FÜNF

Es war ein unangenehmes Geräusch, das Frauke aus dem Halbschlaf riss. Es kostete sie Überwindung, darauf zu reagieren. Sie verspürte das Bedürfnis nach absoluter Ruhe. Der guten Fee, wäre sie erschienen, hätte sie als Wunsch aufgegeben, mehrere Wochen am Stück in einer friedlichen und geborgenen Umgebung schlafen zu können.

Mühsam kam sie in die Höhe und schleppte sich ins Bad. Es schien ihr unendlich lange, bis aus der Dusche lauwarmes Wasser floss. In jedem Spannungsroman wäre der Held unter die erfrischende kalte Dusche gesprungen, während sie sich nach heißem Wasser sehnte. Sie rubbelte sich ab, aber die Gänsehaut wollte sich nicht zurückziehen.

Auf der Straße empfing sie eine nächtliche Kühle. Die Lister Meile war menschenleer. Niemand sonst bewegte sich zu dieser Zeit im Freien.

Frauke war zehn Minuten vor drei beim Landeskriminalamt in der Schützenstraße. Fünf Minuten später erschien Jakob Putensenf. Er sah auch übermüdet aus, enthielt sich aber jeden Kommentars. Bereitwillig überließ sie ihm das Lenkrad auf der Fahrt nach Braunschweig.

Frauke war überrascht, wie viele Lkws zu dieser Zeit auf der Autobahn unterwegs waren. Es schien ihr, als gäbe es keinen Unterschied zum hellen Tag. Unterwegs kämpfte sie gegen die Müdigkeit, gab nur einen winzigen Augenblick nach und schloss die Augen.

Sie wurde durch ein sanftes Rütteln an der Schulter geweckt und vernahm den verführerischen Duft heißen Kaffees.

»Hier«, sagte Putensenf und hielt ihr einen Plastikbecher unter die Nase. Er hatte das aromatische Getränk aus einer Thermoskanne eingegossen. »Gibt’s aber nur schwarz. Extras haben wir nicht an Bord.«

»Danke«, sagte Frauke und schlürfte einen Schluck. Da sie zu Hause weder etwas gegessen noch getrunken hatte, war ihr Rachen ausgetrocknet. Der Kaffee wirkte wie ein Lebenselixier. Putensenf beobachtete sie.

»Viele Grüße von meiner Frau«, sagte er und hob leicht seinen Becher in die Höhe. »Sie hat gemeint, Junggesellen denken nicht an so was, wenn sie nachts rausmüssen.«

Putensenf griff über die Rückenlehne und holte die abgegriffene Aktentasche hervor, die er dort deponiert hatte. Er reichte Frauke ein kleines in Butterbrotpapier eingewickeltes Päckchen. »Ist auch von meiner Frau. Leberwurst. Braunschweiger …«, fügte er an.

Schweigend aßen sie und sahen sich um.

Putensenf hatte das Fahrzeug auf dem Parkstreifen vor dem Haus in der Kurt-Schumacher-Straße abgestellt, die aus Richtung City zum nahen Hauptbahnhof führte. Nur gelegentlich fuhr ein Auto auf der mehrspurigen Straße.

Frauke warf einen Blick aus dem Seitenfenster auf den Briefkasten, der vor dem ansehnlichen Haus mit der gegliederten Fassade stand. Ein einzelner Balkon in der Beletage zierte das Gebäude. Weniger ansehnlich waren der graue Klotz mit den Hausbriefkästen, der auf Ständern vor dem Eingang stand und den schmalen Grünstreifen begrenzte, sowie die Müllbehälter, die links neben dem Eingang ihren Platz gefunden hatten. Am Sockel des Gebäudes blätterte die Farbe ab, und irgendjemand hatte die früher sicher reichlich verzierte Eingangstür gegen eine aus Aluprofilen und Drahtglas ausgetauscht.

Das Haus war eingerahmt von einem etwas im Hintergrund liegenden Fachwerkhaus, das sich zum Teil hinter Bäumen verbarg, und auf der rechten Seite von einer prächtigen Stadtvilla. Zwischen den Nachbarn wirkte es fast wie ein Fremdkörper.

Frauke sah auf die Uhr. Sie hatten noch zwanzig Minuten Zeit. Sie stieg aus, zog ihre Jacke am Kragen zusammen, weil sie in der Morgenkühle fröstelte, und ging zum Eingang. Sie war erstaunt, wie viele Parteien in dem Haus wohnten. An einer Klingel prangte das sauber geprägte Schild »Pension Hirtmann«.

Frauke kehrte um, lief am Dienstwagen vorbei und nickte Putensenf zu, der sie neugierig durch die Scheibe beäugte. Nach wenigen Schritten überquerte sie eine Nebenstraße, die mit dichten Bäumen bepflanzt war. Das Laub ließ einen ersten Schimmer des bevorstehenden Herbstes erahnen. Mit einem Seitenblick gewahrte sie, dass sich in der Adolfstraße ein ansehnliches Haus an das nächste reihte.

Ein wenig weiter warb ein großes Schild für Kanu- und Floßfahrten auf der Oker. Frauke zuckte die Schultern. Diesen Fluss hatte sie bisher nur mit dem Harz in Verbindung gebracht. Es waren keine fünfzig Meter, bis sie auf einer Brücke stand, die das Gewässer überspannte. Unter sich sah sie Tretboote, die mit einem nachgebildeten Schwanenhals dem Fahrgast ein besonderes Feeling verleihen sollten.

Ein sich näherndes Rauschen riss sie aus ihren Gedanken. Eine Straßenbahn kam aus Richtung Innenstadt und hielt ein Stück weiter, bevor sie den Hauptbahnhof erreichte. Nur wenige Fahrgäste saßen hinter den erleuchteten Fenstern. Munter sah keiner aus. Frauke gähnte. Sie konnte es ihnen nachempfinden.

Langsam kehrte sie zum Dienstwagen zurück. Fast gleichzeitig mir ihr traf ein ziviles Einsatzfahrzeug ein, dem zwei uniformierte Beamte entstiegen.

Sie stellten sich mit »Hauptmeister Bruhns« und »Oberkommissar Stankowski« vor.

Mit wenigen Worten erklärte Frauke das Vorhaben. Die beiden Beamten nickten, ohne weitere Fragen zu stellen. Stankowski rückte noch einmal seine Mütze zurecht, dann marschierte das Quartett zur Haustür.

»Wollen wir ein ordentliches Brimborium veranstalten?«, fragte Putensenf.

Als ihn Hauptmeister Bruhns fragend ansah, fügte er an: »Ich meine, mit viel Lärm und lautem Gepolter, damit möglichst viele Nachbarn mitbekommen, dass die Polizei im Anmarsch ist?«

»Nein«, entschied Frauke. »Ich gehe nicht davon aus, dass wir auf Widerstand stoßen. Wir müssen hier kein Zeichen setzen. Melanie Hirtmann ist sicher genauso Opfer wie Kevin Schmidtke.«

Putensenf zupfte an Fraukes Ärmel und zog sie ein wenig an die Seite.

»Ist es dann richtig, dass wir hier und an anderen Orten eine Razzia durchführen, obwohl der arglose Schmidtke wegen einer Razzia ermordet wurde?«

»Ich gehe davon aus, dass kein weiterer der sogenannten Pensionswirte etwas zu befürchten hat. Die Organisation weiß, dass dieses Geschäftsmodell aufgeflogen ist und die Verräter sich nicht aus dem Kreis der Vertragspartner rekrutieren.«

»Wie Sie meinen«, knurrte Putensenf, suchte den Klingelknopf und betätigte ihn.

Sie ließen Melanie Hirtmann Zeit, bevor es Putensenf ein zweites Mal versuchte.

»Ja? Was ist denn?«, meldete sich eine verschlafene Frauenstimme.

»Polizei«, sagte Frauke. »Würden Sie bitte öffnen.«

»Polizei?«, kam es ungläubig aus der Gegensprechanlage.

»Ja. Werfen Sie einen Blick aus dem Fenster.« Frauke musste den uniformierten Beamten nichts erklären. Die beiden traten ein paar Schritte auf den breiten Gehweg zurück, sodass sie von oben gesehen werden konnten. Eine Gardine wurde beiseitegeschoben, und ein Frauenkopf erschien. Kurz darauf ertönte der Türsummer.

Leise und schweigsam erklommen die vier Beamten die Treppe. Sie wurden von Melanie Hirtmann erwartet, die die Tür zu ihrer Wohnung geöffnet hatte. Sie hatte sich einen Morgenmantel übergeworfen und strich sich die langen braunen Haare aus dem Gesicht. Fragend sah sie Frauke an.

»Frau Hirtmann. Wir haben einen Durchsuchungsbeschluss«, sagte Frauke und hielt der Frau das Dokument entgegen.

»Einen was?« Melanie Hirtmann verstand kein Wort.

Frauke erklärte es ihr und fügte an: »Sie betreiben eine Pension, von der wir vermuten, dass sich dahinter im größeren Umfang illegale Geschäfte verbergen.«

»Das kann nicht sein«, antwortete die Frau und gab die Tür frei. »Kommen Sie doch erst mal rein.«

Frauke berichtete von den mysteriösen Verträgen mit einem Partner, der angeblich das ganze Bettenkontingent der Pension abgenommen hatte und in periodischen Zeitabständen das Entgelt in bar vorbeibrachte.

Melanie Hirtmann nickte. »Ich habe mich auch gewundert. Das ist schon komisch.«

Sie bat die Beamten in eine kleine Küche und besorgte noch zwei weitere Stühle aus einem Nebenraum. Sie selbst lehnte sich gegen das Spülbecken.

Frauke sah sich um. Im Unterschied zu Schmidtkes verkommener Wohnung war hier alles sauber. Nirgendwo stand schmutziges Geschirr herum. Die Arbeitsflächen waren poliert, die Spüle glänzte, und der Fußboden war gewischt.

»Und trotzdem haben Sie das mitgemacht?«, nahm Frauke den Faden wieder auf.

Melanie Hirtmann zuckte resigniert mit den Schultern. »Was sollte ich machen? Ich habe eine vierjährige Tochter.« Sie legte den Zeigefinger auf den Mund. »Sie schläft nebenan. Mein Freund hat uns vor zwei Jahren verlassen. Seitdem versuche ich vergeblich, Unterhalt zu bekommen. Ich habe mich zig Mal beworben, aber sobald man hört, dass ich eine alleinerziehende Mutter bin, ist das Gespräch beendet. ›Was machen wir, wenn Ihr Kind krank wird?‹, habe ich immer wieder zu hören bekommen. Ich habe bei meiner Mutter gewohnt, bis dort ihr neuer Bekannter eingezogen ist. Es ging einfach nicht mehr.« Sie hielt sich mit beiden Händen das Gesicht zu. »Der Mann hat nie etwas gesagt oder getan, aber Sie glauben nicht, wie er mich oder die Kleine angestiert hat, wenn wir aus dem Bad kamen. Mit meiner Mutter konnte ich darüber nicht reden. Sie hat alles durch eine rosarote Brille gesehen. So bin ich über die Anzeige in der Braunschweiger Zeitung gestolpert. Dort wurde ein Vertragspartner für das Betreiben einer Pension gesucht. Ich habe mich beworben und wurde angenommen. In einer solchen Lage fragen Sie nicht mehr nach dem Warum. Für mich war es der letzte Strohhalm.«

Frauke konnte Melanie Hirtmann verstehen. Die junge Frau war Opfer, nicht Täter. Man konnte ihr nicht einmal vorwerfen, dass sie leichtfertig gehandelt hatte. Ob sich für sie rechtliche Konsequenzen ergeben würden, mussten Staatsanwaltschaft und Gericht prüfen. Doch Frauke konnte sich keine Sentimentalitäten leisten. Ihre Jagd galt den Hintermännern.

»Haben Sie die Anzeige noch?«, fragte sie.

Melanie Hirtmann nickte, sagte: »Moment«, und kehrte kurz darauf mit einem Ordner zurück. In einer Plastikhülle befand sich die ausgeschnittene Anzeige.

Frauke warf einen Blick auf den Zeitungsausschnitt. Alles deutete darauf hin, dass die junge Frau die Wahrheit gesagt hatte. Die Anzeige war als Chiffre aufgegeben. »Die nehmen wir mit«, entschied Frauke.

Melanie Hirtmann nickte. »Selbstverständlich.«

Dann bestätigte die junge Frau, dass bei ihr nach dem gleichen Prozedere verfahren worden war wie bei Schmidtke. Aus der Beschreibung des Mannes entnahm Frauke, dass es sich um denselben handeln musste, der auch in Hannover die Geschäfte abgewickelt hatte.

Melanie Hirtmann hatte alle Unterlagen, Abrechnungen und Belege säuberlich zusammengetragen und im Ordner abgelegt.

»Haben Sie noch mehr Unterlagen?«, fragte Frauke.

Die junge Frau schüttelte den Kopf und strich sich erneut die langen Haare aus dem Gesicht. »Das ist alles.«

Anschließend führte sie die Beamten durch die Räume. Sie waren nach dem bekannten Muster einfach eingerichtet, aber in einem gepflegten Zustand.

»Ich wasche alle zwei Wochen die Bettwäsche«, erklärte Melanie Hirtmann, »falls doch ein Gast auftauchen sollte. Aber bisher ist noch nie einer erschienen. Trotzdem leben meine Tochter und ich in einem einzigen Raum.«

»Können Sie heute Vormittag zum Polizeikommissariat Mitte in die Münzstraße kommen?«, bat Frauke. »Wenden Sie sich an Herrn Heitmann. Wir müssen ein Protokoll aufnehmen. Außerdem benötigen wir Ihre Hilfe bei der Beschreibung des Mannes, der als Ihr Geschäftspartner aufgetreten ist.«

»Sicher«, bestätigte Melanie Hirtmann. »Und was wird jetzt aus der Pension? Ich meine, es ist nicht nur mein Lebensunterhalt, sondern auch das Zuhause für meine Tochter und mich.«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Frauke. Und das entsprach den tatsächlichen Gegebenheiten.

Sie ließen eine ratlose Frau zurück.

»Wenn Sie mal wieder einen Einsatz in Braunschweig haben …«, verabschiedeten sich die beiden Uniformierten, »stehen wir jederzeit gern wieder zur Verfügung.« Sie stiegen in ihr Zivilfahrzeug und fuhren davon.

»Manchmal ist unser Beruf erschreckend«, sagte Putensenf, bevor er den Motor startete. »Wohin jetzt?«

Frauke sah auf die Uhr. »Zum Bahnhof«, sagte sie. »Das ist um diese Zeit der einzige Ort, an dem wir einen Kaffee bekommen.«

»Hat Ihnen der von meiner Frau nicht geschmeckt?«

»Doch. Es war wahrscheinlich der beste Kaffee seit Langem. Jetzt möchte ich mich revanchieren und lade Sie zu einem zweiten Frühstück ein.«

Putensenf stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Kommentarlos fuhr er das kurze Stück zum Braunschweiger Hauptbahnhof.

Das Frühstück fiel karg aus. Der Kaffee war zu dünn, und die belegten Brötchen lieblos zurechtgemacht, so als wüsste man, dass auf einem Bahnhof Reisende keine Stammkunden werden.

Sie hatten sich über Belanglosigkeiten unterhalten. Putensenf taute richtig auf, als sie auf das Thema Jazz zu sprechen kamen. Ungefragt betete er Frauke eine Litanei der Größen dieses Genres, ihrer Stärken und Schwächen und seiner eigenen Einschätzung herunter.

Nachdem sie wieder im Wagen saßen, rief Frauke auf der Dienststelle an. Nathan Madsack wirkte am Telefon keineswegs übermüdet, sondern eher aufgekratzt.

»Ich habe inzwischen Rückmeldungen von allen Einsätzen erhalten. Alles ist reibungslos verlaufen. Nirgendwo gab es Schwierigkeiten. Es scheint überall nach dem bekannten Schema abgelaufen zu sein. Ich wundere mich, wie einfallslos die Organisation diese Geldwaschmethode aufgebaut hat.«

»Das war nicht einfallslos, sondern nahezu genial«, korrigierte ihn Frauke. »Die formellen Betreiber der Pensionen hatten keinen Anlass, sich zu melden. Das Finanzamt war zufrieden, weil alles sauber durch die Buchhaltung lief, und geschädigt wurde niemand.«

»Ja, aber …«, warf der Hauptkommissar ein.

»Sie denken an die Opfer, von denen das Geld im Ursprung stammt«, sagte Frauke. »Erpressung, Drogen, Prostitution und vieles mehr. Wenn es der Organisation schwerer fällt, das Geld zu waschen, bringt ihnen das schmutzige Geld auch nicht viel. Persönlich haben die Hintermänner sicher ausgesorgt. Ein paar Millionen mehr machten sie nur auf dem Papier reicher. Es ist das Streben nach Macht, das Gefühl, den Staat und seine Organe übertölpelt zu haben, die Polizei an der Nase herumzuführen, was den Reiz ausmacht. Sehen Sie, Madsack: Reiche haben viele Sorgen, Hungernde nur eine. Bekommen wir im Laufe des Tages einen Überblick über das Aussehen des Mannes, der im Namen der Organisation die Pensionen betreut hat?«

»Ich habe alles veranlasst und hoffe, dass wir viele verwertbare Hinweise bekommen. Wie ist es bei Ihnen gelaufen?«

Frauke berichtete. Dann bat sie Madsack, die Öffnungszeiten der Anzeigenannahme zu recherchieren. Es dauerte eine Weile, bis sich der Hauptkommissar meldete. »Das ist in der Straße Schild, Hausnummer 10. Die öffnen um zehn Uhr.«

Frauke sah ungeduldig auf die Uhr. »Wir fahren jetzt nach Wolfenbüttel«, beschloss sie. »Ich habe um halb neun Uhr die Razzia bei der Vierten Vermögensverwaltung anberaumt. Gleichzeitig werden wir die Lucky Holding durchleuchten.«

»Wo wollen Sie die ganzen Leute hernehmen?«, fragte Putensenf.

»Wir haben sechs Beamte, zum Teil aus Braunschweig, zum Teil aus Wolfenbüttel. Auch die cleversten Gangster machen Fehler, Putensenf. Um Geld zu sparen, residieren die ganzen Gesellschaften in Wolfenbüttel unter einem Dach.«

Sie fanden eine Parkmöglichkeit auf dem Parkplatz vor dem Wolfenbüttler Schloss mit seiner prachtvollen barocken Fachwerkfassade.

»Dass Wolfenbüttel eine sehenswerte Fachwerkstadt ist, wissen vielleicht manche«, erklärte Putensenf ungefragt. »Dass hier aber der zweitgrößte erhaltene Schlossbau Niedersachsens beheimatet ist, ahnen nur wenige. Viele tippen auf Celle.«

Frauke unterdrückte einen bissigen Kommentar, dass sie heute nicht auf Sightseeing unterwegs sei. Sie wollte den mühsam hergestellten Burgfrieden nicht stören. »Wo soll das jetzt sein?«

»Am Stadtmarkt«, erklärte Putensenf und zeigte in Richtung der Fußgängerzone auf der anderen Straßenseite. »Ich glaube, wir müssen dort entlang.«

Hier begann die Innenstadt. Frauke staunte über die vielen gut erhaltenen Fachwerkhäuser, die sich aneinanderreihten, auseinanderwichen, wenn sich die Gasse zu einem kleinen Plätzchen weitete oder eine Biegung neugierig auf die Fortsetzung der Baukunst machte.

Die »Krambuden«, so hieß dieser Straßenabschnitt, erweiterten sich zu einem Platz, auf dem ein hoher Maibaum stand. Unter der Spitze hing der Kranz. Dann folgten Querstangen, die wie Rahen aussahen, an denen Wappen hingen. Vielleicht waren es die von Gilden, überlegte Frauke. Sie wollte sich keine Blöße geben und unterließ es, Putensenf zu fragen. Ein paar Marktstände hatten auf dem Platz Quartier bezogen und boten ihre Waren feil.

Putensenf zeigte nach rechts. »Wir müssen hier entlang. Dort ist der Stadtmarkt.«

Der Platz war von ehrwürdigen alten Häusern eingerahmt. In der Mitte stand ein Reiterdenkmal. »Herzog August« stand in verwitterter Schrift auf dem Sockel. Frauke war sich nicht sicher, ob die zweite Figur, die auf dem Pferd saß, den Tod symbolisierte. Das würde passen. Überall, wo die Organisation im Spiel war, ritt der Tod mit.

Zur Rechten begrenzte das »Brauhaus« den Platz. An der kunstvoll gestalteten Fachwerkfassade war eine Sonnenuhr montiert. Das Obergeschoss war ein wenig vorgebaut und wurde von einem hölzernen Ständerwerk getragen. Frauke war stehen geblieben und bewunderte das beeindruckende Ensemble. Putensenf bemerkte es erst nach wenigen Schritten.

»Leiten Sie den Einsatz in Wolfenbüttel persönlich, weil Sie auf diese Weise Arbeit und touristische Exkursion miteinander verknüpfen können?«

Ausnahmeweise verzichtete sie auf eine Replik.

In der Mitte der Längsseite standen zwei Häuser, die einander ähnlich waren. Auffällig war die Vielzahl der eng beieinanderstehenden Sprossenfenster, unter denen weiße Dreiecke gemalt waren. In einem dieser Gebäude befand sich die Vierte Vermögensverwaltungsgesellschaft mbH, wie ein unscheinbares Messingschild verriet.

Frauke stutzte. Auf dem Schild befanden sich noch ein Dutzend anderer Unternehmen, darunter auch die Lucky Holding GmbH.

»Bitte«, sagte sie und zeigte demonstrativ auf das Schild. »Alles unter einem Dach.«

»Das ist ein lucky punch«, lästerte Putensenf. »Oder wollen Sie behaupten, dass Sie es so geplant haben?«

Frauke schüttelte demonstrativ den Kopf. »Putensenf. Glauben Sie wirklich, dass bei mir irgendetwas Zufall ist?«

Der Kriminalhauptmeister blieb die Antwort schuldig. Nach weiteren fünf Minuten bogen zwei blau-silber lackierte Einsatzfahrzeuge um die Ecke und hielten direkt vor dem Aufgang zum Haus. Sechs uniformierte Beamte entstiegen den Fahrzeugen. Ein Hauptkommissar sah sich suchend um. Als Frauke näher kam, legte er die Hand kurz an den Mützenschirm.

»Frau Kollegin?«, fragte er. Als Frauke nickte, sagte er: »Die Wolfenbüttler Kollegen waren unabkömmlich. Wir sind alle aus Braunschweig. Hoffentlich bringt der Einsatz etwas. Unser Chef war recht ungehalten. Wir sind unzureichend besetzt. Da passen solche Aktionen überhaupt nicht in den Plan.«

»Wie gut, dass wir diesem Beruf hobbymäßig nachgehen«, erwiderte Frauke. Sie ließ unerwähnt, dass sie nach einer nahezu schlaflosen Nacht bereits seit zwei Uhr wieder auf den Beinen war.

»Nichts für ungut«, entgegnete der Hauptkommissar. »Aber die da oben begreifen einfach nicht, dass alle Kollegen bei immer dünner werdender Personaldecke am Rande der Erschöpfung arbeiten.«

»Ich bin nicht die Beschwerdestelle«, erwiderte Frauke. Dabei klang ihre Stimme aber eine Spur versöhnlicher. »Auf geht’s«, sagte sie zu den Männern und ging voran.

Das Innere des Hauses war verwinkelt und eng. Sie mussten eine Weile suchen, bis sie eine schlichte Holztür fanden, an der ein Zwilling des Schilds vom Gebäudeeingang angebracht war. Sie klopfte kurz an, um im selben Augenblick schon die Tür aufzureißen.

In einem kleinen Büro saßen an zwei sich gegenüberstehenden Schreibtischen eine ältere Frau mit deutlich gefärbten schwarzen Haaren und ein zur Rundlichkeit neigender Mann mit lichtem Haupthaar. Über einem am Kragen offenen Sporthemd trug er einen Strickpullunder.

Beide erschraken, als die acht Beamten in den engen Raum drängten. Der Mann hatte gerade von einem belegten Brötchen abgebissen, während seine rechte Hand die Bildzeitung hielt. Die Frau war im Begriff, einen Schluck Kaffee zu trinken.

»Polizei«, sagte Frauke. »Lassen Sie alle Arbeiten sofort liegen, berühren Sie nicht mehr Ihre Computer und telefonieren Sie nicht.«

»Die sehen nicht aus, als würden sie gerade mitten in der Arbeit sein«, knurrte Putensenf. »Und dann lästern die Leute immer über uns angeblich so faule Beamte.«

»Was ‘n los?«, fragte der Mann. Das Erschrecken stand ihm immer noch ins Gesicht geschrieben.

»Wir haben einen Durchsuchungsbeschluss«, verkündete Frauke. »Wo ist der Verantwortliche?«

»Welcher Verantwortliche?«, stammelte der Mann.

»Die Geschäftsführer.«

»Die sind nicht hier.«

»Und wer vertritt sie?«

»Niemand.«

»Wo sind die anderen Mitarbeiter und Räume?«, fragte Frauke, da von dem engen Büro keine weiteren Türen abgingen.

»Welche anderen?« Der Mann schien Frauke nicht zu verstehen.

»Der Rest der Belegschaft der zahlreichen Firmen, die hier residieren?«

»Na wir«, sagte der Mann, der langsam seine Fassung zurückgewann.

»Herr …?« Frauke sah ihn an.

»Blumenberg.«

»Sie wollen nicht behaupten, dass Sie beide das gesamte Personal aller Unternehmen repräsentieren, die draußen auf dem Schild aufgeführt sind?«

»Doch.«

»Wie heißt Ihr Geschäftsführer?«, fragte Frauke.

»Gasparone«, erwiderte der Angestellte.

Frauke und Putensenf fingen gleichzeitig an zu lachen.

»Wirklich?«, fragte Putensenf glucksend.

»Was ist daran lustig?« Blumenberg hatte die Hände in die Hüften gestemmt. »Vittorio Gasparone. Ein ehrenwerter Geschäftsmann. Nicht wahr, Dora?« Er sah seine Kollegin an, die heftig nickte.

»Gasparone ist die Titelfigur einer Operette von Carl Millöcker«, klärte ihn Putensenf auf. »Das ist ein berüchtigter Räuberhauptmann, der mit seiner Bande auf dem italienischen Festland sein Unwesen treibt. Allerdings taucht die Figur nie wirklich auf. Es ist immer nur die Rede von ihm.«

»Das ist nicht lustig«, sagte Blumenberg erneut. »Unser Chef ist ein hochanständiger, ehrenwerter Mensch.«

»Darum spricht man ja auch von der ehrenwerten Gesellschaft«, lachte Frauke leise.

»Bitte?«

»Nichts«, antwortete Putensenf an ihrer Stelle. »Und wie heißen die Geschäftsführer der anderen Gesellschaften?«

»Na! Das ist auch Herr Gasparone.«

»Und das ist Ihnen nie merkwürdig vorgekommen?«

»Wieso denn? Wir machen unsere Arbeit, bekommen pünktlich unser Geld und haben nichts auszustehen. Es ist ein angenehmes Betriebsklima. Unser Chef hat zuvorkommende Umgangsformen. Außerdem …« Blumenberg brach mitten im Satz ab.

»Was außerdem?«, hakte Frauke nach.

»Außerdem«, fuhr Blumenberg ein wenig leiser fort, »hat man Dora und mir eine neue Chance gegeben. Sie ist fast sechzig, ich bin drüber. Unser alter Arbeitgeber ist den Bach runter. Fine. Wer nimmt so alte Säcke? Niemand.« Blumenberg ruderte mit seinen Armen in der Luft herum. »Da schreit alle Welt was vom Fachkräftemangel, aber alte Hasen wie uns will keiner. Nee, Herrschaften. Da sind die Itaker anders. Da hat keiner nach dem Alter gefragt. Und nun kommen Sie und wollen alles kaputt machen.« Blumenberg winkte ab. »Haun Sie bloß ab. Hier ist alles in Ordnung. Blitzblank. Sie können sich jede Buchungszeile ansehen. Stimmt alles.«

Es war wieder ein genialer Schachzug der Organisation. Man hatte Menschen rekrutiert, die dankbar waren. Leute wie Blumenberg und seine Kollegin würden für ihre Arbeitgeber durchs Feuer gehen. Sie würden nie verstehen, dass die Polizei den Geldwäschering verfolgte. Doch heute wollte sie nicht mit Blumenberg diskutieren.

»Wir werden alle Unterlagen mitnehmen. Auch die Computer«, sagte sie.

Blumenberg sprang auf und baute sich vor seinem Schreibtisch auf.

»Nur über meine Leiche«, schrie er.

Putensenf trat näher an den Mann heran. »Na, na«, sagte der Kriminalhauptmeister. »Hier soll alles gesittet über die Bühne gehen. Niemand will Ihnen etwas antun.« Er wollte Blumenberg vorsichtig zur Seite schieben. Der missverstand die Aktion, holte aus und schlug Putensenfs Arm zur Seite.

Sofort drängten sich zwei uniformierte Beamte vor und packten den Buchhalter am Oberarm. Blumenberg versuchte sich zu befreien, hatte aber keine Chance gegen die Polizisten.

»Lassen Sie den Mann«, wies Frauke die Kollegen an. »Er ist verständlicherweise erregt. Hier geht es auch um seine Zukunft.«

Blumenberg breitete die Arme aus wie ein Verkehrspolizist auf der Kreuzung, der Halt signalisierte. »Stopp!«, rief er.

»Herr Blumenberg! Machen Sie uns die Arbeit nicht schwerer, als sie ist«, sagte Frauke. Entschiedenheit lag in ihrer Stimme.

Mutlos ließ der Mann seine Arme sinken und setzte sich auf seinen Stuhl. Er stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und legte das Kinn in die Handflächen.

»Warum, Dora?«, fragt er. »Warum müssen immer die kleinen Leute wie wir verlieren?«

Darauf wusste Frauke auch keine Antwort.

Widerstandslos ließen es die beiden Angestellten zu, dass die Polizei die Akten und die Computeranlage mitnahm.

»Wie erreichen wir Herrn Gasparone?«, fragte Frauke und warf Putensenf einen Seitenblick zu, als der »Gaspatrone« vor sich hinmurmelte.

»Der ist oft unterwegs. Wir arbeiten hier selbstständig«, antwortete Blumenberg.

»Irgendwann muss Ihr Chef hier doch aufkreuzen. Er muss Anweisungen erteilen, Unterschriften leisten und andere Dinge verrichten, die man von einem Geschäftsführer erwartet.«

»Das meiste erledigen wir selbstständig. Sicher, manchmal taucht er hier auf, aber immer ohne Vorankündigung.«

»Vielleicht ist er in der Klinik«, warf die Kollegin schüchtern ein.

»Sei still, Dora«, fauchte Blumenberg sie an. »Das ist gar nicht gewiss.«

»Ist er krank?«, fragte Frauke und wandte sich an die ängstlich dreinblickende Frau.

»Er nicht«, erwiderte sie und sah dabei Blumenberg an.

»Du sagst jetzt nichts mehr«, schalt sie der Buchhalter.

»Sie halten jetzt den Mund, Blumenberg«, sagte Frauke mit scharfer Stimme, dass der Angestellte zusammenzuckte. Dann sah sie die Frau an.

»In welcher Klinik?«

»In unserer.«

»Wem gehört die Klinik?«

»Der Vierten Vermögensverwaltung. Reichenberger verwaltet sie. Aber gehören tut sie uns.«

Die Frau verwandte das »uns« so selbstverständlich, als würde sie Anteile an der Gesellschaft besitzen. So stark war die Identifikation mit dem Arbeitgeber.

»Wie heißt die Klinik?«

Unsicher sah sie zuerst Blumenberg, dann Frauke an.

»Einfach Klinik. Sie hat keinen speziellen Namen.«

»Und wo ist die Klinik?«

»Hier in Wolfenbüttel an der Ecke Breite Herzogstraße und Ziegenmarkt. Die Klinik ist im Eckgebäude. Unten ist eine Bank untergebracht.«

»Und wen besucht Gasparone dort?«

»Einen Freund.«

»Hat der auch einen Namen?«

»Du bist sofort leise, Dora«, schnauzte Blumenberg sie an. »Du spielst mit deinem Arbeitsplatz.«

Die Drohung wirkte. Die beiden älteren Angestellten sagten keinen Ton mehr. Frauke verkniff sich, den beiden klarzumachen, dass sie ohnehin die längste Zeit in Lohn und Brot gestanden hatten. Es gab zwei weitere Opfer.

Frauke ließ einen der uniformierten Beamten zurück mit der Auflage, dass die beiden Angestellten nicht telefonieren und irgendjemanden in der Klinik warnen sollten. Sie kehrten zu ihrem Fahrzeug auf den Schlossplatz zurück und umrundeten das Stadtzentrum.

»Hier ist alles von Adel«, brummte Putensenf, als sie die Breite Herzogstraße entlangfuhren und auf Höhe der Langen Herzogstraße abbogen. Der Kriminalhauptmeister zeigte in Fahrtrichtung. »Das da ist Am Herzogtor.« Dann grinste er. »Sind Sie auch adelig? Jetzt biegen wir in Ihre Straße ab.«

»Ziegenmarkt«, las Frauke auf dem Straßenschild über dem türkischen Imbiss an der Straßenecke. Gegenüber lag das moderne und repräsentative Bankgebäude.

»Da soll eine Klinik drinnen sein?«, murmelte Putensenf halblaut vor sich hin. Eine niedrige Durchfahrt im Nachbargebäude führte zu den Parkplätzen hinter dem Haus. »Wie kommen die hier mit dem Rettungswagen durch?«, wunderte sich Putensenf und stellte das Auto vor einer hohen Mauer ab, deren Krone mit Stacheldraht verziert war.

»Das ist die Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel«, erklärte er. »Die haben etwa vierhundert Haftplätze.«

»Da wird sicher einer für Sie übrig sein«, erwiderte Frauke.

Putensenf sah sie fragend an.

»Weil Sie unendlich sabbeln wie ein Wasserfall. Mensch, Putensenf, Sie sind doch gar keine Frau.«

»Weiber«, knurrte der Kriminalhauptmeister, stieg aus und schloss das Auto ab.

Sie mussten eine Weile suchen, bis sie das unscheinbare Schild »Klinik« fanden. Nach dem Klingeln meldete sich eine Stimme.

»Ja?«

»Polizei. Würden Sie bitte öffnen«, sagte Frauke.

»Da muss ich fragen«, sagte die Stimme. Dann war der Lautsprecher tot.

Nach fünf Minuten ertönte der Summer.

Die Räume der Klinik lagen über der Bank. Sie wiesen keinerlei Ähnlichkeit mit einem Krankenhaus auf. Eher glich der Flur einem komfortablen Hotel.

Putensenf war das auch aufgefallen. »Ob es hier auch Zimmer gibt, die nie benutzt werden? So wie in den Pensionen?«, fragte er leise.

Sie wurden von einer ganz in Weiß gekleideten Frau erwartet. Auf dem Namensschild stand: »Schwester Jutta«.

Mit erwartungsvollem Blick sah sie den Beamten entgegen.

»Polizei«, sagte Frauke und hielt ihr den Dienstausweis hin.

Schwester Jutta warf nur einen kurzen Blick darauf. »Und?«

»Wer ist hier zuständig?«

»Wofür?«

»Verwaltung, Medizin, Pflegedienst.«

»Die Verwaltung ist nicht bei uns im Hause«, erwiderte sie in ihrem kräftigen sächsischen Dialekt. »Falls Sie kein Notfall sind, können wir nichts für Sie machen.«

»Wir suchen Herrn Gasparone.«

»Liegt hier nicht.«

»Er hat aber einen Patienten von Ihnen besucht. Wer ist das?«

Schwester Jutta lachte laut auf. »War das ein Scherz? Wollen Sie Auskunft über unsere Patienten?«

»Ja«, erwiderte Frauke.

»Nix da. Und nun habe ich zu tun.«

In diesem Moment trat ein schlaksiger jüngerer Mann mit Vollbart auf den Flur und musterte neugierig die Besucher. Er trug einen offenen Kittel.

»Ach, Herr Doktor …«, sagte Putensenf und suchte nach dem Namensschild. »Dr. Bassmann.«

Der Mann winkte ab. »Herr Bassmann. Ich bin zwar approbiert, aber an meiner Doktorarbeit schreibe ich noch.«

»Hoffentlich nicht copy and paste«, murmelte Putensenf leise. »Sie sind der Arzt?«

»Ja«, sagte der Mann und fing sich einen bösen Blick von Schwester Jutta ein, der besagte, dass Bassmann nominell der Arzt war, das Sagen aber bei ihr lag.

»Gibt es auch einen Chefarzt, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen?«, fragte Frauke.

»Das ist bei uns etwas anderes«, erklärte Bassmann und unterstrich seine Erklärung mit einer lebhaften Gestik. »Wir haben nur fünf Betten, alle in Einzelzimmern. Kommen Sie.«

Er öffnete eine Tür und ließ die Beamten einen Blick in ein leeres Zimmer werfen. Es wirkte nicht wie ein Krankenzimmer, sondern eher wie eine luxuriöse Hotelsuite, wenn man vom typischen Krankenbett absah.

»Wer liegt hier?«, fragte Frauke.

»Im Augenblick sind nur zwei Betten belegt.«

»Durch wen?«

Schnell schaltete sich Schwester Jutta ein. »Herr Bassmann«, sagte sie bestimmt, »ich glaube nicht, dass das die Herrschaften interessiert. Außerdem unterliegt es unserer Schweigepflicht.«

»Doch nicht die Namen«, sagte Frauke.

Bassmann entschloss sich zu einem Kompromiss. »Es sind hochrangige Persönlichkeiten, die sich in gediegener Atmosphäre einer herausragenden medizinischen Behandlung unterziehen.«

»Kosmetik und so?«, fragte Putensenf spitz.

»Hochleistungsmedizin«, erwiderte Bassmann pikiert. »Kommen Sie mal mit.« Er ging voraus und öffnete eine Tür. »Wir haben hier eine ultramoderne Einrichtung.« Er zeigte auf eine davon abzweigende Tür. »Das ist der OP. Da ist alles top.«

»Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie hier Blinddarmoperationen durchführen?«

»Blinddarm?«, fragte Bassmann und zog die Stirn kraus. »Vorgestern haben wir eine Nierentransplantation durchgeführt.«

Frauke war erstaunt. »Doch nicht Sie?«

Jetzt lachte Bassmann. »Nein. Ich bin hier als ständiger Ansprechpartner für die Patienten. Ich teile mir die Rund-um-die-Uhr-Betreuung mit einem Kollegen und assistiere bei der Operation. Je nachdem, was anfällt, wird die von einem hochrangigen Spezialisten durchgeführt. Die Nierentransplantation hat Dr. Fehrenkemper ausgeführt. Er ist Oberarzt an der Medizinischen Hochschule in Hannover und hat sein Expertenteam mitgebracht einschließlich Anästhesist.«

»Und das alles machen Sie hier?« Frauke mochte es nicht glauben.

»Genau.«

»Wem gehört diese Einrichtung?«

»Da fragen Sie mich zu viel. Ich bin Arzt.«

»Herr Bassmann!« Schwester Jutta drängte sich zwischen den Arzt und die Beamten. »Ich glaube, Sie haben schon viel zu viel erzählt. Die Herrschaften sind von der Polizei.«

»Polizei?« Ein Erschrecken durchfuhr den jungen Arzt. »Aber warum denn?«

Frauke legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Auch wir haben eine Schweigepflicht.«

»Sie sollten sich gründlich um unseren Patienten kümmern«, sagte Schwester Jutta mit Nachdruck. Frauke legte die Hand auf eine Türklinke. Ehe sich die Krankenschwester versah, hatte sie die Tür geöffnet und warf einen Blick in das Krankenzimmer.

In einem Bett lag ein Mann, dem durch ein Beatmungsschlauch Sauerstoff durch die Nasenlöcher zugeführt wurde. Eine Hand lag neben der Bettdecke. Im Handrücken steckte ein Anschluss, der zu einem Tropf führte. Unter der Bettdecke kamen mehrere Kabel zum Vorschein, die zu einem Turm mit verschiedenen Geräten führten, an denen es blinkte, Zahlen und Symbole angezeigt wurden.

Der Mann hatte die Augen geschlossen und den Besuch nicht wahrgenommen.

»Was erlauben Sie sich?«, empörte sich Schwester Jutta. »Sehen Sie zu, dass Sie rauskommen. Sonst rufe ich die Polizei.«

»Ist schon gut, alter Keifzahn«, knurrte Putensenf und folgte Frauke zum Ausgang.

»Haben Sie den Mann erkannt?«, fragte der Kriminalhauptmeister, als sie wieder im Auto saßen.

Frauke nickte. »Das war Don Mateo Zafferano, dem der italienische Gemüseimport gehört.«

»Dessen Geschäftsführer Giancarlo Rossi von Necmi Özden ermordet wurde?«

Frauke nickte zur Bestätigung. »Langsam schließt sich der Kreis. Ich habe Don Mateo, Igor Stupinowitsch, Rossi und Dottore Carretta zusammen gesehen.«

»Wo?«, fragte Putensenf schnell und beäugte Frauke aus zusammengekniffenen Augen.

»In einem exklusiven Restaurant im Zooviertel in Hannover.«

»Hauptkommissarin und ledig müsste man sein«, grummelte Putensenf. »Dann kann man sich so etwas leisten.«

Sie ließ ihn in dem Glauben. Er musste nicht wissen, dass sie in Georgs Begleitung an mehreren Abenden durch Hannovers italienische Gastronomieszene gezogen war.

Georg! Bei dieser Begegnung hatte Frauke damals für einen kurzen Moment den Eindruck, als würde er einen der Männer kennen, obwohl er es geleugnet hatte. War das Don Mateo gewesen? Bei der Schießerei in Isernhagen war Georg mit einer Arzttasche erschienen und hatte sachkundig und kompetent Necmi Özden versorgt.

Georg war Arzt.

Nierentransplantation.

Das war ein weiterer lukrativer Geschäftszweig der Organisation. Sie versorgten reiche Patienten mit neuen Organen und exklusiver medizinischer Versorgung. Die unscheinbare »Klinik« war einer besonderen Klientel vorbehalten. Zwei Ärzte, ständige Präsenz bei nur fünf Betten. Und die Lage in Wolfenbüttel über den Räumen der Bank war wieder einmal ein genialer Schachzug der Organisation. Niemand vermutete hier eine solche Einrichtung.

Noch einmal kehrten Fraukes Gedanken zur Nierentransplantation zurück. Wenn jemand eine neue Niere bekam, musste es auch einen Spender geben.

»Wo haben die die Niere her?«, fragte Frauke laut.

Putensenf nickte zustimmend. »Das habe ich mich auch gefragt. Achtzig Prozent der Bundesbürger stehen der Organspende positiv gegenüber, aber nur jeder siebente hat einen Spenderausweis.«

Sie sah Putensenf von der Seite an. »Woher haben Sie die Zahlen?«

»Ein Verwandter von uns ist betroffen«, sagte Putensenf leise. »Deshalb habe ich mich dafür interessiert. Zwölftausend Menschen warten allein in Deutschland auf ein neues Organ, ein Herz, eine Lunge oder eine Leber. Davon allein achttausend auf eine neue Niere. Täglich sterben drei von ihnen. Die anderen müssen im Durchschnitt sieben Jahre warten. Und die da oben?« Zornig schwenkte er den Arm in Richtung der Klinik. »Ich möchte wetten, dass deren Organ nicht durch Eurotransplant in Holland vermittelt wurde, dass Don Mateo keiner von den sechzehntausend Menschen war, die auf der Warteliste stehen. Sechzehntausend. Das ist eine ganze Kleinstadt.«

»Das Geschäft mit der Gesundheit, der Angst vor dem Tod ist bei zahlungskräftigen Kunden besonders lukrativ. In einer solchen Situation können Sie jeden Preis verlangen. Und der begüterte Kranke ist bereit, es zu bezahlen. Was ist das für eine Welt?«

Und Georg mischt dort mit, überlegte Frauke. Der ganze Luxus, das Motorrad … All das wird finanziert durch die zwielichtige Behandlung reicher Leute. War Georg dieser geheimnisvolle Dr. Fehrenkemper?

Anschließend fuhren sie noch einmal nach Braunschweig.

Das Servicecenter der Braunschweiger Zeitung verbarg sich hinter einer Bushaltestelle am Rande der Innenstadt in der Straße Schild. Es lag im Haus des Mövenpick-Hotels. Nebenan war der »Welfenhof«, eine gemütliche kleine Passage mit inhabergeführten Geschäften, die sich wohltuend von den uniformen Aufmachungen der großen Ketten abhoben. Putensenf zeigte auf das Schild einer großen Frikadellen-Braterei und deren Ableger.

»Im Mc-Dingsbums-Café bekommen wir sicher einen Kaffee«, sagte er. »Diesmal lade ich Sie ein.«

Frauke wunderte sich ein wenig über Putensenf. Seit den frühen Morgenstunden hatte er keinen einzigen bissigen Kommentar abgegeben.

Im Servicecenter sprachen sie mit einer Frau, die sich hilfsbereit zeigte, nachdem sie aufmerksam die Dienstausweise studiert hatte.

»Ich muss das raussuchen«, erklärte die Angestellte und gab etwas in ihren Computer ein. »Aha«, sagte sie schließlich. »Die Anzeige ist hier bei uns am Schild aufgegeben und gleich bar bezahlt worden.«

»Das heißt, Sie haben keine Adresse und keinen Namen?«, fragte Frauke.

»Leider nicht.«

»Die Anzeige war aber Chiffre. Was ist mit den Zuschriften geschehen?«

»Die wird der Inserent hier abgeholt haben«, erwiderte die Frau.

»Wer hat die Anzeige entgegengenommen?«

Statt einer Antwort wandte sich die Angestellte an ihre Nachbarin. »Elfie, kannst du mal gucken kommen?«

Die Kollegin rollte mit ihrem Bürostuhl heran, rückte ihre Halbbrille zurecht und warf einen Blick auf den Bildschirm. »Was ist damit? Was nicht in Ordnung?«

»Doch«, versicherte die erste Angestellte. »Die Herrschaften sind von der Polizei und möchten wissen, ob du dich an den Inserenten erinnern kannst?«

»Nee«, sagte die Kollegin und sah Frauke fast vorwurfsvoll an. »Haben Sie eine Ahnung, was hier los ist? Da kann man sich nicht jedes Gesicht merken.«

»Und wenn Sie sich in diesem Fall besondere Mühe geben?«, blieb Frauke hartnäckig.

»Ich arbeite immer sorgfältig und konzentriert«, erwiderte die Frau und schenkte den Beamten einen bösen Blick.

Dieser Versuch war fehlgeschlagen. Aber das war typisch für die Polizeiarbeit, dass die Ermittler oft Wege verfolgten, die in einer Sackgasse endeten.

»Schade«, sagte sie zu Putensenf, der nur die Schultern zuckte. »Zurück nach Hannover.«

Im Landeskriminalamt gab es viele Neuigkeiten. Frauke hatte ihr Büro noch gar nicht betreten, als Madsack sie bestürmte.

»Sie haben sich gestern mit Helmut Kiehnhorst getroffen?«

Frauke bestätigte es.

»Ich nehme an, er hat Ihnen Informationen zukommen lassen?«

»Nein, er hat mir den Vorschlag unterbreitet, dass wir das Steintorviertel aufgeben und als rechtsfreien Raum belassen. Die dortigen Bosse wollten alles untereinander regeln.«

»Wie das aussieht, hat Kiehnhorst schmerzlich erleben müssen. Man hat ihn heute Morgen um halb vier am Klagesmarkt gefunden.«

»Ist er tot?«, fiel Frauke dem Hauptkommissar ins Wort.

»Schlimmer«, sagte Madsack, und die Betroffenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Man hat sein Gesicht mit einem Messer zerschnitten, Nase, Lippen und Ohren abgetrennt. Auf einem Auge wird er blind bleiben.«

»Wo ist Kiehnhorst jetzt?«

»In der Medizinischen Hochschule. Ich habe nachgefragt. Man hat mir gesagt, er würde in ein künstliches Koma versetzt. Wir werden vorerst keine Auskunft von ihm erhalten. Vielsagender ist ein Zettel, dem man in seine Jackentasche gestopft hatte. ›Verräter‹, stand dort drauf.«

Frauke atmete tief ein, lehnte sich zurück und streckte die Arme in die Höhe. »Die Organisation glaubt, Kiehnhorst hätte uns Informationen weitergeleitet, zum Beispiel über die Pensionen. Deshalb ist dieses Geschäftsmodell aufgeflogen. Die reagieren aber prompt.«

»Woher haben die ihre Informationen? Ich meine, so schnell?«

»Das müssen wir herausfinden«, erwiderte Frauke und verschwieg, dass sie während ihres Gesprächs mit Kiehnhorst erneut den südländisch aussehenden Mann mit der Sonnenbrille im Haar gesehen hatte.

»Machen Sie Druck, Madsack, dass wir eine vollständige Auswertung der Buchhaltungsunterlagen erhalten. Haben wir etwas von Herbert L’Arronge gehört? Gibt es schon erste Analysen zur Person des Mannes, der den Pensionswirten das Geld gebracht hat? Dann brauche ich alles, was wir an Informationen über Vittorio Gasparone aus Wolfenbüttel bekommen können, und schließlich möchte ich wissen, was die italienischen Behörden über Don Mateo Zafferano wissen. Haben Sie alles behalten?«

»Ja, aber was soll ich zuerst machen?« Es klang wie ein Klagelied.

»Alles«, sagte Frauke und entließ den Hauptkommissar.

Frauke versuchte, im Internet etwas über Dr. Fehrenkemper in Erfahrung zu bringen. Sie wurde schnell fündig. Der Arzt stammte aus Aschaffenburg, hatte bei Professor Dietl in Regensburg und München Medizin studiert, war an verschiedenen Krankenhäusern tätig gewesen und besetzte seit über fünf Jahren eine Oberarztstelle an der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie überflog nur die Überschriften der vorwiegend englischsprachigen Fachartikel. Soweit Frauke es zuordnen konnte, war Dr. Fehrenkemper ein angesehener Chirurg, der sich insbesondere in der Transplantationsmedizin einen Namen gemacht hatte. Noch etwas stellte Frauke fest: Fehrenkemper war nicht Georg. Das Bild zeigte einen vielleicht fünfzehn Jahre jüngeren Mann mit braun gebranntem Gesicht.

Dann beorderte sie Schwarczer zu sich und wollte von ihm wissen, was es bei ihm für Neuigkeiten gebe.

»Ich habe mir gestern das Steintorviertel angesehen. Äußerlich ist nichts erkennbar. Mir ist lediglich aufgefallen, dass vor Stupinowitschs Bordell eine Gruppe von Leuten stand. Einige davon sind mir als Türsteher bekannt. Das ist in diesem Fall eine Umschreibung dafür, dass diese Leute ihre Vorstellung von bestimmten Dingen zur Not mit der Faust durchsetzen. Von ihnen ging gestern keine Gewalt aus, aber es wirkte bedrohlich. Einmal hat sich ein Freier trotzdem bis zur Tür von Stupinowitschs Etablissement getraut. Darauf ist einer aus der Gruppe ausgeschert und hat mit dem Mann gesprochen. Der zog es vor, wieder zu gehen. Während der Zeit meiner Beobachtung war der Boykott ausgesprochen wirkungsvoll.«

»Das heißt, die Steintorwirte machen Ernst. Sie haben der Organisation den Krieg erklärt und wollen Stupinowitsch aushungern.«

»So sieht es aus.«

»Dann dürfte einiges auf uns zukommen. Ich glaube nicht, dass die Organisation sich das gefallen lässt. Sie wird sich wehren müssen, um nicht noch mehr an Ansehen und Gesicht zu verlieren.«

Schwarczer nickte zustimmend. »Es reicht, wenn Kiehnhorst sein Gesicht verloren hat. Im wahrsten Sinne des Wortes.«

»Wir haben nie Zweifel daran gelassen, dass wir es mit einem gefährlichen Gegner zu tun haben, der vor nichts zurückschreckt.«

Sie wurden durch Fraukes Telefon unterbrochen.

»Reicht es jetzt?«, fragte die bekannte Stimme, die Frauke von den bisherigen Drohanrufen kannte. »Wir wollen kein Blut fließen lassen. Dafür sind Sie verantwortlich.«

Frauke hatte den Raumlautsprecher eingeschaltet, damit Schwarczer mithören konnte. Auch dem Anrufer war es nicht verborgen geblieben. »Wem übertragen Sie diesen Anruf?«, fragte er misstrauisch.

»Stört es Sie?«, ließ Frauke seine Frage unbeantwortet.

»Ist es der Russe?«

Für einen Moment stutzte Frauke und sah Schwarczer an. So hatte bisher nur Putensenf den jungen Kommissar genannt.

»Wir haben hier keine Russen«, sagte Frauke schnell.

»Ich habe nichts gegen Russen, nicht dass wir uns missverstehen«, erwiderte der Mann. Es klang nahezu beschwichtigend.

»Sie arbeiten ja eng mit Stupinowitschs Leuten zusammen«, sagte Frauke. Für einen kurzen Moment war es still in der Leitung.

»Sie phantasieren zu viel«, sagte der Anrufer. »Lassen Sie wieder Frieden in die Stadt einkehren. Der Blutzoll, den Sie einfordern, ist zu hoch.«

Frauke lachte laut auf. »Hat man Sie vorgeschickt, weil Sie der Dümmste sind? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Stupinowitsch oder Don Mateo Ihnen den Auftrag gegeben hat, sich für so blöd zu verkaufen.«

Erneut war es still in der Leitung. Frauke deutete es so, dass der Anrufer das Nennen der beiden Namen verdauen musste.

»Können Sie Skat spielen?«, fragte Frauke und wartete die Antwort nicht ab. »Wen Sie noch nicht selbst aus Ihren Reihen umgebracht haben, der sitzt entweder im Gefängnis oder liegt im Krankenhaus. Da kommt schon eine Skatrunde zusammen. Die anderen paar bekommen wir auch. Wir sind Ihnen dicht auf den Fersen.«

»Sie quatschen Blödsinn. Aber als gute Christen legen wir Ihnen einen Blumengruß aufs Grab. Und du, Russe, falls du zuhörst, wirst sagen, dass Kiehnhorst noch Glück hatte, wenn wir mit dir fertig sind. Du bist schon jetzt tot, Russe.«

Frauke warf einen schnellen Blick auf Schwarczer. Der schien durch die Drohung nicht im Geringsten beunruhigt.

»Du stirbst in jedem Fall vor mir«, erwiderte der Kommissar ganz ruhig. »Versprochen.«

Ein zynisches Lachen drang aus dem Lautsprecher. Dann wurde aufgelegt.

»Die Organisation fühlt sich allmählich in die Enge getrieben«, sagte Frauke. »Durch solche Aktionen machen sie sich selbst Mut. Das ist, als würde jemand im dunklen Keller pfeifen.«

Schwarczer schwieg, aber sein Blick drückte deutlich genug seine Gedanken aus. Er war von Fraukes Optimismus nicht überzeugt.

Nachdem Schwarczer gegangen war, rief Frauke in der Medizinischen Hochschule an und ließ sich mit der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie verbinden. Eine freundliche Mitarbeiterin erklärte ihr, dass »der Herr Oberarzt« im OP sei und sie nicht sagen könne, wann er zurückkomme. Sie notierte sich Fraukes Durchwahl.

Eine Stunde später rief Dr. Fehrenkemper an, fragte nach Fraukes Wunsch und vereinbarte mit ihr einen Termin für den späteren Abend.

Frauke nutzte die Zeit, fuhr in ihre Wohnung, holte die Lebensmittel aus dem Kühlschrank und lieferte sie im Labor der Kriminaltechnik ab.

»Was sollen wir damit?«, fragte der Mitarbeiter im weißen Kittel.

»Ich möchte, dass Sie die Lebensmittel untersuchen, ob sie präpariert oder vergiftet sind.«

»Alle?«, fragte der Mann. »Haben Sie eine Vorstellung, mit welchem Aufwand das verbunden ist?«

»Diskutieren Sie immer vor jedem Auftrag?«

»Sie hören von mir.« Es klang wie eine Drohung.

»Hoffentlich bald«, erwiderte Frauke und ließ den Labormitarbeiter stehen.

Anschließend suchte sie Madsack auf und fragte, ob es Neuigkeiten gebe.

»Nicht viel. Herbert L’Arronge bleibt verschwunden. Sein Handy, dessen Nummer wir kennen, schweigt. An seiner Wohnung fährt sporadisch eine Steife vorbei. Auch da Fehlanzeige. Die Auswertungen der Buchhaltung und der Computer laufen noch. Die Experten meinen, das kann noch Wochen dauern. Und von den Phantombildern habe ich auch noch keine Rückmeldung.«

»Also nichts«, sagte Frauke enttäuscht.

Madsack sah sie mit einem fast traurigen Blick an. Es schien, als würde er Schelte dafür erwarten, dass alles so schleppend voranging.

»Was wissen wir über Vittorio Gasparone, den Geschäftsführer?«

Jetzt leuchteten Madsacks Augen auf. »Da sind wir weitergekommen. Der stammt aus …« Madsack sah auf einen handgeschriebenen Zettel. »Sant’Agata sui due Golfi. Ich hoffe, ich habe es richtig ausgesprochen.«

»Wo ist das in Italien?«

»Nahe Sorrent.«

»Da hätte er lieber auf Capri fischen sollen statt in Hannover im Trüben«, sagte Frauke. »Das ist ein Stück südlich von Neapel. Da gibt es manche Familie, die den italienischen Behörden das Leben schwer macht. Und weiter?« Sie sah Madsack fragend an.

»Nichts weiter. Gasparone ist seit vier Jahren in Deutschland. Er ist noch nicht straffällig geworden. Gegen ihn liegt nichts vor. Es wurde auch nie gegen ihn ermittelt.«

»Was ist er von Beruf? Was hat er vorher gemacht?«

»Keine Ahnung«, gestand Madsack ein. »Ein unbeschriebenes Blatt. Soll ich eine Anfrage in Italien starten?«

»Was ist los, Madsack? Warum ist das noch nicht geschehen? Und was macht das Auskunftsersuchen nach Mateo Zafferano?«

»Läuft, aber noch keine Antwort.«

»Machen Sie Dampf.«

Madsack versprach es und kehrte in sein Büro zurück.

Frauke sah auf die Uhr. Es wurde Zeit, Dr. Fehrenkemper aufzusuchen.

Die Medizinische Hochschule Hannover lag auf einem Areal östlich der Eilenriede. Die Ursprünge gingen auf das Jahr 1965 zurück. Deshalb vermisste man alte Pavillonbauten, die häufig in historischen Krankenhausanlagen anzutreffen sind. Zahlreiche Gebäude des Vorzeigekrankenhauses stammten aus den sechziger Jahren. Schlicht und funktional gab sich auch das Gebäude »K11«, in dem die Station 85 untergebracht war, Fraukes Ziel.

Sie wandte sich an eine Krankenschwester auf dem langen Flur, die sie ins Ordinationszimmer Dr. Fehrenkempers führte.

Der Arzt erwies sich als sportlich aussehender Mittvierziger, der mit seiner gepflegten äußeren Erscheinung auch als Model in ein Lifestylemagazin gepasst hätte. Er bot Frauke den Besucherstuhl an seinem Schreibtisch an und erklärte:

»Das Transplantationszentrum der Medizinischen Hochschule Hannover ist das größte in Deutschland. Hier werden jährlich mehr als zweihundert Nieren transplantiert. Diese Erfahrung möchten sich auch die Patienten zunutze machen, die in Wolfenbüttel operiert werden.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Frauke. »Wenn Hannover eine Klinik der Maximalversorgung …«

»Supramaximal«, korrigierte sie Dr. Fehrenkemper.

»… ist, dann wäre dort doch so gut wie nirgendwo für das Patientenwohl gesorgt, insbesondere wenn es Komplikationen gibt. In der Wolfenbüttler Klinik bleibt ein Restrisiko.«

»Es gibt Patienten, die sich nur in eine solche Klinik begeben.«

»Warum?«, fragte Frauke. »Gibt es Gründe? Sind es Leute, die Anlass haben, die Öffentlichkeit zu scheuen?«

Dr. Fehrenkemper winkte ab. »Ich bin Arzt. Wenn etwas für mich medizinisch vertretbar ist, helfe ich.«

»Das wird sicher herausragend honoriert«, sagte Frauke.

»Nebensächlichkeiten«, wiegelte der Arzt ab. »Ich kann Ihnen versichern, dass auch wirtschaftlich alles völlig legal abgewickelt wird. Ich habe eine Genehmigung der Medizinischen Hochschule für die Nebentätigkeit. Und die MH stellt nicht nur weiteres qualifiziertes Personal, sondern auch andere Einrichtungen zur Verfügung, zum Beispiel das Transplantationslabor. Als Operateur beginne ich erst, wenn alles andere abgeklärt ist. Wer sollte sonst die anspruchsvolle Typisierung vornehmen?«

»Woher haben Sie die transplantierte Niere? Lag in dem zweiten Zimmer während unseres Besuchs der Spender?«

»Nein.« Es klang entschieden. »In diesem Fall wurde die Niere angeliefert.«

»Wer war der Spender?«

»Das ist anonym.«

»Interessiert es Sie als Arzt nicht, woher das Organ stammt?«

Dr. Fehrenkemper lächelte in sich hinein. »Ich glaube, Sie interpretieren zu viel in die ganze Sache. Als Arzt interessiert es mich, Menschen zu helfen. Ich stelle meine Kunst in den Dienst der guten Sache. Für mich bedeutet eine erfolgreiche Transplantation, dass ich einem Menschen Leben oder zumindest Lebensqualität zurückgeben konnte. Um falschen Vorstellungen vorzubeugen … Wirtschaftliche Interessen spielen dabei keine Rolle.«

»Sie wollen sich nicht als barmherziger Samariter auszeichnen?«

Jetzt lachte der Arzt. Es wirkte frisch und unverbraucht. »Nein. Um Gottes willen, auch wenn das Honorar ein angenehmer Nebeneffekt ist. Zugegeben.«

»Ist das Ganze nicht auch eine Frage der Ethik?«

Dr. Fehrenkemper kniff die Augen zu einem schmalen Schlitz zusammen. »Darüber wird viel Falsches in der Öffentlichkeit erzählt. Mein ehemaliger Chefarzt hier in Hannover, von dem ich viel, ach, eigentlich alles gelernt habe, ist darüber gestolpert. Wider alle Wahrheit hat ihn die Presse zerrissen, dabei hat er nur das getan, wozu Ärzte durch den Eid des Hippokrates verpflichtet sind: Leben gerettet.«

»Spezieller Personen«, riet Frauke.

»Was soll dieser Blödsinn? Wer maßt sich an, zu selektieren, was ein guter und was ein weniger guter Patient ist? Einzig die medizinische Beurteilung ist von Relevanz.«

»Und die Frage, ob jemand Privat- oder Kassenpatient ist«, erwiderte Frauke.

Dr. Fehrenkemper sprang erregt auf. »Das ist niveaulos, was Sie von sich geben. Wir sollten das Gespräch an dieser Stelle beenden. Guten Tag.«

Immerhin hielt er Frauke noch die Tür seines Ordinationszimmers auf, auch wenn sie hinter Frauke mit einem lauten Krachen ins Schloss fiel.

Als sie wieder im Auto saß, überkam sie die Müdigkeit. Die wenigen Augenblicke Ruhe der letzten Nacht hatten nicht gereicht. Außerdem war der Kühlschrank leer, und sie hatte keine Gelegenheit gefunden, neue Lebensmittel einzukaufen. So beschloss sie, zur »Pizzeria Italia« in die Gretchenstraße zu fahren. Sie stellte ihren Golf in einer Parklücke unweit ihrer Wohnung ab und suchte das Lokal auf. Judith, die Wirtin, begrüßte sie freundlich wie eine alte Bekannte und nahm ihre Bestellung auf. Sie gab auch keinen Kommentar ab, als Frauke nur Mineralwasser bestellte. Ein Glas Wein … Vermutlich wäre sie noch am Tisch eingeschlafen.

Die Pizza Caprese wurde zügig serviert, und während Frauke aß, meldete sich ihr Handy. Die Rufnummer war unterdrückt.

Frauke war versucht, sich mit »Hallo, Georg« zu melden, ließ den Namen ab weg.

»Frau Dobermann?«, fragte eine Stimme mit Akzent.

»Ja.« Sie klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Kopf, schnitt den nächsten Bissen der Pizza ab und führte ihn zum Mund.

»Ich möchte gern mit Ihnen sprechen.«

»Kommen Sie morgen ins Landeskriminalamt.«

»Non L’ho capito«, sagte die Stimme und übersetzte sogleich: »Ich habe Sie nicht verstanden.«

Frauke kaute noch zweimal und wiederholte ihre Antwort.

»Da kann ich nicht hinkommen. Es gibt Gründe dafür. Außerdem eilt es.«

Frauke sah auf ihre Pizza. Das Essen wollte sie unbedingt zu sich nehmen. Andererseits wollte sie niemanden hierherbestellen, diese Wohlfühladresse wollte sie nicht verraten. Sie seufzte. Womöglich kannte man bei der Organisation schon ihre Schwäche für diese Pizzeria.

»Gut«, sagte sie, »in einer halben Stunde in der Lister Meile. Dort gibt es eine Buchhandlung. Wir treffen uns im Eingangsbereich.«

Hastig schlang sie den Rest ihres Essens hinunter, zahlte und machte sich auf den Weg zur Lister Meile. Es waren nur wenige Gehminuten, aber Frauke wollte vor dem Unbekannten dort sein. Da sie den Treffpunkt genannt hatte, konnte sie vor ihm oder den anderen, falls es mehrere waren, die Örtlichkeiten inspizieren. Sie wechselte die Straßenseite und schlenderte unauffällig an der Buchhandlung vorbei bis zur nächsten Straßenecke, dann kehrte sie zurück. In einem Hauseingang fiel ihr ein Mann mit schütterem Haupthaar auf, der nervös die Straße in beide Richtungen absuchte. Als er ihrem Blick begegnete, schrak er zusammen.

Frauke überquerte die Straße.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie.

»Ich möchte etwas loswerden.«

»Ein Deal?«

Er nagte an seiner Unterlippe. Frauke sah in das aufgedunsene Gesicht. Unruhig huschten die dunklen Augen hin und her und wichen ihrem Blick aus.

»Nein, oder vielleicht doch. Ich habe Informationen für Sie.«

»Welcher Art?«

»Helfen Sie mir im Gegenzug?«

»Dazu müsste ich wissen, was Sie zu bieten haben. Und was Sie fordern. Wer sind Sie überhaupt?«

»Meinen Namen möchte ich nicht nennen. Noch nicht.« Er beugte sich vor und sah wieder die Straße hinab, als würde er etwas suchen.

»Erwarten Sie jemanden?«

»Um Himmels willen. Nein. Ich möchte nur gucken, ob man mich verfolgt. Das wäre tödlich.«

»Sie wollen Ihre Kollegen verraten?«

»Nein, aber die ganze Sache wird brenzlig. Ich bin da in etwas hineingeraten …«

»Das ist die stereotype Ausrede vieler Leute, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind.«

»Ich weiß, das ist dumm. Ich habe auch selbst schuld. Können Sie mir helfen, wenn ich Ihnen sage, dass seit Beginn Ihrer Ermittlungen vieles ins Wanken geraten ist? Man sagt, dass die Paten die Kontrolle verlieren würden, wenn ihnen nicht bald irgendetwas Spektakuläres gelingen würde. Außerdem hat sich ein Radiojournalist in die Sache verbissen.«

»Nun verlassen die Ratten das sinkende Schiff?«

Es war gut zu hören, was Frauke schon vermutete. Ratte! Der Mann wäre sicher nie zum Verräter geworden, wenn er nicht gesehen hätte, wie das einst solide Fundament der Organisation Risse bekam. Jetzt wollte er sein Fell retten.

»Ich wollte immer schon aussteigen. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen.«

»Schön, dann reden Sie.«

Wieder suchte der Mann die Straße ab. »Nicht hier. Nicht jetzt. Ich brauche Zusagen von Ihnen.«

»Die kann ich Ihnen nicht geben. Dazu muss ich wissen, welcher Straftaten Sie sich schuldig gemacht haben.«

»Ich war nur der Buchhalter«, wiegelte der Mann ab. »Mit den anderen Dingen habe ich nichts zu tun.«

»Kennen Sie die Struktur der Organisation?«

Er nickte.

»Und den Mann im Hintergrund?«

»Es sind zwei. Mindestens«, versicherte er.

»Wer ist das?«

»Ich sage jetzt nichts. Zug um Zug. Erst Ihre Zusage. Außerdem will ich mit einem Anwalt sprechen.«

»Dottore Carretta?«

»Woher wissen Sie …?«

»Das ist nicht schwer zu erraten. Glauben Sie, dass das der richtige Rechtsberater für Sie ist? Immerhin steht er der Organisation sehr nahe und verteidigt alle Mitglieder, derer wir habhaft geworden sind.«

»Das mag stimmen. Ich kann Ihnen aber versichern, dass man intern nicht glücklich über den alten Fuchs ist. Man glaubt, er unternimmt zu wenig und konspi…« Der Mann suchte nach dem Wort.

»Konspiriert«, riet Frauke.

»Richtig. Er konspiriert mit der Polizei. Ich habe schon gehört, dass man sich seiner entledigen möchte.«

Das war keine gute Nachricht, dachte Frauke. Der alte Anwalt war kein leichter Gegner der Ermittlungsbehörden, aber er hielt sich penibel an die Gesetze. Es konnte nicht im Interesse der Polizei sein, wenn Dottore Carretta eines der nächsten Opfer werden sollte.

»Wir fahren jetzt zu meiner Dienststelle. Dann erzählen Sie, was Sie wissen.«

»Nein. Morgen.«

Frauke unterdrückte mühsam ein Gähnen, es hätte auf den Mann wie Desinteresse gewirkt.

»Gut«, sagte sie. »Rufen Sie mich morgen an.« Sie gab ihm eine Visitenkarte mit ihren dienstlichen Kontaktdaten. »Woher haben Sie eigentlich meine private Handynummer?«

»Ach«, winkte der Mann ab, »die kursiert mittlerweile in ganz Hannover.«

Vorsichtig kam er aus dem Hauseingang hervor. Noch einmal sicherte er nach allen Seiten. »Bis morgen.« Hastig machte er sich auf den Weg Richtung Hauptbahnhof.

Frauke gähnte herzhaft. Das ließ sich nicht mehr unterdrücken. Mit der gebotenen Vorsicht ging sie die wenigen Schritte bis zur Haustür. Sie bemerkte nichts Verdächtiges. Auch in der Wohnung fand sich kein Hinweis für einen neuerlichen Besuch von Fremden.

Sorgfältig sicherte sie ihre Wohnung und zog sich ins Bett zurück. Sie hatte den Eindruck, schon eingeschlafen zu sein, bevor ihr Kopf das Kissen berührte.