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Eingeschneit am Meer
 
Ahh, das Mittelmeer: Sonne, Strand, Schnee … SCHNEE? Ja, Schnee, und zwar jede Menge. Schnee auf dem Glockenturm, Schnee am Strand und Schnee auf den Ästen des die Sonne liebenden Olivenbaums. Der Mythos Mittelmeer verspricht, dass der Sommer nie vergeht. Aber in Wahrheit ist der Winter bitterkalt und der Sommer brennend heiß.
Es begann Ende Oktober. Die Sonne wurde weniger und die Wolken mehr. Die Tage wurden kürzer und die Nächte länger. Weißer Rauch quoll aus geweißelten Kaminen und tanzte im Wind, bevor er verschwand. Herbststürme zerzausten das Meer, und die Boote wurden aus einem kabbeligen Hafen gefischt. Nur die Olivenbäume behielten ihre Blätter, während das Laub der Vallonea-Eichen innerhalb weniger Wochen ausdünnte, bis sie splitterfasernackt waren. Touristen und nördliche Nummernschilder verschwanden, die Siesta fiel aus, die Läden änderten ihre Öffnungszeiten von der ora solare zur ora legale, La Botte leerte und die Piazza füllte sich. Die Temperatur sank drastisch, aber erst, als es beinahe fror, ersetzte Signor Api sein fleckiges Hemd durch einen Overall und eine Wollmütze mit Ohrenschützern, die so schlaff herabhingen wie die Ohren eines Bassets. Nicht mal sein selbst gekelterter Wein konnte die Extremitäten des alten Mannes vor einem mediterranen Winter schützen, der kälter, länger und grauer war, als ich mir das je vorgestellt hatte.
Auch wenn sich die Landschaft ändert, ist es vor allem der Geruch, der im Absatz des italienischen Stiefels den Winterbeginn markiert. Der Bauernkalender endet Anfang November, wenn die Ernte eingeholt, eingelegt, getrocknet und eingesalzen wird, um sie in der darauffolgenden kalten Jahreszeit zu essen. In überladenen api transportieren die Bauern ihre Feldfrüchte zu ihren Hausfrauen, die Auberginen und Zwiebeln in Essig ertränken und Paprika und Sardellen mit Salz überschütten. Wie schon im Vorjahr drosch der krummbeinige Mann sein Korn am Straßenrand, und seine Frau ging ihm nach, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Andranos Straßen transportieren Geruch genauso zuverlässig wie Geräusche, die Aromen finden ihren Weg in jedes Nasenloch, auch in das der Streuner, die der Hunger in der Salz-und-Essig-Brise regelrecht hypnotisiert.
Auch die sonnengereiften Oliven werden im Herbst geerntet. Mithilfe von besenartigen Vorrichtungen, die sie vom Baum holen, ohne sie zu beschädigen, schütteln die Bauern sie aus den Ästen in Netze, die dann auf bereits wartende Laster verladen werden. Danach werden die Oliven zum frantoio gebracht, wo sie sortiert, gewaschen, gemahlen und geknetet werden, bevor das Öl gepresst und dekantiert wird. Apuliens Olivenbäume produzieren ein Extra-vergine-Öl, das laut Daniela »schmeckt wie die Sonne«. Der Geruch von zermatschten Oliven ist angenehm, aber der Gestank, wenn ihre Kerne verbrannt werden, widerlich. Zum Glück wird in Andrano nur im kleinen Maßstab Olivenöl produziert, trotzdem würgte ich jedes Mal, wenn wir auf dem Weg nach Lecce an den Schloten vorbeifuhren.
Der Geruch der Oliven wetteifert mit dem Geruch der roten und weißen Trauben, die auf Lastern aus den Weinbergen bei Brindisi angeliefert werden – eine Stadt, deren Name »Prost!« bedeutet. Im ganzen Salento schütten Kipplaster ihre Fracht in Keller, wo der Wein in Fässern selbst gekeltert wird. Von Anfang September, wenn die Trauben geerntet werden, bis November, wenn der Wein fertig ist, ist Andrano vom beißenden Geruch fermentierender Trauben erfüllt.
Am 11. November wird dann der vino novello, also der »neue Wein«, auf der Festa di San Martino, die nach dem heiligen Martin und Schutzheiligen der Weinbauern benannt ist, verkostet. Die meisten Andranesi machen ihren eigenen Wein, den sie an San Martino zum ersten Mal probieren und der hoffentlich gut schmeckt, da er ein ganzes Jahr halten muss. Signor Api verkündete, er sei entzückt über sein Erzeugnis. Genauso wie der Filialleiter unserer Bank, Errico, mit dem wir San Martino verbrachten und zu den Klängen eines Banjos sangen, auf dem er meisterhaft spielte. So lange, bis er das fünfte Glas seines selbst gemachten Weins geleert hatte, woraufhin seine Akkorde demselben Zufallsprinzip gehorchten wie die Schlange in seiner Bank.
Bis auf San Martino und das ein oder andere religiöse Fest gibt es im Winter nur selten Gelage, denn dann fallen Orte wie Andrano in Winterschlaf. Während der kalten Monate arbeiten die Andranesi und warten auf die warmen Monate, sie zählen die Tage, bis die Sonne in den Salento zurückkehrt. Das mediterrane Leben kreist um die Sonne und findet im Freien statt. Als Mitte Dezember innerhalb von vierundzwanzig Stunden zehn Zentimeter Schnee fielen, gab es keine Skier oder Schlitten, um das Beste daraus zu machen. Also holten wir uns unseren Kick, indem wir die vigili mit Schneebällen bewarfen und einen Schneemann mit Oliven als Augen bauten.
Gegen Ende des Sommers verblassten die Freundschaften wie unsere Sonnenbräune, da viele Andranesi zu ihren weit verstreuten Jobs oder an die Universität zurückkehrten. Unsere Sommer-Clique verlor ihren Anführer Riccardo, der versetzt wurde, um das Verbrechen in einem berüchtigten Mafianest unweit von Palermo zu bekämpfen – etwas, worum ich ihn wahrhaftig nicht beneidete. Diejenigen, die blieben, blieben unter sich. Der einzige Freund, den ich sommers wie winters regelmäßig sah, war Renato, der mich bei jedem Wetter beim Tennis schlug.
Ich fand es unglaublich, dass wir in einem Ort mit 5000 Einwohnern beinahe den ganzen Winter verbringen konnten, ohne zufällig auf jene Freunde zu stoßen, mit denen wir den Sommer verbracht hatten – die, die weggezogen waren, natürlich ausgenommen. Vielleicht, weil wir in einem gewissen Sinn auch weggezogen waren und es bevorzugt hatten, ein Haus am Meer zu mieten statt eines im Ort. Wir waren nach Andrano zurückgekehrt, um Valeria mit Franco zu helfen, aber das bedeutete nicht, dass wir alle unter einem Dach leben mussten. Wenn ich schon in einem italienischen Fischerdorf wohnte, dann am Meer, auch wenn das Wetter verrückt spielte, Salzgischt aufbrandete und die Wellen bis auf die Straße rollten.
Als Andranos Bewohner also im Klammergriff der Kälte ihre Autos vollluden und den Hügel hochfuhren, um in ihre Winterresidenzen zurückzukehren, beluden Daniela und ich unser Auto und rollten den Hügel zu einem Haus hinunter, das für den Sommer gebaut worden war. Natürlich zerrissen sich die Leute darüber das Maul, wie immer, wenn man in Italien gegen den Strom schwimmt. Wir wurden für dumm erklärt, und von Daniela hieß es, sie täte plötzlich Dinge, die sie noch nie getan hatte, bevor ihr australischer Freund gekommen sei. Ich wurde mit Misstrauen beäugt und für verrückt erklärt, weil ich bei hohen Wellen im Meer schwimmen ging – und das, ohne nach dem Essen mindestens zwei Stunden zu warten! Aber niemanden ließ das kälter als uns. Unser extremer Lebensstil führte zu einer Solidarität, die uns zuerst zu Freunden und dann zu Liebenden machte.
Das Strandhaus fanden wir mithilfe der in Italien höchsteffektiven Gerüchteküche. Ein Freund eines Freundes hatte gehört, dass wir so etwas suchten, und bot uns seine Dreizimmervilla mit Blick auf La Botte für gerade mal 150 Euro pro Monat an. Sie stand direkt an der gewundenen Straße, die von Andrano zum Hafen führt. Das zweistöckige Gebäude mit den weißen Wänden und roten Fensterläden war wie die meisten Strandhäuser nur für den Sommer gedacht. Die Möbel, die es enthielt, waren nicht besonders bequem, sodass wir den ersten Tag als Mieter damit verbrachten, Betten zu reparieren, Matratzen zu ersetzen und die Fenster und Türen zu versiegeln, damit der Winter draußen blieb. Die Dekoration bestand aus religiösem Kitsch. Nachdem wir uns gemerkt hatten, wo die Bilder hingen, um sie gegen Ende unseres Aufenthalts wieder an ihren ordnungsgemäßen Platz zu hängen, entfernten wir die Kruzifixe, den Wandteppich mit dem letzten Abendmahl und eine sechzig Zentimeter hohe Porzellanfigur der Madonna.
Das Strandhaus besaß keine Heizung, aber ein Kamin beheizte zumindest das Wohnzimmer. Lage und Panorama waren uns wichtiger als Komfort, und die bis zum Boden reichenden Fenster, vor denen sich ein Balkon befand, bescherten uns eine fantastische Aussicht für ein Almosen. Links funkelte Castro, dessen Burgruine nachts angestrahlt wurde. Fischdampfer fuhren bei jedem Wetter hinaus. Zur Rechten lagen die vom Torre del Sasso gekrönten Olivenhaine, und auf der anderen Seite des mit weißen Häubchen übersäten Mittelmeers sah man ohne den sommerlichen Dunst in der Ferne die schneebedeckten albanischen Berge.
Wir frühstückten und beobachteten rote Tanker, die aus Afrika und Griechenland kamen und italienische Häfen wie Venedig und Triest ansteuerten. Daniela kaufte mir ein Fernglas, damit ich die Namen der tagsüber vorbeifahrenden Schiffe lesen konnte, und ich schenkte ihr ein Teleskop, um damit nachts Sterne zu beobachten. Im Winter brannten nur wenige Lichter unten am Hafen, sodass man den Himmel ideal beobachten konnte. Das war eine willkommene Abwechslung nach der Wohnung in Mailand, mit ihrer klaustrophobischen Aussicht auf Karrieresüchtige in ihren Bädern.
Die Adresse weiß ich bis heute nicht. Der Straßenname war auf das Steinmosaik gepinselt worden, aus dem unsere Fassade bestand, aber einige Buchstaben waren verblasst, und die Worte waren unlesbar. Das Haus besaß keine Hausnummer, was aber weiter keine Rolle spielte, da der Postbote so ein abgelegenes Gebäude sowieso nicht belieferte. Unsere gesamte Post ging zu Valeria, die das Fehlen unserer Hausnummer locker wieder wettmachte, indem sie gleich drei besaß: Irgendjemand vom municipio war durch den Ort gegangen und hatte jede Tür mit einer Hausnummer versehen. Sogar ihre Garage besaß eine eigene Adresse.
Es gab kein Trinkwasser und keinen Anschluss an die Kanalisation, aber einen Wassertank und einen pozzo nero, eine Sickergrube, unter dem Haus. Beides war dankenswerterweise durch eine dicke Zementmauer voneinander getrennt. Ein Laster kam, um uns Wasser zu bringen, ein anderer, um das Abwasser wegzufahren. Die Laster sahen identisch aus, nur mit der Nase konnte man sie voneinander unterscheiden. Der Fahrer des Wasserlasters war der Vater eines früheren Schülers von Franco, also bekamen wir mit jeder Lieferung auch noch einen Sack Kartoffeln aus eigenem Anbau. An wirklich kalten Tagen erhitzte er die Leitung, durch die er das Wasser pumpte, damit es nicht zwischen seinem Laster und unserem Tank einfror.
Den Fahrer des Fäkalien-Fahrzeugs sah ich nie, weil er bei Sonnenaufgang kam, um den Nachbarn den Gestank zu ersparen. Eine Geste, die er bei uns nicht hätte aufrechterhalten müssen, da unsere einzigen Nachbarn ein Liebespaar waren, das zweimal die Woche die Wohnung über uns benutzte. Jeden Dienstag und Donnerstag tauchten nach Einbruch der Dunkelheit in einem zeitlichen Abstand von zehn Minuten ein dickbäuchiger Architekt und seine gut gebaute junge Geliebte auf. Sie parkten hinter dem Haus, um ihren Frevel und ihre Fahrzeuge den Blicken der Öffentlichkeit zu entziehen. Sie blieben je nachdem, wie es um das Durchhaltevermögen des Architekten bestellt war, rund eine Stunde, bevor sie wieder im Zehnminutenabstand zu ihren Autos zurückkehrten. Als der Frühling die Menschen wieder zum Hafen lockte, kündigte der Architekt Apartment und Affäre, bis es wieder Herbst wurde, der Hafen verlassen dalag und beides wieder aufgenommen wurde.
Bis auf unsere nächtlichen Nachbarn besaß das Haus mehr streunende Tiere als funktionierende Elektrogeräte. In erster Linie Katzen, die die Sommermieter gefüttert hatten und die jeden Tag an die Tür kamen und flehentlich miauten, bis ihre Mäuler gestopft wurden. Es gab auch einen Welpen, von dem nichts im Mietvertrag gestanden hatte. Er war hinter dem Haus ausgesetzt worden, und weil ich die Hündin unter einem Olivenbaum gefunden hatte, nannte ich sie Olive. Wie sich jemand von diesem Tier hatte trennen können, war mir ein Rätsel. Sie war fantastisch, eine cremefarbene Promenadenmischung mit grünen Augen und einem rosa Näschen, das auf der Suche nach Nahrung ganz schmutzig geworden war.
Obwohl wir damals bei Valeria bereits Freccia hatten, gab es in unserer Arche noch Platz für einen weiteren Hund. Also adoptierten wir Olive – oder umgekehrt – und gaben ihr zu fressen und Auslauf im Garten. Die Ironie, ein Haus am Hang voller Streuner zu mieten, bestand darin, dass der Mietvertrag Haustiere verbot. Unser Vermieter hatte die Angewohnheit, ohne Vorwarnung aufzutauchen, um im Garten zu arbeiten, und so sah ich mich manchmal gezwungen, Olive zu verstecken wie einen politisch verfolgten Flüchtling. Einen Großteil dieses Buches schrieb ich im Arbeitszimmer, während sie zusammengeringelt auf meinem Schoß lag und ich meine Hand um ihre Schnauze gelegt hatte, damit sie nicht bellte und uns verriet. Schließlich gab ich sie in die Obhut einer vertrauenswürdigen Kollegin Danielas, die trotz ihres Schwurs, sie mit einem halben Jahr sterilisieren zu lassen, immer noch ein Zuhause für acht Welpen sucht.
Als wir das Haus besichtigten, gab es eine Waschmaschine. Als wir einzogen, gab es keine mehr. »Da war nie eine«, behauptete der Vermieter, ein verschlagener, trollartiger Mann mit hängenden Schultern und fauligen Zähnen, der rauchte wie ein Schlot. Als er das Fehlen der Waschmaschine endlich zugab, behauptete er, er habe uns bei der Besichtigung missverstanden. Als Daniela auf das rostige Ding gezeigt und gefragt hatte: »Funziona?«, habe er angeblich gedacht, sie meine die Steckdose, an der sie befestigt war. Natürlich. Statt uns eine neue Waschmaschine zu kaufen, brachten wir unsere schmutzige Wäsche zu Valeria, die sich immer noch weigerte, Unterhosen einer bestimmten Farbe zu waschen.
Unter den Geräten, die ebenfalls noch da waren, war die Wasserpumpe das unzuverlässigste. Sie sorgte nur für ein müdes Tröpfeln, was sich, wenn man darunter stand, eher wie eine Foltermethode als wie eine Dusche anfühlte. Und die paar Tropfen, die herauskamen, waren auch noch kalt, weil der Boiler ebenfalls nicht richtig funktionierte. Da lagen ja am Straßenrand modernere Geräte herum! Einen Klempner zu rufen, damit er kaputte Geräte repariert, kann in kleinen Orten wie Andrano eine höchst frustrierende Angelegenheit sein. Da es im näheren Umkreis so gut wie keinen Wettbewerb gibt, muss man unweigerlich denselben Verbrecher beauftragen, der das Gerät installiert hat. Oder aber seinen Sohn oder Enkel, der den Betrieb geerbt hat. Dieser Mensch ist in der Regel ein compare oder Cousin zweiten Grades, der größeren Aufträgen den Vorzug gibt, weil sie sich rechnen und man sich damit favori für die Zukunft erwirbt.
Daniela rief einen Klempner an, der genauso träge war wie unsere Wasserversorgung. »Meine Frau hat Besuch aus Palermo«, jammerte er, »bitte lassen Sie mich nicht jetzt rausfahren, sonst regt sie sich auf. Ich habe mich erst seit Kurzem wieder mit ihr versöhnt.« Nach einer Woche mit ähnlich lahmen Ausreden tauchte er endlich auf, sagte, er habe nicht die richtigen Ersatzteile dabei, um den Boiler zu reparieren, und würde nächste Woche wiederkommen.
Eine Woche später funktionierte unser Boiler, aber wenn ich ihn benutzte, klang er, als brumme eine Vespa in unserem Haus herum. Das lag daran, dass es kein Wasser gab, das er hätte erhitzen können, weil die Pumpe immer noch nicht richtig arbeitete. Das würde laut dem Klempner auch so bleiben, bis weitere teure Reparaturen getätigt würden.
Trotz technischer Mängel hatte das Strandhaus Charme. Weit weg von zu Hause, aber nah bei Daniela genoss ich den mediterranen Winter in einem Sommerhaus. Eine Zentralheizung hätte nicht schaden können, aber wie die Mieter über uns, die kamen und gingen, froren wir nur selten. Und erst recht nicht, als wir am Meer eingeschneit waren.