DREI
Obwohl sie todmüde war, schlief Frauke unruhig. Immer wieder schreckte sie aus dem leichten Schlaf, weil der Fall und der schleppende Fortgang der Ermittlungen ihren rastlosen Geist nicht zur Ruhe kommen ließen. Sie stand auf, trank einen Schluck Mineralwasser, sah aus dem Fenster auf die gegenüberliegende Seniorenresidenz und war nicht überrascht, in zwei Fenstern trotz der nächtlichen Stunde das Flimmern von Fernsehapparaten zu entdecken. Offenbar kämpften dort ältere Herrschaften auch mit dem Schlaf.
Irgendwann musste die Erschöpfung sie doch in den Tiefschlaf gewiegt haben. Sie hatte Mühe, das durchdringende Geräusch zu orten, das ihren Traum zunächst begleitete, dann den Schlaf jäh unterbrach. Schlaftrunken suchte sie nach ihrem Handy auf dem Nachttisch und meldete sich.
»Kriminaldauerdienst. Bösenberg«, meldete sich eine Stimme, die erschreckend munter klang. »Frau Dobermann?«
Sie bestätigte es.
»Entschuldigen Sie, dass wir Sie erst jetzt benachrichtigen.«
Sie warf einen Blick auf die Weckuhr. Es war kurz nach halb fünf.
»Kommen Sie zur Sache«, sagte sie missgelaunt und hatte Mühe, das Gähnen zu unterdrücken.
»Es geht um ein Tötungsdelikt.«
Mit einem Schlag wich alle Müdigkeit von ihr.
»Wird das ein Fortsetzungsroman?«, fragte sie unwirsch.
»Nochmals«, erklärte Bösenberg geduldig und ließ sich nicht auf ihr Geplänkel ein. »Wir haben durch die Aktenlage erst jetzt erfahren, dass Sie in diesen Fall involviert sind.«
»Wollen Sie mir nicht endlich sagen, was los ist?«
»Gestern Abend, gegen einundzwanzig Uhr dreißig, wurde in der Großkopfstraße ein Tötungsdelikt begangen.«
»Kevin Schmidtke«, entfuhr es Frauke.
»Wir haben uns gedacht, dass Ihnen der Name des Geschädigten etwas sagt.«
Geschädigter!, dachte Frauke. Wer hat sich solche Formulierungen nur ausgedacht.
»Wie weit sind die Arbeiten am Tatort gediehen?«, fragte sie.
»Schmidtke wurde in die Rechtsmedizin verbracht. Wir sind auch abgezogen. Derzeit sind dort noch die Kollegen von der Spurensicherung tätig.«
»Haben Sie Hinweise auf den Täter? Den Tathergang?«
»Nur sehr magere«, gestand Bösenberg ein. »Die Meldung ist über Eins-Eins-Null eingegangen. Nachbarn haben die Polizei alarmiert, weil es in der Wohnung zu einem Wortgefecht gekommen war. Eigentlich, so haben die Befragungen ergeben, war nur der Mieter …«
»Schmidtke.«
»Genau. Also, nur der war zu hören. Dann gab es einen Knall, den die Nachbarn als möglichen Schuss deuteten. Kurz darauf ist jemand die Treppe hinuntergestürmt und hat sich mit einem Motorrad entfernt.«
Das war die Methode, die bei der Ermordung des Rentners vor Fraukes Haustür und bei dem Mordversuch vor der Tür des Hauses in Isernhagen angewandt worden war. Doch beide Mörder waren verhaftet. Offenbar blieb die Organisation bei dem Verfahren.
»Einzeltäter?«
»Ja. Jedenfalls hat sich eine Person mit dem Motorrad entfernt.«
»Konnte der Fahrer identifiziert werden?«
»Wie denn?«, empörte sich Bösenberg. »Es war dunkel. Der Täter trug einen Helm und schwarze Lederkluft. Aber ein Zeuge hat Fragmente des Kennzeichens erkennen können. Eine Fahndung wurde noch gestern Abend eingeleitet. Bisher aber erfolglos.«
»Todesursache?«
»Ein Schuss. Der Täter ist an den Geschädigten herangetreten und hat ihn aus kürzester Entfernung direkt ins Herz getroffen. Der Arzt meint, Schmidtke war sofort tot.«
Warum hat er sich nicht gewehrt?, überlegte Frauke. Kannte Schmidtke seinen Mörder vorher und hatte ihn deshalb arglos in die Wohnung gelassen?
»Gibt es schon Hinweise auf die Waffe?«
»Hören Sie«, empörte sich Bösenberg. »Sehen Sie einmal auf die Uhr. Wir haben alles getan, was möglich ist. Aber hexen können wir nicht.«
Frauke ging auf diesen berechtigten Einwand nicht ein. »Ist gut«, sagte sie. »Danke für die Information.«
Sie verzichtete auf Zähneputzen und Duschen, beschränkte sich auf den nassen Waschlappen und das Kämmen, bevor sie in Eile das Haus verließ und an den Tatort eilte.
Zu dieser frühen Stunde unterschied sich auch eine Großstadt wie Hannover nicht von ihrer Heimat Flensburg. Alles schien friedlich und ruhig. Nirgends war etwas von dem sonst pulsierenden Leben der Landeshauptstadt zu spüren. Auch in der Großkopfstraße wies nichts auf den Mord hin. Das Fahrzeug der Spurensicherung parkte zwischen den Fahrzeugen der Anwohner.
In der sogenannten Pension stieß Frauke auf zwei Beamte der Spurensicherung, die in ihren weißen Ganzkörperanzügen schwitzten.
»Gibt es schon irgendwelche Erkenntnisse?«, fragte sie, nachdem sie ein leises »Moin« gemurmelt hatte.
»Wer sind Sie überhaupt?«, fragte einer der Beamten. »Presse?«
Frauke zeigte ihren Dienstausweis.
»Sind Sie neu bei den Tötungsdelikten?«
»Ich komme von der Ermittlungsgruppe organisierte Kriminalität.«
Der Beamte zeigte auf den Umriss, den jemand auf den verschlissenen Teppichboden gezeichnet hatte. »Was haben Sie damit zu tun?«
»Ich möchte hier keine Diskussionen über Zuständigkeiten führen. Also?«
»Früher sagte man, dass Frauen charmant seien«, knurrte der Beamte. »Diese Eigenschaft ist anscheinend an der Quote hängen geblieben. Wir haben eine Patronenhülse sicherstellen können. Soweit bisher ersichtlich, wurde auch nur ein Schuss abgegeben. Das Opfer hat seinem Mörder offenbar selbst die Tür geöffnet, nachdem es hier gesessen und ferngesehen hatte. Als wir kamen, lief RTL II. Auf dem Tisch stand eine angebrochene Dose Bier – ohne Glas. Dazu ein Aschenbecher, Zigaretten, Streichhölzer und die aufgerissene Tüte Chips. Täter und Opfer sind dann ins Wohnzimmer gegangen und müssen sich gegenübergestanden haben. Dann folgte der Schuss. So weit glauben wir, die Tat rekonstruieren zu können. Das ist aber alles unverbindlich.«
»Der Täter hat sich demnach nicht lange aufgehalten, schon gar nicht gesessen und etwas getrunken.«
»Das haben wir nicht feststellen können. Es sei denn, er hat sein Trinkgefäß mitgenommen. Natürlich werden wir die Kippen im Aschenbecher noch analysieren.«
Frauke sah sich um. Der Raum sah noch genauso aus wie bei ihrem Besuch am Nachmittag. Auch in den anderen Räumen schien sich niemand aufgehalten zu haben. In der Spüle lagen ein schmutziger Teller und ein Löffel, daneben eine geöffnete Dose Ravioli. Alles deutete darauf hin, dass Schmidtke von seinem Mörder überrascht worden war. Sie kehrte in Schmidtkes Zimmer zurück.
»Gibt die Geschosshülse etwas her?«
Der Spurensicherer nickte. »Wir haben sie schon verstaut. Kaliber neun mal neunzehn Millimeter.«
»Ein durchaus gängiges Format«, überlegte Frauke laut. »Handy des Opfers?«
»Das ist sichergestellt. Und vom Telefon haben wir über die Rückholfunktion die letzten Rufnummern sichergestellt. Der letzte Anruf ging nach Braunschweig.«
»Bitte?«, fragte Frauke überrascht.
Der Spurensicherer wiederholte es. Dann nannte er die Rufnummer. Frauke stellte auf ihrem Handy die Unterdrückung der eigenen Rufnummer ein und wählte Braunschweig an.
»Guten Tag. Hier ist die Reichenberger Immobilien Verwaltungs GmbH. Sie rufen außerhalb unserer Geschäfts…« Das reichte Frauke.
Schmidtke hatte nicht geahnt, welche Reaktion seine Nachricht ausgelöst hatte. Möglicherweise hatte er unwissend seinen Mörder bestellt. Und die Organisation hatte prompt reagiert.
»Danke«, sagte sie geistesabwesend und verließ den Tatort, um direkt zu ihrer Dienststelle zu fahren.
Sie besorgte sich aus dem Automaten einen Kaffee, der abgestanden war und grauenvoll schmeckte.
Bösenberg vom Kriminaldauerdienst reagierte ungehalten, als sie ihn erneut anrief.
»Es gibt keine weiteren Neuigkeiten«, sagte er. »Warten Sie den Bericht ab. Der Rest liegt ohnehin bei der Kriminaltechnik und der Rechtsmedizin. Mit der Spurensicherung haben Sie ja schon gesprochen«, zeigte er sich gut informiert.
Frauke war sich bewusst, dass sie durch ihre Arbeitsweise und wegen des fortwährenden Drängens nach Ergebnissen nie zur Sympathieträgerin heranwachsen würde. Aber das war sie in Flensburg auch nicht gewesen. Dafür war sie erfolgreich. Einzig das zählte.
Sie arbeitete noch einmal alle Protokolle und Berichte durch und wartete ungeduldig darauf, dass endlich der normale Tagesbetrieb begann. Vereinzelt trafen die ersten Kollegen ein, bis um halb acht Uhr Putensenf im Türrahmen erschien.
»Nanu?«, fragte er erstaunt und musterte Frauke neugierig. Ihm war nicht entgangen, dass Fraukes Äußeres von ihrem gewohnten Erscheinungsbild abwich. »War die Party wenigstens amüsant?«
»Quatschen Sie nicht, Putensenf«, erwiderte Frauke in scharfer Tonlage. »Es war eine tödliche Party mit zwei Teilnehmern. Kevin Schmidtke hatte in diesem Spiel kein Ass.«
»Verdammt«, sagte Putensenf und ließ sich von Frauke mit wenigen Worten informieren.
»Die haben schnell reagiert. Wo sind wir eigentlich, dass schon ein Gespräch mit der Polizei solche Folgen hat? Das sind ja Methoden wie in … wie in …«, rang Putensenf nach Worten.
»In Hannover«, half Frauke aus.
»Blödsinn.« Der Kriminalhauptmeister war verärgert. Er war zu sehr Lokalpatriot, um solche Aussagen gelten zu lassen.
Frauke rief im Geschäftszimmer an und bat Frau Westerwelle-Schönbuch, sie sofort in Kenntnis zu setzen, wenn Kriminaloberrat Ehlers eintraf. Dann drückte sie Putensenf einen Stapel Papier in die Hand. »Sehen Sie das durch und suchen Sie, ob wir irgendetwas übersehen haben.«
Zwanzig Minuten später meldete sich Uschi Westerwelle-Schönbuch. »Der Chef ist jetzt da.«
Frauke eilte in das Büro des Kriminaloberrats.
»Guten Morgen, Frau Dobermann«, begrüßte er sie gut gelaunt. »Haben Sie gut geschlafen? Wie kommen Sie mit Ihrer neuen Wohnung in Hannover zurecht?«
»Ich habe schlecht geschlafen. Das liegt daran, dass wir einen weiteren Toten haben.« Sie berichtete das, was bisher bekannt war.
Ehlers hatte schlagartig seine gute Laune verloren.
»Das sprengt allmählich jeden Rahmen«, sagte er. »Wir sollten den Fall höher aufhängen und die Kommission personell erheblich aufstocken. Ich werde mit dem Präsidenten sprechen müssen.«
»Warten Sie damit noch«, bat Frauke. »Quantität ist nicht Qualität. Unsere bisherige Vorgehensweise zeigt uns, dass wir der Organisation schon erheblichen Schaden zugefügt haben. Die Hintermänner werden nervös. Wir zerschlagen immer mehr ihrer Strukturen. Auch eine Verbrecherorganisation kann nicht unendlich aus dem Vollen schöpfen. Irgendwann erschöpft sich das Potenzial an guten und kaltblütigen Leuten. Und wir gewinnen Verbündete, vielleicht auch aus einer unerwünschten Ecke. Der Tipp kam aus dem Rotlichtmilieu rund um das Steintor. Dort ist man besorgt, dass unsere Aktivitäten peripher auch die Geschäfte der anderen Interessenten beeinflussen könnten.«
»Ich möchte keinen Bandenkrieg in Hannover provozieren«, sagte Ehlers mit Nachdruck.
»Das möchte keiner«, versuchte Frauke ihn zu besänftigen. »Ich benötige dringend einen Durchsuchungsbeschluss für die Räume der Reichenberger Immobilien Verwaltung in Braunschweig. Und Verstärkung, damit wir dort noch heute Vormittag eine Razzia durchführen können.«
»Ich kümmere mich darum«, versprach der Kriminaloberrat, bevor Frauke in ihr Büro zurückkehrte.
Ihrer Ungeduld wurde nicht abgeholfen. Es gab keine neuen Nachrichten, weder von der Rechtsmedizin noch von der Kriminaltechnik. So beschloss sie, ins Klinikum Nordstadt zu fahren.
Necmi Özden lag noch auf der Intensivstation. Ein Pfleger führte sie in einen Raum, in dem sie Schutzkleidung anlegen musste. Dann bat der junge Mann sie zu warten. Ihre Geduld wurde auf eine längere Probe gestellt. Es dauerte zwanzig Minuten, bis ein Mittdreißiger mit einem gepflegten Dreitagebart erschien, sich die Hände rieb, die nach Desinfektionsmittel rochen, und sie begrüßte, ohne ihr die Hand zu geben.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er.
»Herr Doktor …« Sie warf einen Blick auf das Namensschild an seiner Brust. »Herr Dr. Habelmann. Ich möchte gern mit Herrn Özden sprechen.«
»Das geht nicht.«
»Es ist wichtig. Özden ist ein brutaler Mörder. Wir benötigen seine Aussage, um weiteres Blutvergießen zu verhindern.«
»Bedaure, aber der Patient ist nicht ansprechbar.«
»Wollen Sie das Wohlergehen eines Mörders gegen das Leben von Unschuldigen aufwiegen?«, fragte Frauke.
»Ich habe Nein gesagt«, blieb Dr. Habelmann unnachgiebig. »Für mich gibt es kein Abwägen verschiedener Interessen. Ich hab einen Patienten, dem ich bestmögliche medizinische Hilfe zuteilwerden lasse. Dazu gehört auch, dass sich mein Patient nicht aufregt. Abgesehen davon dürfte Ihnen ein Gespräch nicht weiterhelfen, da Herr Özden überhaupt nicht ansprechbar ist.«
In diesem Moment öffnete sich eine Tür. Frauke war überrascht.
»Dottore Carretta? Sie?«, begrüßte sie den zierlichen Anwalt. Der Rechtsvertreter machte einen nahezu gebrechlichen Eindruck. Seit ihrer letzten Begegnung schien der Dottore noch einmal gealtert zu sein.
»Frau Dobermann«, begrüßte sie der alte Mann mit seiner dünnen Stimme. »Es wundert mich nicht, Sie hier zu treffen.«
»Sie wollen damit sagen, dass Özden Ihr Mandant ist?«
Dottore Carretta nickte bedächtig. »Sì. Das ist zutreffend.«
Dr. Habelmann breitete die Arme aus, als würde er eine Hühnerschar vor sich hertreiben.
»Würden Sie Ihr Gespräch bitte an einem anderen Ort fortsetzen?«, sagte er mit Bestimmtheit.
»Sie wollen nicht im Ernst zulassen, dass der Mörder ungestört mit seinem Anwalt sprechen kann, aber mir der Kontakt verwehrt bleibt?«
»Doch!« Der Arzt nickte ernst. »Ich habe alle Sympathie dieser Welt für Ihr Anliegen. Aber das zählt nicht. Maßgeblich ist einzig das Wohl des Patienten. Also! Bitte!« Er wies in Richtung Ausgang.
Es half nichts. Frauke würde keinen Zutritt zu Özden erhalten. Sie wandte sich an Dottore Carretta. »Sie sind mir eine Erklärung schuldig«, sagte sie barsch.
Der Anwalt nickte freundlich. »Aber gern.« Er sah auf die Uhr. »Ich habe jetzt einen Gerichtstermin. Sie wissen, dass ich den wahrnehmen muss. Darf ich Sie heute Abend zum Essen einladen?«
»Nein«, antwortete Frauke bestimmt. »Einladen nicht. Aber ich treffe mich gern mit Ihnen. Schicken Sie mir eine SMS?«
Dottore Carretta lächelte ihr milde zu. »Das wird nicht möglich sein. Ich habe keine so modernen Geräte.« Er zeigte seine knochigen alten Hände. »Damit ginge das auch nicht mehr. Sagen wir, um halb acht im ›Gallo Nero‹.«
Frauke nickte. »Ich bin gespannt«, sagte sie zum Abschied.
Im Landeskriminalamt suchte sie Nathan Madsack auf. Der Hauptkommissar schrak auf, als sie sein Büro betrat. Er hielt die Hand vor den Mund, nachdem er sich zuvor einen Schokoriegel gegönnt hatte. Er schluckte hastig.
»Mir drohte die Unterzuckerung«, sagte er entschuldigend.
Frauke ging nicht darauf ein.
»In fünf Minuten im Besprechungsraum«, sagte sie.
Sie mussten auf Jakob Putensenf warten, der sich aber entschuldigte. »Ich habe mit dem Finanzamt in Braunschweig gesprochen«, sagte er. »Frau Sonnenschein ist die zuständige Sachbearbeiterin. Natürlich habe ich keine Auskunft erhalten. Zwischen den Zeilen hat mir die nette Frau aber zu verstehen gegeben, dass die Reichenberger Immobilien Verwaltung aus Sicht der Finanzverwaltung unauffällig ist.«
»Das gehört zur Methode der Organisation«, erklärte Frauke. Dann berichtete sie, dass Dottore Carretta das Mandat Necmi Özden übernommen hatte und ihr Versuch, den Mörder zu sprechen, erfolglos gewesen war.
»Da hat es die Polizei in Bananenrepubliken besser«, warf Putensenf ein. »Denen werden nicht so viele Knüppel zwischen die Beine geworfen.«
»Lieber einen Knüppel zwischen den Beinen als über den Schädel, wie es in den von Ihnen genannten Bananenrepubliken nicht unüblich ist.«
Putensenf grinste. »Ich dachte, als Frau würde Sie ein anderer Knüppel viel mehr reizen.«
Sie musterte ihn eindringlich von den Haarspitzen bis zum Bauchnabel, der halb von der Tischkante verdeckt war. »Um bei Ihrem Thema zu bleiben: Nur beim sonntäglichen Frühstück liebe ich weich gekochte Eier. Sind die bei Ihnen Standard? Und damit zurück zu unserem Thema. Es entspricht der Methode der Organisation, nicht aufzufallen. Die Gefahr, in Deutschland entdeckt zu werden, ist bei Steuerschummeleien am größten. Das wissen auch die Hintermänner.« Sie sah Madsack an. »Haben Sie Neuigkeiten?«
»Wir haben einen vorläufigen Bericht der Rechtsmediziner«, begann der Hauptkommissar seinen Bericht. »Schmidtke muss sofort tot gewesen sein. Es gibt keinen Hinweis auf eine Gegenwehr, das heißt keine verwertbaren Spuren vom Täter.«
»Das war ein Profi«, warf Putensenf ein und vergewisserte sich durch einen Seitenblick auf Frauke, dass sie ihm die Zwischenbemerkung nicht übel nahm.
»Das Geschoss durchschlug die Rippen und –«
»Danke, Madsack«, unterbrach Frauke. »Die Details sind im Augenblick nicht von Bedeutung. Sie führen uns nicht weiter. Was ist mit der Waffe?«
Madsack strahlte und nahm das nächste Blatt zur Hand. »Da gibt es einen schönen Erfolg. Es handelt sich um eine P10 von Heckler & Koch. Bis zu dreizehn Schuss können damit abgegeben werden. Die Waffe hat einen Browning-Verschluss und arbeitet nach dem Ladeprinzip des Rückstoßladers.«
»Das ist auch nicht von Interesse«, unterbrach Frauke den oft detailverliebten Hauptkommissar, der im steten Bemühen um gründliches Vorgehen häufig am Ziel vorbeischoss.
Madsacks Wurstfinger wanderten auf dem Ausdruck weiter abwärts. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Die Waffe ist uns bekannt. Sie wurde vor drei Jahren bei einem Tötungsdelikt benutzt. Damit wurde der Inhaber einer Pizzeria in Duisburg erschossen. Der Täter konnte bis heute nicht gefasst werden.«
»Ein Italiener?«
»Ja«, bestätigte Madsack, nachdem er erneut einen Blick in seine Unterlagen geworfen hatte. »Man vermutet eine Auseinandersetzung unter Drogendealern.«
»Kennen wir schon den Namen des in Saudi-Arabien verhafteten Empfängers des Heroins, das Bassetti versandt hat?«, fragte Frauke.
»Die Anfrage läuft noch. Das wird noch eine Weile dauern«, sagte Madsack mit einem Schulterzucken.
»Das ist alles unbefriedigend«, stellte Frauke fest. »Gut. Ich erkläre Ihnen jetzt, wie ich mir die Razzia in Braunschweig vorstelle.« Sie stellte sich ans Whiteboard und begann, ihren Plan zu erläutern.
Zur Besprechung fand sich auch Kriminaloberrat Ehlers ein. Er unterbrach Frauke kurz und sagte: »Der Durchsuchungsbeschluss liegt vor. Wir erhalten Unterstützung durch die Polizeiinspektion Braunschweig.« Er nannte Frauke eine Telefonnummer. »Stimmen Sie die Einzelheiten mit den Kollegen ab.«
Im Anschluss rief Frauke in der zweitgrößten Stadt Niedersachsens an und erfuhr nach längerem Hin und Her, dass die Inspektion die Aufgabe an das Polizeikommissariat Braunschweig-Mitte weitergegeben hatte.
»Wie sollen wir effektiv gegen eine gut strukturierte und straff geführte Bande wie die Organisation vorgehen, wenn wir uns im bürokratischen Dschungel verlaufen?«, schimpfte sie laut.
Madsack zog die Schultern ein. »Die Polizei ist eben eine Behörde«, versuchte er kleinlaut zu erklären.
Frauke wurde schließlich mit Hauptkommissar Heitmann verbunden.
»Wie wollen Sie vorgehen?«, fragte er.
Sie erklärte es ihm.
Heitmann stellte keine Fragen. »Ich habe alles verstanden«, sagte er. »Wir werden mit vier Uniformierten antreten, mich eingeschlossen. Mehr Personal haben wir leider nicht.«
»Haben Sie Kartons, damit wir die sichergestellten Akten abtransportieren können?«
Der Braunschweiger bestätigte es.
»Ich melde mich, bevor wir das Ziel erreicht haben«, sagte Frauke. »Wir müssen unbedingt zur selben Zeit eintreffen.«
»Ist schon klar«, bestätigte Heitmann. »Bis nachher.«
Sie fuhren mit zwei Fahrzeugen Richtung Osten. Frauke saß mit Schwarczer in einem Fahrzeug und hatte dem Kommissar das Steuer überlassen, während sie noch einmal ihren Plan durchging. Sie empfand es als angenehm, dass Schwarczer wie gewohnt schwieg. Am Stadtrand Braunschweigs meldete sie sich bei Heitmann und stimmte mit ihm den Zeitpunkt ab.
Der Hauptkommissar fragte nach dem Fahrzeugtyp der Hannoveraner, und kurz darauf sah Frauke, wie sich ein Polizei-VW-Bulli hinter Madsacks Wagen einreihte.
»Wir sind jetzt hinter euch«, meldete sich Heitmann.
Diesmal hielten sie direkt vor dem Bürogebäude, in dem die Reichenberger Immobilien Verwaltungs GmbH residierte.
Die drei Fahrzeuge erregten in der lebhaft frequentierten Innenstadt Aufsehen. Neugierig blieben die Passanten stehen und verfolgten den Polizeieinsatz, der wenig Spektakuläres bot. Die insgesamt neun Beamten betraten die Büroräume. Erstaunt sah die junge Frau am Empfang auf. Sie schien Frauke wiedererkannt zu haben.
»Was soll das?«, fragte sie mit unsicherer Stimme.
»Polizei. Rufen Sie bitte Herrn L’Arronge zum Empfang«, sagte Frauke.
»Das geht nicht.« Die junge Frau war erkennbar eingeschüchtert. »Er ist nicht da.«
»Hat er einen auswärtigen Termin?«
»Nein«, erwiderte die Angestellte. »Wir haben uns auch alle gewundert. Er ist heute Morgen einfach nicht gekommen.«
Das klang nicht gut, überlegte Frauke. Es mochte zwei Gründe haben. Entweder war L’Arronge nicht so unschuldig, wie er vorgegeben hatte, oder er befand sich in ähnlicher Gefahr wie Schmidtke.
»Haben Sie versucht, L’Arronge zu erreichen?«
»Mehrfach«, versicherte die Frau. »Aber vergeblich. Und sein Handy hat er ausgemacht.«
»Gibt es einen Vertreter?«
Die Angestellte legte die Stirn in Falten. »Eigentlich.« Dann schien sie einen Entschluss gefasst zu haben. »Ich hole Hannchen.«
Frauke erinnerte sich an den Namen. Mit der Mitarbeiterin hatte L’Arronge telefoniert.
Kurz darauf kehrte die junge Frau vom Empfang mit einer resolut aussehenden Grauhaarigen zurück. Frauke schätzte die rundliche Angestellte auf Anfang sechzig.
»Was gibt’s?«, fragte sie und sah die Polizisten an.
»Sie sind Frau …?«
»Hannchen.«
»Ist das Ihr Zuname?«, fragte Frauke.
Hannchen schüttelte den Kopf. »Alle Welt nennt mich Hannchen. Das kommt von Hannelore.« Sie beugte sich in Fraukes Richtung. »Eigentlich heiße ich Schönpfennig. Da aber jeder zu lachen beginnt, wenn ich mich mit dem Namen vorstelle und sage, ich bin die Buchhalterin, ist es beim Hannchen geblieben. Ich habe mal einen Schönpfennig geheiratet. Das war aber ein falscher Fuffziger.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Um was geht’s hier?«
Frauke erklärt es ihr.
»Dürfen Sie das, ich meine … so einfach?«
»Ja. Es gibt einen richterlichen Beschluss.«
»Da kann man wohl nichts machen«, sagte Hannchen mit einem Seufzer und sah die junge Frau vom Empfang an. »Kathrin, du bist meine Zeugin.« Sie nickte in Fraukes Richtung. »Gut, fangen Sie an. Ich werde inzwischen mit unserem Steuerberater sprechen. Kaffee?«, fragte sie.
»Nein«, entschied Frauke. »Vielen Dank.«
Hannchen erwies sich als kooperativ. Sie händigte die gewünschten Unterlagen aus, zeigte, wo die Verträge mit den Hotelpensionen abgeheftet waren, und wies Frauke auch in die Buchungen des Geldverkehrs ein. Die Belege stimmten mit dem überein, was L’Arronge ihr am Vortag erzählt hatte. Die von den Pensionen überwiesenen Beträge wurden an die Vierte Vermögensverwaltungsgesellschaft mbH in Wolfenbüttel überwiesen. »Abzüglich unserer Provision«, ergänzte Hannchen. Die Buchhalterin wurde erst ungehalten, als die Polizisten auch die Computer beschlagnahmten.
»Wir haben keine weiteren Verträge wie diese«, versicherte Hannchen. »Aber das Geschäft sollte ausgebaut werden.«
»Wer akquiriert bei Ihnen diese Verträge?«
»Da bin ich überfragt. Ich glaube, die kommen einfach so.«
»Was heißt das: einfach so?«
Hannchen zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Da müssen Sie Herrn L’Arronge fragen.«
Das nahm sich Frauke vor.
»Das war ja easy«, sagte Hauptkommissar Heitmann zum Abschied. »Läuft das alles so unproblematisch, was Sie bearbeiten?«
Frauke nickte. »Wir picken uns nur die unkomplizierten Fälle heraus. Den Rest überlassen wir Ihnen an der Basis.«
Zufrieden kehrten sie nach Hannover zurück. Dort übergab Frauke die sichergestellten Unterlagen an Experten, die die Buchhaltung und den Inhalt des in den Computern gespeicherten Geschäftsverkehrs analysieren würden.
Sie zog sich mit einem Becher Kaffee in ihr Büro zurück. Seit der Kriminaldauerdienst sie aus dem Tiefschlaf geweckt hatte, war sie auf den Beinen. Sie mochte nicht daran denken, wie sie sich ihrer Umwelt heute präsentierte: ungeduscht und ungeschminkt. Auch eine Kriminalbeamtin blieb eine Frau. Verstohlen gähnte sie, als sich ihr Handy meldete. Der Anrufer hatte seine Rufnummer unterdrückt.
»Dobermann.«
»Hallo, Frauke.«
»Georg!« Frauke hatte lauter gesprochen, als es sonst ihrer Gewohnheit entsprach. »Wo steckst du? Warum bist du aus deinem Haus geflüchtet? Was soll das Ganze?«
Georg holte hörbar Luft. »Das sind viele Fragen, die du stellst.«
»Du kommst sofort ins Landeskriminalamt.«
»Nein. Mit Sicherheit nicht.«
»Ich schreibe dich zur Fahndung aus«, drohte Frauke.
Georg lachte auf. »Nach wem willst du suchen lassen? Nach Georg, von dem die Frau Hauptkommissarin nur den Vornamen kennt? Georg, das Phantom? Kannst du dir das leisten?«
Frauke antwortete nicht. Er hatte ihren Schwachpunkt aufgezeigt.
»Ich will mit dir sprechen«, sagte Frauke.
»Ich auch mit dir. Aber den Zeitpunkt bestimme ich selbst.«
»Du bist von dir überzeugt«, stellte Frauke fest.
»Sagen wir es so: Ich sitze gern am Lenkrad, damit ich entscheiden kann, wohin die Fahrt führt.«
»Ich werde dir den Führerschein entziehen«, drohte Frauke.
»Schöne Metapher. Aber sie führt nicht weiter. Ich wollte mich nur melden. Das ist alles.«
»Ich werde dich zu fassen kriegen«, sagte Frauke.
Georg lachte auf. Es klang fast eine Spur heiter. »Das hoffe ich doch.« Dann wurde seine Stimme ernst. »Pass auf dich auf. Die scherzen nicht.«
»Wer sind die?«
»Ich denke, das weißt du selbst«, sagte Georg und legte auf.
Frauke betrachtete nachdenklich ihr Mobiltelefon. Was hatte Georg mit dem Anruf bezweckt? Er hatte sie nicht aushorchen wollen. War es seine Absicht, sie zu verunsichern? Das war ihm gelungen. Hinter seinem Namen waren ein paar zusätzliche Fragezeichen entstanden. War es möglich, dass sich einer der führenden Köpfe der Organisation so weit aus der Deckung traute und mit ihr spielte? Bernd Richter, der die Organisation über die Interna der polizeilichen Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten hatte, war ausgeschaltet worden. Seine Position hatte Frauke eingenommen. Und prompt hatte sich die Organisation an sie herangemacht. Die beiden Männer hatten sie direkt in Georgs Arme getrieben. Das war kein Zufall. Und sie war darauf hereingefallen, sie hatte als Frau reagiert und Gefühle gezeigt.
Frauke atmete tief durch. Hatte Putensenf mit seinen manchmal bösartigen Anspielungen doch recht? War eine Frau nicht geeignet, die Ermittlungsgruppe zu führen?
Frauke schlug mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. Nein! Jetzt erst recht. Sie ließ sich weder durch Morddrohungen noch durch subtile Angriffe wie die von Georg einschüchtern. Ihr Kampf galt der Vernichtung der Organisation.
Sie sah auf die Uhr und beschloss, nach Hause zu fahren, zu duschen und sich zurechtzumachen, um den Termin mit Dottore Carretta nicht zu versäumen.
Das Restaurant lag ungefähr in der Mitte zwischen dem östlichen Ende der Eilenriede und dem Mittellandkanal. Es war in einem vierhundert Jahre alten Bauernhaus untergebracht, das aufwendig und liebevoll restauriert worden war, gehörte mit Sicherheit zu den herausragenden Adressen in Hannovers gastronomischer Landschaft und bot mit seinen wechselnden Kunstausstellungen Kulturliebhabern nicht nur einen Gaumenschmaus.
Dottore Carretta war bereits anwesend, als Frauke das Restaurant betrat. Er saß an einem etwas abseitsgelegenen Tisch und erhob sich, als er sie sah. Mit der linken Hand hielt er sich das Sakko zu, während seine rechte Fraukes Hand ergriff und bis kurz vor seine Lippen führte. Galant verbeugte sich der alte Mann dabei und sagte mit leiser Stimme: »Buona sera, Signora. Lei ha un aspetto adorabile.«
Dänisch und ein wenig Schwedisch neben Schulenglisch und Französisch … das verstand Frauke. Aber Italienisch war ihr nicht geläufig. »Tak for invitationen.«
Sie sah es am kurzen Aufblitzen in Dottore Carrettas Augen, dass ihr die Revanche gelungen war. Der Anwalt hatte ihren Dank für die Einladung nicht verstanden.
Er wartete, bis Frauke Platz genommen hatte.
»Es freut mich, dass Sie mir das Vergnügen bereiten«, sagte er.
»Sie wollen nicht mit mir flirten«, erwiderte Frauke eine Spur zu unfreundlich, wie ihr selbst bewusst wurde.
»Sie haben einen herben Charme«, sagte Dottore Carretta. »Verstehen Sie das bitte nicht als Beleidigung, sondern als Feststellung. Ist das so, wo Sie herkommen?«
»Da sind die Menschen direkt. Man spart sich Umwege im Miteinander. Wir haben keine großen Heideflächen, auf denen Bienen herumsummen. Honig, den man anderen um den Bart schmiert, ist im Norden eher eine Rarität.«
Der Anwalt nickte bedächtig. Frauke hatte mit Absicht ein wenig rätselhaft gesprochen. Ihr Gegenüber hatte alles verstanden. Es bestätigte nur ihre bisherige Erkenntnis, dass Dottore Carretta mit allen Wassern gewaschen war.
»Man kann nicht nur Honig saugen«, erwiderte er gelassen. »Auch nicht als Polizist.«
Sie wurden durch den Kellner unterbrochen, der nach ihren Wünschen fragte.
»Darf ich Ihnen etwas empfehlen?«, fragte der Anwalt.
»Nein«, erwiderte Frauke. »Ich bin in jeder Hinsicht unabhängig und selbstständig.« Dann wählte sie aus der Karte Schmetterlingsnudeln mit Oliven-Basilikum-Pesto und Scaloppine mit Geflügelinnereien.
Dottore Carretta schloss sich an. »Das ganze Menü ist nichts mehr für Menschen in meinem Alter«, erklärte er.
Sie überließ es dem Anwalt, den Wein auszuwählen.
»Sie sind mir noch eine Antwort schuldig«, erinnerte ihn Frauke.
»Es bereitet mir großes Vergnügen, mit einer Dame zu speisen. Zugegeben. Es gibt noch einen weiteren Grund.«
»Und der wäre?«
»Vordergründig scheint es, als würden wir uns gegenüberstehen.«
»Als Gegner?«, fragte Frauke.
Dottore Carretta schüttelte den Kopf. »Wir haben uns der gleichen Aufgabe verschrieben«, sagte er mit seiner brüchig und müde klingenden Stimme. »Wir möchten das Recht walten lassen.«
»Und warum verteidigen Sie ausgerechnet die schlimmsten Straftäter?«
»Verdächtige«, korrigierte er Frauke. »Erst nachdem das Gericht die Schuld festgestellt hat, dürfen Sie von Tätern sprechen. Auch Beschuldigte haben ein Anrecht auf eine angemessene Verteidigung. Wie oft kommt es vor, dass Justiz und Strafverfolgungsbehörden im Übereifer am Ziel vorbeischießen. Dafür gibt es Rechtsanwälte.«
»Trotzdem ist es augenfällig, dass ausgerechnet Sie immer dann in Erscheinung treten, wenn wir jemanden aus dem Umfeld der organisierten Kriminalität verhaftet haben.«
»Niemand ist ein Universalgenie«, wich der Anwalt aus. »Auch Rechtsanwälte haben sich heute spezialisiert.«
»Auf die Mafia?«
Dottore Carretta lehnte sich zurück. Für einen Moment schloss er die Augen.
»Mafia!«, sagte er so leise, dass Frauke es kaum verstand. »Wer spricht davon? Nur weil Sie es sich in den Kopf gesetzt haben, auf Bürger Italiens Jagd zu machen, gibt es noch keine Mafia.«
»Wie nennt sich die Organisation, die Sie vertreten?«, erwiderte Frauke.
»Ich kenne keine ›Organisation‹. Sie jagen einem Phantom hinterher, das es nicht gibt. Zugegeben macht sich Sorge unter meinen Landsleuten breit. Mit Ihrer Italien-Phobie schaffen Sie Unruhe unter den vielen ehrbaren und fleißigen Italienern im Lande. Vermuten Sie hinter jeder Pizzeria oder Eisdiele einen Hort des Bösen? Ist dieses vorzügliche Restaurant in Ihren Augen auch verdächtig?«
»Mit Sicherheit nicht«, sagte Frauke. »Und das gilt sicher auch für fast alle soliden durch italienische Mitbürger geführten und betriebenen Einrichtungen. Nur dort, wo Sie auftauchen, bin ich voller Argwohn. Warum?«
Dottore Carretta breitete die Arme aus. »So empfinden Sie es im Übereifer. Lassen Sie uns eine Übereinkunft erzielen. Ich verstehe, dass Sie Gesetzesbrechern nachstellen. Billigen Sie mir aber zu, dass ich die Interessen meiner Mandaten vertrete. Damit akzeptiere ich nicht jede Straftat. Nehmen Sie das Beispiel Simone Bassetti. Das ist ein – zugegeben – hitzköpfiger Südländer, der im Übereifer getötet hat. Ich habe meinem Mandaten geraten, seine Taten zuzugeben. Das verstehe ich als Aufgabe eines Anwalts, der dem Recht dienen will. Ich möchte den jungen Mann aber davor schützen, als blutrünstiger Mörder abqualifiziert zu werden, nur weil er sich vergessen hat.«
»Sparen Sie sich solche Erklärungsversuche«, erwiderte Frauke grob. »Bassetti ist als Auftragsmörder im Namen der Organisation unterwegs gewesen. Das trifft auch auf Necmi Özden zu. Und Bernd Richter. Und überall treten Sie in Erscheinung. Finden Sie das nicht merkwürdig?«
Der Anwalt schüttelte das greise Haupt, als würde er resignieren wollen. »Wie soll ich Ihnen erklären, dass ich Jurist aus Leidenschaft und Überzeugung bin.«
»Eine Art Mutter Teresa für Mörder?«, fragte Frauke.
»Sie sehen vor überzogenem Eifer nicht mehr die Tatsachen«, sagte der Anwalt. »Das ist nicht gut für eine Polizistin, die sicher tüchtig ist. Liegt es vielleicht daran, dass Sie eine Frau sind und sich deshalb in einer von Männern geprägten Umgebung doppelt beweisen müssen?«
»Wohnt in Ihnen ein Macho, der Frauen auf Augenhöhe nicht akzeptieren mag?«
Dottore Carretta winkte ab. Einen Moment betrachtete Frauke die dünne Greisenhand mit den Altersflecken. Dann wanderte ihr Blick zum zerfurchten Gesicht, das von der dicken Hornbrille dominiert wurde. Der faltenreiche Hals steckte in einem blütenweißen Hemdkragen, der viel zu weit schien. Was bewog diesen alten Mann, sich so vehement für die gefassten Täter aus den Reihen der Organisation einzusetzen?, überlegte Frauke. Sicher. Der Anwalt bewegte sich nur im Rahmen des geltenden Rechts. Für sie war Dottore Carretta der Repräsentant der Organisation auf dem Feld der Legalität. Traf das auch auf Dr. Eigelstein zu, der Eigentümer des merkwürdigen Hauses in Isernhagen war, in dem Georg zeitweise Unterschlupf gefunden hatte? Schließlich wusste die Polizei, dass Dr. Eigelstein der Anwalt von Igor Stupinowitsch war. Wie hing das alles miteinander zusammen?
Frauke kehrte von ihrem gedanklichen Ausflug wieder zu ihrem Gegenüber zurück.
»Wie lange sind Sie schon in Deutschland?«, wollte sie wissen.
»Eine Ewigkeit«, wich Dottore Carretta aus. »Jahrzehnte. Sonst hätte ich keine Zulassung als Anwalt.«
»Haben Sie Familie?«
Der Anwalt lachte rau auf. »Jetzt werden Sie aber direkt. Jeder Italiener hat Familie. Eine große Familie.«
»Eine Frau? Kinder?«, präzisierte Frauke.
Ihr schien, als würde sich Dottore Carretta für einen winzigen Augenblick in sich selbst zurückziehen. Dann sah er Frauke nachdenklich an. Seine Augen blickten fast traurig.
»Nein«, sagte er. »Das ist mir nicht vergönnt gewesen. Leider nicht. Aber ich habe viele Geschwister, und jedes von ihnen hat Kinder.« Er lachte ein wenig. »Viele Kinder. Wenn wir alle zusammenkommen, glaubt man, ganz Italien wäre vertreten. Mit Stolz sehe ich, wie meine Nichten und Neffen sich zu prächtigen und erfolgreichen Menschen entwickeln. Vielleicht verstehen Sie es in Deutschland nicht, aber es ist ein wenig so, als wären es meine eigenen Kinder.«
»Warum haben Sie keine eigenen?«
»Das wollte der liebe Gott nicht.«
Sie wurden durch den Kellner unterbrochen, der das Essen brachte.
Den Rest des Abends verbrachten sie mit anderen Themen. Der alte Mann erwies sich als gebildeter und charmanter Unterhalter, der informativ über italienische Lebensart und Kultur plaudern konnte. Nach einem kurzweiligen Abend verlangte Dottore Carretta die Rechnung.
»Getrennt bitte«, bat Frauke den Kellner.
»Aber«, protestierte der Anwalt, »ich habe Sie eingeladen.«
»Und ich habe mit Ihnen zu Abend gegessen«, antwortete Frauke. »›The Untouchables‹«, sagte sie und merkte an der leicht hochgezogenen Augenbraue Dottore Carrettas, dass er sie nicht verstanden hatte. »›De uovervindelige‹«, fügte sie fast vergnügt auf Dänisch hinzu. Mochte der Anwalt selbst feststellen, dass die deutsche Polizei unbestechlich war. Mit Ausnahme Bernd Richters, dachte sie.
Die drei Gläser Rotwein, die sie getrunken hatte, waren nach objektiven Maßstäben zu viel. Dessen war sich Frauke bewusst. Wider besseres Wissen fuhr sie dennoch mit dem eigenen Wagen zu ihrer Wohnung zurück. Sie hatte Glück. Nicht jede Frau in herausragender Position, die Wein in Hannover getrunken hatte, wurde entdeckt.
Beim Betreten des Treppenhauses und der Wohnung ließ sie Vorsicht walten. Aber es gab keine Auffälligkeiten. Und sicher war es der Erschöpfung zuzuschreiben, dass sie sehr schnell in einen tiefen und traumlosen Schlaf fiel.