
»Ich darf Ihnen auch nichts verraten«, sagte Frauke. »Aber wenn ich zwei verschiedene Kandidaten für die nächsten Prüfungen hätte, würde ich nicht knobeln, wen ich zuerst besuchen würde. Das war ein nettes ›Nichtgespräch‹«, bedankte sich Frauke zum Abschied.
Während des Telefonats hatte sich ihr Mail-Programm gemeldet. Madsack teilte ihr mit, dass die italienischen Behörden überraschend schnell geantwortet hatten. Natürlich kannte man Don Mateo Zafferano. Er war ein bekannter Wohltäter in seiner Heimatregion, ein Mäzen und ein überaus ehrbarer und untadeliger Ehrenmann. Seit Generationen war die Familie in vielen Geschäftsbereichen erfolgreich tätig, galt als wohlhabend, und Zafferano war als Unternehmer das Aushängeschild der Provinz Benevento, die in der Region Kampanien lag.
Das hatte Frauke nicht anders erwartet. Über Vittorio Gasparone, den Geschäftsführer, hatte Madsack noch angefügt, gab es keine Informationen.
Necmi Özden lag immer noch im Klinikum Nordstadt und war nicht ansprechbar. Der vor dem Krankenzimmer wartende Beamte hatte sich gemeldet und mitgeteilt, dass ein Rechtsanwalt vorstellig geworden war und zu Özden wollte, aber von den Ärzten keinen Zutritt erhalten hatte. Eine Krankenschwester hatte das dem Beamten vertraulich mitgeteilt, nachdem sich ein Besucher, der nicht vorgelassen wurde, auch nicht ausweisen wollte. Der Polizist hatte eine gute Beschreibung abgegeben. Für Frauke bestand kein Zweifel, dass es sich um Dottore Alberto Carretta handelte.
»Dann können wir den Fall bald abschließen«, sagte sie zu sich selbst. »Der Dottore wird Özden raten, ein Geständnis abzulegen.« Frauke war gespannt, mit welcher Notsituation der Anwalt Özdens Morde rechtfertigen würde.
Sie beauftragte Schwarczer, alle Informationen zusammenzutragen, die über Igor Stupinowitsch vorlagen. »Ich hätte auch keine Einwände, wenn Sie Ihr Ohr im Rotlichtviertel auf das Pflaster legen würden«, ergänzte sie. »Es reicht mir ein informeller Bericht. Ein Protokoll können Sie sich sparen.«
Madsack und Putensenf erhielten den Auftrag, nach Kontakten von Alessandro Boccone zu forschen. Auch wenn der Buchhalter der Organisation bis zu seinem beabsichtigten Verrat verschwiegen gewesen war, so musste er irgendwelche Leute getroffen haben.
»Eine Frau«, sagte Frauke, »Freunde. Wo verkehrte er? Bankverbindung? Restaurant? Tankstelle? Supermarkt?« Sie fügte an, dass sie kurzfristige Ergebnisse wünsche.
In ihre Anweisungen hinein meldete sich der Empfang. »Hier ist jemand, der von der Inspektion Ost zu uns geschickt wurde. Die Frau möchte mit jemandem sprechen, der mit dem Mord in der Eilenriede zu tun hat.«
»Dann schicken Sie sie zu mir hoch.«
»Das geht nicht. Sie müssen Ihren Besuch schon selbst abholen. Und Ihr Laufbursche bin ich schon gar nicht.«
Niedersachsen!, dachte Frauke grimmig und machte sich auf den Weg. Vieles war in Flensburg einfacher gewesen. Aber wenn man es ehrlich betrachtete, war die überschaubare Dienststelle im Norden auch wesentlich kleiner gewesen.
Sie wurde ungeduldig von einer zur Rundlichkeit neigenden Frau erwartet, die aufgeregt von einem Bein auf das andere trat und Frauke erwartungsvoll entgegensah.
»Ich möchte zu dem Herrn, der für den Mord in der Eilenriede zuständig ist. Wissen Sie, der von heute Morgen.«
»Mein Name ist Dobermann. Ich bin die zuständige Ermittlungsleiterin«, sagte Frauke.
»Sie?« Es klang erstaunt. »Kein Oberinspektor?«
»Bei uns heißt es Kommissar«, belehrte Frauke die Frau und führte sie in ihr Büro. Dort fragte sie nach dem Namen.
»Waltraud Heimlich.« Sie kicherte dabei. »Da haben sich meine Freundinnen früher lustig gemacht, als ich mich mit meinem damaligen Mann im Park getroffen habe, nach Einbruch der Dunkelheit. Die trifft sich heimlich mit dem Heimlich, haben die mich geneckt.«
»Sie haben etwas beobachtet?«, fragte Frauke direkt, da sie nicht an den Familiengeschichten der Zeugin interessiert war. Doch die ließ sich nicht ablenken.
»Der Guschi hat sich schon vor Jahren davongemacht. Ganz heimlich. Wie der Name schon sagt. Ist das nicht lustig?« Erneut kicherte sie. »Jetzt wohne ich schon lange mit Josip zusammen.« Sie hielt ihre Hände in die Höhe. »Aber verheiratet sind wir nicht.«
»War Ihr Lebenspartner bei Ihrer Beobachtung gegenwärtig?«
Frau Heimlich sah Frauke an und öffnete den Mund. In ihrem Gesicht spiegelte sich Ratlosigkeit wider. Sie hatte Fraukes Frage nicht verstanden.
»Sie haben etwas gesehen. Waren Sie dabei allein, oder war Josip bei Ihnen?«
»Nee. Ich war allein. Josip ist zuckerkrank, wissen Sie. Deshalb geht er früh schlafen, während ich immer keine Ruhe finde. Mir zuckt es oft in den Beinen. Darum bin ich gestern noch mal weg, um bei Heinzi ein paar alte Freunde zum Klönen zu treffen. Als ich wieder zurück bin, da hab ich sie gesehen.«
»Wen?«
»Na, die zwei Männer. Die sind da aus dem Wald raus, gleich vorn, an der Ecke von der Bödeker. Ich wohn gleich da drüben in der Heinrichstraße. Grade gegenüber vom Hotel. Die hatten das richtig eilig, um zu ihrem Wagen zu kommen.«
»Was für ein Fahrzeug war das?«
Waltraud Heimlich rieb sich das Doppelkinn. »Sagen Sie, gibt das eigentlich eine Belohnung? Josip hat gesagt, ich soll gleich danach fragen.«
»Sie sind verpflichtet, der Polizei bei der Aufklärung von Straftaten behilflich zu sein. Sie kommen damit auch Ihrer guten Bürgerpflicht nach.«
»Also keine Belohnung?« Es klang wie eine Enttäuschung. »Na, vielleicht kommt ja doch noch was. Was wollten Sie noch wissen? Ach ja. Das Auto. War so ein schwarzes, wie so ein Kleinlaster.«
»Haben Sie sich die Marke gemerkt?«
»Nee. Davon kenn ich nichts. Aber das Kennzeichen. Weil die doch wie die Verrückten davongeprescht sind. Ich hab mir noch gedacht: Junge. Junge. Haben die das eilig. Das war Zufall mit dem Kennzeichen. Also Hannover. Ist klar, nicht? Und dann war das WH. Gut, oder?«
Frauke notierte sich das Kennzeichen einschließlich der Zahlenkombination, die noch folgte, während die Frau ergänzte: »WH. Wie meine In Italien.«
»Initialen«, korrigierte Frauke und dachte daran, dass »Italien« ein gutes Stichwort wäre.
Es kostete sie Mühe, Frau Heimlichs Redefluss zu bremsen, ein schnelles Protokoll zu verfassen und die Frau wieder hinauszukomplimentieren.
Dann machte sie eine Halterabfrage. Auf das Kennzeichen war ein grüner Opel Corsa zugelassen.
Frauke variierte die Abfrage, bis sie als Suchergebnis auf einen schwarzen Toyota Land Cruiser stieß, der auf Romeo Carlucci zugelassen war. Als Anschrift war die Ferdinand-Wallbrecht-Straße angegeben.
Sie rief Schwarczer zu sich und forderte den Kommissar auf, sie zu begleiten.
Die Straße mit dem lebhaften Durchgangsverkehr war dicht mit Laubbäumen bestanden, die sich in einem prächtigen frühherbstlichen Farbkleid präsentierten. Das Grün war eine passende Begleitung für die Häuser mit den sehenswerten Fassaden, an deren Ornamenten und Friesen das Auge gern einen Moment verweilte.
Frauke schenkte dem keine Beachtung. Sie hatten einen Parkplatz vor einem Kiosk auf der gegenüberliegenden Straßenseite gefunden, vor dem ein Gestell mit mehreren Kaugummiautomaten Frauke an unschuldige Kindheitstage erinnerte.
Carlucci wohnte in einem Haus mit grauer Fassade, an dessen Erker im oberen Bereich zwei zornig dreinblickende Gipsgesichter prangten.
Frauke wies Schwarczer auf den dunklen Toyota hin, der ein paar Fahrzeuge weiter auf dem Randstreifen abgestellt war. »Er scheint zu Hause zu sein.«
Neben der Eingangstür hatte ein Sprayer sein Tag an die Wand geschmiert.
Sie hatten Glück. Die Haustür war nur angelehnt. Hintereinander gingen sie die Treppe hinauf, bis sie vor der Wohnungstür mit Carluccis Namensschild standen.
»Der Mann ist nicht ungefährlich«, wisperte Frauke. Sie überlegte, ob es sinnvoller wäre, Unterstützung durch das MEK anzufordern.
Schwarczer betätigte den Klingelknopf, nachdem die Beamten ihre Dienstwaffen gezogen und durchgeladen hatten. Lehrbuchmäßig stellten sie sich nicht direkt vor die Tür, sondern versetzt hinter den Mauervorsprung.
Nichts rührte sich, obwohl Frauke ein leises Scharren hinter der Tür zu hören glaubte.
Sie klopfte gegen das Holz.
»Aufmachen, Carlucci. Polizei!«, rief sie.
Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, als es dreimal hintereinander krachte, Holz splitterte und Geschosse in der gegenüberliegenden Wohnungstür eindrangen.
Erschrocken fuhren die beiden Polizisten zurück. So viel Aggression hatte Frauke nicht erwartet.
»Haut ab, ihr Bullenschweine!«, war eine männliche Stimme zu vernehmen. Frauke glaubte, sie zu erkennen. Es war die Stimme, die ihr mehrfach am Telefon Todesdrohungen übermittelt hatte.
Am Telefon hatte sich Carlucci immer bestimmt, aber gewählt ausgedrückt. Seine Wortwahl heute wich von seinem bisherigen Verhalten ab. Lediglich als er Drohungen gegen Schwarczer ausgesprochen hatte, war der Begriff »Russe« gefallen. Man hatte also nicht nur über Frauke Informationen vorliegen, sondern auch über den jungen Kommissar.
Zwei weitere Schüsse fielen. Erneut splitterte Holz. Das Türfutter ähnelte einem Sieb. Wenn sich Menschen in der anderen Wohnung aufhielten, würde es unverantwortlich gefährlich werden, überlegte Frauke und teilte Schwarczer ihre Befürchtungen mit.
»Ob er flüchten kann?«, fragte sie anschließend.
»Kaum«, erwiderte Schwarczer. »Zum Springen ist es zu hoch. Und eine Feuerleiter gibt es nicht. Er sitzt in der Mausefalle, und das weiß er.«
Wie zur Bestätigung schoss Carlucci erneut durch die Tür.
Schwarczer gab Frauke ein Zeichen, dass sie sich etwas weiter hinter den Mauervorsprung zurückziehen solle. Sie dachte, es wäre eine Vorsichtsmaßnahme, und war überrascht, als der Kommissar plötzlich vorsprang, gegen die Tür trat und sofort wieder in Deckung ging. Mit einem Krachen brach die Tür aus der Füllung, schlug gegen die Wand und pendelte wieder zurück.
Frauke hielt ihre Waffe um die Mauerecke und gab einen Schuss ab, der hoch oben in die Decke schlug. Sie wollte damit ein Zeichen setzen, ohne gezielt auf einen Menschen zu schießen. Noch einmal antwortete die Waffe Carluccis. Dann war es still.
»Geben Sie auf. Sie haben keine Chance«, rief Frauke. Er gab keine Antwort. Vorsichtig plierte sie um die Ecke, dann gab sie der Tür einen sanften Stoß, dass sie sich ganz öffnete. Der Flur war leer. Carlucci musste sich in einen der Räume zurückgezogen haben.
Sie nickte Schwarczer zu. »Los«, hieß es. Gleichzeitig sprangen die beiden Beamten los und stürmten in den Flur. Am ersten Zimmereingang hielt Frauke und sicherte um die Ecke. Nichts. Der Raum schien leer zu sein.
Schwarczer hatte sich an die gegenüberliegende Flurwand gepresst. Sein ganzer Körper schien vor Spannung zu bersten. Er wirkte wie eine Raubkatze, die zum entscheidenden Sprung ansetzt. Plötzlich federte er vor und war mit einem Satz in der offenen Tür. Die Pistole hielt er lehrbuchmäßig mit beiden Händen. Es dauerte keinen Lidschlag, bis Schwarczer in Kombatstellung im Türrahmen stand und zweimal schoss. Keine halbe Sekunde später stand Frauke neben ihm, die Waffe im Anschlag, und sah in den Raum.
Carlucci stand mitten im Zimmer, eine Pistole auf den Polizisten gerichtet, und starrte die beiden Beamten ungläubig an. Seine Finger versuchten krampfhaft, den Abzug der Pistole zu betätigen, aber es gelang ihm nicht mehr. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Mann in den Knien einknickte und seitlich auf den Boden fiel. Die Waffe hielt er dabei immer noch mit dem Finger im Abzug fest.
Frauke warf Schwarczer einen schnellen Blick zu. Carlucci hatte auf sie geschossen, hatte ihren Tod billigend in Kauf genommen. Aber das war eine Hinrichtung. Es war wie bei einem Duell im Wilden Westen, dachte Frauke. Wer zuerst schießt, hat recht. Sie bückte sich nieder und kontrollierte Atem und Herzschlag.
Carlucci sah sie aus gebrochenen Augen an. Er stöhnte leise, dann begann er zu röcheln. Schaumiges Blut schoss aus seinem Mund, als er plötzlich krampfartig hustete.
Frauke sprang auf, griff ihr Handy und wählte den Notruf. »Schnell, einen Notarzt. Schwere Schussverletzung. Lebensgefahr«, sagte sie und gab die Adresse durch.
Sie zog den Kopf ein, als hinter ihr ein weiterer Schuss dröhnte. Schwarczer stand im Raum, hatte die Waffe Carluccis in der Hand und einen Schuss in die Wand abgegeben, etwa in Kopfhöhe ebender Stelle, an der er vorher gestanden hatte.
»Sind Sie wahnsinnig?«, brüllte Frauke ihn an. Sie war rasend vor Wut. Bei aller Abneigung gegen das Verbrechertum, gegen die Gewalt, die von diesen Leuten ausging, verabscheute sie Methoden dieser Art, auch wenn sie beim Überfall durch Necmi Özden auf sie und Georg genauso reagiert hatte.
Schwarczer legte die Waffe wieder an den Platz, an dem Carlucci sie hatte fallen lassen. »Das erfordert die Situation«, sagte er mit einer erschreckend kalten Stimme. »Sie kennen das.«
War das der Preis dafür, dass er zu ihren Gunsten gelogen hatte, als sie nicht preisgeben wollte, was sie nach Isernhagen geführt hatte?
Frauke sah ihm in die dunklen Augen, die sie emotionslos musterten und versuchten, in ihrem Mienenspiel zu lesen.
»Das hat Konsequenzen«, sagte sie.
Schwarczer zuckte nur die Schultern. »Notwehr«, sagte er lapidar. »Die Ermittlungen sind reine Routine.«
Frauke beugte sich zu Carlucci hinab. Blutiger Schaum hatte sich um die Lippen ausgebreitet. Die Augen waren starr und blickten leblos an ihr vorbei. Für ihn kam jede Hilfe zu spät.
***
Der weiße Fiat Fiorino mit der Aufschrift »Clean Partner« verließ das Firmengelände im Gewerbegebiet Hainholz.
Hanne Keltermann hatte ein merkwürdiges Gefühl im Magen. Plötzlich überkamen sie Zweifel, ob es richtig war, worauf sie sich eingelassen hatte. Nach der Zeit der Kinderbetreuung hatte ihr Ehemann sich von ihr getrennt und ihr die Verantwortung für die drei Kinder überlassen. Erich war bei VW in Hannover tätig gewesen und einer der ersten Restrukturierungsmaßnahmen zum Opfer gefallen. Später hatte er seinen alten Arbeitsplatz wieder einnehmen können, als es wieder aufwärtsging, allerdings als Zeitarbeiter zu wesentlich schlechteren Konditionen. Er war bemüht, den Unterhalt für die Kinder aufzubringen, aber manchmal klappte es nicht, weil in seinem »neuen Leben« auch zwei hungrige Mäuler darauf warteten, gefüttert zu werden. Selbst wenn Erich seinen Verpflichtungen immer nachgekommen wäre, hätte das Geld nicht gereicht. Sie selbst hatte in ihren alten Beruf als kaufmännische Angestellte nicht zurückkehren können. Mit fadenscheinigen Begründungen hatte man sie abgelehnt.
»Hanne, als Frau bist du entweder zu jung, weil du noch keine Kinder bekommen hast und die Schwangerschaft droht, oder du hast Kinder, aber die könnten ja krank werden, was genauso schlecht für den Arbeitgeber ist. Hast du diese Jahre aber überwunden, bist du plötzlich zu alt, oder du hast den beruflichen Anschluss verpasst«, hatte ihre Freundin einmal erklärt.
Hanne hatte resigniert und den Job bei »Clean Partner« angenommen. Sie hätte sich früher nicht träumen lassen, dass sie einmal als Reinigungskraft tätig werden würde. Die Arbeit war schlecht bezahlt, sodass sie zwei Objekte übernommen hatte. Morgens ab fünf Uhr schrubbte sie ein Bürogebäude in der Innenstadt, abends hatte sie ein zweites Objekt, bei dem sie zur Objektleiterin aufgestiegen war. Irgendwie erfüllte es sie mit Stolz, dass es »ihr« Gebäude war, für das sie mit vier ausländischen Mitarbeiterinnen verantwortlich zeichnete. Früher waren es sechs Kolleginnen gewesen, aber ihr Chef hatte ihr erklärt, dass man neue und teurere Maschinen einsetzen würde, die es zu amortisieren galt und die es ermöglichten, die gleiche Arbeit mit weniger Personal zu bewältigen. Auf die neuen Maschinen warteten die Frauen bis heute.
Vor einigen Tagen hatte sie ein Mann angehalten, kurz nachdem sie das Firmengelände an der Meelbaumstraße verlassen hatte. Er hatte sich als Mitarbeiter der ersten Stunde und Vertrauter von Josef Beutel vorgestellt. Jeder in Hannover kannte Josef Beutel, der es vom Fensterputzer zum vielfachen Millionär gebracht hatte. »Clean Partner« war eines seiner Unternehmen.
Der Mann hatte sie angesehen. »So wie Sie hat unser Chef auch angefangen. Kaum einer weiß es noch, aber er ist mit Schrubber und Besen durch die Gänge gezogen. Wissen Sie eigentlich, welch verantwortungsvolle Aufgabe man Ihnen übertragen hat? Dort, wo Sie jetzt das Kommando führen, hat Josef begonnen. Nun wird er fünfundsiebzig. Und ist immer noch jeden Tag im Büro, um die Arbeitsplätze zu erhalten. Sie haben keine Vorstellung, wie sehr es Josef in den Fingern juckt, wie gern er, statt am Schreibtisch zu sitzen, wieder einmal sauber machen würde. Wir, seine engsten Freunde und Mitarbeiter aus der Konzernzentrale, haben uns deshalb eine besondere Überraschung ausgedacht. Wir möchten dem alten Josef eine besondere Freude bereiten. Und was wäre schöner, als ihn zu Hause abzuholen, zum Ort seines ersten Kunden zu fahren und ihn dort eine Schicht wieder putzen zu lassen. So wie damals.«
Das hatte Hanne Keltermann verstehen können.
»Die Überraschung soll aber wirklich gelingen. Deshalb darf niemand etwas erfahren. Auch nicht Ihr Chef. Holen Sie in zwei Tagen den Firmenwagen ganz normal ab und fahren Sie nicht sofort auf die Schulenburger, sondern biegen Sie in die Sokelantstraße ab. Dort übernehmen wir den Wagen. Und Sie und Ihre Kolleginnen haben an diesem Tag frei. Aber wie gesagt – kein Wort zu irgendjemandem. Mit Sicherheit wird sich Josef Beutel für Ihre Mitwirkung großzügig erkenntlich zeigen.«
Jetzt bog Hanne Keltermann ab. Es klang alles einleuchtend. Niemand hatte Josef Beutel bisher zu sehen bekommen, aber alle sprachen voll Ehrfurcht von dem Patriarchen. Man sagte, er konnte jähzornig werden und warf auch schon einmal mit Gegenständen um sich. Es war sicher besser, nicht den Spielverderber zu geben. Andererseits hatte der Mann sich nicht vorgestellt und keinen Namen genannt. Aber er musste ein Insider sein, sonst hätte er nicht Hanne Keltermann gezielt angesprochen und genau gewusst, welches Objekt sie betreute. Trotzdem war das merkwürdige Gefühl da. Obwohl sie ihren direkten Vorgesetzten nicht leiden konnte, hätte sie gern mit ihm gesprochen. Aber dem standen die Worte des Fremden entgegen. Hanne hatte sich ihrer Freundin anvertraut.
»Deine Chance«, hatte die geantwortet. »Mensch, Hanne. Tu das.«
Sie hielt hinter dem großen BMW mit den abgedunkelten Scheiben, an dessen Kotflügel sich der Mann, der sie angesprochen hatte, lässig lehnte. Sie stieg aus und übergab ihm die Auto- sowie den Generalschlüssel für das Objekt.
»Ich weiß nicht«, sagte sie zögerlich.
Der Mann hielt ihr die Schlüssel hin. »Dann nehmen Sie die zurück. Ich weiß nicht, wie Josef Beutel reagieren wird. Er sitzt dahinten im Auto«, dabei zeigte er auf den BMW, »und fiebert der Überraschung wie ein kleines Kind entgegen. Was er sich wohl denken wird, wenn ich ihm jetzt sage, dass alles geplatzt ist.« Der Mann zeigte erneut auf den BMW. »Winken Sie ihm zu, damit er Sie sieht.«
Schüchtern bewegte Hanne Keltermann die Hand.
»Was meinen Sie, wie Josef sich jetzt freut. Da«, jetzt wies der Mann nach vorn, »steht ein Taxi, das Sie jetzt nach Hause bringen wird.« Er beugte sich zu ihr herab und näherte sich ihrem Ohr. »Das holt Sie heute Abend auch wieder ab. Seien Sie aber nicht zu überrascht, wenn Josef selbst kommt und Sie mit seinem BMW abholt.«
Hanne Keltermann schluckte. Sie wollte noch etwas sagen, bekam aber vor Aufregung keinen Ton heraus.
»Bis dann«, sagte sie und ging zur wartenden Taxe.
»Die Fahrt ist schon bezahlt«, rief ihr der Mann hinterher.
Hanne Keltermann hatte es nur im Unterbewusstsein wahrgenommen. Ihre Gedanken waren vorausgeeilt. Was sollte sie anziehen, falls Josef Beutel später am Abend persönlich bei ihr vorfahren würde?
Der Mann grinste, als er sich umdrehte und zum BMW zurückging. Er stieg in den Wagen mit den abgedunkelten Scheiben ein und beobachtete, wie die Frau mit der Taxe davonfuhr.
»Los jetzt«, sagte er, und die drei Männer im Auto zogen sich die bereitgelegten Overalls an, die farblich der Dienstkleidung der »Clean Partner«-Mitarbeiter ähnelten, ohne deren Firmenemblem auf der Brusttasche zu tragen.
»Kann ich den Schlitten fahren?«, bettelte ein durch Akne gezeichneter junger Mann.
»Halt die Schnauze, Schlossarek«, fuhr ihn der Mann an. »Du Arsch machst uns alles kaputt. So ein Depp wie du kann mit dem Geschoss nicht umgehen.«
Alexander Schlossarek öffnete den Mund, als wollte er antworten, überlegte es sich dann aber doch anders und schwieg.
»Raffaele, du stellst den BMW an die verabredete Stelle. Wir fahren getrennt dorthin. Wir gabeln dich dann auf.«
»Sì, Carmelo«, antwortete Raffaele Buffolo, stieg aus, umrundete den BMW und setzte sich hinters Steuer.
»Beweg dich, du Saftsack«, fluchte Lunardini in Schlossareks Richtung, der die Limousine ebenfalls verlassen hatte.
»Scheiß-Itaker«, murmelte der junge Mann leise vor sich hin.
Lunardini hatte es gehört. Ansatzlos holte er aus und schlug Schlossarek mit der flachen Hand ins Gesicht, quer über Nase und Wange. Dann zog er seine Hand mit der scharfen Kante seines Rings über die aknegeschädigte Haut. Sofort blutete es.
»Nenn mich nie wieder Itaker, cane rognoso, verstanden? Das nächste Mal trete ich dir in die Eier.«
Ein wütender Blick streifte Carmelo Lunardini, als Schlossarek hinter ihm herging. Wortlos zwängte sich der junge Mann auf den Beifahrersitz des Fiat Fiorino und wischte sich mit dem Hemdsärmel das Blut aus dem Gesicht.
»Du Sau«, schrie ihn Lunardini an. »Willst du so zum Kunden? Und schnall dich fest. Ich will nicht auffallen, nur weil du so bescheuert bist.«
Carmelo Lunardini startete den Motor und fuhr los. Er reihte sich auf der Schulenburger Landstraße in den laufenden Verkehr ein und achtete sorgfältig darauf, nicht aufzufallen. Unterwegs schaltete er das Radio ein und suchte NDR 1 Niedersachsen.
Eine sympathische Frauenstimme sagte den nächsten Musiktitel an. »Und nun folgt ›Taxi nach Paris‹ von Felix De Luxe.«
»Muss das diese Rentnermusik sein?«, maulte Schlossarek. »Da gibt es andere Sender, die richtige Musik haben.«
»Halt endlich die Fresse!«, schrie ihn Lunardini an. Das wirkte, bis sie ihr Ziel erreicht hatten.
Der BMW stand schon in einer Parklücke in der Straße »Auf dem Emmerberge«. Raffaele Buffolo lehnte gegen das Fahrzeug und rauchte.
»Bist du bescheuert?«, herrschte ihn Lunardini an. »Was machst du mit deiner Kippe? Da sind jede Menge Spuren dran.«
»Scusa.«
»Eine Entschuldigung führt uns nicht weiter. Steck dir die Kippe in die Hosentasche. Kapiert? Ne ho abbastanza di questo figlio di una cagna.«
Dabei zeigte er auf Schlossarek, der nicht verstanden hatte, dass Lunardini sich beschwerte und meinte, ihm würde dieser Hurensohn reichen.
»Los, Arschloch, verkriech dich auf die Ladefläche«, wies Lunardini den jungen Mann an.
Buffolo drückte die Zigarettenkippe aus und ließ sie in der Streichholzschachtel verschwinden.
»Los denn«, sagte er, nachdem er auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Er hatte keinen Blick für die wunderbaren alten Stadthäuser aus der Gründerzeit, vor denen sie den BMW abgestellt hatten.
Schlossarek hatte kurz »Aua« gesagt, als er sich zwischen den Besen, Eimern und Kanistern mit Putzmitteln hineinquetschte, die Beine verrenkte und den Kopf schief halten musste. Es wurde nicht bequemer, als der Fiat über das Kopfsteinpflaster rumpelte und noch vor dem viel befahrenen Rudolf-von-Bennigsen-Ufer nach links abbog.
Lunardini hielt vor der heruntergelassenen Schranke an, ließ die Seitenscheibe herab und rief: »Die Saubermänner.«
Der Pförtner im kleinen Häuschen öffnete die kleine Klappe in der Glasscheibe und winkte ihn zu sich heran.
»Ich kenne euch nicht«, sagte er.
»Hanne ist verhindert. Die haben eine Betriebsversammlung. Nun müssen wir ran. Ist schon blöd, da wir unsere eigenen Sachen auch noch machen müssen. Die machen Terz, und wir müssen es ausbaden.«
»Trotzdem kenne ich euch nicht.«
Lunardini winkte ab. »Ist auch gut.« Er drehte sich um. »Dann machen wir heute nicht sauber bei euch. Kommt mir sehr gelegen. Habe sowieso keinen Bock darauf.«
Er machte Anstalten, zum Auto zu gehen.
»Augenblick«, rief ihm der Pförtner hinterher. »Kennt ihr euch denn aus?«
Lunardini zeigte auf den Beifahrersitz. »Der Kollege hat hier schon geputzt.«
Plötzlich hob sich die Schranke und gab den Weg frei.
Der Fahrer sah sich suchend um. Geradeaus begrenzte ein flacher Bau mit Fliesen, die an einen früheren Fleischereiladen erinnerten, einen kleinen Platz, auf dem zwei Fahrzeuge parkten. Lunardini bog nach links ab, umrundete einen lindgrün gestrichenen Betonklotz, auf dessen Dach große Satellitenantennen ihre Ohren in den Himmel streckten, und stutzte, als vor ihm ein von Garagen umsäumter Platz auftauchte, auf dem zahlreiche weiß lackierte Fahrzeuge mit dem NDR-Logo standen.
»Rechts. Da ist der Eingang«, half ihm Buffolo aus.
Hinter dem Betonklotz gab es weitere Parkmöglichkeiten. Lunardini stellte den Fiat ab. Vor der Rampe, die zu einer gläsernen Automatiktür führte, standen zwei einsame Fahrräder in der langen Reihe der Ständer.
Buffolo wies auf ein Schild an der Wand. »Null eins«, sagte er. »Das ist richtig.« Es polterte in ihrem Rücken, als sich Schlossarek bewegte und dabei Kanister mit Reinigungsmitteln gegeneinanderstießen.
»Wer hat uns nur diesen Idioten auf den Hals gehetzt?«, sagte Buffolo auf Italienisch.
»Uns sind die Leute ausgegangen«, erwiderte Lunardini in ihrer Muttersprache. »Es gibt keinen anderen. Da muss man mit solchem Schrott wie ihm zufrieden sein.«
»Der versaut uns die ganze Aktion.«
»Sieh das mal so: Den benutzen wir als Bremsklotz. Der steht im kritischen Fall als Puffer zwischen uns.«
»Glaubst du, Carmelo, dass es gefährlich wird?«
»Nein. Dafür liegen alle Trümpfe in unserer Hand. Die Deutschen sind viel zu dumm für so etwas. Außerdem wagen die nichts. Wenn du denen drohst, haben sie Angst vor den Folgen und gehen auf alle Forderungen ein. Abgesehen davon ist unsere Aktion so spektakulär, dass die alle überrumpelt sind.«
Sie stiegen aus und behielten dabei die Handschuhe an, die sie sich auf Lunardinis Anweisung angezogen hatten, bevor sie in den Wagen des Reinigungsunternehmens gekrochen waren.
»Endlich«, stöhnte Schlossarek, als er sich mühsam aus dem Frachtraum herausgequält hatte.
Lunardini strafte ihn mit einem Blick. Dann griff er zu den Segeltuchtaschen, die sie mitgenommen hatten, öffnete sie und verteilte den Inhalt.
»Geil«, sagte Schlossarek mit glänzenden Augen, hielt die Maschinenpistole HK MP 7 an der Hüfte, drehte sich und rief: »Ratta-ta, ratta-ta, ratta-ta.«
»Wenn du das noch einmal machst, lege ich dich um«, schrie ihn Lunardini an und trat Schlossarek so brutal gegen das Schienbein, dass der junge Mann in die Knie ging.
Nicht ohne Grund hatte der Anführer diese Waffe gewählt. Sie war kompakt, nur unwesentlich größer als ein DIN-A4-Blatt und vereinte die Vorteile mehrerer Waffentypen auf sich. Das Gewicht und die Handhabung entsprachen nahezu einer Pistole, sie hatte aber eine wesentlich höhere Durchschlagskraft. Sie war so konstruiert, dass sie auch verdeckt getragen werden konnte. Waffen bauen, das konnten die Deutschen wie keine andere Nation, aber sonst … Lunardini sah verächtlich auf Schlossarek, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Schienbein rieb.
»Los jetzt«, trieb er seine beiden Kumpane an.
»Wo sind meine Handgranaten?«, fragte Schlossarek schüchtern.
»Du Idiot sprengst uns damit unfreiwillig in die Luft.« Lunardini machte Anstalten, Schlossarek ins Gesäß zu treten. Er hasste den jungen Mann mit dem Narbengesicht, in dem auch noch das getrocknete Blut klebte.
Sie nahmen eine Treppe, an deren Fuß ein Ascher für Raucher stand, die hier wie in allen anderen öffentlichen Gebäuden aus dem Haus verbannt worden waren. Die Tür öffnete sich automatisch, als sie sich ihr näherten. Sie fanden sich auf einem langen menschenleeren Flur wieder, von dem auf beiden Seiten Büros abgingen. Das Gros der Mitarbeiter hatte bereits Feierabend gemacht.
Lunardini trieb die kleine Gruppe an. Nach ein paar Metern zweigte rechts ein Gang ab, der durch eine Glastür mit der Aufschrift »NDR Kultur« abgegrenzt war.
»Hier entlang«, sagte Lunardini und bog ab. Er verbarg seine Waffe unter dem Arm, damit der einsame Raucher, der in einem grünen Innenhof seinem Laster frönte, es nicht mitbekam. Rechts vom Gang zweigten Türen mit kleinen Glasfenstern ab, hinter denen sich Studios verbargen.
»Wo hat der Eigenbrodt sein Büro?«, fragte Schlossarek im Laufen und stieß mit einer Frau mit kurzen rotbraunen Haaren zusammen, die in diesem Moment eines der Studios verlassen wollte und zurückschreckte, als die drei Männer an ihr vorbeieilten.
Lunardini schenkte ihr keine Beachtung. Er hatte sie nur als Schatten aus den Augenwinkeln wahrgenommen und war sich sicher, sie würde die Männer als Putzkolonne auf dem Weg zur Arbeit zuordnen. Er und Buffolo trugen die Maschinenpistolen so, dass ein flüchtiger Betrachter sie nicht wahrnehmen konnte. Schlossarek, der den beiden Italienern halb hinkend folgte, schwenkte hingegen seine Waffe am langen Arm. Er bemerkte das Aufblitzen in den Augen der Frau nicht, die geistesgegenwärtig in der Bewegung innehielt, hinter sich griff und die Studiotür wieder aufdrückte.
Vorsichtig lugte sie um die Ecke und sah, wie die kleine Gruppe am Ende des Ganges nach links abbog und Richtung Foyer lief. Dort blieben die Männer stehen. Es sah aus, als würde es einen Disput zwischen zwei Männern geben, bis der Letzte aus der Gruppe, der der NDR-Mitarbeiterin am gefährlichsten schien, sich in der Mitte des Foyers positionierte und seine Maschinenpistole im Anschlag hielt, während einer zur Pförtnerloge des Haupteingangs lief und kurz darauf den Mitarbeiter von der Pforte mit seiner Waffe vor sich hertrieb. Die beiden überließen ihn dem »Gefährlichen« und entfernten sich den Gang entlang.
Die Frau zog sich ins Studio zurück und wählte die Eins-Eins-Null.
Lunardini hatte Schlossarek im Foyer zurückgelassen und ihm den Pförtner als Geisel anvertraut.
»Mach keinen Scheiß, sonst bist du fällig«, hatte er Schlossarek gemahnt. Dann waren er und Buffolo den Gang weiter entlanggelaufen. Sie suchten dabei die Namensschilder an den Türen ab.
»Es muss auf der rechten Seite sein«, sagte Buffolo mit keuchendem Atem. Er war das Laufen nicht gewohnt.
Ein Stück weiter stoppte Lunardini, sodass Buffolo auflief.
»Mist«, fluchte er.
Beide zogen die Sturmmasken vor das Gesicht, rissen die Tür auf und stürzten in das Büro der Hannover-Redaktion.
Erschrocken sahen die beiden Männer auf, die ins Gespräch vertieft waren. Einer saß auf dem Schreibtischstuhl, hatte sich weit zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen und relaxed die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Der Zweite saß auf der Schreibtischkante und ließ die Beine knapp über dem Fußboden baumeln.
»… meine Schwiegermutter mit unseren Kindern nach …«, sagte der Mann auf dem Stuhl und hielt mitten im Satz inne, als er die beiden Eindringlinge gewahrte.
»Los – los – los«, rief Lunardini, dessen Stimme durch die Maske gedämpft wurde. »Wer ist Eigenbrodt?«
Die beiden NDR-Mitarbeiter wechselten einen raschen Blick. Ihr Erschrecken angesichts der auf sie gerichteten Maschinenpistolen war unübersehbar.
Der Mann auf dem Stuhl räusperte sich. Dann sagte er: »Ich bin Dieter Eigenbrodt.« Er schluckte. »Und wer sind Sie?«
»Werd nicht frech«, fuhr ihn Lunardini an und ließ die Spitze des Laufs seiner Waffe zu dem Mann auf dem Schreibtisch weiterwandern.
»Und wer ist das?«
»Ein Kollege«, erwiderte Eigenbrodt. »Haben Sie sich in der Tür geirrt? Sie sind hier beim Radio. Und da verdient man nicht so viel, dass ein Überfall lohnt.«
»Halt die Klappe. Du redest nur, wenn du gefragt wirst. Ist das klar?« Lunardini beschrieb mit seiner Waffe einen kleinen Kreis. »Du hast Lügengeschichten über die Organisation verbreitet, Unwahrheiten über die wahren Ziele der wohltätigen Gesellschaft im Radio erzählt, die Menschen scharfgemacht, zu einem Kesseltreiben gegen die Organisation aufgerufen.«
»Das ist nicht wahr. Wir sind unserer journalistischen Pflicht nachge–«
»Schweig«, unterbrach ihn Lunardini und sah auf die Uhr. »In fünf Minuten beginnt die Tageszusammenfassung. Ich will, dass du diesen Text vorliest.« Er zog ein zusammengefaltetes Blatt hervor und reichte es Eigenbrodt.
Der Journalist nahm es zur Hand und suchte umständlich nach seiner Brille.
Lunardini hatte das Ablenkungsmanöver bemerkt. »Wenn du das noch mal versuchst, hau ich dir eine rein«, schimpfte er und zeigte auf den Schreibtisch.
Dieter Eigenbrodt las den Text. Dann wedelte der mit dem Blatt Papier.
»Da sind wir nicht die richtige Adresse. In diesem Punkt kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«
»Quatsch keine Opern. Mach einfach.«
»Da gibt es zwei Dinge, die dem entgegenstehen. Zum einen darf ich das nicht, zum Zweiten kann ich das nicht.«
»Natürlich kannst du.« Lunardini zeigte die erste Spur Nervosität. Er hatte es sich einfacher vorgestellt. Wenn jemand mit einer Waffe bedroht wurde, zeigte er keine Renitenz. Der Rundfunkmann zierte sich. Lunardini kam näher und stieß ihm die Spitze des Laufs in die Rippen.
»Was hindert dich daran, unsere Forderung zu erfüllen?«
»Ich kann nicht einfach das Programm ändern«, sagte Eigenbrodt.
»Du sollst einfach nur etwas über den Sender quatschen. Das macht ihr doch ständig. Diesmal ist es ein Text von uns. Was ist daran so schwer zu verstehen, Mann?«
»Hör mal!« Eigenbrodt wischte mit der Hand durch die Luft. Er war auch zum Du übergegangen. »Radio ist nicht so, wie es sich der Hörer vorstellt. Hier im Hause gibt es ganz viele kleine Studios. Darin sitzen wir und nehmen unsere Texte auf. Die werden von der Technik zusammengeschnitten und in einen Computer eingespeist. Der steuert ganz automatisch das Programm.«
Lunardini fühlte sich unsicher. Er konnte nicht abschätzen, ob ihm der Redakteur eine Mischung aus Wahrheit und Phantasie vorlog.
Eigenbrodt fuhr in ruhiger Stimme fort: »Ich bin nur ein kleiner Reporter. Journalist. Versteht ihr? Von Technik verstehe ich nichts. Ich habe keine Ahnung, an welchen Hebeln man drehen muss. Dafür haben wir Fachleute im Haus. Ohne die läuft gar nichts.« Demonstrativ sah er auf die Uhr. »Hast du gesehen, dass der Flur leer war? Wir sind eine Behörde. Jetzt ist Feierabend. Die sind alle zu Hause.«
»Du lügst«, fluchte Lunardini.
***
Kaum jemand ahnte, mit welchem bürokratischen Aufwand die polizeiliche Ermittlungsarbeit verbunden ist. Es galt nicht nur, den Täter zu entlarven, sondern ihm die Tat auch hieb- und stichfest nachzuweisen und das Ganze beweissicher zu dokumentieren. Gewiefte Verteidiger stürzten sich auf die Akten und zerpflückten sie, suchten nach Ungereimtheiten in den Protokollen und zerlegten unglückliche Formulierungen. Manch guter Polizist drohte an solchen Dingen zu scheitern. Frauke fiel Oberkommissar Große Jäger aus Husum ein, der mit Hauptkommissar Christoph Johannes ein kongeniales Ermittlerpaar bildete, vor allem auch deshalb, weil ihm Christoph die lästige Büroarbeit abnahm. Habe ich jetzt »Christoph« gesagt?, durchfuhr es Frauke. Sie wurde durch ihr Telefon abgelenkt.
»Sind Sie die zuständige Kommissarin in der Sache mit der Mafia?«, fragte eine resolut klingende Frauenstimme.
»Sie sind mit der Ermittlungsgruppe organisierte Kriminalität verbunden«, antwortete Frauke ausweichend.
»Hier ist Margarete von Schwarzkopf. Ich bin Kulturredakteurin beim NDR hier in Hannover. Das Landesfunkhaus ist soeben überfallen worden. Ich habe drei Leute mit Maschinenpistolen gesehen.«
»Wie bitte?« Frauke war überrascht. Das war eine ungeheuerliche Meldung. »Wann war das?«
»Das ist schon ein paar Minuten her. Es hat fürchterlich lange gedauert, bis ich mit Ihnen verbunden war.«
»Warum haben Sie nicht die Hundertzehn angerufen?«
»Dann wäre hier ein großes Polizeiaufgebot angerollt. Vielleicht ist es besser, das Problem mit Intelligenz anzugehen«, sagte Margarete von Schwarzkopf.
»Wie viele Leute haben Sie gesehen?«
»Drei.«
»Sind das alle?«
»Mehr sind mir nicht aufgefallen. Die Leute trugen übrigens die Kleidung der Reinigungsfirma.«
»Gut. Wir kommen«, sagte Frauke. »Ich gebe Ihnen meine Handynummer. Rufen Sie mich darauf an und berichten Sie mir weitere Details, während wir unterwegs sind.«
»Ist in Ordnung«, erwiderte die Redakteurin.
Frauke trommelte ihre drei Mitarbeiter zusammen. Im Laufschritt eilte das Team zur Fahrbereitschaft. Madsack schnaufte heftig, als er sich ins Polster fallen ließ. Auf dem Weg zum Auto hatte Frauke mit knappen Sätzen die Kollegen informiert. »Schwarczer, Sie fordern das SEK an. Die sollen sich aber zurückhalten und in Deckung bleiben.«
Putensenf hatte sich hinters Lenkrad geklemmt und das mobile Blaulicht eingeschaltet. Mühsam bahnte er sich einen Weg durch den Feierabendverkehr. Während der Fahrt suchte er im Radio nach NDR 1 Niedersachsen. Alle vier zuckten zusammen, als in Überlautstärke Lena Meyer-Landruts »Satellite« erklang.
»’tschuldigung«, sagte Putensenf.
»Ah, ich höre, Sie haben uns drauf«, sagte Margarete von Schwarzkopf, die eine Verbindung zu Frauke hergestellt hatte. Sie schilderte, was sie gesehen hatte.
»Wo sind die Leute jetzt?«, fragte Frauke.
»Einer steht im Foyer. Er hat eine Maschinenpistole und sieht sich ständig nervös um. Den Pförtner hat er als Geisel bei sich. Ich sehe quer hinüber durch einen Innenhof und muss ein wenig vorsichtig sein, damit ich nicht entdeckt werde. Nein. Ich sehe keinen weiteren NDR-Kollegen in der Nähe. Wenn Sie kommen, meiden Sie den Haupteingang am Rudolf-von-Bennigsen-Ufer. Fahren Sie über Auf dem Emmerberge. Dort ist der Eingang zum Hof. Dann nehmen Sie aber nicht die Tür gegenüber vom Pförtner, sondern etwas weiter links. Dort ist ein großes Schild ›Haus 1‹. Von dort aus weise ich Sie weiter ein.«
Während ihres Gesprächs mit der Redakteurin hatte Frauke mit den anderen verfolgt, wie Schwarczer das MEK informierte und dabei wie ein Simultandolmetscher das weitergab, was er aus Fraukes Telefonat mit Margarete von Schwarzkopf aufgeschnappt hatte. Madsack hatte inzwischen Kontakt zur Leitstelle aufgenommen und angeordnet, dass keine Streifenwagen den Tatort ansteuern sollten und alle Polizeifahrzeuge, die in die Nähe des Landesfunkhauses kamen, möglichst das Martinshorn abschalten sollten, um die Täter nicht nervös zu machen.
»Haben Sie eine Idee, was die Leute im Funkhaus wollen?«, fragte Frauke.
»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Margarete von Schwarzkopf. »Ich hörte aber den Namen des Kollegen Eigenbrodt. Und der hängt im Moment an der Sache mit der organisierten Kriminalität dran.«
Die Redakteurin hatte wunderbar kombiniert, dachte Frauke. Mit hoher Wahrscheinlichkeit steckte die Organisation dahinter. War das der große Coup, von dem Boccone gesprochen hatte? Das spektakuläre Ereignis? Was wollten die Täter im Rundfunkgebäude? Sich an Eigenbrodt rächen? Kaum. Dazu musste man nicht ein so waghalsiges Unternehmen starten. Dem Journalisten hätte man auch anders auflauern können.
***
Lunardini bemerkte, wie Buffolo ihn von der Seite ansah. Es war ein kritischer Blick. Er war der Boss des Kommandos. Ihm hatte man die heikle Mission anvertraut. Es war sein erster größerer Einsatz. Endlich konnte er aus dem Schatten derer heraustreten, die man schon verhaftet hatte oder die tot waren. Er durfte hier nicht versagen.
»Nun erzähl uns keinen Mist«, schrie er Eigenbrodt an. »Du machst jetzt, was ich dir aufgetragen habe. Wie du das anstellst, ist deine Sache. Und wenn es sein muss, lassen wir alle Puppen in dieser Bude tanzen.«
»Ich akzeptiere, dass ihr derzeit das Sagen habt«, erklärte Eigenbrodt und griff mutig zur Spitze des auf ihn gerichteten Laufs, um ihn ein wenig zur Seite zu schieben. Dann hob er beide Hände. »Aber wenn ihr jetzt befehlen würdet, wir sollen fliegen, könnten wir es immer noch nicht. Trotz aller Drohungen.«
»Hör endlich auf zu quatschen. Du kommst jetzt mit.« Lunardini sah Eigenbrodts Kollegen an. »Alle beide.«
»Ja. Sicher. Aber wohin denn?«
»Dahin, wo wir die Nachricht übers Radio senden können. Jetzt sofort. Augenblicklich.«
»Aber die Techn…« Eigenbrodt hielt mitten im Satz inne, als Lunardini die Waffe hochriss und einen kurzen Feuerstoß in die Decke abgab. Dann richtete er die Waffe auf den zweiten Mitarbeiter. »Wie heißt du?«
Die beiden Rundfunkleute waren ebenso zusammengezuckt wie Buffolo. Der Lärm klang noch in den Ohren nach. Aus der Zimmerdecke rieselte der Putz. Die Geschosse waren als Querschläger im Büro herumgesirrt. Es war nicht ungefährlich. Die Nerven lagen blank.
»Peter Wolffsohn«, sagte der Kollege mit belegter Stimme.
»Hast du Familie?«
»Ja.«
»Kinder?«
»Zwei.«
»Hoffentlich hast du dich von denen heute Morgen ordentlich verabschiedet, weil du als Erster stirbst. Los jetzt. Wir gehen.«
Lunardini ließ den beiden NDR-Mitarbeitern keine Alternative. »Ins Studio«, schrie er, und sein Finger krümmte sich um den Abzug.
»Ist schon gut«, sagte Eigenbrodt. »Wir versuchen es.«
»Nicht versuchen. Machen.«
Sie standen auf, und Eigenbrodt öffnete die Tür, als ihm Lunardini die Waffe schmerzhaft in den Rücken stieß. »Wenn du das noch einmal versuchst, leg ich dich um. Ist das klar?«
»Ich bin im Stress. Wundert dich das?«, versuchte sich Eigenbrodt zu verteidigen, machte zwei Schritte zurück zum Schreibtisch und nahm den Zettel mit dem vorbereiteten Text mit. Dann trat er auf den langen Flur und sah nach beiden Seiten. Er zuckte zurück, als er am anderen Ende einen jungen Mann mit einer Maschinenpistole sah, der sie sofort auf ihn richtete und zielte. »Sag dem da, er soll sich zurückhalten«, forderte er Lunardini auf.
Lunardini streckte seinen Kopf aus der Türöffnung und rief: »Schlossarek. Halt dich zurück.«
»Okay, okay«, kam es von der anderen Seite. »Wie geht es weiter? Verdammt.«
»Halt die Fresse«, rief ihm Lunardini zu. Er bekam nicht mit, wie die beiden Rundfunkleute einen schnellen Blick wechselten. Die Anspannung war deutlich zu spüren. Die ganze Situation hatte sich aufgeschaukelt.
»Los. Jetzt geht’s auf direktem Weg zum Mikrofon«, befahl Lunardini. »Sonst liegt die erste Leiche auf dem Flur.«
Eigenbrodt nickte ergeben. Er hatte eingesehen, dass weiterer Widerstand zwecklos war. Er führte die kleine Truppe den Gang entlang. Links zweigte ein Querweg ab, der an einem weiteren Innenhof entlangführte. An der Ecke lag ein kleiner Besprechungsraum, in dem um einen ovalen Tisch ein gutes Dutzend Stühle gruppiert war.
Ein Stück weiter öffnete Eigenbrodt die Tür zu einem kleinen Studio. Er betätigte den Lichtschalter, und kurz darauf flammte die Deckenbeleuchtung auf.
Lunardini sah sich um. Für ihn als Laien wirkte es wie ein Rundfunkstudio. Der Raum war mit Schallschluckwänden ausgekleidet, die aus lauter kleinen Löchern zu bestehen schienen. Hinter einer dichten Glaswand schloss sich ein weiterer Raum an, in dem ein Besprechungstisch stand.
»Was ist das?«, fragte Lunardini.
»Da sitzen mehrere Teilnehmer, wenn wir eine Gesprächsrunde aufzeichnen.«
»Und hier?« Lunardini zeigte auf den Tisch mit dem Mischpult, den beiden großen Computerschirmen und der weiteren Technik, die für ihn unverständlich war.
»Mach zu«, drängte er.
»Ich bemühe mich ja«, knurrte Eigenbrodt.
»Du stellst dich dahin«, wies Lunardini Wolffsohn an und dirigierte ihn in die Ecke hinter dem Technikarbeitsplatz. »Ich will dich im Auge haben.«
»Mein Kollege kann hier nicht bleiben«, sagte Eigenbrodt. »Das versaut uns die ganze Aufnahme, wenn hier zu viele Leute sind. Da spielt die Technik nicht mit.«
»Noch ein Wort, und dein Kumpel hat eine zerschossene Kniescheibe«, drohte Lunardini und richtete seine Waffe auf Wolffsohns Bein.
Eigenbrodt suchte nach dem Schalter, um die Anlage einzuschalten. »Hast du einen Computer?«, fragte er, ohne Lunardini dabei anzusehen. Es klang wie ein Selbstgespräch. »Dann weißt du, dass die Kisten ewig brauchen, um hochzufahren. Hier ist die Technik noch komplizierter. Ich sag’s nur, weil –«
»Sei leise. Dein Reden geht mir auf den Geist«, fauchte ihn Lunardini an.
Den vier Männern schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis die Lampen aufflackerten, es surrte und blinkte, Symbole auf den Bildschirmen erschienen und das System in den Betriebszustand hochfuhr.
»Verarsch mich nicht«, fluchte Lunardini. Doch Eigenbrodt zuckte nur mit den Schultern.
»Ich habe gleich gesagt, dass ich kein Techniker bin. Ich verstehe hiervon nichts. Ich habe den Kollegen nur zugesehen und versuche, es nachzumachen.«
»Du wirst es können, sonst krepiert dein Kumpel.«
»Ich bin dabei«, versuchte Eigenbrodt die beiden Täter zu beruhigen.
»Los, nun schalte dich in das Programm und sag den Text auf.« Lunardini hatte seine Selbstsicherheit verloren. Es war alles schlecht vorbereitet. Niemand hatte ihnen taktische Anweisungen gegeben. Von der Frau vom Reinigungsservice hatten sie lediglich erfahren, wo Eigenbrodts Büro war. Es war Glück, dass der Journalist noch im Hause war. Was wäre geschehen, wenn sie den Journalisten nicht angetroffen hätten?
Schlossarek war ein Versager. Überhaupt waren drei Leute zu wenig für diese Aktion. Sie hatten keine Kontrolle über das Funkhaus. Lunardini wusste nicht, was sich in den anderen Räumen des Hauses tat, wie viele Leute noch anwesend waren, ob ihr Auftreten schon bemerkt worden war und man Alarm ausgelöst hatte. Alles war stümperhaft vorbereitet. Sie hatten keine Funkgeräte dabei, um sich mit Schlossarek verständigen zu können. Lunardini hatte keine Handynummer, um Rat oder weitere Anweisungen einholen zu können. Selbst an so simple Sachen wie ein tragbares Radiogerät hatte niemand gedacht, mit dem sie hätten kontrollieren können, was derzeit über den Sender lief. Er war einfach zu euphorisch gewesen, als man ihm diesen Auftrag übertragen hatte. Er hatte es als Chance angesehen, in der Hierarchie aufzusteigen, sich als beinharter und kompromissloser Akteur hervorzutun. Aber jetzt sah alles anders aus. Von alten Männern hatte er als Kind gehört, dass man im Krieg, als man mit den Deutschen Seite an Seite als Verbündeter kämpfte, die Italiener oft in ein Minenfeld vorausgeschickt hatte. Jetzt hatte er es in der Hand, den Spieß umzudrehen, den verhassten Teutonen zu zeigen, wie die Macht verteilt war, wenn nur die Planung besser gelaufen wäre. Er sah auf die Uhr.
»In zwei Minuten sprichst du den Text, sonst ist dein Kollege ein Invalide.« Anspannung und Entschlossenheit lagen auf seinem Gesicht. Mit einer gewissen Genugtuung sah er, dass Eigenbrodt es ihm abkaufte.
***
Sie bogen in die Einfahrt zum Gelände des Landesfunkhauses ab und hielten vor der geschlossenen Schranke. Irritiert sah der Pförtner sie an. Putensenf stieg aus und hielt dem Mann seinen Ausweis hin.
»Polizei.«
Der Mann konnte damit nichts anfangen. Frauke begriff, dass sich das, was sich im Hause abspielte, noch nicht herumgesprochen hatte. Hier wusste keiner etwas von dem Überfall.
»Sind hier Fremde durchgekommen?«, fragte Putensenf.
»Was für Fremde?«
»Leute, die hier nicht hergehören.«
»Bei mir nicht.«
»Von der Reinigungsfirma.«
»Das sind doch keine Fremden.«
»Aber andere als sonst?«
»Ja, aber …«
»Machen Sie sofort die Schranke hoch«, befahl Putensenf.
Der Mann folgte der Anweisung. Frauke verstand ihn. Er hatte nichts falsch gemacht. In der Zwischenzeit war Madsack ausgestiegen. Frauke hatte ihn als Kontaktmann zum MEK abgestellt. Er sollte hier auf die Kollegen warten und sie einweisen. Sie hielten Verbindung zwischen zwei Handys, von denen Schwarczer das andere trug.
Frauke wies Putensenf ein, als sie auf den Hof rollten. Margarete von Schwarzkopf hatte ihr alles exakt beschrieben. Dort stand ein weißer Fiat Fiorino mit der Aufschrift »Clean Partner«.
Frauke sprang aus dem Auto, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Gangster keine Wache bei dem Fahrzeug zurückgelassen hatten. Nach den Beobachtungen der Redakteurin schienen die Täter ihren Rückzug nicht abgesichert zu haben. Merkwürdig, dachte Frauke. Das sprach für die These, dass der Organisation das qualifizierte Personal ausgegangen war und zudem ein strategischer Kopf wie Richter, der eine solche Aktion hätte planen können, fehlte.
Frauke öffnete den Lieferwagen. Er war mit Reinigungsutensilien beladen. Auf den ersten Blick fiel ihr nichts Besonderes auf. Plötzlich stutzte sie. Inmitten des Krimskrams auf der Ladefläche entdeckte sie zwei Handgranaten, die jemand dort vergessen hatte. Trotz aller Stümperhaftigkeit durften die Leute nicht unterschätzt werden.
Die drei Beamten hatten ihre Dienstwaffen gezogen, betraten das Gebäude durch die Automatiktür und schlichen dicht an die Wand gedrängt den menschenleeren Flur entlang bis zum ersten Quergang. »NDR Kultur«, las Frauke die Aufschrift auf der Glastür. Vorsichtig sah sie um die Ecke und entdeckte die Frau, die in einer Türnische kauerte und von dort im Stil einer Live-Reporterin ihre Beobachtungen schilderte.
»Sehen Sie einmal nach hinten«, bat Frauke und nickte Margarete von Schwarzkopf zu, als die Journalistin in ihre Richtung blickte. »Geht es dort, wo Sie jetzt stehen, ins Studio?«
Die Frau nickte.
»Gut. Ich möchte, dass Sie sich jetzt dorthin zurückziehen und den Raum unter keinen Umständen verlassen. Wir beenden jetzt unsere Telefonkonferenz, da ich die Verbindung für andere Zwecke benötige.«
Margarete von Schwarzkopf nickte erneut. Dann verschwand der Kopf mit der modischen Kurzhaarfrisur, und es war ein kaum wahrnehmbares Klacken zu hören, als die Studiotür zufiel.
Frauke zog sich in den Gang zurück. Wispernd beriet sie sich mit ihren beiden Kollegen.
»Wie wollen wir vorgehen?«, fragte Putensenf.
»Ich möchte, dass Sie hier stehen bleiben und diesen Abschnitt sichern. Von hier können Sie durch den Innenhof den Mann sehen, der den Raum vor dem Foyer eingenommen hat. Nach unserer Information hat er den Pförtner des Haupteingangs als Geisel genommen. Wir müssen alle Vorsicht walten lassen.«
Der Kriminalhauptmeister nickte und nahm die angewiesene Position ein.
Frauke sah Schwarczer an. »Wir beide werden hier gemächlich den Parallelgang entlangmarschieren, als wären wir unbeteiligt. Vielleicht sieht uns der Mann von gegenüber. Wenn wir aber so tun, als würden wir ihn nicht wahrnehmen, lässt er uns unbehelligt. Zwischen uns liegt der Innenhof. Ich hoffe, dass wir damit die Geisel nicht gefährden.«
Frauke straffte sich, legte den Gurt ihrer Handtasche betont leger über die Schulter und marschierte los. Schwarczer schritt an ihrer Seite. Beide waren in ein Gespräch vertieft und vermieden es, den Geiselnehmer zu beachten. Frauke wusste nicht, ob die beiden Beamten durch den Innenhof gesehen worden waren. Jedenfalls erfolgte keine Reaktion. Dann schlichen sie sich von der anderen Seite an das Foyer heran. Frauke bückte sich und lugte vorsichtig um die Ecke.
Der gesamte Komplex bestand aus zwei parallel angelegten Hausreihen, die durch mehrere Quergänge miteinander verbunden waren. Einer dieser Quergänge führte zum Haupteingang. Auf den blickte Frauke. Hinter der Glastür toste der Verkehr auf der lebhaften Uferstraße. Dahinter lag der Maschsee.
Frauke hatte einem Wegeplan entnommen, dass sich der kleine Sendesaal dem Foyer anschloss. Das Foyer hatte man so belassen, wie es zur Zeit der Errichtung des Hauses modern gewesen war. Die Eleganz der fünfziger Jahre spiegelte sich im Design wider: Die Seitenwand war nicht gerade, sondern glich einer Wellenlinie, die aus senkrechten Holzleisten bestand; die Garderobe verbarg sich hinter einem grünen Vorhang, Säulen, Lampen und Sitzmöbel perfektionierten die Illusion, in eine andere Zeit einzutauchen.
Auf einem der Stühle hockte kerzengerade der Pförtner. Er hatte die Hände wie ein Pennäler auf dem Oberschenkel abgelegt und sah aus, als würde er sich nicht trauen, die Rückenlehne des Stuhls zu benutzen. Dort, wo Längs- und Quergang sich kreuzten, stand einer der Täter, wechselte nervös von einem Bein aufs andere und sah sich in alle Richtungen um. Er hatte von dort einen guten Überblick und hatte auch den Eingang unter Beobachtung. Es war nicht möglich, sich ihm unentdeckt zu nähern. Andererseits, überlegte Frauke, war der Mann auch ohne Deckung.
Frauke betrachtete ihn. Es war ein noch junger Mann mit einer blühenden Akne im Gesicht. An seiner Wange klebte getrocknetes Blut. Er trug eine Maschinenpistole, die er immer wieder auf imaginäre Ziele richtete und mit der er einen Schusswechsel simulierte. Leider war auch der Pförtner eines seiner Zielobjekte. Die Lippen bewegten sich ununterbrochen, ohne dass der Mann sprach. Deutlich war ihm die Anspannung anzumerken.
Frauke hielt ihn nicht für einen kaltblütigen Geiselnehmer. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er hielt weder ein Funkgerät noch ein Mobiltelefon in der Hand. Wie amateurhaft gingen die Täter vor?, dachte Frauke. Sie schienen nicht einmal untereinander in Kontakt zu stehen.
Frauke zog sich einen halben Meter zurück und erläuterte Schwarczer ihren Plan. Schwarczer nickte. Dann tauschten sie die Plätze, und der junge Kommissar legte sich flach auf den Fliesenfußboden, kroch bis zur Ecke und sah um sie herum. In seiner Hand hielt er den Gegenstand, den Frauke ihrer Handtasche entnommen und ihm ausgehändigt hatte.
***
Dieter Eigenbrodt las den Zettel. Dabei bewegten sich leise seine Lippen.
»Mach schon«, drängte Lunardini.
Der Redakteur sah ihn an. »Ihr habt wirklich keine Ahnung, was? Ich muss mich damit vertraut machen, den Inhalt aufnehmen. So schnell geht das nicht.«
»Doch. Mach keine Faxen.«
Eigenbrodt las den Text noch einmal, dann strich er den Zettel glatt, straffte sich, räusperte sich mehrfach und las laut: »Hier ist Radio Hannover. Wir sind von der demokratischen Volksfront besetzt. In deren Namen fordern wir die sofortige Freilassung unserer folgenden widerrechtlich inhaftierten Freunde: Bernd Richter, ein aufrichtiger und ehrlicher Beamter, der der Korruption seiner Vorgesetzten auf die Schliche gekommen ist und die Missstände angeprangert hat …«
Eigenbrodt hielt inne.
»Was soll das bringen, wenn wir das ins Programm nehmen? Wir sind für Nachrichten da, objektive Informationen. Entscheidungen müssen andere treffen. Die Staatsanwaltschaft, der Innenminister, der Polizeipräsident.«
Lunardini nagte an seiner Unterlippe. »Los«, befahl er schließlich. »Dann sagst du zusätzlich, die sollen alle herkommen. Sofort. Sonst fließt Blut.« Um seine Forderung zu unterstreichen, stieß er Eigenbrodt so schmerzhaft den Lauf der Waffe in die Rippen, dass es knackte. Der Redakteur krümmte sich zusammen und hielt sich die Rippen.
»Stell dich nicht an. Das war gar nichts gemessen an dem, was dich sonst noch erwartet. Oder ihn da.« Die Waffe schwenkte kurz zu Peter Wolffsohn hinüber.
»Außerdem ist das falsch.« Eigenbrodt wies auf den Text. »Wir sind nicht Radio Hannover, sondern NDR 1 Niedersachsen. Wenn wir einen falschen Namen benutzen, weiß doch niemand da draußen, an wen er sich wenden muss.«
Erneut nagte Lunardini an der Unterlippe. Dann sah er Buffolo an, als würde er sich von ihm Hilfe erwarten. »Mach den Text richtig«, befahl er.
Eigenbrodt nahm einen Schreiber zur Hand und begann, den Text zu überarbeiten. Er strich Worte, überschrieb andere Textteile und begann leise zu fluchen.
»Was ist?«, fragte Lunardini und beugte sich über Eigenbrodts Schulter.
Der Redakteur zeigte dem Italiener das unleserliche Durcheinander. »So kommt es«, schimpfte er, »wenn man unter Druck gesetzt wird. Und wenn wir vor das Mikrofon treten, soll es doch professionell und glaubwürdig klingen. Sonst nimmt euch keiner ernst.«
Lunardini trat von einem Fuß auf den anderen. »Zwei Minuten«, befahl er und setzte die Waffe an Wolffsohns Schläfe an.
Eigenbrodt nahm ein leeres Blatt und schrieb den Text nieder.
»Und jetzt sendest du das«, schrie ihn Lunardini an.
»Ich muss noch –«
»Gar nichts musst du. Nur senden. Los jetzt.«
Der Redakteur zog das Mikrofon zu sich heran, sagte: »Eins, zwei«, veränderte die Stellung, rückte das Blatt zurecht, räusperte sich noch einmal und begann zu sprechen:
»Zwei mit Maschinenpistolen und Handgranaten bewaffnete Männer italienischer Herkunft haben heute das Landesfunkhaus Hannover überfallen und –«
»Bist du bescheuert?«, fiel ihm Lunardini ins Wort. »Willst du nicht gleich unsere Beschreibung mit rausgeben?«
Eigenbrodt seufzte, strich umständlich im Text herum und begann erneut:
»Bewaffnete Männer haben heute das Landesfunkhaus Hannover überfallen und Geiseln genommen. Ihre erste Forderung ist die Freilassung von Inhaftierten aus der Justizvollzugsanstalt Hannover. Die Lage ist derzeit unübersichtlich. Der Anführer der Geiselnehmer verlangt, umgehend mit der Staatsanwaltschaft –«
Lunardini beugte sich vor, stieß Eigenbrodt zur Seite und schrie mit sich überschlagender Stimme in das Mikrofon: »Wir fordern den Innenminister auf, in einer Viertelstunde hier zu erscheinen. Sonst gibt es Tote. Klar?«
Nachdem Eigenbrodt mehrere Knöpfe bedient hatte, stieß ihm der Anführer erneut die Maschinenpistole in die Rippen. »Ist das jetzt gesendet worden?«
»Ich hoffe, ja.«
»Was heißt, du hoffst?«
»Ich habe doch erklärt, dass alles über Computer läuft und ich kein Techniker bin. Mehr weiß ich nicht.«
Lunardini zog sein Handy hervor. »Ich frage nach, und wenn nicht, bist du tot.«
Mehrfach verhaspelte er sich beim Wählen, dann schien er die richtige Nummer erwischt zu haben. Angestrengt lauschte er am Gerät, dann sah er auf das Display. »Scheiße. Hier ist kein Empfang.«
»Der Raum ist schalldicht abgeschirmt«, erklärte Eigenbrodt.
»Wo ist hier die Zentrale?«, fragte der Geiselnehmer.
»Welche Zentrale?«
Lunardini riss seine Waffe hoch und feuerte sie knapp über Wolffsohns Kopf ab. Erschrocken duckten sich die beiden NDR-Mitarbeiter und Raffaele Buffolo.
»Wo?«, schrie Lunardini mit sich überschlagender Stimme.
»Kommt mit«, sagte Eigenbrodt und stand auf.
»Du gehst vorweg«, befahl Lunardini.
Der Redakteur öffnete die Tür und trat auf den Flur.
»Wenn dort Bullen gewesen wären, hätten Sie dich jetzt erschossen.« Lunardini griente, bevor er einen Blick auf den Flur warf und dann folgte.
»Wo ist Schlossarek?«, fragte Buffolo, als er mit Wolffsohn auf den Flur trat.
Lunardini sah sich um in Richtung Foyer.
»Scheiße«, rief er aufgebracht. »Die Sau ist getürmt. Ich habe es gleich gesagt. Der taugt zu nichts.«
»Nun ist unser Rückzug nicht gedeckt«, beklagte sich Buffolo.
»Natürlich kommen wir hier raus, il mio amico.« Er trat Eigenbrodt ins Gesäß, sodass der vorwärtsstolperte. »Auf. Vorwärts.«
Niemand war auf dem Flur zu sehen. Lunardini wunderte sich, dass offenbar noch niemand im Haus ihr Eindringen bemerkt hatte. Er gewann an Selbstsicherheit zurück. Sie hatten sich beim Pförtner an der Garageneinfahrt so professionell verhalten, dass der keinen Verdacht geschöpft hatte. Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Verdammt, was ist mit dem Pförtner geschehen, auf den Schlossarek aufpassen sollte?«
»Den hat Schlossarek umgelegt«, vermutete Buffolo. »Sonst hätte der schon lange Alarm geschlagen.«
»Hast du das gehört?«, fauchte Lunardini Dieter Eigenbrodt an. »Den ersten Toten haben wir. Und es werden weitere folgen. Kapiert?«
Das schien Eindruck auf die beiden Rundfunkleute zu machen. Widerstandslos führte Eigenbrodt die kleine Gruppe eine Treppe hinunter, öffnete eine Tür und blieb in einem kahlen Raum stehen, an dessen einer Seite eine Wand aus senkrechten Holzlamellen angebracht war. Die Wand war durch ein schallisoliertes Fenster unterbrochen, das den Blick in ein Studio freigab. Eine junge Frau mit sportlichem Kurzhaarschnitt sah auf, als die vier Männer vor dem Fenster standen.
»Los, da rein«, befahl Lunardini und folgte den anderen drei.
»Was soll das?«, fragte die Frau mit einer angenehmen Stimme.
»Martina, die Leute hier –«
»Halt die Klappe«, unterbrach ihn Lunardini. »Wie heißt du?«
»Martina Gilica.«
»Du machst hier die Sendung … und so?«
»Ich moderiere, ja.«
»Du quatschst also ins Radio?«
»Ich sagte schon, ich moderiere.«
»Er da hat eben etwas gesendet. Ist das angekommen?« Dabei zeigte Lunardini auf Eigenbrodt.
Der Redakteur zwinkerte seiner Kollegin zu. »Ich habe eine wichtige Meldung aufgezeichnet und in den Sendecomputer eingestellt. Nun verstehe ich nichts von Technik und hoffe, den Computer so bedient zu haben, dass die Meldung über den Sender gegangen ist.«
»Da war was«, sagte Martina Gilica. Sie ließ ihren Blick mit den großen ausdrucksvollen Augen zwischen den Männern hin- und herwandern.
»Ich glaube euch nicht«, schrie Lunardini und zeigte auf einen Lautsprecher, aus dem deutschsprachige Unterhaltungsmusik drang. Er sah sich suchend um und wusste nicht, auf welchen Computerbildschirm er sehen musste. Über neun Displays flimmerten Zahlen, Buchstaben und Zeichen. Mal waren die bunten Kolonnen waagerecht, mal senkrecht angebracht. Dazwischen lagen Tastaturen herum, Kopfhörer, Pulte mit Knöpfen und Schiebereglern. An mehreren Teleskoparmen hingen Mikrofone.
Lunardini sah auf einen Bildschirm. »Jetzt läuft …«, las er vor, »G.G. Anderson: ›Good Bye My Love, Good Bye‹.« Daneben lief ein Countdown in Sekunden. Als das Stück zu Ende war, wechselte die Farbe auf die nächste Zeile, und es erklang der Folgetitel.
»Das ist das Sendeprotokoll«, erklärte Eigenbrodt in beschwichtigender Tonlage.
»Wo steht, was du gesagt hast?«, wollte Lunardini wissen.
»Das hier ist das, was geplant ist. Der Wortbeitrag gehörte nicht dazu. Den haben wir dazwischengeschoben.«
Lunardini überlegte. »Ich will, dass sie das noch einmal vorliest. Hier. Jetzt und sofort.«
Martina Gilica verknotete ihre Finger ineinander, dann fasste sie sich an die Kehle und spielte mit dem goldenen Anhänger, der von einer der drei Ketten an ihrem Hals herabhing.
Für einen kurzen Moment musterte Lunardini die attraktive Frau in dem weißen Pullover, der ihre Figur vorteilhaft zur Geltung brachte.
Dann zog die Moderatorin eine Augenbraue in die Höhe und legte den Finger auf die Lippen.
»Ich muss jetzt eine Ansage machen«, erklärte sie. »Bitte keinen Ton, sonst fällt Ihr Besuch im Studio jedem auf.«
Das sah Lunardini ein. Er beobachtete, wie die Moderatorin ein paar Knöpfe bediente, die Musik langsam ausklang und die geübte Rundfunkstimme die nächsten Titel ansagte. »Nach der Tageszusammenfassung auf NDR 1 Niedersachsen Regional geht’s jetzt weiter mit einem Hit aus den achtziger Jahren. Die Eurythmics mit ›Sweet Dreams‹.«
Dann erlosch das rote Licht an der Studiowand wieder.
»Los, den Text.«
Eigenbrodt tastete seine Taschen ab. »Verflixt.« Es gelang ihm, Lunardini vorwurfsvoll anzusehen. »Wir sind so hastig aufgebrochen, dass ich den Zettel im Studio vergessen habe.«
»Dann hol ihn«, schrie Lunardini, dem die Kontrolle zu entgleiten drohte.
Zögernd ging der Redakteur zur Studiotür, als der Geiselnehmer hinterherrief.
»Halt, das machen wir anders. Dein Kumpel geht. Und du, Raffaele, begleitest ihn.«
»Ich?«, fragte der zweite Täter erstaunt. »Dann ist jeder von uns allein?«
»Mach schon. Verdammt. Ich will das hier durchziehen.« Lunardinis Stimme überschlug sich. »In zwei Minuten seid ihr zurück. Oder ich bringe den Ersten um.«
Durch das große Fenster des Studios sah Lunardini, wie sein Kumpan Peter Wolffsohn vor sich hertrieb.
***
In der gegenüberliegenden Glaswand, die zum Innenhof führte, spiegelte es sich, sodass Frauke Schwarczers Aktion sehen konnte. Millimeterweise robbte der Kommissar vorwärts. Für Sekunden hielten beide Beamten den Atem an, als Schwarczers Gürtelschnalle über die Bodenfliesen ratschte. Aber der Täter hatte es nicht gehört. Dessen Nervosität hatte sich weiter gesteigert. Abwechselnd sah er auf die Uhr, drehte sich im Kreis, riss die Maschinenpistole hoch und ließ sie wieder sinken. Dem Mann war anzusehen, dass er sich in diesem Augenblick weit wegwünschte. Er war hoffnungslos überfordert und wirkte wie ein Tierjunges, das sich im Fell der Mutter verkriechen möchte.
Vorsichtig schob Schwarczer den Kopf um die Ecke, sodass er mit einem Auge sein Ziel anvisieren konnte. Dann folgte die rechte Hand mit dem Gegenstand, den Frauke ihm ausgehändigt hatte.
Frauke hatte sich entschieden, diesen Weg zu beschreiten. Wenn es ihnen gelang, den ersten Mann auszuschalten, war ein strategisch wichtiger Platz auf der Kreuzung der beiden Gänge nicht mehr durch die Täter besetzt.
Die Waffe in der Hand des jungen Mannes war gefährlich. Mit ihr konnte er in einer Kurzschlussreaktion viel Unheil anrichten und, ohne nachzudenken, seine Geisel töten. Um das Leben des Pförtners zu schützen, könnte ein Scharfschütze des MEK aus Schwarczers Position einen finalen Rettungsschuss abgeben. War das bei der derzeitigen Gefahrenlage angemessen? Diese Frage musste der Einsatzleiter vor Ort entscheiden, und hinterher würden studierte Juristen das Für und Wider abwägen und dem Beamten vor Ort vorwerfen, dass seine Entscheidung falsch war. Der Innenminister hatte einen Polizeibeamten wegen des Einsatzes von Pfefferspray gegen einen Gewalttäter in Schutz genommen und war dafür öffentlich gerügt worden. Das hatte zur Folge, dass andere solch entschlossenes Eintreten künftig wohl unterließen und der Beamte vor Ort noch einsamer bei seiner Entscheidungsfindung war. Dabei bedurfte es keiner Diskussion. Kein Polizist war schießwütig. Und auch Frauke hätte nie die Anweisung zu einem finalen Schuss erteilt. Sie hatte sich anders entschieden und verfolgte atemlos Schwarczers Aktion.
Der Kommissar beobachtete das Vorgehen des Täters. Sein Verhalten lief nach einem festen Rhythmus ab. Der Mann sah auf die Glastür Richtung Straße, dann den langen Flur entlang, wo seine Kumpane verschwunden waren. Von dort warf er einen Blick in das Foyer, beschränkte sich aber darauf, den Pförtner anzusehen, um anschließend die andere Gangseite zu kontrollieren. Dann sah er auf die Uhr. Bei allen Bewegungsabläufen wanderte der Lauf seiner Maschinenpistole stets mit der Blickrichtung. Wenn er auf die Uhr sah, hielt er die Waffe kurz auf den Boden gerichtet.
Die beiden Polizisten ließen mehrere dieser Rhythmen verstreichen.
Jetzt schob Schwarczer die rechte Hand vor, hielt sie unter dem Kopf und richtete den Gegenstand auf den Täter. Als dessen Blick auf die Uhr fiel und er für den Bruchteil einer Sekunde abgelenkt war, schrie der Kommissar: »Polizei. Sie sind umstellt. Waffe fallen lassen.«
Der Täter fuhr zusammen. Er riss seine Maschinenpistole hoch und gab einen unkontrollierten Feuerstoß in die Richtung ab, aus der die Stimme kam.
»Ich schieße«, rief Schwarzer.
In diesem Moment gab Frauke einen Warnschuss ab, der hoch über dem Kopf des Täters in die Deckenverkleidung fuhr.
Der Täter zuckte zusammen und zog automatisch den Kopf zwischen die Schultern.
»Sieh dich an«, rief Schwarczer. »Der nächste Schuss sitzt. Rundherum sind Scharfschützen positioniert.«
Der Mann ließ sich einschüchtern. Er sah an sich hinab und stöhnte auf. »Mein Gott«, schrie er. »Mein Gott. Tu’s nicht.« Entsetzen trat in sein Gesicht, als er in Richtung des aus seiner Sicht immer noch unsichtbaren vermeintlichen Schafschützen blickte. Instinktiv ließ seine linke Hand die Maschinenpistole los und wanderte zu der Stelle, auf die der rote Punkt des Präzisionsgewehrs gerichtet war. Womöglich hätte ein Anvisieren des Herzens, der Brust oder des Kopfes ihn nicht so irritiert wie der rote Punkt, der exakt auf seine Männlichkeit ausgerichtet war. Es war eine hilflose, fast kindische Reaktion, als der Täter seine Hand davorhielt, als könne er damit seine Kostbarkeiten schützen.
»Es gibt keine zweite Warnung«, drohte Schwarczer. »Die nächste Kugel ist ein Volltreffer.« Der Kommissar ließ ihm einen Atemzug Pause, um seine Drohung wirken zu lassen, bevor er weitersprach. »Finger vom Abzug.«
Frauke verfolgte in der spiegelnden Scheibe, wie der Täter gehorchte.
»Ganz langsam die Waffe auf den Boden legen«, befahl Schwarczer.
Auch dieser Aufforderung kam der Geiselnehmer nach.
Frauke atmete tief durch. Sie hatte sich an den elektronischen Laserpointer erinnert, den sie in ihrer Handtasche mit sich führte und den sie bei Dienstbesprechungen einsetzte, um auf Einzelheiten am Whiteboard, am Videoschirm oder am Flipchart zu verweisen. Der rote Markierungspunkt hatte den Täter irritiert.
Wie gut, dass der Mann der Generation angehört, die Fiktion und Wirklichkeit durch die Ballerspiele am Computer nicht mehr zu trennen vermag, dachte Frauke. Ein weiterer glücklicher Umstand war, dass der Mann so unerfahren war.
Sie kam hinter der Ecke hervor und richtete ihre Waffe lehrbuchmäßig auf den Täter aus. Schwarczer war aufgestanden und folgte ihr.
»Hände in die Höhe. Zwei Schritte vor«, befahl Frauke.
Zögernd kam der Täter ihrer Aufforderung nach.
»Noch zwei. Los.« Fordernd bewegte sie ihre Pistole.
Der Geiselnehmer schob seine Füße über die Fliesen. Das reichte. Jetzt war er nicht mehr auf dem Gang zu sehen, in dem die Mittäter verschwunden waren.
Es galt, schnell zu handeln. Beide Beamten spurteten los. Schwarczer riss den Täter zu Boden und drückte ihn nieder, während Frauke die Maschinenpistole zur Seite nahm und den Gang sicherte.
Putensenf hatte den ganzen Vorgang aus seiner Deckung beobachtet und tauchte jetzt ebenfalls im Foyer auf. Er half Schwarczer, dem Täter Handfesseln anzulegen. Dann hoben die beiden Beamten den Mann hoch.
»Wie heißen Sie?«, fuhr ihn Putensenf an.
»Schlossarek.«
»Den ganzen Namen.«
»Alexander Schlossarek.«
»Wie viele seid ihr insgesamt?«
Aus Schlossareks Gesicht war jede Farbe gewichen. Es sah aus, als würde er jeden Moment ohnmächtig werden. Er zitterte am ganzen Leib wie Espenlaub.
Putensenf kniff ihn in den Oberarm.
»Los. Antworte.«
»Drei«, stammelte Schlossarek.
»Wo sind die anderen?«
»Dahinten. Zuerst in einem der Zimmer. Dann sind sie den Gang runter. Irgendwo nach links verschwunden. Ich weiß nicht …«
»Wie heißen die?«
Schlossarek zuckte die Schultern.
»Verdammt. Die Namen. Aber fix.«
»Raffaele und Carmelo.«
»Italiener?«
Schlossarek nickte. »Scheiß-Itaker.«
»Und die Zunamen?«
»Buffolo.«
»Sind das Brüder?«
»Weiß nicht.«
»Wie heißt der andere?«
»Raffaele Buffolo. Wie Carmelo heißt … Keine Ahnung.«
»Ist Buffolo der Boss?«
»Nein. Der andere.«
»Wie sind die bewaffnet?«
Schlossarek zeigte mit dem Kopf in Richtung Maschinenpistole.
»Ist das alles?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie haben noch Handgranaten.«
Frauke und ihre Mitarbeiter wechselten einen raschen Blick. Das gab der Aktion eine unerwartete Wende, da nicht davon auszugehen war, dass die anderen Täter genauso leicht zu überwältigen waren wie Schlossarek. Die Geiselnehmer verfügten folglich über mehr als die beiden Handgranaten, die sie im Auto vergessen hatten.
Sie nickte leicht mit dem Kopf, und Putensenf führte den Täter ab.
»Wo ist der Scharfschütze?«, fiel dem Geiselnehmer ein.
»Bei der Polizei sind alle Einsatzkräfte hervorragend ausgebildet«, sagte Frauke.
»Oh, was für ein Scheiß …«, jammerte Schlossarek, als er abgeführt wurde.
Jetzt tauchten auch die Beamten des MEK auf.
»Wir haben Sie beobachtet«, sagte der Einsatzleiter, »uns aber zurückgehalten, nachdem Ihr Mitarbeiter uns eingewiesen hatte. Meine Leute haben den Eingangsbereich gesichert.« Dabei zeigte er auf die große Glastür. Von innen war nichts zu sehen. »Außerdem haben wir mehrere strategisch wichtige Stellen an den Ausgängen besetzt, uns im Gebäude aber zurückgehalten. Wir wissen derzeit nicht, wo sich die Täter aufhalten.«
Frauke berichtete, was ihr Schlossarek erzählt hatte. Auf einen Wink des Einsatzleiters tauchte ein Beamter mit einem mobilen Notebook auf. Frauke wiederholte den Namen des einen Täters.
»Raffaele Buffolo«, sagte der Beamte wenige Sekunden später. Es klang ein wenig gepresst unter seinem Gesichtsschutz hervor. »Vorbestraft wegen unerlaubten Waffenbesitzes, Körperverletzung, Autodiebstahl. Es hat bisher nur zu einer kleineren Freiheitsstrafe gereicht. Kein wirklich großes Kaliber. Wie hieß der andere?«
»Carmelo.«
Jetzt dauerte die Suche ein wenig länger. »Da gibt es mehrere. Insgesamt drei. Aber nur einer war in Hannover aktiv.«
»Nachnahme?«
»Lunardini.«
»Vorstrafen?«
»Ähnlich wie Buffolo. Die beiden könnten sich daher kennen.«
»Warum beauftragt man nur Mittelgewichtler mit einer solchen Aktion?«, dachte Frauke laut nach. »Nach unseren Informationen sind das nicht wirklich eiskalte Verbrecher. Darin könnte eine Chance für uns liegen.«
»Pst«, wurden sie von einem Beamten des MEK unterbrochen, der einen kleinen flexiblen Schlauch um die Ecke gelegt hatte und auf einem Miniaturmonitor den Flur überwachte. »Da tut sich was.«
Frauke sah dem Einsatzleiter über die Schulter. Zwei Männer waren auf den menschenleeren Flur abgebogen. Einer trieb einen anderen vor sich her, indem er ihm den Lauf einer Maschinenpistole in die Rippen stieß. Dabei sagte er etwas, was aufgrund der Distanz aber nicht verständlich war.
Es war nur ein gezischtes Kommando, und schon hatten sich die MEK-Beamten in Stellung gebracht, um den Geiselnehmer zu überraschen. Frauke bewunderte die Routine des eingespielten Teams.
»Die betreten ein Büro«, kommentierte der Beamte. Frauke hatte es auf dem Monitor mitbekommen.
»Wenn es wirklich nur drei Täter sind, dann haben sie sich jetzt aufgeteilt. Offenbar haben sie dabei keinen Kontakt untereinander. Trauen Sie sich zu, den Mann mit seiner Geisel zu überwältigen?«
Der Einsatzleiter nickte. Dann liefen er und drei seiner Leute über den langen Flur. Obwohl sie schnell waren, vernahm Frauke kaum Geräusche. Aus der Entfernung sah sie, wie sich die Beamten neben der Tür positionierten, eine Art Stethoskop an die Milchglasscheibe setzten, eine Weile lauschten und sich dann zunickten. Im selben Moment öffnete sich die Bürotür, und ein Mann trat auf den Flur. Sofort riss ihn einer der Beamten zur Seite und drückte ihn auf den Boden. Dabei warf er sich über ihn. Zwei andere Polizisten stürzten sich auf den zweiten Mann. Während der erste Polizist beherzt den Lauf der Maschinenpistole packte und zur Seite schob, schlug der zweite auf den Unterarm, dass Frauke das Krachen bis zu ihrer Position zu hören glaubte. Der Hieb musste so schmerzhaft gewesen sein, dass der Täter die Waffe losließ, die der Polizist, der den Lauf gepackt hatte, zur Seite riss.
»Vorsicht. Handgranaten«, warnte der Einsatzleiter und packte mit zu, als sie den Mann überwältigten und auf den Boden warfen. Das alles hatte sich in Bruchteilen von Sekunden abgespielt.
Frauke war froh, dass diese Aufgabe das MEK übernommen hatte.
Die Beamten zogen die beiden Männer hoch. Während die Geisel von einem Beamten Richtung Foyer abgeführt wurde, schleiften zwei andere den überwältigten Täter hinter sich her. Dann bogen sie um die Ecke in den Vorraum des kleinen Sendesaals, in dem Frauke und die anderen warteten.
»Alles okay?«, fragte einer der Beamten die Geisel.
Der Mann nickte.
»Ihr Name?«
»Peter Wolffsohn.«
Er wurde befragt, wo sich der dritte Täter aufhielt, wer in seiner Gewalt war und welche Forderungen er stellte.
»Der heißt Raffaele«, sagte Wolffsohn noch und zeigte dabei auf den überwältigten Täter.
»Dann ist der Dritte Carmelo Lunardini«, stellte Frauke fest und sah Buffolo an. »Richtig?«
Sie war überrascht, als der Täter nickte.
»Warum haben die Täter sich getrennt?«
Wolffsohn reichte ihr ein Blatt Papier. »Den haben wir im Büro vergessen. Der sollte geholt werden. Der Text daraus soll von der Moderatorin ins laufende Programm eingespielt werden.«
Frauke warf einen Blick auf den Zettel. Jetzt verstand sie den Grund der dilettantisch angelegten und ausgeführten Aktion. Die in der Justizvollzugsanstalt einsitzenden Häftlinge der Organisation sollten befreit werden.
Sie zweifelte daran, dass die Leute im Hintergrund wirklich diese Absicht verfolgten. Alles, was die Organisation bisher unternommen hatte, war gut durchdacht und vorbereitet gewesen. Der Überfall auf das Landesfunkhaus entsprach nicht dem Standard, den die Organisation sonst an ihre Aktionen anlegte. Sie war am Ende.
Zwei Beamte brachten den gefesselten Buffolo vor das Haus und übergaben ihn den uniformierten Polizisten, die inzwischen mit mehreren Streifenwagen eingetroffen waren.
Frauke registrierte, dass Madsack die ganze Aktion aus dem Hintergrund vorzüglich organisierte. Bisher war alles generalstabsmäßig abgelaufen, ohne dass es komplexe Lagebesprechungen gegeben hatte. Alle Einsatzkräfte wirkten zusammen, als würden sie eine Übung abhalten, deren Verlauf vorher abgesprochen worden war.
Jetzt gruppierte der Einsatzleiter seine Leute um den Fluchtplan, in dem der Grundriss des verschachtelten Gebäudes abgebildet war. Er bildete kleine Teams und wies sie ein. Lautlos huschten die Männer davon. Frauke, Putensenf und Schwarczer folgten dem Einsatzleiter und zwei seiner Beamten. Sie liefen den langen Flur entlang, der am kleinen Sendesaal vorbeiführte. Im Vorbeilaufen sah Frauke eine große Wandtafel mit der Überschrift »Pressespiegel – Hallo Niedersachsen«, an der Zeitungsausschnitte angeheftet waren. Den Gang schmückten farbenfrohe Bilder mit Motiven aus dem Land. Auf jedem war zudem das Logo »NDR 1 Niedersachsen« aufgedruckt. Eine Showtafel zeigte »Unsere Moderatoren«.
Hinter einem gläsernen Besprechungsraum führte eine Treppe hinab.
»Den Beschreibungen nach können wir uns dem Studio nicht ungesehen nähern«, sagte Frauke, als die Gruppe vor der Tür einhielt. »Lunardini wartet auf seinen Kumpan. Er hat zwei Geiseln. Wenn wir dort in kriegsmäßiger Ausstattung auftreten, dreht der Mann durch. Er weiß dann, dass er allein ist. Wie reagiert er? Gibt er auf? Oder sprengt er sich und seine Geiseln in die Luft?«
»Wir sollten die Verhandlungsgruppe einschalten«, schlug der Einsatzleiter vor.
»Das wäre sicher der richtige Weg«, erwiderte Frauke. »Wir haben hier aber eine außergewöhnliche Situation. Der Täter sitzt direkt im Herzen des Senders. Wenn er eine niedrige Hemmschwelle hat, kann er durch Zwangsmaßnahmen gegen seine Geiseln praktisch den Sendebetrieb beherrschen. Wollen wir das dulden?«
»Wir müssen an das Leben und Wohl der Geiseln denken«, mahnte der Einsatzleiter.
Natürlich hatte er recht.
»Er wartet auf den Text«, sagte Frauke. »Ich werde ihn hineinbringen.« Sie nahm ihr Handy, ließ sich die Nummer des Einsatzleiters geben und forderte Putensenf auf, ihr das Gerät in den rückwärtigen Verschluss ihres Büstenhalters zu klemmen, was bei Putensenf einen Hauch Verlegenheit hervorrief. Die Sprechprobe klappte. Der Einsatzleiter konnte sie hören.
Dann holte sie noch einmal tief Luft, nahm ihre Waffe, öffnete die Tür und schlüpfte durch die Öffnung. Mit einem satten Geräusch fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.
Sie stand in einem kahlen Raum, der durch eine Wand vom Studio abgetrennt war. Durch die große Scheibe sah sie drei Leute. Eine Frau in weißem Pullover, einen Mann, der in einer Ecke stand, und den dritten, der eine Maschinenpistole in Händen hielt.
Alle drei blickten zu ihr heraus. Es verging fast eine Minute, bis der Täter die Waffe auf den Mann, es musste Dieter Eigenbrodt sein, richtete und in Richtung Studiotür zeigte.
Der Redakteur hob die Hände, verschränkte sie hinter dem Nacken und öffnete dann die Tür. Er blieb im Rahmen stehen.
»Wer sind Sie?«, fragte er und sah dabei über die Schulter.
»Mein Name ist Dobermann. Ich bin von der Polizei.«
Eigenbrodt gab es in den Raum weiter und nahm neue Anweisungen entgegen.
»Sie sollen sofort verschwinden.«
Frauke schüttelte den Kopf. »Ich soll mit Ihnen verhandeln. Im Namen des Innenministers.« Sie war dabei ganz langsam vorgegangen und stand jetzt im Türrahmen. Mit den Fingerspitzen hielt sie ihre Dienstpistole am Lauf, zeigte sie Lunardini, bückte sich und legte die Waffe auf den Fußboden. »Sie sehen, ich will wirklich mit Ihnen sprechen.«
»Ich aber nicht mit Ihnen.« Lunardini zuckte nervös mit der Schulter und blinkerte mit den Augenlidern. Frauke erkannte darin deutliche Zeichen einer Überreizung. Lange würden die Nerven des Mannes nicht mehr mitspielen.
»Wir kennen Ihre Forderungen.« Dabei machte sie einen Schritt vorwärts, schob Eigenbrodt sachte aus dem Türrahmen und trat in das Studio. »Ihr ganzes Unternehmen ist gescheitert«, sagte sie und versuchte Mitleid in ihre Stimme zu legen. »Ihre beiden Kollegen haben aufgegeben. Einen haben wir in Gewahrsam genommen.«
Lunardini leckte sich über die Lippen. »Und der andere?«
»Es soll noch einen weiteren gegeben haben«, log Frauke. »Den haben wir aber nicht angetroffen. Der ist vorher stiften gegangen. Herr Lunardini. Geben Sie auf. Es ist zwecklos.«
Der Täter schüttelte den Kopf, als müsse er sich selbst Mut zusprechen. »Niemals«, sagte er. Es klang halbherzig. Plötzlich stutzte er. »Woher kennen Sie meinen Namen? Von … Das kann nicht sein.«
»Doch«, sagte Frauke ernst. »Woher wissen wir von Ihrer Aktion hier? Der hat sich bei uns gemeldet und uns darauf hingewiesen, dass er drei Leute hierhergeschickt hat. Sie sollen ein Zeichen setzen. Das war aber noch nicht alles.«
Für einen kurzen Moment senkte Lunardini die Spitze seiner Waffe ab.
»Das ist nicht wahr«, schrie er. »Sie lügen.«
»Woher sollten wir sonst Ihren Namen kennen? Schlossarek ist abgehauen. Und Ihr Kumpel Raffaele Buffolo hat Sie nicht verraten. Nein. Sie sollen geopfert werden. Mensch, Lunardini. Wofür? Für Ihren Boss, der Sie sinnlos ins Feuer schickt?«
»Das ist doch Blödsinn.«
»Genau. Er hat uns alle Einzelheiten aufgegeben, uns über ihre Bewaffnung im Detail informiert. Dazu hat er gesagt, Sie, Lunardini, wären mordsgefährlich. Sie wären ein kaltblütiger, eiskalter Mörder, der hemmungslos tötet. Wie Sie es schon oft gemacht haben.«
»Das ist gelogen. Ich habe noch nie jemanden umgebracht. Ich war dabei, als Romeo Carlucci Boccone auf dem Spielplatz ermordet hat.« Er schüttelte sich. »Ich musste auch zusehen, wie er Kiehnhorst das Gesicht zerschnitten hat.«
»Dann beweisen Sie, dass Sie auch heute niemandem schaden wollen. Alles, was ich Ihnen erzählt habe, wissen die hundert Polizisten auch, die vor dem Haus auf Sie warten. Darunter sind Scharfschützen. Bevor Sie einmal Luft holen, sind Sie tot. Das gilt auch, wenn Sie einer der hier anwesenden Personen auch nur ein Haar krümmen.« Sie machte einen Schritt auf den Mann zu und streckte die Hand aus. »Es lohnt nicht. Nicht für den Verräter, der sich Boss nennt.«
Dem Geiselnehmer lief der Schweiß in Sturzbächen. Plötzlich riss er die Waffe hoch und zielte auf die Moderatorin.
»Wenn ich etwas verspreche, halte ich es. Los. Sie soll den Text vorlesen.«
Frauke reichte den Zettel an Martina Gilica weiter. Die nickte Frauke zu, nahm das Papier, setzte sich an das Pult und drückte einen Knopf. Grünes Licht flammte auf.
»Was heißt das?«, schrie Lunardini hysterisch.
»Wir sind jetzt auf Sendung«, erklärte die junge Frau gelassen und las den Text in Richtung eines Mikrofons vor. Dann drückte sie wieder auf den Knopf, und der rote Schriftzug »on air« erschien.
»Und was ist das?«, rief Lunardini.
»On air – alles für die Luft. Jetzt geht nichts über den Sender«, sagte die Moderatorin.
Frauke trat ganz langsam auf Lunardini zu, von dem die Anspannung abgefallen schien. »Sie haben Ihr Ziel erreicht«, sagte sie. »Die Meldung ist über den Sender gegangen. Hunderttausende haben es gehört. Nur Ihr Boss, der Feigling, wird sich wundern.«
Sie stand vor ihm und nahm ihm die Maschinenpistole aus der Hand, ohne dass er sich wehrte. Dann führte sie ihn aus dem Studio zu den wartenden MEK-Beamten.
Als sie den Täter übergeben hatte, schüttelte Putensenf den Kopf.
»Das ist zu viel für mich. Wie hat die das gemacht? Die ist doch eine Frau.«
»Eben. Nur eine Frau, Putensenf.«
Frauke kehrte in das Studio zurück und sah in die erleichterten Gesichter der beiden Rundfunkmitarbeiter.
Eigenbrodt atmete tief durch. Dann nahm er seine Kollegin kurz in den Arm. »Das hast du gut gemacht«, lobte er sie. »Wenn wir Radio so machen würden, wie wir es denen vorgeführt haben … Da würde nichts über den Sender gehen. Wie gut, dass dieser Kelch noch einmal an uns vorübergegangen ist. Jetzt zur drivetime hören besonders viele Leute Radio.«
Martina Gilica sah ihm nach, als er winkend das Studio verließ. Dann ließ sie sich auf den bequemen Stuhl mit der hohen Rückenlehne nieder, rollte dicht an das Pult heran und zog den Teleskoparm mit dem Mikrofon in die Nähe ihres Mundes. Sie blickte zu Frauke und legte den Zeigefinger auf die Lippen, lauschte konzentriert den letzten Takten von Ray Charles’ »Hit the Road Jack« und beobachtete dabei den Countdown des laufenden Musiktitels.
Sanft zog sie den Regler herunter und öffnete das Mikrofon. Sie holte noch einmal tief Luft.
»Hier ist NDR 1 Niedersachsen«, sagte sie dann mit fester Stimme. »Ich hoffe, Sie hatten heute einen angenehmen und ruhigen Tag. Ich wünsche Ihnen, dass der Feierabend das bringt, was der Tag versprochen hat. Wer könnte das besser untermalen als ein Klassiker. Hier kommen die Edwin Hawkin Singers mit ›Oh Happy Day‹. Falls Sie noch mit dem Auto unterwegs sind, wünsche ich Ihnen eine gute Fahrt. Am Mikrofon freut sich mit Ihnen Ihre Martina Gilica.« Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen und hörte in die ersten Takte des neuen Stücks. Dann nickte sie Frauke zu. »Keine zwei Stunden mehr«, sagte sie mit ihrer angenehmen Stimme. »Dann darf ich heim zu meiner Familie.«
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend im Kreis Ihrer Familie«, verabschiedete sich Frauke, nachdem das rote Licht »on air« erloschen war. Dann verließ auch sie das Studio. Von außen winkte sie noch einmal der Moderatorin zu.