SIEBEN

Es war ein ereignisreicher Tag gewesen, der mit viel Glück überstanden war. Der Überfall auf das Landesfunkhaus hätte auch anders ausgehen können, wenn Richter die Planung innegehabt und die Organisation nicht zweitklassige Täter eingesetzt hätte. Das war für Frauke gleichzeitig der Beweis, dass die Wurzeln der Organisation hier in Hannover waren. Die Organisation war keine Zweigstelle einer global operierenden Bande, die aus einem größeren Reservoir hätte schöpfen und in Zeiten der Bedrängnis neue Killer aus Italien hätte rekrutieren können. Die Leute im Hintergrund waren in Deutschland ansässig.

Frauke war am Vorabend todmüde ins Bett gesunken. Zum ersten Mal seit Langem hatte sie keine Sorge, dass ihr nachts unliebsame Überraschungen drohen könnten.

Doch mit dem Aufstehen kreisten ihre Gedanken wieder um den Fall und die Frage, wer hinter den Verbrechen stand.

Nach der morgendlichen Teambesprechung, an der auch Kriminaloberrat Ehlers teilnahm, rief Frauke in der Justizvollzugsanstalt an. Es dauerte eine Weile, bis man sie mit dem gewünschten Gesprächspartner verbunden hatte.

»Knast Hannover. Mahlstedt«, meldete sich die sonore Stimme.

»Dobermann. Wie viel Macht haben Sie in der JVA

Der Mann lachte herzhaft. »Wenn der Papst in Rom halb so mächtig im Vatikan wie ich im Knast wäre, dann würde die Welt staunen.«

»Beweisen Sie es.«

»Klar doch. Ich bin jetzt über zwanzig Jahre im Bau. Als meine Große ins Gymnasium kam und in der Vorstellungsrunde sagte: ›Mein Vater ist im Gefängnis‹, gab es Irritationen. Das stört mich aber nicht. Ich weiß, was hier läuft. Sie auch? Hier funktioniert nichts ohne Gegengeschäft. Wenn Sie etwas von mir wollen, dann treffen wir uns nach Dienstschluss.«

»Okay«, sagte Frauke, »ich lade Sie und Ihre Frau ein.«

»Meine Frau? Das geht nicht. Die muss Günther Jauch gucken.«

»Schön. Dann treffen wir uns morgen. Und wenn Sie möchten, bringen Sie auch noch Ihre Schwiegermutter mit.«

»Gewonnen.« Mahlstedt lachte herzhaft auf. »Was kann ich für Sie tun?«

»Können Sie Bernd Richters Zelle filzen? Ich möchte wissen, ob er im Besitz von Unterlagen oder Informationen ist, die bei ihm nichts zu suchen haben.«

»Kein Problem. Wir werden ihn kitzeln, bis er lacht«, versprach der Vollzugsbeamte. »Ich melde mich wieder bei Ihnen.«

Fraukes Handy vibrierte. Sie warf einen Blick auf das Display. Ein »unbekannter Teilnehmer« versuchte sie zu erreichen.

»Hallo?«, meldete sie sich.

»Hallo!«

Georg.

»Ich will sofort mit dir reden. Du kommst augenblicklich in das Landeskriminalamt. Oder meldest dich auf einer anderen Polizeidienststelle«, fauchte sie ihn an.

Einen Moment war es still in der Leitung. Frauke befürchtete, Georg hätte aufgelegt.

Dann vernahm sie sein entschiedenes »Nein!«.

»Ich lasse dich zur Fahndung ausschreiben.«

Er lachte bitter auf.

»Das habe ich dir schon einmal erklärt: Nach wem willst du suchen lassen? Und mit welcher Begründung?«

»Das lass meine Sorge sein.«

Georg atmete tief durch. »Ich möchte mich stellen.«

Jetzt war die Verblüffung auf Fraukes Seite.

»Es wird auch Zeit«, sagte sie.

»Stimmt. Jetzt ist alles überstanden.«

»Wo kann ich dich abholen lassen?«

»Kommst du selbst und allein?«

»Bist du bescheuert?«

»Na – na. Solche Ausdrucksweise kenne ich nicht von dir. Daran müssen wir aber noch arbeiten. Ich treffe mich mit dir unter einer einzigen Bedingung.«

»Ich stelle die Bedingungen«, fuhr Frauke ihn an.

»Ich weiß, wann ich verloren habe. Vielleicht ist es das letzte Mal, dass ich mir die Entscheidung vorbehalte. Also. Heute Abend um acht Uhr bei ›Enrico Leone‹. Das ist in der Königstraße gegenüber dem ›City-Hotel‹, zwischen der Berliner Allee und der Hinüberstraße. Du hast doch eine besondere Vorliebe für alles, was italienisch klingt.«

»Hinüberstraße?«, fragte Frauke ungläubig und ärgerte sich über die süffisant vorgetragene Anmerkung zum Thema Italien.

»Die heißt wirklich so. Nimm es wörtlich. Und vergiss nicht: allein. Ich merke es, wenn du deine Schergen irgendwo platzierst.« Dann hatte Georg aufgelegt.

Frauke legte das Handy auf die Tischplatte und sah ungläubig auf das Gerät. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit, dass Georg sich mit einem solchen Ansinnen bei ihr melden würde.

Sie nahm ihre Handtasche auf, holte die Dienstwaffe heraus. Sorgfältig überprüfte sie den Inhalt des Magazins, kontrollierte, dass sich keine Patrone im Verschluss befand, und visierte einen Punkt hinter dem Fenster an. Dann nahm sie schulbuchmäßig die Pistole in beide Hände und drückte ab. Klack. Sie wiederholte diesen Vorgang zweimal, bevor sie das Magazin wieder einführte. Die Waffe war so nicht einsatzbereit. Es war zu gefährlich, mit einer scharfen Pistole in einem Restaurant zu sitzen.

Für einen Moment überlegte sie, das Restaurant heute Abend sperren und stattdessen das Mobile Einsatzkommando dort speisen zu lassen. Das Lokal war in Hannover eine bekannte Institution, und es bestand kein Zweifel daran, dass die Betreiber ehrbare Leute waren und in keinem Zusammenhang mit unlauteren Geschäften standen.

Sie musste das Risiko eingehen und allein dort erscheinen. Bei aller Skrupellosigkeit der Organisation würde Georg kein Gemetzel in der Öffentlichkeit anzetteln. Sie hoffte immer noch, dass er seinem Eid als Arzt verpflichtet war. Morde anordnen war eine Sache, sie selbst ausführen etwas anderes.

Sie starrte auf die gegenüberliegende Wand und kämpfte mit sich. Sie konnte niemanden um Rat fragen. Schließlich fasste sie einen Entschluss.

»Schwarczer«, sagte sie, als sich der Kommissar meldete. »Kommen Sie zu mir.«

Wenige Augenblicke später stand er ihr gegenüber.

»Schließen Sie die Tür«, sagte sie zur Begrüßung. Dann weihte sie ihn in das Treffen am Abend ein.

»Bei ›Enrico Leone‹?« Schwarczer sah sie erstaunt an. »Das ist eine erstklassige Adresse. Da muss etwas anderes dahinterstecken. Wie bei allen Orten in der Öffentlichkeit, die die andere Seite vorgeschlagen hat, sind es unverdächtige Locations. Gut. Ich werde als Gast anwesend sein.«

Frauke musterte Schwarczer, der keine Regung zeigte. Er stellte keine Fragen, mit wem sich Frauke dort treffen wollte, wer der Unbekannte war und welches Thema behandelt werden sollte.

»Danke.«

Schwarczer nickte kaum merklich. Mit Sicherheit hatte er registriert, dass Frauke erleichtert wirkte, nachdem er seine Bereitschaft zugesichert hatte.

Die nächsten Stunden verbrachte Frauke mit dem Aktenstudium, dem Schreiben von Berichten, dem Analysieren von Ergebnissen der Spurensicherung und den Auswertungen der Kriminaltechnik. Es war das mühsame Prüfen von Einzelheiten, das Abwägen von Aussagen und Erkenntnissen, die oft im Widerspruch zueinander zu stehen schienen, das zeitaufwendig war und dennoch zum Fahndungserfolg beitrug. Sie hatte aufgehört, die Anzahl der Tassen Kaffee zu zählen, die sie dazu getrunken hatte. Es war fast eine willkommene Unterbrechung, als sich ihr Telefon meldete.

»Knast. Mahlstedt. Treffer.«

Frauke wartete darauf, dass der »Beamte im Strafvollzugsdienst« weitersprach, aber Mahlstedt hatte eine Kunstpause eingelegt. Frauke tat ihm den Gefallen und fragte nach.

»Sie haben bei Richter etwas gefunden?«

»Ja.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Jaaa … Wieso?«, fragte Mahlstedt erstaunt. »Das wissen Sie doch.«

»Dann sollten Sie Ihre Frau bitten, Ihnen Einzelheiten aus der Nase zu ziehen.«

»Wau – wau. Dobermänner beißen doch. Wir haben bei Richter ein Smartphone gefunden.«

»Wie konnte das passieren?«, schnauzte Frauke den Vollzugsbeamten an. »Das muss doch auffallen?«

»Ach«, sagte Mahlstedt ungerührt. »Haben Sie sich einmal den Zaun angesehen, der das Gelände umgibt? Da sind ganz große Maschen drin. Und ähnlich ist es mit der Abschottung des Knasts. Die Kollegen an den Eingängen und bei der Postkontrolle geben sich alle Mühe, aber ganz können Sie das Einschmuggeln nicht verhindern. Sie haben keine Vorstellung, was hier alles kursiert. Da wäre ein mittelgroßes Kaufhaus stolz darauf, was hier gehandelt wird. Gegen harte Währung können Sie im Bau fast alles bekommen. Nur die Freiheit nicht«, fügte Mahlstedt hinzu. »Was uns aber nachdenklich stimmt, ist, dass im Smartphone keine SIM-Karte eingelegt war.«

»Das macht doch keinen Sinn«, sagte Frauke. »Die hat Richter irgendwo anders verborgen. Bei Bedarf setzt er sie ein und kann kommunizieren.«

»Das würde ich auch vermuten«, stimmte Mahlstedt zu. »Sie können mir glauben: Wir haben alles durchsucht, jede Mauerritze, die Kleidung bis zur Hosennaht, alles. Wenn Sie lange genug im Knast arbeiten, kennen Sie auch die geheimsten Winkel. Nichts.«

»Das kann nicht sein«, beharrte Frauke.

»Wir haben einen jungen Kollegen, der etwas davon versteht. Er hat sich das Smartphone angesehen und meint, dass es keine Hinweise darauf geben würde, dass von diesem Apparat telefoniert oder das Internet genutzt wurde. Allerdings hat Richter das Smartphone als Minicomputer eingesetzt und Texte darauf verfasst, die wir sicherstellen konnten.«

»Es ist kaum vorstellbar, dass Richter die Kommunikationsfunktion nicht eingesetzt haben soll.«

»Ich kann nur die Fakten aufzählen. Wollen Sie wissen, welche Texte wir herausgefiltert haben?«

»Schicken Sie mir die«, forderte Frauke Mahlstedt auf. »Möglichst schnell.«

»Sie sind nicht in Hannover zur Schule gegangen?«, maulte der Vollzugsbeamte. »Hier lernen die Kinder in der ersten Klasse Wörter wie ›bitte‹ und ›danke‹.« Dann legte er auf.

Es dauerte eine Viertelstunde, bis die Textdatei eintraf.

»Aktion … Ausgefallenes … Aufmerksamkeit … sonst nicht ernst genommen … wirkungsvoll … Wer? Wo? Wie? Eile geboten … Depression … Hände gebunden … andere Schulter … L? Vorbereiten …«

Das war die Anleitung – in Fragmenten – für den Überfall auf das Landesfunkhaus. Richter hatte klar erkannt, dass die Organisation etwas unternehmen musste. Nur die Durchführung war dilettantisch gewesen. Mit der Verhaftung Richters schien der Polizei tatsächlich ein verheerender Schlag gegen die Organisation gelungen zu sein.

***

Frauke fand einen Parkplatz jenseits der Berliner Allee. Schon von außen sah sie Georg, der einen Fensterplatz belegt hatte. Er nickte ihr zu, stand auf und kam ihr entgegen, als sie das »Enrico Leone« betrat. Mit einem Seitenblick bemerkte sie Schwarczer, der mit einer attraktiven blonden Frau an einem Tisch im Hintergrund saß und ihr keine Beachtung schenkte. Trotzdem war sie sich sicher, dass der Kommissar sie gesehen hatte.

»Schön, dass du gekommen bist«, sagte Georg, nahm ihr die Jacke ab und reichte sie an einen dienstbeflissenen Kellner weiter. Er geleitete sie zu ihrem Platz und schob ihr den Stuhl zurecht, bevor er sich setzte.

»Das musst du mir erklären«, sagte Frauke unfreundlich. »Und eines ist klar: Ich habe dir kein freies Geleit zugesichert.«

Georgs Lächeln wirkte ein wenig verkrampft. »Mir wird nichts geschehen«, sagte er, griff über die weiße Tischdecke und forderte ihre Hand. Frauke verweigerte sie.

»Du erwartest nicht, dass ich Verbrechern die Hand reiche.«

»Auch du wirst mir nichts nachweisen können«, sagte Georg gequält. »Ich habe lange mit mir gekämpft, ob ich mich bei dir melden sollte. Ich weiß, ich habe dir viel zugemutet.«

»Du bist ein Heuchler, ein Lügner. Du hast mich benutzt«, fuhr sie ihn so laut an, dass die Gäste am Nachbartisch auf sie aufmerksam wurden.

Georg legte den Finger auf die Lippen. »Pst!« Es klang wie eine Bitte.

»Wer bist du wirklich?«

»Georg.«

»Ich habe deine Lügengeschichten satt.«

Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich bin wirklich Georg.«

Sie wurden durch den Kellner unterbrochen, der ein Glas Champagner brachte.

»Das habe ich auf Verdacht bestellt«, erklärte Georg. »Hast du einen Wunsch? Möchtest du in die Karte sehen?«

Frauke übersah, dass der Kellner ihr die Karte reichen wollte.

»Ich möchte einen Salat«, sagte sie.

»Das wird heute nicht möglich sein«, erwiderte Georg. »Es ist ein besonderes Essen.«

»Das habe ich mir auch gedacht.«

Georg schien die Auseinandersetzung mit Frauke in Gegenwart des Kellners peinlich zu werden. »Zweimal das Menü«, sagte er zum Kellner.

»Mit wie vielen Gängen?«

»Allen.«

»Bist du verrückt, über mich bestimmen zu wollen?«

»Vielleicht.«

»Warum willst du mich manipulieren?«

Er bewegte den Zeigefinger. »Das nicht. Willst du nicht wissen, was es zum Menü gibt? Carpaccio vom Rind mit Sommertrüffeln, Zander auf Spargel-Bärlauch-Risotto an Chablissauce, Himbeersorbet, Rehkeule mit getrüffeltem Wirsing mit Selleriepüree auf Wacholder-Rhabarber-Jus und ein Dessert.«

»Willst du mich damit bestechen?«

»Ja«, gab er unumwunden zu und versuchte erneut, ihre Hand zu greifen.

»Bist du bescheuert?«

»Sonst drückst du dich gewählter aus. Das habe ich dir schon einmal gesagt.« Es klang wie ein leichter Tadel. »Aber wenn du es willst … Seit unserem Treffen auf dem Georgsplatz … Ich gestehe, bescheuert zu sein, wie du es nennst.«

»Wer hat das Treffen manipuliert?«

Georg zeigte mit dem Finger zum Himmel. »Der Chef.«

»Und wer ist der Chef?«

»Das solltest du wissen.«

So kam Frauke nicht weiter.

»Du bist Arzt?«, wechselte sie ihre Fragestrategie.

»Ja.«

»Du kennst Dr. Fehrenkemper?«

Georg nickte. »Selbstverständlich. Ein fähiger Mediziner. Aus dem kann etwas werden. Ich habe ihn zum Teil ausgebildet. Wir haben manche Operation zusammen ausgeführt.«

»Du behauptest, Chirurg zu sein?«

»Ich behaupte es nicht nur. Ich bin es.«

»Mischst du in Wolfenbüttel mit?«

»Wolfenbüttel? Was soll dort sein?«

»Die geheimnisvolle Klinik, im Haus der Bank, direkt neben der JVA

»Ich kenne nur das Städtische Klinikum Wolfenbüttel. Dort habe ich aber nie gewirkt.«

»Wo sonst?«

Georg nahm sein Champagnerglas, hielt es gegen das Licht, als würde er die Perlen zählen wollen, dann streckte er es andeutungsweise Frauke entgegen.

»Ist das ein Verhör?«

»Ja«, sagte Frauke mit Entschiedenheit.

»Cheers«, sagte Georg. Er versuchte es mit »Vive«. Als Frauke sich noch immer nicht rührte, kratzte er sich die Schläfe. »Ach, ich vergaß. Du magst es auf Italienisch. Salute

Frauke versuchte, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Es gelang ihr nicht.

»Was hast du mit Italien zu tun?«, fragte sie.

Georg verdrehte die Augen. »Ein wunderbares Land. Kultur. Sonne. Eine großartige Landschaft. Reizende Menschen.«

»Hast du dort viele Freunde?«

Er legte die Stirn in Falten, als würde er angestrengt nachdenken.

»Ein paar. Möchtest du sie kennenlernen?«

»Mit Sicherheit.«

»Das lässt sich einrichten.«

Frauke setzte das Champagnerglas hart ab.

»Schluss jetzt. Welche Verbindungen hast du nach Italien?«

Georg merkte, dass sein Versuch, alles auf ironisch wirkende Weise darzustellen, erfolglos geblieben war. Er stellte sein Glas auf ähnliche Weise wie Frauke zurück.

»Gut. Dann pass auf, Frau Hauptkommissarin. Ich bin Arzt. Ich habe in Hannover, Heidelberg und Münster studiert. Dort habe ich zunächst als Assistent in der Raphaelsklinik gearbeitet und bin dann meinem Chefarzt, einem begnadeten Chirurgen, nach Weiden in die Oberpfalz gefolgt. Dank meines Gönners und Förderers war ich unter anderem in Kliniken in London, Birmingham und Boston tätig, bis man mich als Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie an die Medizinische Hochschule rief.«

»Du? Direktor an der Medizinischen Hochschule?« Frauke konnte ihre Überraschung nicht verbergen.

Georg nickte. »Ja. Ich heiße wirklich Georg. Professor Dr. med. Georg von Benckendorff.«

»Dann habe ich schon einmal von dir gehört?«

Georg winkte ab. »Mag sein.«

»Daher kennt dich Dr. Fehrenkemper.«

»Richtig.«

»Und du bist … Transplantationschirurg?«

»Nicht nur, aber auf diesem Gebiet habe ich einen … nun ja … über Hannovers Grenzen hinausreichenden Ruf.«

»Dr. Fehrenkemper hat gesagt, dass Hannover führend wäre auf diesem Gebiet. Warst du das?«

Georg sah an Frauke vorbei. »Darüber mögen andere urteilen. Aber das ist genau mein Problem.«

»Du hast mit der Mafia zusammengearbeitet?«

»Mafia? So würde ich es nicht nennen.«

»Sondern?«

»Ich dachte, du hättest es lange herausgefunden.«

»Ich möchte deine Version hören«, wich Frauke aus.

Georg musterte sie skeptisch. Ob er wusste, dass Frauke im Dunkeln tappte? Bedächtig nippte er an seinem Glas.

»Zu einem guten Landarzt kommen die Leute auch aus den Nachbardörfern«, begann er vorsichtig. »Und was war ich anderes? Wie bei der stillen Post sprach es sich herum, dass wir in Hannover erfolgreich waren. Ich will es so formulieren: Geheilte Patienten bauschten es auf, und so kamen immer mehr. Und die Patienten kamen von weit her. Darunter auch Zahlungskräftige. Im Zeitalter der knappen Kassen hat sich auch die Klinik über diese Patienten gefreut.«

»Nur du warst ein barmherziger Samariter?« Der Spott in Fraukes Stimme war unüberhörbar.

»Das habe ich nie behauptet. Aber warum dürfen Ärzte nicht für ihre Arbeit angemessen honoriert werden? Wenn ein superreicher Potentat sich einen privaten Airbus umrüsten lässt, eine Jacht für vielleicht dreißig Millionen bauen lässt, dann verweigere ich ihm nicht deshalb die medizinische Hilfe.«

»Du hast deine Leistung an die Reichen verkauft, während Kassenpatienten auf der Warteliste standen?«

»Nein!«, sagte Georg mit Entschiedenheit. »Das fürstliche Honorar war ein angenehmer Nebeneffekt, den ich nicht abgewiesen habe. In erster Linie war ich aber Arzt.« Er sah geistesabwesend auf seine schlanken, gepflegten Hände. »Doch manchmal kommen auch wir an unsere Grenzen. Angehörige verstehen es – natürlich – nicht, wenn wir nicht weiterhelfen können. So hat ein unverständiges Familienmitglied einen Fall hochstilisiert, dass ich einem Kassenpatienten die Hilfe verweigert habe, weil ›der Herr Professor sich die Taschen vollstopfen musste‹. So stand es in der Boulevardpresse. Du hast keine Vorstellung, wie die Leben zerstören kann. Während ich einem siebenundvierzigjährigen Familienvater – übrigens AOK-versichert – eine Leber transplantiert habe, unterstellte man mir sonst was. Das war das Ende meiner Zeit als Klinikdirektor. Ich war froh, aus den Schlagzeilen verschwunden zu sein, bis du mir am Georgsplatz begegnet bist. Was hätten Teile der Presse aus dieser Geschichte gemacht? ›Der korrupte Professor als Gangsterarzt‹. Und die Schießerei in Isernhagen? So habe ich mich zurückgezogen. Du – Frauke. Ja! Die Öffentlichkeit – nein!«

»Und Dr. Fehrenkemper?«

»Der versucht, in meine Fußstapfen zu treten.«

Und weil die Klinik in Hannover für begüterte Patienten derzeit aus politischer Sicht ein zu heißes Pflaster geworden ist, ist die Organisation in diese Nische gesprungen und hat in Wolfenbüttel die ominöse Privatklinik eröffnet, dachte Frauke. Dr. Fehrenkemper ist als Arzt in diese Falle gelaufen, auch wenn auf seiner Seite alles rechtskonform und ordnungsgemäß abgewickelt wird.

Frauke streckte ihren Arm aus und hielt Georg den Zeigefinger entgegen. Er berührte ihn mit seinem und lächelte dabei.

»Wem gehört die Villa in Isernhagen, in die du mich entführt hast?«

»Ich würde es nicht ›Entführung‹ nennen. Ich habe eine tolle Frau dorthin gebracht. Das ist meine.«

»Aber Dr. Eigelstein ist als Eigentümer eingetragen?«

Georg nahm sein Glas zur Hand und drehte es gedankenverloren.

»Die Brüder Eigelstein sind alte Freunde von mir. Wir kennen uns aus jungen Jahren. Der Heinrich ist Arzt, ein sehr guter. Er lebt heute in Houston in Texas. Der andere ist Anwalt. Letzterer ist für mich als Treuhänder im Grundbuch eingetragen. Was hätte die Presse, die schmutzige, daraus gemacht, wenn man mich als Eigentümer identifiziert hätte? Stelle dir vor, als Überschrift über dem Bild vom Haus würde stehen: ›Mit Blutgeld bezahlt. Ist jeder Mauerstein ein armer Toter, den der Arzt nicht operiert hat?‹ Ich wollte, dass erst Gras über die Sache gewachsen ist. Das hätte auch geklappt, wenn du nicht am Georgsplatz aufgetaucht wärst.«

»Das war also wirklich Zufall?«

»Ein wunderbarer Zufall«, lächelte Georg, sah an ihr vorbei und sagte: »Unser Essen kommt.«

Auch Frauke lächelte, als sie später das Restaurant an Georgs Seite verließ. Sicher musste sie Schwarczer eine Erklärung dafür liefern, dass sie ihn zu diesem Treffen gebeten hatte. Doch darüber würde sie sich erst am folgenden Tag den Kopf zerbrechen.