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Giovanni, der Hochwillkommene
Als Daniela vor zwölf
Jahren Fahrschulunterricht genommen hatte, verbrachte sie mehr Zeit
am Strand als im Unterrichtsraum. Ihr unkonventioneller Lehrer,
Giovanni Benvenuto, der für eine autoscuola in Castellano arbeitete, zog es vor, den
Unterricht am Strand zu halten. Daniela weiß noch, wie Giovanni sie
von zu Hause abholte, zusammen mit einer Wagenladung anderer
Schüler nach La Botte fuhr, ein paar Mal mit ihnen auf dem
Parkplatz das Anfahren am Berg übte, um ihnen dann das Tauchen
beizubringen. Mit den Mies- und Venusmuscheln, die sie von den
Felsen pflückten, machte seine Frau Rosanna anschließend
spaghetti marinara, die ihr Mann mit
seinen Schülern teilte, während er ihnen die Verkehrsregeln
erklärte.
Als sie erfuhr, dass
ich meinen italienischen Führerschein machen müsse, schlug Daniela
vor, ich solle mich an Giovanni wenden. Leider hatte ich nicht auf
sie gehört. Ich dachte, die Angelegenheit sei eine leicht zu
lösende Formalität, außerdem wollte ich ihr beweisen, dass man in
Süditalien auch ohne Beziehungen etwas geregelt bekommt. Als wir
zwei Monate nach meinem naiven Entschluss nach Castellano fuhren,
saß Daniela gelassen auf dem Beifahrersitz und hatte die Güte, sich
ein »Hab ich’s dir nicht gleich gesagt?« zu
verkneifen.
Die autoscuola, für die Giovanni arbeitete, befand sich
in einer Gasse, die so eng war, dass man mit dem Wagen, den man
draußen stehen ließ, alle Regeln brach, die man gleich lernen
sollte. In der Schule blätterte der Putz von den Wänden, die roten
Jalousien waren nur noch ein blasses Orange, und die Leuchtreklame
über der Tür war kaputt. Die Neonröhren lagen frei und flackerten.
An einem kalten Februarabend öffneten wir die Tür und betraten
einen von Rauch und Stimmen erfüllten Raum. Runde zwei begann ganz
ähnlich wie Runde eins.
Eine langbeinige,
junge Sekretärin hieß uns willkommen, bevor sie wieder an ihren
Schreibtisch voller Formulare zurückkehrte. Hinter ihr an der Wand
hingen außer dem obligatorischen Kruzifix eine Reihe von gerahmten
Zertifikaten, die der Schule die Lehrbefugnis erteilten. Jedes
jahrzehntealte, vergilbte Zertifikat war mit einem Mosaik bunter
Steuerstempel verziert, die es aktuell machten. Alles andere in dem
Raum schien sein Haltbarkeitsdatum bei Weitem überschritten zu
haben, einschließlich einer alten Frau auf dem Sofa und der
Zigaretten zweier Jugendlicher, die mit dem Handy telefonierten.
Der Boden war uneben, und die Fliesen waren kaputt, dafür machte
der knallrote Lippenstift der Sekretärin die unansehnliche Umgebung
locker wieder wett.
Daniela stellte sich
vor und sagte, sie sei wegen Giovanni gekommen. Die Sekretärin
entgegnete, dass sie warten müsse. Als Daniela wissen wollte, wie
lange, kam eine dröhnende Stimme aus dem Warteraum: »Ist das
Daniela aus Andrano, die ich da soeben höre?« Durch eine niedrige
Tür stürmte ein stämmiger Mann mittleren Alters und rannte mit
ausgebreiteten Armen auf Daniela zu – eine mehr als passende
Begrüßung für jemanden, dessen Nachname wortwörtlich »willkommen«
bedeutet. »Giovanni!«, rief Daniela, küsste seine sonnenverbrannten
Wangen. Auch er besaß Felder, auf denen er am Wochenende arbeitete.
Ihre Wege hatten sich schon seit Jahren nicht mehr gekreuzt, und
sie verbrachten Minuten damit, Neuigkeiten auszutauschen. Dann
stellte mich Daniela vor – il ragazzo
australiano -, und Giovanni schüttelte mir derart fest die
Hand, dass ich mich breiter hinstellen musste, um nicht das
Gleichgewicht zu verlieren.
Der temperamentvolle
Giovanni sah mit seinen struppigen Haaren, die ihm auf beiden
Seiten vom Kopf abstanden, aus wie ein Clown, während sich oben
nichts als Sommersprossen befanden. Er trug Cordhosen und ein
Flanellhemd, an dem über seinem Bauch ein Knopf fehlte – allem
Anschein nach war er abgeplatzt. Er sprach genauso ruckartig, wie
er sich bewegte, hauptsächlich Dialekt. Ich konnte ihn kaum
verstehen und mochte ihn trotzdem auf Anhieb. Er war wesentlich
bodenständiger als Michele, und obwohl er eher aussah wie eine
Vogelscheuche als wie ein Fahrlehrer, wusste ich sofort, dass er
der Richtige für den Job war.
Giovanni scheuchte
mich ins Nebenzimmer, wo derselbe Augenarzt, mit dem ich bei
Michele den Sehtest gemacht hatte, hinter einem Holztisch saß. Er
ging zu allen Fahrschulen im Umkreis von Lecce, weshalb man so
lange auf einen Termin warten muss. Er erinnerte sich vage an mich,
zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und sagte:
»Canadese, vero?«
»Australiano«, verbesserte ich ihn.
»Was war denn in
Caritano los?«
»Dort hat es nicht
geklappt«, mischte sich Daniela ein. »Aber nicht wegen ihm,
wohlgemerkt.«
Der Weißkittel
lächelte, sagte, er sei sich sicher, dass ich in den letzten zwei
Monaten nicht erblindet sei, und erlaubte mir, den Sehtest
auszulassen. Dann schrieb er meinen Namen wieder falsch von meinem
Personalausweis ab und trug ihn in sein Formular ein.
Als er mit mir
fertig war, kam die alte Dame im Warteraum dran. Die mit achtzig
immer noch unabhängige Frau, der Giovanni zwar vom Sofa hatte
aufhelfen müssen, stützte sich auf ihren Stock, blinzelte hinter
ovalen Brillengläsern hervor und las atemlos die Buchstaben auf dem
Plakat vor – »pee, zeta, esse, acca,
kappa.« Sie bestand locker, obwohl Giovanni meinte, sie habe
den alljährlichen Check bei der Fahrschule mittlerweile so oft
gemacht, dass sie das Plakat bestimmt auswendig konnte.
Anschließend humpelte die alte Frau zurück in den Warteraum und
reichte der Sekretärin ihren Führerschein: ein verblasstes,
zerfetztes, brüchiges Stück Papier, das das Verkehrsministerium vor
mindestens vierzig Jahren ausgegeben hatte.
Im Innendeckel des
ziehharmonikaartigen Dokuments befand sich ein Schwarzweißfoto der
Frau aus ihrer Jugendzeit, das mittlerweile mehr Ähnlichkeit mit
der Sekretärin als mit der Führerscheininhaberin hatte. Auf dem
Rückendeckel klebte eine Sammlung von Steuermarken. Bis vor wenigen
Jahren mussten die Italiener jährlich 35 Euro zahlen, für das
Privileg, einen Führerschein zu besitzen. Wie bei den meisten
Steuern, die für solche Dokumente erhoben werden, diente ein
bollo in der Höhe der Steuer als Beweis
für ihre Entrichtung, eine Steuermarke, die beim Tabakhändler
erhältlich war und auf den Führerschein geklebt wurde. Bei vier
Autofahrern zahlte Danielas Familie 140 Euro pro Jahr nur an
Führerscheinsteuern. Deshalb beschloss sie, nur eine Steuermarke zu
kaufen, und sie zusammen mit den Autoschlüsseln aufzubewahren. Wer
gerade das Auto nahm, nahm auch die Steuermarke und klebte sie
vorübergehend auf den Führerschein. Anschließend wurden die
Autoschlüssel wieder an den Nagel gehängt und die Marke auf den
Tisch gelegt, damit sie dem nächsten Familienmitglied, das beides
benötigte, zur Verfügung standen.
Danielas Familie war
nicht die einzige, die das Gesetz mithilfe einer feuchten Zunge
umging. Es gab zahlreiche Anekdoten, von denen natürlich die
meisten aus Neapel stammten, wie man die Marke am besten im
Führerschein befestigt, damit es so aussieht, als ob sie sich
ständig dort befände. Carabinieri
verteilten Bußgelder an Autofahrer wegen falsch befestigter
Steuermarken, und die typische italienische Pattsituation zwischen
Bürger und Regierung entstand. Irgendwann wurde die Steuer
abgeschafft, und man ersparte den Fahrern die geschmacklose
Routine, die Marke abzulecken, bevor sie den Schlüssel im
Zündschloss drehten.
Nachdem ihr
Führerschein, aber nicht ihre Beine erneuert worden waren, humpelte
die Frau aus der Tür, die ihr von Giovanni aufgehalten wurde.
»Buonasera«, murmelte sie zu niemandem
Bestimmten, ein süditalienischer Brauch, wenn man ein Geschäft oder
ein Büro verlässt.
»Buonasera«, echoten alle im Raum halbherzig.
Während mir die Sekretärin mein zweites foglio
rosa ausstellte, bat uns Giovanni in sein Büro. Dort
erklärte er uns, dass Ausländer, die einen italienischen
Führerschein brauchen, eine Erlaubnis von ihrer jeweiligen
Botschaft benötigen, die Prüfung mündlich durchzuführen. Als er
sagte, dass ich mir dieses Formular persönlich abholen müsse,
protestierte ich, denn das hätte eine Fahrt nach Rom oder Mailand
bedeutet. Aber Daniela bestand darauf, dass Giovanni es besser
wisse, und ich hatte nicht vor, ihren Rat ein zweites Mal in den
Wind zu schlagen.
Um mir eine
Vorstellung davon zu geben, was die Botschaft schreiben sollte, bot
mir Giovanni an, einen Brief zu fotokopieren, den ein albanischer
Schüler erfolgreich verwendet hatte. Als er seiner Sekretärin
befahl, ihm die Kopie zu machen, entgegnete sie wütend: »Eines nach
dem anderen, Giovanni! Soll ich das foglio
rosa heute noch fertig kriegen?« Giovanni senkte den Kopf
wie ein Schuljunge, der eine Scheibe eingeworfen hat. »Sie ist
Schweizerin«, flüsterte er, »und wahnsinnig pedantisch.« Vorher war
die Schule geöffnet gewesen, wenn sie aufmachte, bis sie zumachte.
Jetzt hatte sie von halb sechs bis halb neun geöffnet.
Während wir auf die
Sekretärin warteten, erzählten wir Giovanni von unseren Erfahrungen
mit Michele. Er lachte herzhaft, als ich ein paar von seinen
»Richtig oder falsch«-Fragen zum Besten gab. Giovanni kannte
Michele und sagte, er könne gut verstehen, warum wir aufgegeben
hätten. »Von hundert Worten, die aus Micheles Mund kommen«, so
Giovanni, »sind neunundneunzig nichts als heiße Luft.«
Nach einem
aperitivo in der nächsten Bar
entschuldigte sich Giovanni und sagte, er käme sonst zu spät zu
einer Verabredung in Lecce. Nachdem er weg war, kehrten wir zur
Schule zurück, wo mir die Sekretärin mein foglio rosa gab, für das Michele eine Woche
gebraucht hatte, sowie eine Rechnung über 250 Euro, die zwar auch
die beiden Führerscheinprüfungen mit einschloss, mich aber trotzdem
schockierte.
»Ich dachte,
Giovanni ist ein Freund von dir«, sagte ich auf der Heimfahrt zu
Daniela.
»Überlass das mir«,
entgegnete sie gelassen. »Wir werden weniger
bezahlen.«
Am folgenden Montag
flog ich zum australischen Konsulat nach Mailand statt zur
Botschaft nach Rom und nutzte die Gelegenheit, um alte Freunde und
Kollegen zu treffen. Und um Francesco etwas Pferdefleisch, sein
Lieblingsessen, zu bringen, das Valeria für ihn zubereitet hatte.
Ich möchte nur einmal in Italien verreisen können, ohne
irgendjemandem etwas zu essen mitzubringen. »Was ist in Ihrem
Koffer, Sir?« – »Ein halbes Pferd, wenn Sie es unbedingt wissen
wollen.«
Am Mittwoch war ich
zurück in Andrano, und am Freitag fuhren wir erneut nach
Castellano, um Giovanni den Brief zu geben und einen kurzen
mündlichen Test zu absolvieren, damit ich die Prüfung auf jeden
Fall bestehen würde. Ich machte den Test bei der Sekretärin, die
sich nicht lange damit aufhielt, sondern vielmehr versuchte, sich
meiner Solidarität als Ausländer zu versichern. Sie war mit einem
Mann aus einem nahe gelegenen Ort verheiratet und hasste
Süditalien. Wie Danny, der damit allerdings Norditalien gemeint
hatte, bezeichnete sie es als »Dritte Welt«. Sie hasste die
Italiener für ihren menefreghismo, also
für ihre »Ihr könnt mich mal«-Haltung dem Leben gegenüber, für den
Müll, der überall herumlag. Sie hasste die Regierung für ihre
Korruption, die carabinieri für ihre
Blödheit, ihren Chef für seine chaotische Organisation, die
Krankenhäuser, die Schulen, die Banken …
Ich hätte ihrer
Schmährede nicht widersprochen, wenn sie sie nicht vor einer Gruppe
einheimischer Jungs gehalten hätte, die gerade auf Giovanni
warteten. Sie zogen an ihren Zigaretten und starrten die Sekretärin
an, die ihnen gerade das Klischee der spießigen Schweizerin
bestätigte. Ich fühlte mich unwohl, weil sie erwartete, dass ich
ihr laut zustimmte, was ich auch in einigen Punkten tat, aber
deutlich weniger gehässig. Als sie sagte, sie plane, nächstes Jahr
in die Schweiz zurückzugehen, überhörte Giovanni diese Bemerkung
und fragte, warum sie stattdessen nicht nach Albanien ginge, womit
er suggerierte, dass dieses Land noch fortschrittlicher sei als die
Schweiz. Er hatte sich regelrecht einen Sport daraus gemacht, sie
zu necken. Seine Bemerkung zeigte die gewünschte Wirkung und regte
die Sekretärin erst recht auf. Sie sagte, genau wegen Menschen wie
Giovanni sei Italien nur Mittelmaß. Giovanni lachte, die Sekretärin
tobte, und ich gab mein Bestes, beiden gleichermaßen
beizupflichten, obwohl ich eigentlich nur meinen verdammten
Führerschein wollte.
Nachdem ich den
Pseudo-Test bestanden hatte, würde ich die eigentliche Prüfung bei
der Zulassungsstelle in Lecce ablegen. Giovanni sagte, er würde
mich für die nächste mündliche Prüfung in zwei Wochen anmelden,
etwa zweieinhalb Monate nachdem ich meinen Fuß das erste Mal in die
autoscuola von Caritano gesetzt hatte.
Bevor wir gingen, sagte Daniela mit Absicht vor Giovanni zur
Sekretärin, dass sie die Rechnung verlegt hätte, und fragte, wie
viel die Sache gleich wieder koste.
»Zweihundertfünfzig«, erwiderte die
Sekretärin.
»Hundertfünfundzwanzig«, schaltete sich Giovanni ein.
»Nur die Steuern. Ich will kein Geld.«
»Molto gentile«, sagte Daniela und bezahlte ihn
sofort in bar.
Die Sekretärin war
stinksauer, hatte sie jetzt doch einen Grund mehr, in ihre Heimat
zurückzukehren. Daniela war fantastisch und gab mir einen Grund
mehr zu bleiben.
Am Tag meiner
Theorieprüfung nahm sich Daniela frei, und bevor wir nach Lecce
fuhren, holten wir Giovanni aus Castellano ab. Ich fuhr, Daniela
saß auf dem Rücksitz und Giovanni vorn, der Gurt meines Fahrlehrers
hing schlaff neben der Tür herab. Punkt neun erreichten wir die
Zulassungsstelle, ein großes Gebäude auf einem Gelände außerhalb
der Altstadt. Nachdem wir einen Parkplatz ergattert hatten und
einparkten, was so kompliziert war wie die Vervollständigung eines
Puzzles, fanden wir drei freie Plätze in einem Warteraum voller
ausländischer Gesichter: Afrikaner, Albaner, Chinesen und ein
Australier. Es war der Tag der mündlichen Prüfung für stranieri, die ein Schreiben von ihrer jeweiligen
Botschaft dabeihatten.
Ungefähr jede
Viertelstunde ging die Tür auf, und eine Stimme rief zwei Nachnamen
oder versuchte es zumindest, da es sich dabei um ausländische
Zungenbrecher handelte. Giovanni, der in der Zulassungsstelle ein-
und ausging, verschwand für einige Minuten und kam dann mit einer
guten Nachricht zurück: Der Prüfer war ein Mann, den er gut kannte,
ein gewisser Signor Pozzo aus demselben Dorf wie
Giovanni.
»Ah«, rief Daniela
aus, »aber doch nicht Paolo Pozzo? Er ist, soweit ich weiß, ein
Freund der Familie. Ich bin mir ziemlich sicher, dass seine Frau
mit meiner Mutter zur Schule gegangen ist.«
»Perfetto«, sagte Giovanni grinsend.
Ich schien bereits
bestanden zu haben.
Zwei Stunden später
ging die Tür auf, und eine Stimme rief: »Arrison« sowie den
Nachnamen eines jungen Franzosen, der hinter mir den Prüfungsraum
betrat. Auf einem Podest am Ende des Zimmers, das ein Vortragsraum
zu sein schien, saß ein Mann in einem beigen Anzug hinter einem
Schreibtisch voller brauner Umschläge. »Prego«, sagte der Prüfer, griff nach den beiden,
die obenauf lagen, und bat mich und den Franzosen, auf den Stühlen
vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Giovanni ließ sich
irgendwo in der ersten Sitzreihe nieder. Die Prüfung war
öffentlich, und er durfte zuschauen.
Während Signor Pozzo
meine Akte durchging, brachte Giovanni meine Situation auf den
Punkt und ließ die Erteilung einer Fahrerlaubnis wie eine bloße
Formalität erscheinen, indem er sagte, dass ich Australier sei,
bereits seit zwölf Jahren Auto fahre und nach einem Jahr in Italien
einen italienischen Führerschein bräuchte.
»Australiano?«, wiederholte der Prüfer. »Was zum
Teufel haben Sie dann hier zu suchen?«
Bevor ich etwas
entgegnen konnte, antwortete Giovanni für mich, und es sollte nicht
das letzte Mal an diesem Vormittag sein.
»Crris ist der
Freund einer jungen Dame aus Andrano, die Sie kennt und draußen
wartet, um Sie begrüßen zu dürfen. Darf ich sie
hereinrufen?«
»Certo.«
»Daniela!«
Das war der einzige
italienische Name, der an diesem Tag ausgerufen wurde.
»Buongiorno«, sagte Daniela und betrat mit wiegenden
Schritten den Raum.
»Buongiorno«, erwiderte Pozzo, stieg von seinem
Thron herab und gab ihr die Hand.
»Es ist mir eine
Freude, Sie wiederzusehen, Signor Pozzo. Wie geht es
Ihnen?«
»Sehr gut. Und
Ihnen? Und Ihrer Familie?«
»Hervorragend. Und
Ihrer Frau?«
Ich musste einfach
grinsen, als ich sah, wie Daniela und Giovanni den Prüfer in eine
Wolke aus Schmeicheleien und freundschaftlichen Beziehungen
einhüllten. Nicht weil sie dachten, dass ich die Prüfung sonst
nicht bestehe, sondern weil das so Usus ist in einem Land, das so
ineffizient ist, dass es entscheidend sein kann, jemanden auf
seiner Seite zu haben. Der Trick bestand darin, dem Mann das Gefühl
zu geben, etwas Besonderes zu sein. Danielas süßes, aber
unterwürfiges Lächeln war eine größere Garantie, zu bestehen, als
hätte ich das Lehrbuch auswendig gelernt.
Nachdem Daniela dem
Prüfer genügend Honig ums Maul geschmiert hatte, verließ sie den
Raum, und meine Prüfung begann mit einem »Wer hat
Vorfahrt«-Diagramm. Pozzo hielt ein Plakat mit Kreuzungen hoch,
zeigte mit dem Finger auf eine Abbildung und wartete darauf, dass
ich den Verkehr dirigierte.

»A, E, V, H, C«,
trug ich vor.
»Bene«, erwiderte der Prüfer.

»Il tram, B, A, C.«
»Esattamente. Die Straßenbahn immer vorlassen, außer
sie hat Rot.«
»La bicicletta, S, P, N.«
»Si.«
»L’ambulanza, T, R, D.«
»Si.«
»G, D, l’autobus, B.«
»Bene.«
Danach bewährte sich
der Franzose, bevor die Fragen völlig obskur wurden.
»Welchen
Führerschein braucht man, um einen Laster zu fahren, der mehr wiegt
als 3,5 Tonnen?«
»Einen, den wir
nicht brauchen«, entgegnete der Franzose.
Pozzo strich über
seinen Schnurrbart und sah aus dem Fenster, wahrscheinlich dachte
er sich gerade eine Strafe aus. Diese unverschämte Äußerung hatte
die lockere Atmosphäre, die Daniela und Giovanni mit so viel Mühe
geschaffen hatten, völlig zunichtegemacht. Der Franzose schien
nicht zu begreifen, dass wir unabhängig davon, ob wir die Antwort
wussten oder nicht, besser daran taten, dem Prüfer zu seiner Frage
zu gratulieren, statt ihm wegen ihrer Irrelevanz zu widersprechen.
Er war entweder noch nicht sehr lange in Italien oder hatte keinen
so guten Mentor wie ich.
Während Pozzo und
der Franzose über die Frage diskutierten, gab Giovanni ein
zischendes Geräusch von sich, um meine Aufmerksamkeit zu erregen.
Ich dachte erst, ich bilde mir das nur ein, und bemühte mich, es zu
ignorieren, bis ich begriff, dass es keine Einbildung war. Erst als
ein Kollege hereinkam, um den Prüfer etwas zu fragen, riskierte ich
es, mich auf meinem Stuhl umzudrehen. Ich sah, wie sich Giovanni
auf seinem vorbeugte, den Kopf senkte und mir zwischen
zusammengebissenen Zähnen angestrengt die Antwort zuflüsterte.
»E«, zischte er. »Patente E.«
Nachdem er vom
Franzosen keine befriedigende Antwort erhalten und der Kollege den
Raum verlassen hatte, konzentrierte sich Pozzo auf mich. »Nun«,
fragte er zunehmend ungeduldig, »welchen Führerschein braucht man,
um einen Laster zu fahren, der mehr als 3,5 Tonnen wiegt?« Die
Situation war absurd. Ich war mir sicher, dass der Prüfer gesehen
hatte, wie mir Giovanni die Antwort zuflüsterte. Andererseits war
mein Fahrlehrer ein gerissener alter Fuchs, der ganz genau wusste,
was er sich erlauben konnte und was nicht. Wie sollte ich mich
verhalten? Vielleicht war das eine Falle, um zu sehen, ob ich
schummelte oder nicht.
»Allora?«, hakte der Prüfer nach.
»E«, sagte ich leise.
»Mi scusi? Ich habe Sie nicht richtig
verstanden.«
Ich räusperte mich
und fand meine Stimme wieder.
»E. Patente E.«
»Bravo«, lobte mich der Prüfer.
Der Franzose und ich
sahen uns ungläubig an.
Pozzos nächste Frage
ließ mich wünschen, ich hätte Unwissen vorgetäuscht, anstatt auf
Giovannis Wissen zurückzugreifen.
»Und wie lange gilt
ein E-Führerschein?«
Ich riss die Augen
auf. Der Franzose hatte seine geschlossen.
»Fünf Jahre«,
zischte Giovanni.
Pozzo vertiefte sich
in meine Akte, so als wolle er beide Augen zudrücken.
»Fünf Jahre«, sagte
ich selbstbewusst.
»Bravo«, lobte er
mich erneut.
Die Fragen wurden
immer abwegiger. Vielleicht wollte Pozzo in Wahrheit meinen
Fahrlehrer prüfen.
»Wie lange darf man
seinen Wagen auf der Autobahn in einer Notfallhaltebucht
abstellen?«
Sogar Giovanni
schwieg. Der Prüfer hatte Schüler und Lehrer
verblüfft.
»Bis sie kommen und
es abschleppen«, sagte der Franzose stur, aber
realistisch.
Pozzo legte den Kopf
schräg und sah mich an.
»Das hängt von dem
Problem ab«, sagte ich und zuckte die Achseln.
»Drei Stunden«,
verkündete der Prüfer, stolz, seine eigene Frage beantworten zu
können.
»Und was ist, wenn
erst nach drei Stunden Hilfe kommt?«, fragte der Franzose, der
vielleicht aus Erfahrung sprach.
Der Prüfer schlug
mit der Hand auf den Tisch wie ein Auktionator, der dem Bieten ein
Ende setzt.
»Drei Stunden sind
das Maximum, länger darf man seinen Wagen nicht in einer
Notfallhaltebucht abstellen«, bellte er. So lautete die Regel. Die
Realität interessierte ihn nicht.
»Steht das auch im
Fahrschullehrbuch?«, hakte der Franzose nach, der vom Gegenteil
überzeugt war. Er hatte es aufgegeben zu bestehen und wollte lieber
Recht behalten.
Der Prüfer warf ihm
über seine Armani-Lesebrille hinweg einen strengen Blick zu. Die
Frage wurde ignoriert. Die Unverschämtheit nicht.
Während der Franzose
aufstöhnte, stellte der Prüfer die nächste Frage: »Wie schnell darf
ein Tanklastzug in einer geschlossenen Ortschaft fahren?« Ich hatte
keine Ahnung, warum er weiterhin Fragen stellte, die sich auf eine
Fahrerlaubnis bezogen, an der wir gar nicht interessiert waren. Ich
sah mich hilfesuchend zu Giovanni um, während der Franzose aufs
Geratewohl sagte: »Fünfzig, sechzig, siebzig?« – doch selbst die
Schultern meines Fahrlehrers blieben verkrampft. »Dreißig!«, rief
der Prüfer aus und brachte den Franzosen zum Schweigen, der
mittlerweile bei »… hundert?« angelangt war.
Die Prüfung
verwandelte sich in eine Unterrichtsstunde, die noch weitere fünf
Minuten im selben Stil fortgesetzt wurde. Dann begann Pozzo damit,
medizinische Fragen zu stellen, was leider noch frustrierender war.
Er wollte von uns wissen, wie wir eine Hämorrhagie, also eine
Blutung, am Unfallort stillen würden. Falls das Opfer Pozzo wäre –
ich würde ihn verbluten lassen. Was für unterschiedliche
Hämorrhagien gab es? Wie kann man sie auseinanderhalten? Und wie
behandelt man sie im Einzelnen usw.? Obwohl mein eigenes Blut
bereits ziemlich in Wallung geraten war, versuchte ich zu antworten
und verkündete aufrichtig, dass ich lieber den Krankenwagen rufen
würde, anstatt die Sache noch zu verschlimmern. Unzufrieden begann
der Prüfer eher unsere Fahrlehrer als seine Prüflinge in die Zange
zu nehmen.
»Das haben Sie doch
bestimmt in der Fahrschule durchgenommen, istruttore?«
»Aber natürlich«,
flunkerte Giovanni. »Sie wissen, was sie tun müssen, sie haben nur
Schwierigkeiten, es in einer Fremdsprache
auszudrücken.«
Einmal ganz davon
abgesehen, dass ich überhaupt keinen Fahrunterricht bei ihm
genommen hatte, was mir der Prüfer anscheinend nachweisen wollte,
hatte ich schon allein deshalb nicht geantwortet, weil ich keine
Ahnung habe, wie man eine Hämorrhagie auf Englisch stillt,
geschweige denn auf Italienisch. Ich musste das Wort sogar im
Wörterbuch nachschlagen, um es hier hinschreiben zu können, und wer
Hämorrhagie nicht mal richtig buchstabieren kann, kann sie bestimmt
auch nicht stoppen.
Während unser
theoretisches Opfer verblutete, erklärte der Prüfer unsere Prüfung
für beendet, und wir durften den Raum verlassen. Nachdem ich die
ganze Farce über Haltung bewahrt hatte, verlor ich sie, kaum dass
ich draußen war. Zu Daniela sagte ich, ich sei sicher
durchgefallen, da der Prüfer zu glauben schien, ich wollte mit
einem Tanklastzug statt mit einem ganz normalen Auto durch Andrano
kurven. Sie war schockiert und ging auf Giovanni zu, der ein paar
Minuten später mit meiner Akte unter dem Arm und einem Lächeln auf
dem Gesicht herauskam.
»Hat er bestanden,
Giovanni?«
»Aber was für eine
Frage, Daniela! Natürlich hat er bestanden.«
»Non è possibile«, sagte ich.
»È possibile«, beharrte mein Lehrer.
»Und was ist mit dem
Franzosen?«
»Er hat auch
bestanden. Andiamo al
bar.«
Erst als mir
Giovanni meine Akte mit dem Vermerk promosso zeigte, glaubte ich ihm, und da saßen wir
schon in einer Bar in Castellano, um uns bei viel Koffein über
einen Vormittag auf einer Behörde auszutauschen. Trotzdem hatte
mich die Erfahrung wütend und verwirrt zurückgelassen, und zwar
mehr als jede andere seit meinem Umzug nach Italien. Ich hatte
aufgrund eigener Verdienste bestehen wollen, und nicht weil die
Frau von Signor Pozzo mit Danielas Mutter zur Schule gegangen war.
Es kam mir fast so vor, als hätte mir der Prüfer extra obskure
Fragen gestellt, nur damit ich den Führerschein seiner
Großzügigkeit und nicht meinen Fähigkeiten zu verdanken hätte und
er in Danielas Augen noch besonderer würde.
Obwohl ich Giovanni
dankbar war, hatte ich doch das Bedürfnis, seine Rolle bei der
morgendlichen Scharade zu hinterfragen. Genau wie Pozzo
bombardierte ich ihn mit Fragen, die ihr Adressat jedoch völlig
irrelevant fand.
»Hätte ich die
Prüfung auch bestanden, wenn Sie nicht so nett zu dem Prüfer
gewesen wären? Sie haben mir sogar Antworten vorgesagt. Was wäre
passiert, wenn er es gemerkt hätte? Ich bin mir sogar ziemlich
sicher, dass er es gemerkt hat.«
»Er ist ein Freund«,
verteidigte ihn Giovanni. »Und es ist eine öffentliche
Prüfung.«
»Aber das bedeutet
höchstens, dass man dabei zuschauen, aber nicht, dass man daran
teilnehmen darf.«
»Sie haben doch
bestanden, oder etwa nicht?«, rief er und überraschte Daniela,
deren Augen sich im Rückspiegel weiteten. »Was wollen Sie
überhaupt?«
Ja, was wollte ich?
Es war sinnlos, den Mann für das Schlamassel verantwortlich zu
machen, durch das er mir geholfen hatte. Am Wochenende vor meiner
Prüfung waren fünfundfünfzig Menschen auf italienischen Straßen
gestorben – eine Katastrophe und eine Schande. Aber was konnte
Giovanni dafür? Ich wechselte das Thema und fuhr los. Ich hatte,
was ich brauchte, und das war alles, worauf es ankam. Die »Ihr
könnt mich mal«-Haltung fängt häufig so an, aus purer
Hoffnungslosigkeit und nicht aus Eigennutz. Meine Mitfahrer hatten
die Prüfung bereits vergessen. Giovanni erzählte von seinem Urlaub,
zu Hause in Kalabrien, und wir kamen auf wichtigere Dinge zu
sprechen, zum Beispiel darauf, Italien zu genießen, statt es
erziehen zu wollen.
»Wenn irgendjemand
bei der Zulassungsbehörde fragt, warum wir es so eilig hatten, die
Prüfung zu beantragen, sagst du, dass du den Führerschein für deine
Arbeit brauchst«, rief mir Rocco, Giovannis Kollege und mein
Fahrlehrer, zu. Als ich bei einer von zwei Probefahrten, mit denen
ich mich auf die praktische Prüfung vorbereiten wollte, in seinem
Fiat-Fahrschulauto saß, war ich in die letzte Phase dieser nun
schon drei Monate währenden Prozedur eingetreten. Giovannis Job –
die Theorie – war erledigt. Jetzt waren Rocco und die Praxis
dran.
Der gedrungene
Mittvierziger war nicht dick, aber pummelig. Seine Haut besaß jene
schokobraune Farbe, die ich mir den ganzen Sommer über hatte
aneignen wollen, die er aber als Süditaliener gratis mitbekommen
hatte. Er sprach so schnell wie Giovanni und fuhr sogar noch
schneller, doch jetzt war ich an der Reihe, mich hinters Steuer zu
setzen. Bevor ich den Motor anließ, fragte ich Rocco, ob er
vorhabe, seinen Gurt anzulegen. Diese Bitte schien ihm völlig fremd
zu sein, auf jeden Fall sah er mich höchst verwirrt
an.
»Scusi«, erklärte ich. »Ich frage ja nur, denn wenn
man das in Australien unterlässt, kann man bestraft werden, weil
man sich nicht um die Sicherheit seiner Fahrgäste
kümmert.«
»Als Fahrlehrer«,
erwiderte er, »brauche ich mich laut Gesetz nicht anzuschnallen,
falls ich mich hinüberbeugen und Ihnen ins Lenkrad greifen
muss.«
»Oh. Passiert das
oft?«
»Oft
genug.«
Während ich seine
Anordnungen befolgte – die Nächste links, die Nächste rechts -,
fuhr ich durch die staubigen Gassen von Spongano, einem Ort unweit
von Andrano, in dem Rocco wohnte. Es war Mittagszeit, mitten im
Frühling, und die Sonne stand hoch am Himmel und brannte
erbarmungslos auf uns herab. Wie jedes weiße Dorf im Salento war
auch Spongano ein Geisterdorf, das Siesta hielt. Bis auf ein Kind,
das Fußball spielte, und ein paar streunende Katzen lag der Ort
vollkommen verlassen da. Wir konnten nicht mal ein Auto finden,
hinter dem wir das Rückwärtseinparken hätten üben
können.
»Sie fahren viel zu
schnell«, verkündete Rocco.
»Ich bin nie
schneller als sechzig gefahren.«
»Für die Prüfung ist
das zu schnell. Sie müssen kriechen.«
Ich schaltete in den
dritten Gang, und Rocco entspannte sich in seinem
Schalensitz.
»Ich weiß, dass Sie
schon lange Auto fahren, aber bei der Prüfung darf man nicht normal
fahren. Das ist zu schnell. Sie müssen versuchen, zu Ihren Anfängen
zurückzukehren.«
Wenn man schon seit
zwölf Jahren Auto fährt, ist das leichter gesagt als getan. Denn
wenn man die Angewohnheit hat, mit nur einer Hand am Steuer
rückwärts einzuparken, fällt es einem plötzlich sehr schwer, beide
Hände zu benutzen. Meine Arme kamen sich in die Quere, und zum
ersten Mal seit Jahren streifte ich den Bordstein, was nicht ganz
unproblematisch war, da der Bordstein in Spongano identisch mit
einer Hauswand ist. Ich musste auch jene schlechten Angewohnheiten
ablegen, die man sich mit der Zeit zulegt, wie den unregelmäßigen
Gebrauch des Blinkers, das Vertrauen in Seitenspiegel oder das
Lenken mit einer Hand, während sich die andere am Fensterrahmen
abstützt. Das war beinahe so schwer, wie das Fahren neu zu lernen.
Wie sagte Rocco so schön? Ich riskierte es durchzufallen, weil ich
zu gut Auto fuhr.
Ein paar Tage später
unternahmen wir eine weitere Probefahrt, bei der ich kein einziges
Mal in den vierten Gang schaltete, einem Straßenköter anzeigte,
dass ich abbiegen wollte, und an einer orangefarbenen Ampel hielt,
statt zu beschleunigen – ich war soweit, die Prüfung ablegen zu
können. Am nächsten Morgen holte mich Rocco in aller Frühe ab und
fuhr mich nach Lecce. Der Mann, der mir Langsamkeit gepredigt
hatte, raste wie ein Wahnsinniger. Als er einen Audi überholte,
während er mit einem entgegenkommenden Laster »Hasch mich« spielte,
war ich versucht, auf die zweite Bremse vor meinen Füßen zu
treten.
Nachdem wir die
Zulassungsstelle erreicht hatten, ging ich hinter ihm um das
Gebäude herum und suchte nach einem unbesetzten Büro. Ich selbst
war es gewohnt, auf einer italienischen Behörde unsichtbar zu sein,
aber diesmal fehlten die Beamten. Als wir endlich jemanden
entdeckten, sagte man uns, dass der heutige Prüfer – Gott sei Dank
nicht Signor Pozzo, der mir sicherlich befohlen hätte, einen
Fußgänger zu überfahren, um zu sehen, wie ich mit der Hämorrhagie
zurechtkam – gerade nicht da sei, da er eine Prüfung abnahm. Wieder
auf dem Parkplatz, warteten wir mit sieben anderen Fahrlehrern und
ihren nervösen Zöglingen darauf, dass es endlich losging. Eine
sengende Aprilsonne veranlasste uns zu einer Art Striptease. Jacken
wichen Pullis und Pullis kurzärmeligen Hemden. »Vestirsi a cipolla«, nennt das Daniela, wenn man
sich im Zwiebellook kleidet.
Ein Fiat Punto, der
von einem vorsichtigen Schüler gefahren wurde, schlich auf den
Parkplatz. Am Wagendach war kein Schild angebracht, das vor
Anfängern warnte. Stattdessen waren seine Türen mit magnetischen
autoscuola-Schildern geschmückt, von
denen eines auf dem Kopf stand. Als das Auto hielt, um den Prüfer
aussteigen zu lassen, stürzten sich sieben Fahrlehrer darauf wie
Paparazzi und scharten sich um eine junge Frau – die esaminatrice -, die vom Rücksitz kletterte wie ein
Filmstar bei einer Premiere. »Die Reihenfolge ist mir egal«, rief
sie dem bellenden Rudel zu. »Macht das unter euch
aus!«
Die Frau bahnte sich
ihren Weg zum Wagen eines Fahrlehrers, der sie am Arm gepackt hatte
und ihr gar keine andere Wahl ließ. Dieses Beispiel von Demokratie
veranlasste die anderen, darunter auch Rocco, zu ihren Wagen zu
rennen und ihren Schülern zuzurufen, sie sollten mitkommen. Als ich
meine Tür schloss, hatte Rocco bereits eine hastige Haarnadelkurve
hingelegt und sich den zweiten Platz in einer aus sieben Autos
bestehenden Schlange gesichert, die langsam den Parkplatz der
Zulassungsstelle verließ. Das erinnerte mich an die Zeit, als sich
die Motorradfahrer um ihre Motorräder prügelten, bevor der Grand
Prix begann. Eine wütende Stimme schrie von hinten: »Was geht hier
vor, verdammt noch mal? Ich war zuerst da, und jetzt bin ich
Vierter. Was für ein System ist das eigentlich?« Ich hätte es nicht
besser formulieren können.
Passanten müssen
unsere Prozession von autoscuola-Autos
für einen Trauerzug für jemanden von der Zulassungsstelle gehalten
haben. Rocco schnitt dem ersten Wagen den Weg ab, um zu verhindern,
dass er überholt wurde und seinen kostbaren zweiten Platz verlor.
Eine Taktik, die beinahe nach hinten losgegangen wäre, weil der
Prüfling zu schnell hochschaltete und den Wagen abwürgte, der auf
unseren zugerollt kam. Der danebensitzende Fahrlehrer hatte
offensichtlich keine Zeit mehr gehabt, die zweite Kupplung zu
treten, etwas, das Giovanni laut Daniela bei Fahrprüfungen
wiederholt getan hatte. Seine Hilfe beschränkte sich also nicht nur
auf Theorie-Prüfungen.
»Cazzo!«, rief Rocco und stieg auf die Bremse.
Motorhauben schossen hinter uns nach rechts und links, was auch
nicht gerade dazu beitrug, die Nerven des Prüflings im ersten Wagen
zu beruhigen, dem gerade klar wurde, dass er beinahe sieben Autos
hatte ineinanderkrachen lassen, bevor er den Parkplatz der
Zulassungsstelle überhaupt verlassen hatte. Als ich Rocco fragte,
ob die Prüferin den Jungen für das Motorabwürgen bestrafen würde,
sagte er, sie sei bestimmt viel zu sehr damit beschäftigt, mit dem
Fahrlehrer zu flirten, um es überhaupt zu bemerken. »Diese Frau
kann es kaum erwarten«, sagte er mit einem dreckigen Lächeln.
»Fahren Sie einfach bloß langsam und bauen Sie keinen Unfall, den
Rest erledige ich.« Aber der Prüfling bekam gar keine Chance, noch
einen Fehler zu machen, denn ein paar Minuten später, nachdem er
Lecce gerade erst erreicht hatte, hielt er am Straßenrand, wo seine
Prüfung ein erfolgreiches Ende nahm.
Während die Prüferin
die Dokumente des Jungen vervollständigte, was länger dauerte als
die gesamte Fahrprüfung, tauschten Rocco und ich die Plätze, um uns
auf meine Prüfung vorzubereiten, die hoffentlich genauso kurz
ausfallen würde wie die, die ich gerade beobachtet hatte. Unsere
Karawane blockierte die gesamte Spur einer stark befahrenen Straße,
und die sich dahinter stauenden Autofahrer fluchten und drückten
auf ihre Hupen. Der von den Wohnblocks an der Straße noch
verstärkte Lärm ließ die Ladenbesitzer auf den Bürgersteig und die
Hausfrauen auf ihre Balkone eilen. Der ganz normale Wahnsinn ging
wieder los, nur dass diesmal sämtliche Scheinwerfer auf mich
gerichtet waren.
Rocco wartete beim
ersten Wagen, bis die Prüferin den Papierkram erledigt hatte. Als
sie damit fertig war, öffnete er die Wagentür und geleitete sie zu
seinem Fiat – und verhinderte mit dieser ritterlichen Geste, dass
ihm ein anderer Fahrlehrer zuvorkam. Weil sie von dem vielen Hupen
abgelenkt wurde, sah die Frau die Straße hinunter und merkte, dass
die autoscuola -Autos den gesamten
Verkehr aufhielten.
»Erzählen Sie mir
bloß nicht, dass Sie mir alle gefolgt sind!?«, rief sie
entsetzt.
»Kümmern Sie sich
nicht um die anderen«, entgegnete Rocco ausweichend. Er freute sich
auf einen frühen Feierabend und wollte auf keinen Fall zur
Zulassungsstelle zurückgeschickt werden. Er wechselte das Thema,
indem er der Frau sagte, dass sie fantastisch aussehe, während er
sie wenig ritterlich in den Rücksitz seines zweitürigen Fiats
drückte – eine Unverschämtheit, die nur gespielten Protest
hervorrief.
Wie sich bald
herausstellte, war Roccos Bemerkung über die Mannstollheit der Frau
absolut zutreffend. Es war die Prüferin, die geprüft werden
wollte.
»Warum kaufen Sie
sich keinen Viertürer, Rocco?«, beklagte sie sich und brachte ihre
Lockenpracht wieder in Ordnung. »Ich komm in diese Kisten einfach
nicht mehr rein. Ich habe zugenommen. Hier.«
Sie fuhr an ihren
Schenkeln entlang, die in knallengen Jeans steckten.
»Sei perfetta, signora«, beruhigte sie Rocco und
schloss die Tür.
»Assolutamente perfetta.«
In Wahrheit war die
wenig elegante Mittdreißigerin vollkommen unscheinbar, aber solange
sie in Roccos Fiat saß, war sie für ihn Sophia Loren. Als sie nicht
sehr höflich fragte, wer ich sei, befürchtete ich schon, sie habe
etwas gegen meine Anwesenheit – jetzt, wo sie ihren Mantel
ausgezogen und ein Liebesnest auf dem Rücksitz damit gebaut hatte.
Aber dann sah ich, dass sie eine Liste mit Namen in der Hand hielt
und wirklich wissen wollte, wer ich war.
»Chris Harrison«,
entgegnete ich und sprach das H dummerweise mit aus.
Sie überflog die
Liste.
»Mi scusi?«
»Crris Arrison«,
verbesserte ich mich rasch.
Nach einer kurzen
Suche fand sie meine Akte, starrte mein Foto an und beugte sich
dann zwischen den Sitzen nach vorn.
»Würden Sie bitte
Ihre Sonnenbrille abnehmen, Crris?«, bat sie mich, nicht ohne
hinzuzufügen: »Habe ich Ihren Namen richtig
ausgesprochen?«
»Perfetto signora.«
Und da ich wirklich
ich war, lehnte sie sich zufrieden in ihrem Sitz
zurück.
»Wenden Sie«, befahl
sie mir, »und fahren Sie dorthin, wo wir hergekommen
sind.«
Ich fuhr eine
langsame, exakte Kurve und vergaß das erste Mal seit Jahren auch
das Blinken nicht. Die fünf noch verbliebenen Fahrschulautos
folgten uns hektisch, eine Formation, die auf die Zuschauerinnen
auf ihren Balkonen wie eine wunderbare Choreographie gewirkt haben
muss. Ohne es zu merken, hatte die Prüferin die Hackordnung
umgedreht, und der Wagen, der vorher als Nächster drangekommen
wäre, war nun der Letzte. Das führte zu einem weiteren wütenden
Gehupe, das ich möglichst ignorierte, während ich die Straße
hinunterkroch.
Meine Prüfung
dauerte ganze zwei Minuten, von denen ich die meiste Zeit an einer
Ampel stand. Nach einmal Linksabbiegen und Rückwärtseinparken –
Lecce ist so platt, dass das Anfahren am Berg entfallen muss -,
fuhr ich auf Befehl der Prüferin rechts ran und parkte ein,
natürlich nicht, ohne vorher zu blinken. Während sie etwas auf
meine Formulare kritzelte, verkündete die Frau, dass es ihrer
Meinung nach vor allem auf die Theorie ankäme, und wenn ich die
bestanden hätte, hätte ich meinen Führerschein auch verdient – ein
ziemlich bizarrer Kommentar von einer praktischen Fahrprüferin. Sie
wühlte in ihrer Handtasche und holte einen Stapel Plastikkärtchen
hervor, die durch einen Gummi zusammengehalten wurden, bevor sie
mir meinen Führerschein mit Foto gab, den ich auf dem
Armaturenbrett unterschrieb. Das Datum auf dem Führerschein war das
Datum der Prüfung. Keine Ahnung, was passiert wäre, wenn ich
durchgefallen wäre.
Sie wünschte mir
»Happy Highways«, griff nach der ihr
von Rocco dargebotenen Hand und kletterte aus seinem Fiat. Er und
ich tauschten die Plätze, und mit quietschenden Reifen von der
Sorte, die Spuren auf dem Asphalt hinterlassen, ließ er sie mitten
auf der Straße stehen, wo sich die übrigen Fahrlehrer sofort um sie
prügelten.
Ich hatte erwartet,
dass die Tortur mit einem vorläufigen Führerschein enden und ich
den echten Führerschein erst nach einer dreimonatigen Warterei auf
die Post in Händen halten würde. Aber Italien steckt voller
Überraschungen. Während wir zu einer Bar rasten, die Rocco kannte,
steckte ich den Führerschein in meine Brusttasche, holte tief Luft,
und all die Monate voller Frust waren auf einen Schlag vergessen.
Ich war stolz auf mich – ich besaß einen italienischen
Führerschein, ohne irgendjemanden bestochen zu haben.