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Barzinis Herausforderung
Der ältere Herr aus
Neapel suchte jedes Mal umständlich nach seinem Stock, wenn wir in
Turbulenzen gerieten, und rief mit einem derartig nervösen
Entsetzen »Wo ist mein Stock?«, dass ich mich jedes Mal gezwungen
sah, ihn zu suchen und ihn ihm zu reichen. Der kahlköpfige
Passagier mit Sommersprossen auf der Glatze und einem Hörgerät
hatte sich schon beim Start des Flugs nach Rom beliebt gemacht, als
das Dach unseres Jumbos zu lecken begann. »La
Madonna!«, hatte er ausgerufen, nach seinem Stock gegriffen
und sich vor den Wassertropfen geschützt, indem er sie
aufspießte.
Angesichts der alten
Mr.-Bean-Folgen und der
Hollywood-Schinken waren mir die Possen meines Reisegefährten
wesentlich lieber als das offizielle Unterhaltungsprogramm. Er
besaß dasselbe Temperament wie mein Italienischlehrer Giacomo, mit
dem ich das letzte halbe Jahr jede freie Minute verbracht hatte.
Der ebenfalls aus Neapel stammende Giacomo – der mir übrigens
gratis Privatstunden gab, nachdem er von meiner Liebesgeschichte
gehört hatte und sich als Italiener fast dazu verpflichtet fühlte,
mir zu helfen – war ein Komiker und Exzentriker, der eher den
Regeln des Kabaretts gehorchte als denen der Grammatik. Obwohl ich
sagen muss, dass seine Methode, Verben auf Tonband zu singen,
hervorragend dazu geeignet ist, diese auch zu behalten. Nach
unserer letzten Unterrichtsstunde hüpfte er auf dem Bürgersteig vor
seiner Sprachenschule im Zentrum von Sydney auf und ab und rief:
»Buona fortuna!«, als mein Bus losfuhr.
Er war der lebende Beweis für Orson Welles’ Behauptung, dass es in
Italien 50 Millionen talentierte Schauspieler gibt, die einzig
schlechten finde man nur auf der Bühne und beim Film.
Eine Woche später,
unter dem tropfenden Dach des Jumbos, benutzte ich ein Buch als
Schirm und nippte an einem Glas Wein, zu dem mich mein
neapolitanischer Freund einladen wollte, bis er begriff, dass es
das gratis gab. Er selbst ließ sich ständig nachfüllen, indem er
die Regentropfen mit seinem Glas auffing. Mit der lauten Stimme
eines Schwerhörigen stellte er sich mir als Aurelio vor und fragte,
was mich nach Italien führe. Aus Höflichkeit musste ich meine
Antwort laut herausschreien, sodass sämtliche Passagiere um mich
herum gezwungenermaßen ebenfalls von Daniela erfuhren – Daniela mit
einem L: Man muss lächeln, um ihren Namen korrekt
auszusprechen.
Ich muss gestehen,
dass ich die Zeile »ihr Name jagte mir das Blut wild durch die
Adern« von James Joyce gestohlen habe. Das dürfte ihm jedoch nichts
ausmachen, schließlich war er nicht ganz unbeteiligt an meiner
Bekanntschaft mit Daniela. Nachdem ich an der Universität von
Sydney den Ulysses und andere irische
Werke der Literatur studiert hatte, ging ich nach London, von wo
aus ich mich aufmachte, die Irische See zu überqueren, um einen
Drink am Wasserloch meiner Lieblingscharaktere aus den Dublinern zu nehmen.
Das Johnny Fox ist
ein altmodischer, aber gut besuchter Pub in den Hügeln über Dublin
und war früher einmal das Stammlokal der irischen Rebellen.
Zwischen seinen Holzmöbeln und seinem faszinierenden Krimskrams,
angefangen von leeren Petroleumfässern bis hin zu gusseisernen
Bettgestellen, genießen die Dubliner hier den rustikalen Charme zu
ihrem Guinness.
Unter der niedrigen
Decke des gut gefüllten Pubs stand dichter Qualm, während sich die
Leute weiter unten dicht an dicht um die Fenster
scharten.
Bei typisch irischem
Wetter genoss ich ein typisch irisches Schauspiel. Man braucht
nicht lange, um einen Zusammenhang zwischen dem Wetter und der
nationalen Lieblingsbeschäftigung der Iren zu erkennen – es gibt
sogar Iren, die einem weismachen, der charakteristische weiße
Guinness-Schaum sei eine extrem tief hängende Wolke.
Mit einem langen
Quietschen ging die Holztür des Pubs auf, und ein ernüchternder
kalter Luftzug drang herein. Die in sich zusammengesackten
Trinkenden nahmen wieder Haltung an, ja sie wurden regelrecht aus
ihrem Stupor gerissen, als der trübe Dubliner Abend mediterranem
Sommer weichen musste.
Sie bewegte sich mit
der Anmut einer sich langsam aufbäumenden Welle, die aufgrund ihrer
Weitgereistheit eine beträchtliche Wirkung entfaltet. Mit drei
Freundinnen im Schlepptau ging sie an die Bar – elegant,
selbstbewusst, zierlich und exotisch – meine erste und letzte
Liebe. Glänzend schwarzes Haar fiel glatt auf ihre Schultern und
reflektierte das Licht, in dem sie erstrahlte. Ihre gebräunte Haut
war zwar dunkel, schien aber jede Finsternis zu vertreiben. Sogar
an ihrem Hals schlug ein kleiner Diamant jeden Schatten in die
Flucht. Oh, sie war eine betörende Mischung aus Fleisch und Stoff:
Sexappeal durch sparsame Kleidung. Ein schlichtes schwarzes
Hemdchen ließ schimmernde Schultern frei, deren Muskeln unter dem
Gewicht der über ihrem Unterarm liegenden Jacke leicht zitterten
wie die Saiten einer Harfe. Und ihre Augen hatten die tiefdunkle
Farbe jener Flüssigkeit, an der ich bei ihrem Auftritt kurzfristig
aufgehört hatte zu nippen.
Neben James Joyce
schulde ich meine Bekanntschaft mit Daniela Arthur Guinness, dem
Zufallserfinder jener mal schwarz, mal rubinrot schillernden
Flüssigkeit, die auf den ersten Blick eher aussieht wie ein
Maschinenschmierstoff und nicht wie der soziale Schmierstoff, der
sie eigentlich ist, wenn sie in den Blutkreislauf gelangt und man
die Welt in anderen Farben sieht.
Daniela bestellte,
indem sie auf das zeigte, was andere tranken. Die korrekte
Aussprache der verschiedenen Biere bereitete sogar der Anführerin
der vier Italienerinnen auf Urlaub, von denen drei überhaupt kein
Englisch sprachen, Probleme. Daher entschieden sie sich hastig für
Cola und überspielten ihren fehlenden Mut immerhin mit der
richtigen Farbe. Daniela war da schon deutlich hemmungsloser. Sie
zeigte auf mein halbvolles Glas und schickte den Barman
subito zum Guinnesszapfhahn – wie mich,
ein Jahr später, in ihre süditalienische Heimat.
Der einzige Satz,
den ich damals auf Italienisch konnte, hätte mir definitiv eine
Ohrfeige eingebracht, wenn ich so dumm gewesen wäre, ihn
auszusprechen. Zum Glück konnte Daniela ein wenig Englisch, und
zumindest verstand sie mich und konnte sich verständlich machen,
auch wenn wir öfter auf ihr Taschenwörterbuch zurückgreifen
mussten, um unser erstes Gespräch in Gang zu halten. Aber bestimmte
Dinge muss man nicht übersetzen, und so standen wir mehrere Stunden
später an Dublins holzkohleschwarzem Fluss Liffey und betrieben
jene feinfühlige Form der Konversation, bei der so unendlich viel
gesagt wird, ohne dass man ein einziges Wort wechseln
muss.
Daniela hatte noch
einen Tag Urlaub, bevor sie nach Italien zurückmusste, und zwischen
die Sehenswürdigkeiten von Dublin und mein Hotelzimmer packten wir
mindestens ebenso viel in diesen Tag, wie es Joyce mit dem 16. Juni
getan hat – dem berühmten »Bloomsday« in Ulysses, an dem er sich ebenfalls verliebte. Aber
je mehr Stunden verstrichen, desto mehr wurde uns die Entfernung
zwischen ihrer und meiner Welt bewusst. Sie meinte, sie könne
unmöglich auf die Kontinentaldrift warten, um mich wiederzusehen.
Ich liebte diese Bemerkung und wollte ebenfalls nicht
warten.
Ich sah zu, wie
dunkle Wolken ihr Flugzeug einhüllten, und nahm dann eine Fähre
über die tosende Irische See zurück nach London, wobei ich hin und
her schlingerte wie ein Betrunkener.
Kurz darauf kehrte
ich nach Australien zurück, was ein ohnehin schon nicht sehr
wahrscheinliches Wiedersehen noch unwahrscheinlicher machte. Vier
Monate mussten vergehen, bevor Daniela an Weihnachten das erste Mal
nach Sydney kam, obwohl man gewissen Glucken in der Verwandtschaft
weisgemacht hatte, sie würde nach Österreich (Austria) statt nach
Australien (Australia) reisen. Von der darauf folgenden Osterreise
(die in den Augen ihrer Verwandten nur ein weiterer Aufenthalt in
Wien war) einmal abgesehen, dauerte es noch bis Juni, also bis fast
ein Jahr nach unserer Begegnung im Johnny Fox, bis ich diese
Geschichte einem schwerhörigen Mann erzählte, der mit seinem
Weinglas Wassertropfen auffing.
Nachdem wir
Australien und die unwillkommene Dusche hinter uns hatten,
beschloss ich zu lesen – jetzt, wo ich mein Buch nicht mehr als
Schirm missbrauchen musste. Luigi Barzini war ein italienischer
Journalist, der laut vielen Kritikern das beste Porträt Italiens
und des italienischen Nationalcharakters geschrieben hatte.
Angesichts der Nationalität seines Verfassers ist Die Italiener bemerkenswert selbstkritisch und
objektiv und bietet faszinierende Einsichten in die italienische
Lebensart. Hätte ich es allerdings vor Danielas Einladung gelesen,
hätte ich vielleicht nicht so schnell eingewilligt.
Von Anfang an
überschattete Barzini meine Reise in seine Heimat mit Zweifeln und
machte sich über die vergebliche Liebe der Ausländer zu
italienischen Frauen lustig, die »von den Frauen derart angezogen
werden, dass sie häufig Verstand und Sprache verlieren«. Seiner
Meinung nach war ich nur einer von vielen heißblütigen Idioten, der
sich von den »langen, elegant geformten Beinen, dem anziehenden und
ausdrucksvollen Gesicht, dem üppigen Busen, der schlanken Taille
und einem Gesäß, das harmonisch geformten Zwillingsmandolinen
gleicht« einer signorina verzaubern
ließ. Laut Barzini handelt es sich bei den Italienerinnen um
provozierende Geschöpfe, mit denen sich die verliebten Ausländer
»kaum verständigen können und die sie unter Umständen in Verruf und
ins Unglück brächten«. Äh, Käpt’n, können wir bitte schleunigst
wieder kehrtmachen?
Nachdem ich den
ersten Schock verdaut und mehrere Schluck Wein getrunken hatte,
beschloss ich, Barzinis Worte als Herausforderung und nicht als
Warnung zu betrachten. Schließlich schrieb er nur, was ich ohnehin
schon wusste – nämlich dass Danielas und meine Beziehung ein
gewisses Risiko barg. Aber ich war bereit, dieses Risiko
einzugehen, und brauchte keinen Barzini, der mir sagte, dass jede
Verliebtheit irgendwann nachlässt.
Ich setzte alles auf
die Karte Liebe und Abenteuer – zu einem Zeitpunkt, an dem ich mich
vielleicht lieber auf meine Karriere als Journalist hätte
konzentrieren sollen. Ich hatte für eine australische
Sportzeitschrift geschrieben, und der Verleger bot mir noch mehr
Aufträge an. Als ich ihm sagte, dass ich nach Italien zöge, war er
entsetzt. »Was, und das alles wegen einer Frau?« Aber er kannte
ihre Augen nicht. Und Barzini auch nicht.
Meine Eltern dagegen
schon, und sie ermutigten mich, zu gehen. Als ich sieben war, waren
sie selbst recht abenteuerlustig und gingen trotz ihrer guten Jobs
mitsamt ihrer fünfköpfigen Familie für zwei Jahre nach England,
damit mein Vater eine Ausbildung zum Waldorflehrer machen konnte.
Aber damals ging es nach Sussex. Und sie sprachen die Sprache. Ich
zog nach Italien. Und sprach die Sprache nicht. Trotzdem verloren
sie kein einziges negatives Wort über meine Entscheidung. Ich
glaube, sie wussten von Anfang an, dass Daniela etwas Besonderes
ist. Sie zahlten mir sogar den Flug. Barzini und mein Verleger
mögen meinen Entschluss nicht gebilligt haben, aber meine Eltern
waren auf meiner Seite.
Nachdem er mich vor
Daniela gewarnt hatte, warnte mich Barzini vor Italien, indem er
sein Land kritisierte und meinte, die Touristen machten sich ein
völlig falsches Bild vom italienischen Alltag. In einem Land Urlaub
zu machen oder wirklich dort zu leben, ist überall auf der Welt ein
Riesenunterschied. Aber wenn man Barzini glaubt, ist dieser
Unterschied im Hinblick auf Italien so extrem, dass »man die
italienische Lebensweise nicht als Erfolg bezeichnen kann, es sei
denn, man wäre ein vorübergehender Besucher des
Landes«.
Es war nicht meine
erste Italienreise. Ich war schon mehrmals da gewesen und hatte
mich wie die meisten begeisterten Touristen auf Anhieb in die
überschäumende Lebensfreude der Italiener verliebt. Ich war im
Sommer da gewesen, hatte Rom, Florenz und Venedig besichtigt und
die Grandezza des Petersdoms bewundert. Ich war über die bunt
zusammengewürfelte Pracht der Ponte Vecchio geschlendert und hatte
eindeutig zu viel für eine Fahrt mit der Gondel über den Canale
Grande bezahlt. Und jedes Mal war ich nur widerwillig nach Hause
zurückgekehrt und hatte mir sehnsüchtig gewünscht, einmal inmitten
von so viel Kunst zu leben, ohne auch nur eine Sekunde lang zu
glauben, dass ich einmal tatsächlich Gelegenheit dazu
bekäme.
Doch laut Barzini
war ich in eine Falle getappt, die den meisten Touristen zum
Verhängnis wird: Ich hatte Italien nach seinem Sommer-Make-up
beurteilt. Nicht umsonst heißt Make-up auf Italienisch trucco, was wortwörtlich »Trick« bedeutet. Der
wahre italienische Alltag, so Barzini, ist eher trist als schön,
korrupt, ungerecht, unaufgeklärt und unglücklich. Jede farbenfrohe
Tradition besäße eine dunkle Seite. »Es wäre immerhin schon mal ein
Erfolg, wenn er die Italiener glücklich machen würde«, schrieb er.
»Aber das tut er nicht.«
Doch diesmal kam ich
nicht als Tourist, sondern hatte eine Aufenthaltsgenehmigung und
einen Job als Werbetexter einer Mailänder Werbeagentur im Gepäck –
beides hatte mir Daniela verschafft. Ich musste nicht für immer
bleiben, konnte es aber, so lange ich wollte. Diesmal würde ich das
echte Italien kennenlernen und die echten Italiener. Meine Liebe zu
Daniela verhalf mir zu einem Einblick in ihre Welt. Und da ich auch
dann dort sein würde, wenn der Sommer längst vorüber wäre, würde
ich schon herausfinden, ob Barzini ein schlechter Diplomat oder ein
begnadeter Beobachter war. Doch bevor ich in den Norden nach
Mailand zog, würde ich noch einen zweiwöchigen Sommerurlaub mit
Daniela im Süden verbringen.
Ich klappte mein
Buch zu und plauderte mit Aurelio, der mir bestimmte Dinge, die
Barzini über den Unterschied zwischen einem Urlaub und einem Leben
in Italien geschrieben hatte, bestätigte. In lückenhaftem Englisch
und gewähltem Italienisch erzählte er Geschichten über seine
Heimatinsel Ischia, darunter auch die, wie sein Onkel, der höchst
unzufrieden mit der ungenügenden Wasserversorgung (costipato, wie Aurelio es nannte) einen Klempner
bat, der Sache auf den Grund zu gehen. Als sie eine Wand
aufschlugen und dem Rohr zur Hauptleitung folgten, entdeckten sie
ein merkwürdiges Bypass-System, das das Wasser erst zu einer Villa
und dann zu einem Hotel leitete und nur wenige Tropfen für die
Einwohner des betroffenen Ortes übrig ließ.
Ich fragte mich, wie
viele internationale Besucher wohl ein paar herrliche Tage in
diesem egoistischen Hotel verbracht, über den magischen Golf von
Neapel geschaut und von ihrer Sonnenterrasse aus fröhlich verkündet
hatten, dass sie gut in Italien leben könnten, während die
angestammten Einwohner, frustriert und vergessen, ein Loch in diese
Wand schlugen wie Gefangene bei einem
Ausbruchsversuch.
»Wie haltet ihr das
aus?«, fragte ich Aurelio, der gerade von einem Besuch bei
Verwandten in Melbourne zurückkehrte und somit eine Alternative zu
Ischia hatte, falls es denn nötig würde. »Würden Sie nicht lieber
irgendwo leben, wo solche Dinge nicht passieren?«
»Assolutamente no«, sagte er. »Ischia ist meine
Heimat. Il mare mi parla. – Das Meer
spricht zu mir.«
Als das
Anschnallzeichen aufblinkte und der Flugkapitän stürmisches Wetter
ankündigte, reichte ich Aurelio seinen Stock und bestellte noch ein
Getränk. Während wir mithilfe von Jumbojetmotoren und einem
Becherchen Jacob’s Creek durch die
Nacht donnerten, kam Barzinis Herausforderung zwölf holprige
Flugmeilen pro Minute näher. Mein heimwehkranker Freund prostete
mir ermutigend zu und lachte laut, als ich ihm sagte, Barzini könne
mich mal. Kapitän, volle Fahrt voraus!
»Man merkt sofort,
dass man wieder in Italien ist!«, schrie ein ausgestiegener
Passagier in dem unmöglichen Versuch, die Motoren des
palästinensischen Jumbojets zu übertönen. Wir standen auf der
Rollbahn von Roms Leonardo-da-Vinci-Flughafen, nachdem wir uns
wegen des Lecks in Bangkok verspätet hatten und mit vier Stunden
Verspätung in Italien ankamen, weshalb wir kein Anrecht mehr auf
eine Gangway hatten. Wir sammelten uns unter dem Flügel unseres
Flugzeugs und warteten auf den Bus, der uns zum Terminal bringen
sollte, während eine Verrückte mit Walkie-Talkie uns wie ein
Schäferhund umzingelte und schrie: »No
smoking! No smoking! Links von Ihnen wird gerade das
Flugzeug betankt!«
Von Rom aus musste
ich einen einstündigen Flug nach Brindisi nehmen, zum südlichsten
Flughafen am Absatz des italienischen Stiefels. Aber wegen der
Verspätung hatte ich meinen Anschlussflug verpasst und hatte so nur
noch vierzig Minuten, um den Terminal für die nationalen Flüge zu
finden und den zweiten von wenigen Flügen am Tag zu diesem
Außenposten an der Adria zu erwischen.
Nachdem ich einem
Polizisten, der rauchend vor einem Rauchen-verboten-Schild stand,
ein paar Informationen abgerungen hatte (ich fragte, ob ich ein
Foto von ihm machen dürfe, aber ohne einen Funken Humor sagte er,
es sei nicht erlaubt, am Flughafen zu fotografieren), fand ich den
Check-in-Schalter für Durchreisende, wo ich mit einer
desinteressierten Alitalia-Angestellten in einem knallgrünen Kostüm
um einen Platz im Flugzeug feilschte. Nach einem Dreißigstundenflug
erreichte ich äußerst unansehnlich eine leere Passkontrollkabine.
Ein weiterer Passagier, der es mindestens so eilig hatte wie ich
und sich hier anscheinend auskannte, verschwand durch eine
Seitentür und kehrte mit zwei widerwilligen Polizisten zurück, die
sich über unsere Hast lustig machten, indem sie uns extra langsam
abfertigten.
Mit ihren weißen
Plastikgürteln und Pistolenhalftern über ihren eleganten
dunkelblauen Jacketts strahlten ihre Uniformen sowohl Autorität als
auch Komik aus – sie waren eine Mischung aus Superheld und
Schießbudenfigur. Ohne uns auch nur im Geringsten zu beachten,
öffneten die beiden wie nebenbei unsere Pässe, überflogen den
meinen derart flüchtig, dass sie nicht mal merkten, dass sie ihn
verkehrt herum hielten, und schlenderten dann im selben Tempo
davon, mit dem sie gekommen waren. Nachdem ich Monate damit
verbracht hatte, mir die notwendigen Dokumente zu beschaffen, war
meine Ankunft in Italien unhinterfragt und ohne den notwendigen
Stempel in meinem Pass nahezu unbemerkt vonstatten gegangen. Wochen
später sollte mir das bei der Meldebehörde noch gehörige
Schwierigkeiten machen.
Zwanzig Minuten vor
dem Abflugtermin fand ich mein Gate und setzte mich zu den anderen
Passagieren, zu denen Nonnen, Priester, Kinder, ein Dackel, eine
Jugendfußballmannschaft, Urlauber und Heimkehrende zählten. Ein
dicker Mann in einem kastanienbraunen Anzug las eine rosa Zeitung
und rauchte eine dicke Zigarre, und zwar wie der Polizist direkt
unter einem Schild, auf dem »Rauchen verboten« stand -, und das mit
einem Bußgeld drohte, das niedriger war als der Preis für eine
Schachtel Zigaretten.
Eine Durchsage
verkündete, dass das Gate geändert worden war, und die meisten
Passagiere gingen zu einem neuen Wartebereich und tauschten mit
einer Reisegruppe, die nach Venedig wollte. Kurz darauf tauschten
wir erneut mit Reisenden nach Palermo und später mit Passagieren,
die nach Turin wollten. Eine vierte Durchsage bat unsere amüsierte
Gruppe, die bereits das Gefühl hatte, man habe sich einen Spaß mit
ihr erlaubt, zurück zum ursprünglichen Gate. Dort traf ich den
dicken Mann wieder, der immer noch an seiner Zigarre lutschte und
Zeitung las. Ein Wunder, dass er kein Loch hineingebrannt
hat.
Eine weitere
Durchsage informierte die Passagiere, dass unser Flug große
Verspätung habe und unsere Platznummern und Bordkarten aufgrund
eines Flugzeugwechsels keine Gültigkeit mehr besäßen. Wir dürften
uns hinsetzen, wo wir wollten, solange es nicht der Pilotensessel
sei.
Eine Stunde später
kam ein Bus, der uns zu unserem Flugzeug brachte. »Nur in Italien
kaufe ich ein Flugticket und bekomme eine Busfahrt!«, sagte ein
Passagier, ein Italiener übrigens, trocken. Alle hörten ihn, doch
bis auf mich, den Ausländer, zuckte keiner auch nur mit der Wimper.
Ich sollte mich erst noch an die italienische Angewohnheit gewöhnen
müssen, Kritik über einen menschengefüllten Raum hinweg zu üben,
die weniger dazu diente, ein Problem zu beheben, als das Lamento zu
genießen.
Unser Bus fuhr über
die Rollbahn und kreuz und quer über grasbewachsene, in der Sonne
gelb gewordene Flächen und erreichte ein antiquiert aussehendes
Flugzeug – eine MD-80, die in der frühen Sommerhitze vor sich hin
kochte. Auf der obersten Stufe der ausfahrbaren Treppe zur
Kabinentür blieb der Passagier vor mir plötzlich stehen und
musterte den im Dunst daliegenden Flughafen. »Signora!«, rief er
der Alitalia-Stewardess zu, die im Schatten der Flugzeugnase stand.
»Ist das ein Koffer da auf der Rollbahn?« Tatsächlich stand in etwa
40 m Entfernung ein einsamer blauer Koffer auf dem Asphalt. Miss
Alitalia ließ den Motor ihres winzigen Fiat Panda aufheulen und
raste auf den flüchtigen Koffer zu. »Solange es nicht meiner ist«,
sagte der Mann, der ihn entdeckt hatte, während wir uns in die
Kabine einreihten und auf alles gefasst waren.
Ich entschied mich
für einen Fensterplatz, von dem aus ich eine gute Sicht auf die
Rollbahn hatte. Dort fiel eine Frau mittleren Alters gerade in
Ohnmacht, nachdem sie aus dem Bus ausgestiegen war. Ihre Tochter
machte das Spektakel komplett, indem sie sich auf sie warf und
weinte, als sei ihre Mutter soeben verstorben. Sanitäter eilten im
Schatten eines der Flügel herbei und verkündeten, die Frau litte
nur an Flugangst, bevor sie sie und ihre Tochter an Bord
geleiteten.
Als wir anrollten,
bemerkte ich eine Spinne in meinem Fenster, deren Überleben mein
eigenes gefährdete: Dass sie dort Nahrung fand, hieß eindeutig,
dass das Fenster nicht luftdicht war. Aber ich verfügte weder über
die Sprachkenntnisse noch über die notwendige Energie, diesen
achtbeinigen blinden Passagier zu enttarnen. Er schien schon eine
ganze Weile dort zu sein, und obwohl es sichtlich gealtert war,
traute ich dem Flugzug doch noch einen kurzen Trip zu.
Die Motoren
versetzten uns einen solchen Schub, dass wir leicht waren wie eine
Feder, während unter unserem Flügel Segelboote über das Mittelmeer
glitten und die Spinne auf vorüberfliegende Insekten
hoffte.
Das Flugzeug landete
sicher auf der Rollbahn in Brindisi, das 80 Kilometer von Andrano
entfernt war, dem Ort, den ich mir seit fast einem Jahr in Gedanken
ausmalte. Daniela schien es auch kaum erwarten zu können, ihn mir
zu zeigen. Als ich das Rollfeld verließ und den winzigen Flughafen
betrat, sprang sie über ein Geländer in den Passagierbereich,
prallte gegen einen dösenden poliziotto
und hieß mich aufs Herzlichste willkommen. Wären alle
Neuankömmlinge so begrüßt worden, würde Italien bestimmt schnell
vom drittmeistbesuchten Land der Welt zum meistbesuchten aufrücken.
Nach unserer dreimonatigen Trennung vergaßen wir all die Leute um
uns herum. Unsere dürstenden Lippen waren weich, unsere Augen
geschlossen, unser Atem vermischte sich. Ich umarmte sie und ihr
Sommerkleid.
Ein Gepäckband
setzte sich lärmend in Bewegung, und die Passagiere warteten nervös
auf ihr Gepäck, weil sie sich an den flüchtigen Koffer in Rom
erinnerten. »Es gibt nicht mal Gepäckwagen!«, rief ein Mann in
einem Leinenanzug und mit Armani-Sonnenbrille. »Ein Norditaliener«,
flüsterte mir Daniela zu. »Aus Padova. Das höre ich an seinem
Akzent.« Wie ich später erfahren sollte, gibt es eine tiefe
Abneigung zwischen Nord- und Süditalien, die Daniela noch am
eigenen Leib erfahren sollte, als wir nach Mailand zogen. Aber ich
wusste zu diesem Zeitpunkt nur, dass die Bemerkung des Mannes
sowohl arrogant als auch korrekt war.
Falls Sie vorhaben,
etwas durch den italienischen Zoll zu schmuggeln, sollten Sie einen
weit entfernten süditalienischen Flughafen ansteuern, und zwar zur
Mittagszeit, wenn das Flughafenpersonal, dem es verwehrt wurde,
offiziell Siesta zu halten, genauso im Autopilotmodus funktioniert
wie das Flugzeug, mit dem Sie hergekommen sind. Als Nächstes lassen
Sie sich von Daniela abholen. Mit ihren Armen um meinen Hals und
einem verblüffenden Selbstbewusstsein, denn schließlich hielt sie
sich in einem für sie verbotenen Bereich auf, gebot Daniela dem
unrasierten, schlicht gekleideten Zollbeamten sofort Einhalt. »Da
ist nichts für Sie drin«, sagte sie unverblümt und dirigierte mich
zum Auto, wo sie ihre überschwängliche Begrüßung
fortsetzte.
»Mach das bloß nie
in meiner Heimat«, riet ich ihr unterwegs nach Andrano, während sie
andere Verkehrsteilnehmer verfluchte und erpresste, die keine so
dringenden Bedürfnisse hatten wie wir.
»Wir haben uns doch
nur geküsst.«
»Nein, das mit dem
Zollbeamten.«
»Va bene«, sagte sie gehorsam und begriff, dass ich
noch nicht wissen konnte, dass sie den Inhalt meines Koffers zwar
nicht kannte, aber trotzdem keinerlei Risiko einging, da der
verschlafene Flughafen den Nachmittag über mehr oder weniger
geschlossen war, weshalb der Zollbeamte mehr daran interessiert
war, nach Hause zu seinem Teller Pasta zu kommen, als meine
Unterwäsche zu durchsuchen. Danielas unverschämtes Verhalten hatte
uns einfach allen einen Gefallen getan. Die alten Regeln hatten
ihre Gültigkeit verloren, genau wie es Barzini prophezeit
hatte.
Nach einem kurzen
Bad im Meer brachte mich Daniela ins Bett, wo ich trotz ihrer
Aufmunterungsversuche schlief wie ein Toter. Genau ein Jahr lag
zwischen dem Tag, den wir versucht hatten, so in die Länge zu
ziehen wie »Bloomsday«, und dem, der aufgrund meiner Ungeduld gar
kein Ende mehr nehmen wollte. Unbeabsichtigter- ja, vielleicht
sogar ironischerweise fand meine Reise nach Andrano – zu der es nie
gekommen wäre, wenn Joyce mich mit seinem Ulysses nicht nach Dublin gelockt hätte – am 16.
Juni statt. Dabei hatte meine Odyssee erst begonnen.