ACHT
Der Regen hatte Hannover fest im Griff. Ob es zwischen der Rückkehr in ihre Wohnung und dem ersten Blick aus dem Fenster eine Niederschlagspause gegeben hatte, konnte Frauke nicht sagen. Ihre Aufmerksamkeit hatte in dieser Nacht Georg gegolten, der auf einfühlsame Weise seine Anatomiekenntnisse an ihr demonstriert hatte.
Sie konnte es bestätigen: Georg war ein hervorragender Arzt.
Mit einer schon lange nicht mehr erlebten Leichtigkeit betrat sie das Landeskriminalamt. Sie atmete auf, als sie feststellte, dass Schwarczer noch nicht anwesend war. Putensenf musterte sie über den Rand seiner Brille, als würde er nach einem Grund für ihre nach außen getragene Heiterkeit suchen wollen.
Madsack hingegen legte die Stirn in Falten und sagte mit entschuldigendem Unterton, dass ihm keine Neuigkeiten vorliegen würden.
Frauke versuchte es bei Ehlers. Der Kriminaloberrat saß in seinem Büro. Er ließ sich von ihr über den aktuellen Stand informieren, dann hörte er ihren weiteren Ausführungen aufmerksam zu. Sie bemerkte, wie Ehlers’ Miene sich mehrfach änderte, vom höflichen über angeregtes Interesse, bis er zwar schwieg, seine Miene aber ungläubig aussah.
»Sie wollen mir nicht erklären, dass Sie das ernst gemeint haben?«
»Doch.« Sie nickte.
Der Kriminaloberrat lehnte sich zurück. Dann schüttelte er den Kopf.
»Das kann ich nicht akzeptieren. Die Idee ist so abwegig, dass ich dem nicht zustimmen kann.«
»Wir können alle daraus gewonnenen Beweise verwenden«, versuchte Frauke ihrem Vorgesetzten zu erklären.
»Daran habe ich meine Zweifel. Und dann würden wir einen wichtigen Trumpf aus der Hand geben. Dottore Carretta wird Ihre Vorgehensweise vor Gericht in der Luft zerreißen. Es dürfte schon bei einem anderen Anwalt nicht möglich sein, aber beim Advokaten der Organisation kommen Sie damit nie durch.«
»Ich glaube schon«, beharrte Frauke.
Doch Ehlers war nicht überzeugt. »Ich möchte gern, dass Sie Ihre Idee mit der Staatsanwaltschaft abstimmen. So wie Sie es mir vorgetragen haben, benötigen Sie ohnehin deren Unterstützung.« Er griff zum Telefon und rief Staatsanwalt Holthusen an. Dann erläuterte er Fraukes Plan, feixte dabei in ihre Richtung, als würde er sich diebisch freuen, dass der Staatsanwalt genauso überrascht reagierte wie er selbst ein paar Minuten zuvor.
»Die Entscheidung liegt bei Ihnen, Herr Holthusen«, schloss Ehlers. »Aber ich befürworte diese sehr unkonventionell klingende Idee.«
Nachdem der Kriminaloberrat aufgelegt hatte, sagte er: »Viel Erfolg. Herr Holthusen bittet um Ihren Besuch. Er möchte das Ganze direkt von Ihnen hören.«
Frauke umrundete die Anlage mit den Justizgebäuden in Hannover mehrfach, bis sie schließlich einen Parkplatz fand. Sie huschte durch den Regen und erstarrte, als sie im Eingang den Mann mit dem südländischen Aussehen bemerkte, der ihr schon öfter begegnet war und den sie vergeblich im Hauptbahnhof verfolgt hatte. Er unternahm diesmal keinen Versuch, ihr auszuweichen, nickte ihr freundlich zu und führte sein Telefonat übers Handy weiter. Er sprach so schnell, dass Frauke Mühe hatte, zwischen einzelnen Wortfetzen zu unterscheiden. Es hatte sie stets fasziniert, mit welcher Geschwindigkeit sich Südeuropäer verständigen konnten. Sie baute sich vor dem Mann auf, der sie verdutzt ansah, noch ein paar Sätze sprach, dann sein Handy vom Ohr nahm und sie betrachtete.
»Ja, bitte? Was kann ich für Sie tun?«, fragte er höflich.
»Warum verfolgen Sie mich?«
Er lachte herzhaft auf.
»Ich? Sie verfolgen? Wie kommen Sie darauf?«
»Sie sind mir oft begegnet. Und als ich Sie im Hauptbahnhof zur Rede stellen wollte, sind Sie spurlos verschwunden. Das ist kein Zufall.«
»Nein.« Er lachte und zeigte dabei zwei Reihen blendend weißer Zähne. »Das ist kein Zufall. Das liegt daran, dass Hannover nicht groß ist. Barcelona ist ein anderes Format.«
»Wie kommen Sie auf Barcelona?«, fragte Frauke.
Er strahlte. »Das ist meine Heimat.«
»Sie sind Spanier?«, fragte Frauke ungläubig.
»Sí. Aus Barcelona. Ich arbeite bei der Banco de España und bin hier, um bei unserem deutschen Partner zu lernen.«
»Nicht Italien?«
Er lacht erneut. »Nicht Italia. Ich heiße González Helguera.« Er fingerte seine Geldbörse aus der Gesäßtasche hervor. »Wollen Sie meinen Pass sehen?«
»Nein danke«, wehrte Frauke ab.
Belustigt betrachtete er sie. »Ich Sie – verfolgen? Aber warum denn? Sicher, Señora, Sie sind eine attraktive Frau. Sie sind mir aufgefallen. Seien Sie mir nicht böse, aber ich habe eine wunderbare Freundin. Deutsch. Blond. Mit sooo langen Haaren.« Er legte seine Hand gegen das Kreuzbein, um die Länge anzudeuten.
Frauke lächelte ihn an. »Dann wünsche ich Ihnen weiterhin viel Freude mit den langen blonden Haaren.«
Wenig später saß sie Holthusen gegenüber. Der Staatsanwalt fuhr sich durch sein schütteres Haar, zupfte sich am Ohrläppchen, kratzte sich den Bart und murmelte mehrfach hintereinander: »Hm. Hm.« Schließlich schien seine Überlegung ein Stück weiter gereift zu sein. »Interessant.«
Frauke unterbrach ihn nicht.
Holthusen gab sich einen Ruck. »So etwas Verrücktes habe ich noch nie gehört. Wo ist dabei der Haken?«
»Es gibt keinen«, antwortete Frauke selbstbewusst.
»Hm. Hm.« Erneut fuhr die Hand durch das schüttere Haar. »Ihr Vorschlag wäre eine ideale Aufgabenstellung in einem juristischen Seminar. Daran könnten sich die Studenten austoben.«
»Sie sind doch besser als jeder Student«, versuchte ihn Frauke zu bezirzen.
»Sicher nicht. Wie in allen Berufen wird es bei uns irgendwann Routine. Wir haben gar nicht die Zeit, uns mit theoretischen Fragen auseinanderzusetzen. Da war das Studium spannender.« Holthusen straffte sich. »Ich verrate Ihnen ein Geheimnis. Ich wohne in Derneburg, das liegt hinter Hildesheim. Jeden Freitag, wenn ich zum Bahnhof gehe, gebe ich einen Lottoschein ab in der Hoffnung, den Jackpot zu gewinnen. Wissen Sie was?« Er nickte heftig. »Diesen Lottoschein gebe ich jetzt auch ab. Der Einsatz ist es mir wert. Im Zweifelsfall bin ich gespannt, wie ein Richter seine gegen uns gerichtete Begründung formulieren wird. Ich werde alles veranlassen. Sie können dann so vorgehen, wie Sie es mir vorgeschlagen haben. Aber«, dabei streckte er Frauke den Zeigefinger entgegen, »Sie werden nicht leichtsinnig dabei. Es darf nichts schiefgehen.«
»Das versichere ich Ihnen«, sagte Frauke zum Abschied und kehrte zu ihrer Dienststelle zurück. Dort rief sie ihre Mitarbeiter zusammen.
»Das ist total plemplem«, ereiferte sich Putensenf und verschränkte die Hände vor der Brust wie ein kleines Kind, das dadurch seinen Trotz offenbaren will.
»Putensenf. Dieser Raum hat bei Weitem nicht die anheimelnde Atmosphäre eines englischen Klubs. Deshalb wird hier auch nicht debattiert wie bei britischen Landadeligen. Wir führen die Aktion wie von mir vorgetragen aus. Basta.«
»Mit ›Basta‹ hat es schon einmal jemand aus Hannover versucht. Er ist schließlich gescheitert«, knurrte Putensenf.
»Richtig. An einer Frau. Deshalb wird das gemacht, was ich für richtig halte.«
»Ist nicht mein Kopf, der da rollt«, zeigte sich Putensenf immer noch uneinsichtig.
Die Zwischenzeit nutzte Frauke, um weitere Vorbereitungen zu treffen. Zunächst rief sie die Kriminaltechnik an und stieß auf wenig Gegenliebe.
»So geht das nicht«, wurde sie beschieden. »Wir stehen hier nicht Gewehr bei Fuß und warten auf Ihre Anfrage.«
»Doch«, erwiderte Frauke knapp.
Und es ging.
Am frühen Nachmittag setzte sich ihr Team mit zwei Fahrzeugen in Bewegung und fuhr zur Justizvollzugsanstalt in der Schulenburger Landstraße. Frauke wies die drei Beamten ein und unterzog sich selbst des üblichen Prozedere, um Zugang zum Gefängnis zu erhalten. Ein Beamter führte sie durch endlose Gänge, öffnete und schloss Zwischentüren, bis sie schließlich in der zuständigen Abteilung ankamen.
»Besuch«, sagte der Beamte, der sie geführt hatte, und übergab sie einem Kollegen. Dem schlaksigen, groß gewachsenen Mann schlotterte die grüne Uniform um den dürren Körper. Die Ohren standen weit ab, die Wangenknochen stießen hervor. Aus seinen Basedow-Augen musterte er Frauke vom Scheitel bis zur Sohle. An seiner Stimme hatte sie ihn erkannt.
»Knast? Mahlstedt?«, fragte sie.
Er lachte und reichte ihr die Hand. »Dobermann? Und trotzdem Frau? Sie wollen zu unserem First-Class-Kunden? Kommen Sie.«
Sie folgte Mahlstedt, bis der vor einer Zelle haltmachte. Die launigen Kommentare und ihr geltenden Pfiffe der Insassen ignorierte sie.
In dem engen Raum roch es unangenehm nach menschlichen Ausdünstungen. Richter lag auf der Pritsche und hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Träge blinzelte er Frauke entgegen.
»Herr Richter. Sie haben Damenbesuch«, sagte Mahlstedt und trat zur Seite.
»Leck mich doch«, erwiderte Richter. Seine Wortwahl passte zu seinem ungepflegten Äußeren und dem Gestank in der Zelle.
»Würde ich gern, aber später. Sie glauben nicht, wie es mir gegen den Strich geht, aber ich muss Sie laufen lassen.«
»Hä?« Richter kam in die Höhe und stützte sich auf dem Ellenbogen ab.
Frauke nahm eine betont drohende Haltung ein. »Das kommt Sie teuer zu stehen. Das verspreche ich Ihnen. Ich hole Sie zurück.«
»Blöde Schnepfe.« Der ehemalige Polizist setzte sich jetzt ganz auf. Dann zog ein schäbiges Grinsen über die eingefallenen Wangen. »Hab ich doch gesagt.«
»Das ist kein Sieg, Richter, wenn Ihre Gang Sie durch Geiselnahme freipresst.«
»Meine Gang?« Er sah Mahlstedt an. »Tickt die Alte völlig aus?«
»Halten Sie die Klappe, Richter, bevor ich mich vergesse. Wenn es nicht um ein Menschenleben ginge, würde ich Sie in der Hölle schmoren lassen.«
»Mich? Nie wieder sehen Sie mich hier.« Er spuckte auf den Boden. »Ich habe es Ihnen prophezeit. Soll ich Ihnen noch mehr sagen? Ihr Requiem ist schon geschrieben. Haben Sie jemals Karl May gelesen? Dessen Schilderungen von den Foltermethoden am Marterpfahl waren human gemessen an dem, was Ihnen bevorsteht.«
»Ihr Geschwätz ekelt mich an. Was ich hier mache, geschieht gegen meinen Willen und meine Überzeugung. Man hat an anderer Stelle entschieden, das Leben von Herbert L’Arronge nicht aufs Spiel zu setzen, nachdem Ihre Leute uns erste Gliedmaßen als Drohung zugeschickt haben.«
Richter lachte. Es klang fast wie eine Befreiung, während er hastig seine wenigen Sachen wahllos in einen Plastikbeutel warf. »L’Arronge, diese Nullnummer? Ausgerechnet der? Da sehen Sie, wie weit Sie gekommen sind. Der ist nicht einmal ein Mitläufer. Der hatte keine Ahnung, für wen er gearbeitet hat.«
Frauke tat, als hätte sie Richters verbalen Ausbruch nicht gehört. Im Überschwang hatte der sonst so vorsichtig agierende Mann gleich zwei wichtige Informationen preisgegeben. Er kannte den Geschäftsführer. Das war ein weiterer Beweis dafür, dass Richter zum engen Führungszirkel der Organisation gehörte und über Interna informiert war. Außerdem hatte Frauke erfahren, dass der flüchtige L’Arronge kein Mitglied der Organisation war, zumindest wusste Richter nichts von einer möglichen Zugehörigkeit.
»Los, kommen Sie in die Hufe«, schnauzte sie Richter an. »Ihre Kumpel haben uns keine Zeit gelassen.«
Der ehemalige Polizist sah sich nicht um, als er die Zelle verließ. Frauke entging nicht, dass ihm andere Insassen Schmähungen und Drohungen hinterherriefen. Für Richter war der Aufenthalt in der JVA sicher keine angenehme Zeit gewesen.
Man händigte ihm seine persönlichen Wertgegenstände aus, darunter das Portemonnaie und sein Handy.
Richter fiel nicht auf, dass es frisch aufgeladen war.
Frauke begleitete ihn bis zur Doppelschleuse. »Bis zum nächsten Mal«, verabschiedete sie ihn.
Er lachte hämisch auf. »Wenn ich Sie das nächste Mal wiedersehe, dann sind Sie eine Leiche.« Richter musterte sie abschätzig. »Sie sind nicht einmal eine attraktive Leiche.«
»Laufen Sie, Richter, sonst lasse ich die Hunde frei.«
Er zeigte ihr den Mittelfinger. Dann öffnete sich das Tor, und der ehemalige Polizist trat ins Freie.
Frauke beobachtete, wie er nach wenigen Schritten stehen blieb, die Arme leicht anwinkelte, die Hände in Richtung Brustkorb führte und tief einatmete. Dann ging er im Schlenderschritt den Weg zwischen dem hohen Metallzaun auf der rechten und den Parkplätzen auf der linken Seite bis zum Gleiskörper der Straßenbahn, der seitlich der Landstraße verlegt war. Richter wandte sich nach links, folgte dem schmalen Fußweg und wartete nach wenigen Schritten auf die Straßenbahn. Argwöhnisch sah er sich um.
Das alles erfuhr Frauke über Funk von den Mitgliedern des Mobilen Einsatzkommandos, die sich rund um den Zugang zur Justizvollzugsanstalt getarnt positioniert hatten. Es war ein Gefahrenmoment, falls Richter einen der Beamten erkennen würde, die ihm aus seiner Zeit beim Landeskriminalamt natürlich bekannt waren.
Frauke wunderte sich, wie reibungslos ihr Plan bisher verlief. Sie hatte mit mehr Schwierigkeiten gerechnet, obwohl sie einkalkuliert hatte, dass die Haft Richters Aufmerksamkeit beeinträchtigen würde.
»Achtung! Er telefoniert«, meldete sich eine Stimme über Funk. »Das geht aber fix.«
»Funkdisziplin«, mahnte Frauke an, obwohl sie selbst überrascht war. Vielleicht bestellte Richter nur eine Taxe.
Nach zwei Minuten meldete sich der Beamte von der Kriminaltechnik. »Das war kein Telefonat. Er hat eine SMS geschickt. ›Wo soll ich hinkommen‹. Der Mann muss es eilig gehabt haben. Nur kleine Buchstaben und kein Fragezeichen.«
»Funkdisziplin!«
»Ist ja gut«, sagte der Beamte, der Richters Telefon überwachte. Doch der Vorsatz hielt nur drei Minuten.
»Donnerwetter. Das läuft wie geschmiert. Die Antwort liegt vor.«
»Und?«, fragte Frauke.
»Auch eine SMS. ›Schlossakaden foyr zehn uhr‹.«
»Mehr nicht?«
»Nein.«
»Die Bahn kommt«, meldete sich Putensenf. »Was jetzt?«
»Zugriff!«, befahl Frauke.
»Waas? Ist das wahr, oder habe ich mich verhört?«
»Verstanden«, fuhr eine ruhige, klare Stimme dazwischen. Es war der Einsatzleiter des Mobilen Einsatzkommandos. Nach weiteren zwei Minuten meldete sich der Leiter erneut. »Zielperson gefasst. Aktion abgeschlossen.«
»Bringen Sie ihn ins Gefängnis zurück«, sagte Frauke.
»Hören Sie mal«, bellte Putensenf in das Funkgerät. »Warum haben Sie alles versaut?«
»Klappe, Putensenf.« Dann schaltete Frauke das Funkgerät ab. Die ganze Aktion war gewagt. Sie spielte va banque. Sie wusste nicht, mit wem Richter die Nachrichten ausgetauscht hatte. Die Schreibweise der Antwort ließ zwei Möglichkeiten offen. Entweder war der Teilnehmer der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig, oder er war ungeübt im Schreiben von SMS. Nun galt es herauszufinden, wo der Treffpunkt sein würde. Schwarczer würde mit Sicherheit wissen, wo die Schloss-Arkaden waren. Um zehn Uhr im Foyer der Schloss-Arkaden. Auf wen würden sie dort treffen? Einen Mittelsmann? Oder stimmte es, dass der Organisation die Leute ausgingen? Darauf baute Frauke. Was hatte Staatsanwalt Holthusen gesagt? Er spielte Lotto.
Kurz darauf tauchte ein Trupp Männer auf. Vier Zivilisten umringten Richter, der sich heftig wehrte und unsanft von den Beamten des Mobilen Einsatzkommandos gestoßen wurde. Wie zornig der Verdächtige war, konnte Frauke daran erkennen, dass er sich trotz des noch geschlossenen Tores der Zugangsschleuse von seinen Bewachern losreißen und auf sie stürzen wollte – ein völlig unsinniges Unterfangen.
Langsam öffnete sich die Pforte, und Frauke nickte Richter zu.
»So schnell haben Sie sich unser Wiedersehen nicht vorgestellt.«
Richter zerrte an seinen Bewachern. Er hatte jegliche Kontrolle über sein Handeln verloren. »Du Miststück, du verdammtes Miststück«, schrie er außer sich vor Zorn.
Frauke ließ sich nicht beeindrucken.
»Für so dumm hätte ich Sie nicht gehalten«, sagte sie. »Sogleich Ihren Paten anmorsen und ihm die frohe Botschaft zu verkünden, dass Sie frei sind. Ach – übrigens. L’Arronge geht es gut. Er befindet sich nicht in den Händen Ihrer Kumpane. Und dank Ihrer tätigen Mithilfe haben wir jetzt auch Ihren Boss überführt. Wir haben sein Handy überwacht.«
»Den bekommst du nicht, du Dreckstück«, schrie Richter. »Glaubst du wirklich, du könntest sein Handy orten?«
Frauke nickte bedächtig. In seinem unkontrollierten Zorn hatte Richter soeben zwei Dinge verraten. Die SMS galt tatsächlich dem Paten. Und Richter kannte ihn. Wenn er direkten Kontakt zum Kopf der Organisation aufnehmen konnte, musste Richter eine hohe Position innegehabt haben. Das erklärte auch, weshalb er fast panisch reagiert und den jungen Kollegen Lars von Wedell so brutal ermordet hatte, auch wenn es womöglich immer ein Geheimnis bleiben würde, was der Kommissar herausgefunden hatte.
Frauke ignorierte Richters Fluchen und die Beschimpfungen. Um ihn würden sich die Vollzugsbeamten kümmern. Sie bedankte sich bei den Männern des Mobilen Einsatzkommandos und kehrte mit ihrem Team zum Landeskriminalamt zurück. Sie fuhr mit Schwarczer in einem Auto. Unterwegs musterte sie den Kommissar, dessen Schweigen ihr fast unheimlich war.
Auf der Dienststelle rief sie ihre Mitarbeiter im Besprechungsraum zusammen.
»Was sollte die ganze Aktion?«, ereiferte sich Putensenf. »Welche Erkenntnisse hat sie uns gebracht? Glauben Sie wirklich, dass jemand wie Richter so blöde ist und uns auf die richtige Fährte setzt?«
»Ja«, sagte Frauke. »Auch jemand mit viel Erfahrung wie Ihr ehemaliges Idol Richter wird durch die Haft zermürbt, durch die Ungewissheit, was werden wird. Er weiß, dass er wenig Aussichten hat, davonzukommen. Und es spricht sich herum, dass Richter von der Schmiere ist. Ein ehemaliger Greifer … Wie groß mag der Hass mancher Insassen auf solche Leute sein? All das ist Richter bewusst. Er lag vierundzwanzig Stunden am Tag auf seiner Pritsche, scheute aus Angst den Kontakt zu anderen Mithäftlingen. Und so wird es weitergehen. Jahr um Jahr. Und plötzlich ist er frei. Da gehen alle Vorsichtsmaßnahmen über Bord. Er hat nur das eine Ziel vor Augen. Weg! Und nur einer kann ihm dabei helfen. Richter weiß, dass Teile der Organisation von uns zerschlagen wurden, dass neue Köpfe nicht so schnell nachwachsen.«
»Und woher wollen Sie das wissen? Bauchgefühl? Bei Frauen kann es sich doch nur um eine Schwangerschaft handeln, wenn sie vom Bauchgefühl reden.«
»Und bei Männern um einen angesoffenen Bierbauch. Aber wenn es Sie interessiert, Putensenf: Es ist Erfahrung.«
»Erfahrung! Pah! Wo denn? In Flensburg?«
»Jakob!«, mischte sich Madsack ein. Selten hatte Frauke den Hauptkommissar so bestimmt sprechen hören. »Niemandem in dieser Runde können deine ewigen Sticheleien imponieren. Vermutlich hat die Chefin mehr Erfahrung als wir alle zusammen.«
Putensenf wandte sich ab und kehrte den anderen den Rücken zu.
»Chefin«, sagte er. Es sollte abwertend klingen.
»Ja, Jakob. Chefin! Und eine verdammt gute. Oder, Thomas?«
Schwarczer sah Madsack an. Das Nicken war kaum wahrnehmbar.
»Lass den Iwan aus dem Spiel«, murmelte Putensenf.
Jetzt reichte es Frauke.
»Putensenf! Sie verlassen augenblicklich den Raum.«
Mit einem Ruck sah Putensenf sie an. »Was haben Sie gesagt? Sie wollen mich hinauswerfen?«
»Ja. Und nicht nur aus dem Raum. Ich will Sie auch aus dem Team entsorgen.«
»Entsorgen?« Putensenf war sprachlos.
»Ich bediene mich nur Ihrer Ausdrucksweise. Ein notorischer Störenfried wie Sie ist hier unerwünscht.«
Schwarczer räusperte sich. »Ich glaube, der Kollege ist nur ein wenig angespannt und überarbeitet. Er meint es nicht so, wie er es gesagt hat. Ich fühle mich jedenfalls nicht angegriffen.«
»Putensenf!« Frauke zeigte mit ausgestrecktem Finger Richtung Tür.
Der Kriminalhauptmeister stand auf. Im Vorbeigehen legte er Schwarczer die Hand auf die Schulter.
»Verzeihung, Thomas«, sagte er leise. »War nicht so gemeint.« Dann verließ er den Raum.
Frauke räusperte sich. »Wo sind die Schloss-Arkaden?«
Madsack und Schwarczer wechselten einen raschen Blick. Beide schwiegen.
»Wir haben ein sachliches Thema«, mahnte Frauke. »Sie kennen sich in Hannover aus.«
Madsack zog die Schultern in die Höhe. »Ich kenne keine Schloss-Arkaden.«
Frauke sah Schwarczer an. Der schüttelte den Kopf. »Gäbe es sie, würde ich sie kennen.«
Mauerten die beiden Mitarbeiter, um sie vorzuführen?
Schwarczer stand auf. »Ich besorge uns einen Laptop.« Wenig später kehrte er zurück, loggte sich ins Internet ein und suchte nach dem Begriff.
»Vermutlich Braunschweig«, sagte er.
»Das könnte Sinn machen. Hannover ist den Leuten mittlerweile zu heiß geworden«, sagte Frauke. Sie versuchte, aufkeimenden Zweifel zu verbergen. Was wäre, wenn Richter das Spiel durchschaut hätte und sie hereingelegt hätte? War Braunschweig der richtige Ort? Wollte sich Richter dort wirklich mit dem Paten treffen? Frauke war sich bewusst, dass ihre kurze Karriere beim LKA Niedersachsen an einem seidenen Faden hing.
Schwarczer hatte weitere Eingaben getätigt. »Die öffnen um halb zehn morgens«, sagte er. Dann erklärte er, dass es sich um ein Einkaufscenter in der Braunschweiger City handelte. Er zählte einige der Ankermieter auf, darunter einen Elektronikmarkt, einen Lebensmittelsupermarkt, eine Buchhandlung und Textilketten.
»Es reicht«, unterbrach ihn Frauke. »Madsack, nehmen Sie Kontakt zum Centermanagement auf. Wir müssen vor Geschäftseröffnung hinein und uns die Örtlichkeiten ansehen. Informieren Sie das Mobile Einsatzkommando. Wir wissen nicht, ob der Pate nicht mit Leibwächtern auftritt. Ein Blutbad unter den Kunden wäre das Schlimmste, was passieren kann.«
»Sollten wir unter diesen Bedingungen die Aktion nicht abblasen?«, fragte Madsack zaghaft.
»Eine solche Reaktion hat der Pate vielleicht einkalkuliert. Deshalb hat er einen belebten Ort gewählt. Nein. Wir müssen die Sache durchziehen. Das Finale!« Hoffentlich, fügte sie in Gedanken an.
Alle sahen zur Tür, die sich leise öffnete. Putensenf steckte seinen Kopf herein.
»Ich möchte nicht stören«, sagte er, »aber eben ist eine Information über Mail eingetroffen. Ich dachte, die ist für die morgige Planung wichtig.« Er wedelte mit einem Computerausdruck. Dann reichte er ihn Frauke und blieb neben ihr stehen wie ein Hund, der nach dem Apportieren auf seine Belohnung wartet.
»Das ist wirklich eine Überraschung«, sagte Frauke und gab den Ausdruck an Madsack weiter, der ebenfalls sein Erstaunen bekundete. Schwarczer las die Information ohne jede erkennbare Regung.
Putensenf schlich auf leisen Sohlen zu dem Platz, den er zuvor hatte verlassen müssen. Unhörbar hob er den Stuhl an, zog ihn zurück und nahm Platz. Niemand hinderte ihn daran.
»Ich glaube, die Chefin hat recht«, sagte Putensenf kleinlaut und zeigte auf das Papier. »Wie gehen wir vor?«
Madsack erklärte es ihm, wurde aber durch sein Handy unterbrochen.
»Ja – ja. Schade. Wirklich nicht? Danke.« Dann sah er Frauke an. »Das waren die Kollegen von der Technik. Das Telefon, zu dem Richter Kontakt aufgenommen hat, war ein nicht identifizierbares Prepaidhandy.«
»Mich hätte alles andere verwundert«, unterbrach ihn Frauke.
»Man konnte aber die Zelle ermitteln. Der Teilnehmer hat sich im Zentrum Wolfenbüttels aufgehalten.«
»Das überrascht nicht«, kommentierte Frauke. »Geht es genauer?«
»Ich vermute nicht«, gestand Madsack. »Sonst hätte man es uns gesagt.«
»Dort ist die Klinik. Und in der liegt Don Mateo, angeblich nicht ansprechbar. Das wird ein spannender Tag morgen.«
Den Rest des Tages verbrachte das Team mit den Vorbereitungen.