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Freccia
 
Ein Luftwaffenjet verließ die Formation, um Solo-Stunts zu fliegen. Er schoss laut über den Himmel, knapp über dem Liebespaar, das sich im hüfthohen Wasser leidenschaftlich küsste und mit seinen Zungen ganz eigene Formationen bildete. Eine Flugzeugshow? Was für eine Flugzeugshow? Manche Italiener kann wirklich nichts von ihren sommerlichen Vergnügungen abbringen.
Wir anderen konnten den Blick gar nicht vom Himmel abwenden. Tausende von Zuschauern hatten die Plakate ignoriert, auf denen stand, es sei unmoralisch, sich von solchen »Todesmaschinen« amüsieren zu lassen, und sich am Strand von San Cataldo unweit von Lecce versammelt, um das Akrobatenteam der italienischen Luftwaffe, Le Frecce Tricolori – die dreifarbigen Pfeile – zu bewundern.
Da ich selbst Kunstflieger bin – leider eines der teuersten Hobbys der Welt -, hatte ich Daniela zu der Show mitgenommen, in der Hoffnung, angenehm überrascht zu werden. Beim Formationsfliegen muss man perfekt kooperieren, etwas, das ich in Italien bisher eher selten erlebt hatte. Kein Wunder, dass Le Frecce Tricolori für eine der schlimmsten Flugzeugshowkatastrophen überhaupt verantwortlich waren, als 1988 im deutschen Ramstein drei Flugzeuge bei einem Formationsmanöver zusammenstießen und ein Flugzeug in die Menge katapultierten, wobei 70 Menschen umkamen und 400 verletzt wurden. Aber die heutige Vorführung war einwandfrei. Die einzigen Fastzusammenstöße fanden anschließend auf den Ausfallstraßen statt, wo Autos und Vespas bei einer Wette, wer am schnellsten zu Hause ist, waghalsige Solo-Stunts der ganz eigenen Art vollführten.
Daniela und ich kamen nach Hause, wo uns vor unserem Tor gleich zwei ungewöhnliche Anblicke erwarteten: Pippos Fiat fehlte, aber dafür hatte sich ein zitternder, dreckiger, völlig abgemagerter Hund eingefunden, der sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten konnte und seinen Mitleid erregenden Kopf gesenkt hatte, als warte er auf das Fallbeil einer Guillotine. Schon eine leichte Brise hätte genügt, um den halbtoten Hund umzuwehen. Ihn wegzuscheuchen war genauso sinnlos, da er so schwach war, dass er ohnehn nur in meine Arme gefallen wäre.
Obwohl es sich um einen mittelgroßen Hund handelte, wog er kaum mehr als ein paar Kilo, die hauptsächlich Flöhen und Zecken geschuldet waren. Selbst heute zucke ich noch zusammen, wenn ich an den Anblick dieses moribunden Mischlings denken muss: ein zerbrechliches Weibchen, dem die Zunge seitlich aus dem Maul hing. Ihre Augen waren verklebt und ihre Nase von zähem Schleim verstopft. Sie war nur noch ein schwer atmendes Skelett, das Fell fiel ihr in Büscheln aus, und Rippen und Hüftknochen standen genauso vor wie die Wirbelsäule, die aussah wie der Griff einer Handtasche, an dem wir sie gleich am nächsten Morgen zum Tierarzt bringen wollten, falls sie nicht noch in der Nacht starb.
Ich trug das Federgewicht in den Garten und legte die Hündin auf ein Handtuch vor der Hintertür. Jeder mühsame Atemzug schien ihr letzter zu sein, und ich muss zugeben, dass ich hoffte, dem wäre auch so. Sie zeigte keinerlei Interesse an Nahrung oder Wasser, so als wisse sie schon gar nicht mehr, was das sei. Aber für alle Fälle stellte ich ihr doch etwas hin. Sie schien es im Liegen genauso unbequem zu haben wie im Stehen, sodass ich, als Daniela gerade nicht hinsah, ein Kissen aus ihrer Abstellkammer klaute. Wir nannten sie nach den dreifarbigen Pfeilen, die wir am Nachmittag bewundert hatten, Freccia – Pfeil, auch wenn wir nicht glaubten, dass sie lange genug überleben würde, um sich diesen Namen zu merken.
Mahatma Gandhi hat einmal gesagt, dass man ein Land danach beurteilen kann, wie es seine Tiere behandelt. Anhand von Freccia hätte er ein verheerendes Urteil über Italien gefällt. Dass die Italiener ihren Müll auf die Straße werfen, kann ich gerade noch tolerieren, aber nicht, wenn dieser Müll noch lebt. Freccia war der Abfall jener egoistischen Hundebesitzer, die es schaffen, jeden Sommer 400 000 Haustiere auszusetzen, nur um ungestört Urlaub machen zu können. Für viele Italiener sind Hunde und Katzen nichts als Wegwerfartikel, die unter Brücken, im Gebüsch oder an Leitplanken gebunden zurückgelassen werden. Und was man von Menschen zu halten hat, die ihren besten Freund verhungern lassen, kann man sich denken.
Wie immer schrecken die Gesetze nur wenige Urlauber davon ab, ihr Haustier auszusetzen, statt es mitzunehmen oder sich um eine vorübergehende Unterbringung zu kümmern. Und da es die meisten Italiener überflüssig finden, ihre Tiere zu sterilisieren, zeugen sie weitere Streuner, die, zumindest im Süden, zu einer richtigen Plage werden können. Im Sommer sah ich oft, wie sich auf dem Burggelände zwei zusammentaten, um sechs oder acht weitere zu zeugen. Solch verantwortungslose Vorfahren besaß auch Freccia. Sie war ein klassischer italienischer Straßenköter, dessen Vater sich gleich nach der Zeugung auf einer Straßenkreuzung aus dem Staub gemacht hatte und dessen Mutter nicht wusste, wie ihr geschah.
Wie die verbeulten Haushaltsgeräte, die überall liegen gelassen werden, gehören räudige Straßenhunde zum Landschaftsbild Süditaliens. Ihre genaue Anzahl lässt sich genauso wenig bestimmen wie die Anzahl der Flöhe in ihrem Fell. Aber man nimmt an, dass etwa ein Viertel aller Hunde auf Sizilien Streuner sind, obwohl »Streuner« nicht gerade das richtige Wort für ausgesetzte Tiere ist. Und es gibt noch mehr ungewollte Katzen als Hunde, die im Müll nach Nahrung suchen, um zu überleben. Der italienische Begriff für ein kleines Dorf lautet un paese di quattro gatti – ein Dorf mit vier Katzen, aber in Andrano sind es bestimmt viertausend.
Die Streuner suchen sich einen Platz, an dem sie Essensreste finden, und streifen umher, bis sich irgendjemand aus dem Dorf ihrer erbarmt. Das kann der Metzger sein oder der Barmann – ja, sogar der Priester besitzt eine »Herde«, die an seine Vordertür kommt, um gesegnet zu werden, und eine weitere, die vor der Hintertür wartet, um gefüttert zu werden. Auf Supermarktparkplätzen suchen sich die Hunde Käufer anhand des Inhalts ihrer Einkaufswagen aus und folgen ihnen zum Auto, in der Hoffnung, gefüttert zu werden. Ich kaufte stets extra Schinken, den die Hunde verschlangen, bevor sie die Verpackung so lange ableckten, bis ihr Aufdruck verschwand. Ein Labrador war so ausgehungert, dass er sogar die Verpackung fraß.
Die meisten Einwohner von Andrano finden einen besseren Ort für ihren Müll als die Tonne, und sobald die Tiere fruchtbare Jagdgründe gefunden haben, bleiben sie ihnen auf immer treu. Eine alte Frau, die in der Nähe der Piazza wohnte, nannte ihr Haus L’Arca di Noè – Noahs Arche – und fütterte ganze acht Straßenhunde – einige mit drei Beinen, einige mit vieren – sowie zehn Katzen. Vielleicht hatten sie die Statue von Padre Pio vor ihrer Tür bemerkt und hofften, ihr Wohlwollen gelte allen Geschöpfen. Wenn einen die Streuner nicht selbst adoptierten, konnte man immer noch sie adoptieren. Jede Woche widmete die Fernsehzeitschrift heimatlosen Tieren eine Seite. Über anderthalb Millionen befanden sich in Tierheimen, verteilt über das ganze Land. Ich hätte sie am liebsten alle genommen, wenn das gegangen wäre. Aber Freccia wollte nur, dass ich einen nahm.
Ich saß bis spät in der Nacht bei ihr auf der Hintertreppe, kraulte sie, während sie eindöste, und hoffte, ihr wenigstens das Ende so angenehm wie möglich zu gestalten. Massenweise Zecken hatten Energie aus ihr herausgesaugt und sie anämisch werden lassen, plumpe Parasiten auf dem Schatten eines Hundes. Ihr geschwollenes Gesäuge bestätigte die Geschichte eines Jungen, der uns erzählte, er habe Freccia vor zwei Tagen im ausgetrockneten Burggraben entdeckt und ihr die Welpen weggenommen, um ihnen ein Zuhause zu besorgen. Die Welpen hatten ihre Mutter ausgesaugt und sie so geschwächt, dass sie nicht mehr die Kraft hatte, sich dagegen zu wehren.
Gegen Mitternacht verließ ich Freccia. Als ich am nächsten Morgen zurückkehrte, hob und senkte sich ihr Brustkorb immer noch, schwach, aber regelmäßig, obwohl sie weder Futter noch Wasser angerührt hatte. Wir hoben sie ins Auto und fuhren mit ihr zu drei Tierärzten, die sich ausnahmslos weigerten, ihr Leiden zu beenden. Ja, sie starb, aber nur aus Hunger. Sie litt an keiner tödlichen Krankheit außer am Ausgesetztsein, ein Schicksal, das sie allein in Apulien mit Tausenden von anderen Hunden teilte. Die Ärzte weigerten sich, sich in das Leben des Hundes einzumischen, und bestanden darauf, sie einen natürlichen Tod sterben zu lassen. Ich hätte von Naturwissenschaftlern ein logischeres Denken erwartet.
Ich appellierte an ihr Mitgefühl, an ihren gesunden Menschenverstand. Freccia starb einen qualvollen Tod, es wäre grausam, ihn nicht zu beschleunigen. Was hatte es schon für einen Sinn, sie wieder aufzupäppeln, wenn sie in naher Zukunft wieder in so einen elenden Zustand geriet? Niemand würde Freccia adoptieren. Es gab nicht einmal genügend Plätze für die gesunden Welpen, die gratis über die Fernsehzeitschrift und über die Schwarzen Bretter in jedem Tierarztwartezimmer vermittelt wurden. Wer würde sein Herz da schon an eine drei Jahre alte Hündin voller Flöhe verschenken, deren Steißbein dermaßen hervorstach, dass sie aussah wie ein Kleiderbügel? Außerdem war sie schon einmal ausgesetzt worden. Caro veterinaio, Italien will dieses Häuflein Knochen nicht!
Daniela rief ihre Freundin Teresa an, die schon drei Streuner aufgenommen hatte, aber keinen Platz mehr für einen vierten hatte. »Egal, was du tust, aber bring sie nicht in den Zwinger«, riet sie ihr. »Da ist sie tot oder auf der Straße immer noch besser dran.« Ich hatte Fotos von den furchtbaren Zuständen in italienischen Tierheimen gesehen, wo zehn oder mehr Hunde in Betonzellen gepfercht werden. Laut Teresa dienen diese Heime nicht dazu, für die Tiere zu sorgen, sondern um sie von der Straße zu holen, wo sie eine Unfallgefahr darstellen. Es wird geschätzt, dass Straßenhunde in Italien jedes Jahr etwa 4000 Unfälle verursachen, die 20 Tote und 400 Verletzte fordern. Das ist die Rache für das Aussetzen, nehme ich an.
In der Zwischenzeit stellte ich mir selbst die nächstliegende Frage – dieselbe, die mir auch die Tierärzte, Teresa und alle anderen stellten, die ich bat, Freccia zu nehmen: Warum adoptierte ich sie nicht? Die Antwort war einfach. Ich wusste nicht, wie lang ich in Andrano bleiben würde. Ich war selbst ein Streuner und konnte ihr schlecht einen Platz anbieten, der mir gar nicht gehörte. Daniela hatte keinerlei Interesse an einem vierbeinigen Erbe, um das sie sich dann kümmern müsste. Aber wenn ich die Hündin in ihrem jetzigen Zustand zurück in den Park brachte, konnte ich sie genauso gut eigenhändig umbringen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als sie zu säubern, sie wieder an Futter zu gewöhnen, ihr die Medizin zu geben, die der Tierarzt empfahl, und zu hoffen, dass sie sich wieder erholte. Die Hintertreppe gehörte ihr, bis sie starb oder sich berappelte. Und wenn sie es schaffte, würde sie als Straßenhund höchstwahrscheinlich irgendwann freiwillig wieder abziehen. Höchstwahrscheinlich.
 
Nachdem ihre Exekution gerade noch mal abgewendet worden war, schlief Freccia zwei Tage lang und wurde nur geweckt, damit wir ihr die in Parmaschinken versteckten Antibiotika verabreichen konnten. Danielas Vorschlag, sie auf diese Weise wieder für Nahrung zu interessieren, war ein durchschlagender, wenn auch teurer Erfolg. Als sich die Hündin zum ersten Mal wieder aus eigenem Antrieb regte, sah ich zum ersten Mal ihre Augen: Zwei haselnussbraune Kugeln, die mich ängstlich und absolut ergeben ansahen. Sie wehrte sich weniger als Daniela, als ich beide zum Waschbecken im Waschraum führte. Wieder trennten uns zwei Kulturen. Daniela war damit aufgewachsen, dass Hunde vor ihrer Haustür starben. Sie hatte nie ein Tier ausgesetzt, aber auch nie eines aufgenommen. Dieses Bad war sowohl für Freccia als auch für Daniela eine Premiere.
Widerwillig und mit Gummihandschuhen hielt Daniela Freccias Kopf, während ich sie von Tausenden von Flöhen und dem Dreck Salentos befreite. Ihr borstiges Fell wurde langsam weicher, aber wir mussten sie noch zwei Mal waschen, bevor die eigentliche Freccia zum Vorschein kam: ein schwarzer volpino, eine fuchsartige Promenadenmischung mit vier weißen Pfoten, einem buschigen Schwanz und einem schmalen, aufgeweckten Gesicht. Als wir sie aus dem dunkelbraunen Wasser zogen, befand sich im Becken genug Erde, um Karotten darin anzupflanzen.
Nach einer Woche war Freccia wieder fit, und nach zwei Wochen besaß sie wieder richtig Elan. Ihrem Schwanz nach zu urteilen, der gegen meine Schienbeine schlug, sobald ich nach ihr sah, hatte sie sich wieder gut erholt. Der Schwanz eines Hundes sagt immer die Wahrheit. Freccia war nicht nur nach Nahrung ausgehungert, sondern auch nach Zärtlichkeit. Sie folgte mir auf Schritt und Tritt und wechselte gern abrupt die Richtung. Doch selbst wenn ich über sie stolperte, verbuchte sie das noch als Körperkontakt. Sie machte kein Hehl daraus, dass der Schinken lecker war, sie aber meine Gesellschaft bei Weitem bevorzugte. Immer wenn ich ihr Essen hinstellte, sah sie zwischen mir und der Schüssel hin und her und schmiegte sich gegen meine Beine. Trotz ihrer Leidensgeschichte war sie äußerst zutraulich und klug und wollte mir aus Dank, verschont worden zu sein, unbedingt gefallen.
Anstatt Siesta zu halten, pflegte ich mich jetzt zu Freccia auf die Hintertreppe zu setzen und ihre Ohren zu kraulen oder sie nach Zecken abzusuchen. Eines Nachmittags, als der ganze Ort schlief, durchbrach Daniela die Stille und schrie »Cristoforo Colombo« aus dem Wohnzimmer. Das war mein Spitzname, wenn es Ärger gab, also zog nicht nur Freccia den Kopf ein.
»Si«, entgegnete ich schüchtern.
»Da sind Flöhe auf dem Sofa meiner Mutter!«
»Die wollen bestimmt nur fernsehen.«
Wir duckten uns erneut, als ein Schuh gegen die Hintertür geschleudert wurde. Am nächsten Tag desinfizierten wir die Möbel, zu denen jetzt auch Freccia und eine Fußmatte gehörten, auf der wir uns nie die Füße abstreiften.
Unser Haus wurde bald zu ihrem Hotel. Wir fütterten Freccia jeden Abend, hauptsächlich mit Essensresten, und ich sorgte dafür, dass es genügend davon gab. Wenn sie satt war, zwängte sie sich durch die Stäbe unseres Tors und verbrachte die Nacht mit dem Rudel von Streunern, zu dem sie vorher gehört hatte. Jedes Mal, wenn ich sie durchs Tor kriechen hörte, dachte ich, ich hätte sie zum letzten Mal gesehen. Aber jeden Morgen lag sie wieder auf der Hintertreppe. Die Vagabundin war zurückgekehrt, ihr Fell voller Kletten und Stacheln. Wahrscheinlich schlüpfte sie mit Absicht durch so viele Hecken wie möglich, denn sie liebte die Aufmerksamkeit, die ich ihr schenkte, wenn ich den halben Vormittag damit verbrachte, ihr das Zeug aus dem Fell zu klauben.
Freccia war ein Rowdy, den man einfach gernhaben musste, ein vierbeiniger Huckleberry Finn. Nur hatte sie die Gabe, nicht nur sich in Verstrickungen zu bringen. Sie brachte mich sogar dazu, Laura zu beleidigen, eine enge Freundin von Danielas Mutter. Laura war auf zwei Dinge stolz: auf ihre Kochkünste und ihre Tochter Adele, und zwar so sehr, dass sie mir anbot, mich mit selbst gemachten Köstlichkeiten zu bezahlen, wenn ich Adele Englischunterricht gab. Da ich dachte, sie scherze, erklärte ich mich einverstanden, nur um bald darauf festzustellen, dass sie ihr Angebot ernst gemeint hatte. Also tauschte ich zweimal die Woche Grammatik gegen Gemüse und Pronomen gegen Pasta und gab dem Sprichwort »genügend verdienen, um das Essen auf den Tisch zu bringen« eine ganz neue Bedeutung. Aber wie man solche Einnahmen in der Steuererklärung berücksichtigt, weiß ich bis heute nicht.
Lauras bestes Gericht waren ihre Gnocchi, die locker eine Stunde Grammatik wert waren. Aber eines Abends schafften wir es nicht, sie aufzuessen, und das kostbare Essen wanderte in den Hundenapf. Freccia arrangierte ihre Mahlzeiten um ihren Terminplan herum, fraß die Hälfte, bevor sie sich ins Nachtleben stürzte, und den Rest bei ihrer Rückkehr am nächsten Morgen. Diesmal hatte sie die Reste jedoch verschmäht und war gleich schlafen gegangen. Vielleicht hatte sie etwas mit ihren Streunerfreunden gefressen, die Gott sei Dank dick genug waren, um sich nicht hinter ihr durchs Tor zu quetschen, obwohl es mehrere versucht hatten und auf halbem Wege stecken geblieben waren.
Laura stand früh auf, um für ihre Familie zu kochen. Außerdem zog sie es vor, ihre Bezahlung in Naturalien vorbeizubringen, solange sie noch heiß waren, damit wir sie richtig schätzen und dementsprechend loben konnten. Sie kam in der Regel so gegen neun vorbei, und zumindest im Sommer lagen Daniela und ich nach nächtlichen Abenteuern, die mindestens so unerschrocken waren wie die von Freccia, um diese Zeit noch im Bett. Aber an jenem Tag war Daniela auf den Markt nach Poggiardo gefahren, sodass ich allein zu Hause war, als Lauras manikürter Finger auf die Klingel drückte. Da ich erst gegen vier Uhr früh ins Bett gekommen war, dachte ich nicht daran, einen prüfenden Blick in Freccias Napf zu werfen, bevor ich das Tor für unser Essen auf Rädern öffnete.
Laura, die zwei Tabletts balancierte, verkündete das Menü des Tages – maccheroni und scaloppine ai funghi -, als sie plötzlich abrupt stehen blieb. Sofort vergewisserte ich mich, ob auch nichts Skandalöses seinen Kopf aus meiner Schlafanzughose streckte. Aber es waren ihre Gnocchi, die sie soeben entdeckt hatte, und nicht die meinen, die, über und über mit Ameisen bedeckt, im Hundenapf lagen. Überraschung und Entsetzen ließen die dicke Make-up-Schicht, mit der Laura dezentere Grimassen überdeckte, brüchig werden.
»Madonna mia!«, rief sie. »Du verfütterst mein Essen an den Hund?«
»Äh, ähm.« Dass einem die richtigen Worte nicht einfallen, kennt man in jeder Sprache. »Daniela muss sie ihr gegeben haben«, stammelte ich und machte mir ihre Abwesenheit rücksichtslos zunutze.
»Erzähl mir nichts!«, sagte Laura und hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. »Ich will es lieber gar nicht wissen.«
Sie übergab mir ihre Lieferung, setzte ihre goldgeränderte Sonnenbrille auf und stürmte aus dem Garten. Nichts ahnend, was sie da soeben angerichtet hatte, zuckte Freccia in ihrem zum ersten Mal seit langem sorglosen Schlaf mit den Pfoten.
Laura schickte ihre Tochter zwar noch zum Unterricht, nur hatte Adele jetzt am Ende eines Monats einen Umschlag dabei. Freccias Reste waren wieder von gewohnter Qualität, aber das schien meiner neuen Gefährtin nichts auszumachen. Ein Hund, der von italienischen Essensresten lebt, isst besser als die meisten Engländer.
 
Am Donnerstag ist in Andrano Markttag, der von Einwohnern wie Straßenhunden gleichermaßen sehnsüchtig erwartet wird. Von Sonnenaufgang bis zur Siesta-Stunde quillt die Piazza Castello schier über mit Ständen und ist bis auf Fußgänger und Radfahrer komplett für den Verkehr gesperrt. Neben Lebensmitteln und Kleidern gibt es auch einen zum Delikatessengeschäft umgewandelten Wohnwagen, unter dem Freccia mit ihren Artgenossen geduldig wartete. Ihre Körper steckten unter dem Wagen, aber ihre Schnauzen sahen so weit hervor, wie die Ladentheke reichte. Dann und wann fiel etwas herunter, berührte jedoch nur selten den Boden. Freccia und ihre Freunde waren bessere Fänger als das australische Cricketteam.
Ich liebte es, am Markttag über die Piazza zu radeln, alle, die ich kannte, kurz zu grüßen – und das waren mittlerweile fast alle – und die Horden von Hunden unter dem mobilen Delikatessengeschäft zu beobachten, deren Augen nach oben gerichtet waren und den prosciutto aus dem Paradies erwarteten. Egal, wohin ich wollte, ich nahm sogar Umwege in Kauf, nur um an der Piazza vorbeizukommen. Der kalksteingepflasterte Platz war der Treffpunkt schlechthin, geschäftig und müßiggängerisch zugleich, wo Verkäufer ihre Rabatte herausschrien, die die Käufer noch weiter herunterhandelten.
Als ich eines Donnerstags auf dem Rückweg über die Piazza fuhr, bemerkte mich Freccia und folgte mir nach Hause. Sie quetschte sich vor mir durchs Tor, obwohl ich es geöffnet hatte, um selbst durchzukommen. Es war eines der letzten Male, dass ihr das noch gelang, denn von Lauras Essensresten und den herabfallenden Delikatessen wurde sie immer dicker. Danielas Eltern wollten im Oktober aus Sizilien zurückkommen, und da das Tor wegen Franco geschlossen bleiben musste, der noch weiter streunen würde als Freccia, wenn man es offen ließe, war die halbstreunende Lebensweise von Freccia akut bedroht.
Wie immer fand Daniela eine Lösung, die alle Beteiligten zufriedenstellte. Sie rief den fabbro an, den Schmied – wieder so ein buckliger compare -, der einen der unteren senkrechten Stäbe entfernte. Daniela hoffte, dass Valeria sein Fehlen nicht bemerken würde, bewahrte ihn aber für alle Fälle auf. Freccia besaß ein neues Fenster zur Welt und konnte wieder kommen und gehen, wann sie wollte.
Eine Woche nachdem wir dieses Fenster geöffnet hatten, sah ich mich gezwungen, es mit einem Ziegelstein zu schließen und Freccia am Geländer der Hintertreppe anzubinden. Der Tierarzt, der sie am nächsten Tag sterilisieren sollte, hatte ihr einen nüchternen Magen verordnet. Wenn sie in der Nacht frei umherstrich, würde sie bestimmt irgendetwas zu fressen finden. Für einen Freigeist wie Freccia war das wie eine Nacht im Gefängnis. Ihre räudigen Rudelgefährten kamen zur üblichen Stunde zum Haus, aber als sie nicht auftauchte, warteten sie vor dem Tor und heulten einen vigile herbei. Als ich rausging, um ihm zu versichern, dass es sich um eine einmalige Maßnahme handele, die uns alle vor weiterem Elend bewahren würde, sah ich, dass das Seil nass war, wo Freccia versucht hatte, sich frei zu kauen. Treue lässt sich niemals anhand der Länge eines Seils oder der Höhe eines Zaunes bemessen. Aber ich war froh darüber, denn Unabhängigkeit war ihre einzige Hoffnung.
Am nächsten Morgen brachten wir Freccia zu einem Tierarzt nach Melafano, den uns Teresa empfohlen hatte, da er für Streuner einen Rabatt machte. Teresa, die seine Dienste bereits mehrfach in Anspruch genommen hatte, begleitete uns und hoffte, den Preis noch etwas weiter drücken zu können. Als wir um halb zehn wie vereinbart zu seiner Praxis kamen, war diese geschlossen. Also warteten wir vor dem weiß gestrichenen Haus, das genauso aussah wie die anderen in der Straße, nur dass ein Messingschild mit dem Namen des Tierarztes, seinen Öffnungszeiten und seinen Telefonnummern daran befestigt war. Seine Handynummer hatte sich geändert, und die neue war mit Klebeband über die alte geklebt worden.
Eine halbe Stunde später tauchte die Helferin des Tierarztes auf und öffnete die vordere serranda, um einen Foxterrier freizulassen. Der raste in einem solchen Tempo die Straße hinunter, dass offensichtlich war: Man hatte ihn eindeutig gegen seinen Willen festgehalten. Vielleicht gefiel ihm das Wartezimmer nicht: ein Metallkruzifix, eine verdurstende Topfpflanze, Hundehaare in jeder Ecke und ein abgestandener Geruch nach Tiermedikamenten.
Um halb elf, also eine Stunde zu spät, kam der Tierarzt so gemütlich daher, als sei er früh dran. Die Ähnlichkeit der kahlköpfigen und beleibten Gestalt mit Mussolini war kein Zufall, sondern eine bewusst kultivierte Ähnlichkeit: Dieser Mann wollte seinem Helden eindeutig nacheifern. Er ignorierte die Tiere, die geduldiger warteten als ihre Besitzer, begrüßte Teresa und gab uns ein Zeichen, ihm in sein Büro zu folgen, in einen Schrein für faschistische Andenken. Über seinem unaufgeräumten Schreibtisch hing der »Benito Mussolini 2000«-Kalender, auf dem stand: »Der duce ist auch im dritten Millennium mit Ihnen«. In einem Regal befanden sich drei verstaubte Flaschen Wein. Auf ihren Etiketten prangte ein Porträt von Benito, der den Gedenk-Bordeaux als »Stolz von Predappio« anpries, dem Geburtsort des Diktators. Wohin ich auch sah – überall entdeckte ich Andenken an den Faschismus, nur nicht im Wartezimmer, das von der Straße einsehbar war.
Wo sonst, wenn nicht in Italien, kann man über den Preis einer Gebärmutterentfernung verhandeln? Nach einer Diskussion, die besser auf den Markt gepasst hätte, führte man uns in ein Zimmer im hinteren Teil der Praxis, von dem aus man in einen ungepflegten Garten sah, wo eine Wäscheleine unter dem Gewicht einstmals weißer Handtücher durchhing. Wie der Rest des Hauses war auch der OP-Raum dreckig und mit einem Foto von Mussolini geschmückt. Diesmal saß er hoch zu Ross und zeigte in die Ferne auf noch zu erobernde Kolonien. Na ja, sagen wir mal auf Abessinien. In den Regalen standen außerdem Einmachgläser mit präparierten Organen, und auf der Bank lag eine tote Katze, die alle viere von sich gestreckt hatte. Der Hund, der mehr Terrorist war als Terrier, war inzwischen auch wieder zurückgekehrt und sprang auf einen Tisch in der Zimmerecke, wo er aus einer Schale mit chirurgischen Instrumenten trank, um gleich darauf im Warteraum zu verschwinden und einen Cockerspaniel zu besteigen.
Was soll man tun, wenn sich ein Neofaschist anschickt, seinen neuesten Freund zu einem Spottpreis aufzuschneiden? Im Nachhinein hätte ich eine Entschuldigung erfinden und die Pfoten unter den Arm nehmen sollen wie der Terrier. Aber im Eifer des Gefechts waren wir viel zu schockiert, um zu protestieren, und sahen reumütig zu, wie der Tierarzt das Betäubungsmittel verabreichte und die zierliche Freccia in einen künstlichen Schlaf fiel. Dann packte sie die Tierarzthelferin mit den hochhackigen Schuhen im Genick, brachte sie in Position und band ihre Pfoten an einem Tisch fest, der weniger steril war, als Freccia bald sein würde. Indem er Gummihandschuhe verteilte, lud uns der Tierarzt ein, bei der Operation zuzusehen, besser gesagt mich, denn Daniela und Teresa waren bereits beim Anblick der Spritze geflohen.
Freccias Bauch wurde mit einem Skalpell aufgeschnitten, eine kleine Öffnung entstand, in die der Tierarzt einen knubbeligen Finger steckte. Ihr geschmeidiges rosa Fleisch gab nach, und ich sah den empfindlichen Kern eines dickfelligen Hundes. In einem Moment, den nur er für angemessen hielt, versuchte der Tierarzt, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. »Was zum Teufel hat ein Australier hier unten zu suchen?«, fragte er und meinte damit höchstwahrscheinlich Süditalien. »Turismo«, entgegnete ich kurz angebunden, in der Hoffnung, er würde sich wieder auf den Hund statt auf mich konzentrieren. Doch der Arzt wollte partout plaudern und stellte mir eine Frage nach der anderen, während Freccias Zunge schlaff aus ihrem Maul hing und der Terrier, der aus dem Wartezimmer zurückgekehrt war, um seine Füße strich und Blut von den Fliesen leckte.
»Wie lange fliegt man nach Australien?«, fragte der Tierarzt, der seinen Finger bis zum Knöchel in meinem Hund stecken hatte.
»Von Rom aus ungefähr einundzwanzig Stunden.«
»Cazzo! Da werde ich bestimmt nie hinreisen. Ich habe eine Heidenangst vor dem Fliegen.«
»Hm-hm.«
»Vor Zügen auch. Aber Autos und Boote sind mein Ding. Geben Sie mir irgendein Boot an irgendeinem Meer, und ich bring es zurück in den Hafen.«
»Hm-hm.«
Er fummelte in Freccia herum und suchte nach den benötigten Organen.
»Eines Nachts ist mir das Benzin ausgegangen, und ich trieb elf Stunden lang inmitten von meterhohen Wellen umher. Das war ganz schön haarig, aber ich bin immer noch hier, um Ihnen davon zu erzählen.«
»Hm-hm.«
Zum Glück wurde er vom Telefon in seinem Büro unterbrochen.
Leider war es für ihn – »Ihr Schwager«, verkündete die Tierarzthelferin, die in den Raum zurückgekehrt war.
»Chi?«
»Ihr Schwager.«
»Ich habe keinen Schwager.«
»Er hat gesagt, er sei ›Luigi, der Schwager des Tierarztes‹.«
»Luigi?«, sagte der Arzt zu sich selbst. »Ich kenne keinen Luigi.«
Sein Gesicht zuckte, als er seinen Finger weiter in seine Patientin schob.
»Was soll ich ihm sagen?«, fragte seine frustrierte Helferin.
Einen Moment lang hatte ich Angst, er würde das Telefonat entgegennehmen, aber zum Glück überlegte er es sich anders und fuhr mit seiner Suche nach Freccias Eierstöcken fort.
»Notieren Sie sich seine Nummer, ich ruf zurück«, befahl er, »wer immer das auch ist.«
Freccias Wunde öffnete sich weiter, während der Tierarzt rief: »Wo zum Teufel sind sie?«, und einen zweiten Finger einführte. Er sah zur Decke und schloss die Augen, ich fürchte, in dem Bemühen, sich die Seiten eines Lehrbuchs wieder vor Augen zu führen. Nachdem sie den mysteriösen Anrufer abgefertigt hatte, kehrte die Tierarzthelferin zurück, während der Arzt verkündete: »Die Dinger verstecken sich« und nach seinem Skalpell griff, um Freccia noch weiter aufzuschneiden. Der Hund wimmerte, woraufhin ich es ihm gleichtat, aber der Tierarzt versicherte mir, dass sie nur »von gut gebauten Rüden träume, für die sie schon bald keine Verwendung mehr habe«. Er war der Typ grobschlächtiger Süditaliener, der sämtliche Vorurteile von Norditalienern bestätigte.
Als ein dritter Finger ebenfalls nichts zutage förderte, verzichtete der Tierarzt darauf, die ganze Hand hineinzustecken, sondern brach die Suche im Bauchraum ab. Stattdessen zog er Freccias Eingeweide heraus, wo er sie bei Tageslicht auseinandersortieren konnte. Ihre Eingeweide glänzten in seinen Gummihandschuhen. Wie ein Fotograf, der eine Reihe Negative durchgeht, inspizierte er ein Stück Darm, bevor er es auf den Tisch legte.
Da es keine Tür gab, die ihn davon abhalten konnte, kam ein Mann im Leinenanzug ins Zimmer, der eine Zigarette rauchte. Keine Ahnung, wer das war, auf jeden Fall nicht der Schwager des Tierarztes, aber er schien den Arzt gut zu kennen, da er sich nicht lange bitten ließ und auf der Bank neben der toten Katze Platz nahm.
»Morto?«, fragte er und betrachtete den Leichnam gleichgültig.
»Offensichtlich ja«, entgegnete der Tierarzt ungewohnt knapp – hoffentlich, weil er sich gerade konzentrierte.
»Was ist passiert?«
»Dasselbe wie mit dem Hund Ihrer Frau – sie wurde vergiftet.« Der Tierarzt sah mich an. »Das passiert hier oft.«
Der Eindringling zog an seiner Zigarette, die sich nach oben bog und deutlich verkürzte.
»Schumacher hat die Pole-Position im morgigen Rennen«, fuhr er fort und aschte auf den Boden.
»Bene.«
»Was für ein Team, diese Ferrari-Jungs! Campioni
Ich wusste nicht recht, was mich mehr beunruhigte: dass er den Tierarzt ablenkte oder dass er rauchte.
Ich spielte den Touristen und fragte den Tierarzt: »Darf man in Italien in OP-Räumen rauchen?«
»Probabilmente no«, entgegnete er, sah seinen Besucher an und zog die Brauen hoch. Daraufhin hob dieser beide Hände, was auf Italienisch »Wer, ich?« bedeutet, bevor er einen letzten Zug nahm und die Kippe aus dem Fenster warf. Anschließend tätschelte er dem Tierarzt den Arm und ging zum Ausgang.
»Ich ruf dich an, sobald meine Frau weiß, was sie mit der Leiche machen will«, sagte er und meinte damit vermutlich seinen vergifteten Hund.
»Va bene«, sagte der Tierarzt. »Und grüß deine Mutter.«
Wir hätten genauso gut in einer Bar sein können.
Nach einem frustrierenden Anfang war der Rest nur noch Routine. Der Tierarzt verkündete, er könne Freccias Eierstöcke nicht finden, sodass er ihre Gebärmutter entfernen müsse. Er schnitt drei Streifen Fleisch aus dem Durcheinander von Organen auf dem Operationstisch und warf sie in einen Eimer wie ein angeberischer Küchenchef, der zeigen will, wie gut er zielen kann. Die Patientin blutete, und die Helferin tupfte die Wunde mit einem Handtuch von der Wäscheleine ab. Der Tierarzt stopfte Freccias Eingeweide zurück in die Bauchhöhle – hoffentlich in derselben Reihenfolge, wie er sie entnommen hatte -, wischte die Wunde sauber, nähte sie zu, sprühte seine Arbeit mit Desinfektionsspray ein und bedeckte die Narbe mit einem Tupfer. Dann wickelte er dasselbe Klebeband, auf dem auch seine Handynummer stand, zweimal um Freccias Taille und verpackte sie wie ein Weihnachtsgeschenk.
»Wie wollen Sie das je wieder abkriegen, ohne ihr das Fell auszureißen?«, fragte ich.
»Tranquillo«, entgegnete er und warf seine Handschuhe in denselben Eimer wie den Uterus. »Sie wird nicht das Geringste spüren.«
Freccia war losgebunden und auf die Seite gelegt worden, bevor der Tierarzt und seine Helferin den Raum verließen. Ohne sich die Hände zu waschen, ging der Grobian in sein Büro und rief seinem nächsten Opfer ein »Avanti!« entgegen. Ich blieb allein mit Freccia und Mussolini zurück, dem Hund und dem Hundesohn. Ich tätschelte die Patientin und starrte auf das Porträt des »Apostels der Gewalt«, wie sich Mussolini selbst tituliert hatte. Was er wohl zu der Darbietung des Tierarzts gesagt hätte? Abgesehen von den anfänglichen Komplikationen hätte er ihm bestimmt die Bestnote gegeben: Nüchtern, brüsk und gnadenlos – genau, wie es sich für einen anständigen Faschisten gehört.
Eine halbe Stunde später kam der Tierarzt zurück, stopfte Freccia wieder die Zunge ins Maul und gab ihr mehrere Klapse, um sie zu wecken, als ob sie in Ohnmacht gefallen wäre. Als sie widerwillig zu sich kam, inspizierte er ihren Verband, befand ihn für perfetto und führte mich in sein Büro, damit wir die Rechnung begleichen konnten. Ich zahlte hundert Euro statt den üblichen zweihundert, natürlich in bar. Es gab keine Quittung, und nichts verriet unser kleines Geschäft bis auf den Verband um Freccias Torso. Selbst wenn die Guardia di Finanza am Ausgang auf uns gewartet hätte – ich hätte es nicht übers Herz gebracht, ihn abzureißen. Ein Bußgeld wäre weniger schmerzhaft gewesen, zumindest für Freccia.
Trotz der holprigen Straßen verschlief Freccia die ganze Heimfahrt von Melafano und hatte den auch für mich schmerzhaften Vormittag hoffentlich wieder vergessen. Ich fragte mich, warum Teresa diesem grobschlächtigen Tierarzt dermaßen die Treue hielt, und erzählte ihr und Daniela, was im »Operationssaal« passiert war.
»Bist du sicher, dass er ihre Eierstöcke nicht finden konnte?«, fragte Teresa.
»Das hat er gesagt.«
»Wenn du mich fragst, hat er sie gefunden, wollte sie aber nicht entfernen.«
»Warum?«
»Damit sie immer noch läufig werden kann.«
»Aber ohne Gebärmutter kann sie doch nicht mehr läufig werden«, warf Daniela ein.
»O doch«, beharrte Teresa.
»Keine Ahnung«, meinte ich. »Aber selbst wenn, warum sollte er das wollen?«
»Damit sie Sex haben kann, natürlich.«
»Aber warum sollte er Interesse am Sexleben eines Streuners haben?«
»Crris, die meisten Italiener glauben, dass es grausam ist, Tiere zu sterilisieren, weil es unnatürlich ist.«
»Aber sie aussetzen – das ist natürlich, was?!«
Teresa wurde genauso still wie Freccia.
 
Wieder einmal sorgten Antibiotika und Parmaschinken für eine rasche Genesung. Obwohl man ihr Ruhe verordnet hatte, stromerte Freccia mit ihren Gefährten schon am nächsten Abend wieder herum. Sie sah lächerlich aus mit ihrem Verband, und ich musste eines Nachmittags aufs Burggelände eilen, als ich sah, wie ein alter Mann versuchte, ihn abzumachen. Aus Angst, das könnte noch mal passieren, schrieb ich darauf: »Nicht abmachen. Ich wurde operiert«, worüber der Tierarzt herzlich lachen musste, als ich Freccia zu ihm brachte, um die Fäden ziehen zu lassen. Wie befürchtet, schnitt der Sadist den Verband nicht etwa auf, sondern riss ihn ihr abrupt ab. »Wie ein Bikini-Waxing«, sagte er, als Freccia aufjaulte. Dann zog er die Fäden und inspizierte die Wunde, bevor Freccia und ich genauso schnell aus seinem kleinen Horrorladen verschwanden, wie es der Terrier in der Woche davor getan hatte – eine Warnung, die ich leider nicht beherzigt hatte.
Als Belohnung dafür, Mussolini überlebt zu haben, kauften wir Freccia eine Hundehütte. Dabei wurden wir auf traurige Weise daran erinnert, wie viel wir für einen Hund taten, aber wie wenig wir für die anderen tun konnten. Die Hütten standen vor der Tierhandlung von Tricase auf dem Bürgersteig. Die Verkäuferin trat gegen jede, an der wir Interesse zeigten, woraufhin ein Streuner zum Vorschein kam. Beinahe jede Hütte war bereits bewohnt, also nahmen wir die einzige, die noch frei war, in der Hoffnung, die Hausbesetzer nicht um ihr Dach über dem Kopf zu bringen.
Freccia liebte ihr neues Zuhause, in dem sie nur tagsüber wohnte, denn nachts hielt sie ihrem Rudel die Treue, das nach wie vor am Tor vorbeikam. So sah ihr Alltag aus, bis ich etwa einen Monat nach ihrer Operation sah, dass ihr Napf voll und ihre Hütte leer war. Zwei Tage vergingen, ohne dass sich die Hündin zeigte, und erst in diesem Moment wurde mir klar, wie sehr ich an ihr hing. Ihr Rudel war ebenfalls verschwunden, und ich befürchtete schon, von den Verlassenen verlassen worden zu sein.
Am dritten Morgen nach Freccias Verschwinden schrieb ich gerade etwas im Arbeitszimmer, als ich das unnachahmliche Geräusch hörte, wie sie sich durchs Tor quetschte, und eilte nach draußen, um sie völlig erschöpft in ihrer Hütte vorzufinden. Ihr Brustkorb hob und senkte sich rasch, und ihre Pfoten bluteten. Sie schlief zwei Tage lang, und erst, als sie wieder hervorkam und ich sie nach Zecken absuchte, entdeckte ich eine Tätowierung in ihrem Ohr.
Ein Ausflug zur polizia municipale bestätigte Danielas Verdacht, dass der Hundefänger von Corsano, einem Ort hinter Tricase, seine Nachsommerrunde gedreht hatte, um die Straßen vom diesjährigen Müll an Vierbeinern zu säubern, der im Juni weggeworfen und im Oktober eingesammelt wurde. Die Anzahl der in Andrano aufgegriffenen Hunde entsprach den Mitgliedern ihres Rudels, darunter auch ein Teilzeitmitglied. Ein so zarter Hund schafft es nur, aus dem Zwinger zu fliehen und fünfzehn Kilometer in unwegsamem Gelände zurückzulegen, wenn er etwas hat, wofür es sich zu leben lohnt. Freccia wusste, dass sie mich hatte und dass ich auf sie warten würde wie ein besorgter Vater.
Ich war entzückt, sie wiederzusehen, und kaufte ihr ein Halsband, damit sie nicht noch einmal aufgegriffen wurde. Sie trug es mit Stolz, so als bestätige es ihre Adoption. Und das tat es wahrscheinlich auch. Die zärtliche Flohfängerin, die Krankheit, Hunger, den Verlust ihrer Jungen, meine Versuche, sie einschläfern zu lassen, Mussolinis Skalpell und jetzt auch noch den Hundefänger überlebt hatte, hatte sich meinen ganzen Respekt, meine Bewunderung und einen festen Platz in meinem Herzen ertrotzt. Weil ich am Anfang so stark dagegen angekämpft hatte, sie zu lieben, liebte ich sie am Ende umso mehr.
Ohne Gefährten, die sie weglockten, streunte Freccia immer weniger. Nur am Markttag entdeckte ich sie irgendwo im Ort, meist unter dem Delikatessenwohnwagen, der ihr jetzt ganz allein gehörte. Sie wurde mein Hund, meine Gefährtin und vor allem mein Schatten, der meinem Rad folgte, wo immer es auch hinfuhr. Und wenn ich mich über die Grenzen Andranos hinauswagte, kletterte sie auf meine Vespa, saß zwischen mir und dem Lenker und zog den Kopf ein, als ob sie etwas von Aerodynamik verstünde – für einen Hund, der Pfeil heißt, die einzig angemessene Art zu reisen. Sie kam mit zum Tennis, zum Strand und zur »California«-Tankstelle, aber ihr Lieblingsausflug war natürlich der zum Metzger. Von dort aus kehrte sie zwischen meinen Armen heim, während ihr der Fahrtwind das Fell zerzauste und sie einen Knochen im Maul hatte.
Freccia sollte mir noch ein halbes Jahr Gesellschaft leisten, bis ein Tierarzt in Tricase, ein einfühlsamer junger Mann, den ich am liebsten früher kennengelernt hätte, einen Tumor in ihrem Bauch entdeckte und sie von ihrem Leiden erlöste. Ich strich Freccia über die Ohren, als er die Spritze aufzog, sah ihr in die Augen, während sie glasig wurden und schließlich erstarrten. Das Letzte, was sie spürte, war das Versprechen von Sicherheit und wie ich dankbar über ihre sandpapierrauen Pfoten strich. Ich hatte seit meinem Umzug nach Italien schon einige unangenehme Dinge erlebt, aber bei Freccias Tod brach ich zum ersten Mal in Tränen aus. Aber nicht nur Freccia brach mir das Herz, sondern auch die Millionen anderen ausgesetzten Hunde in Italien, die nie die Chance hatten, ihre Nasen durch mein Tor zu stecken.
Wenn ich an Freccia zurückdenke, glaube ich, dass sie mich ebenso gerettet hat wie ich sie, da wir im Grunde beide Streuner in Andrano waren. Vielleicht sucht derjenige, der einen Hund adoptiert, genauso sehr nach einem Gefährten wie der Hund. Ich fühlte mich in Italien oft isoliert, und zwar eher seelisch als körperlich. Egal, wie gut ich mich anpasste, ich war in jeder Hinsicht anders, angefangen von meinem Humor bis hin zu meiner Fähigkeit, Schlange zu stehen, ohne einen Streit vom Zaun zu brechen. In soziologischer, kultureller, ja sogar in religiöser Hinsicht hatte ich einen sehr unorthodoxen Blick auf die meisten Dinge. Freccia war die Einzige, die mich nicht daran erinnerte, wie fremd ich hier war. Ich tauschte Essensreste gegen ein stilles Einvernehmen, das so kostbar war, dass es sich mit Worten kaum beschreiben lässt. Sie war eine Gleichgesinnte, die mir Gesellschaft leistete und mir das Gefühl gab, zu Hause zu sein. Sie fraß sogar Toast mit Vegemite und war somit die einzige Italienerin, die ich von dieser delikaten Hefepaste überzeugen konnte.
Bevor Freccia vor dem Tor gestanden war, hatte es »mich« und »die anderen« gegeben, danach nur noch »uns« und »die anderen«. Daniela war meine Freundin, aber Freccia war meine Verbündete. Man kann die ganze Welt bereisen, die unterschiedlichsten Menschen kennenlernen, aber egal, wo man hinkommt, Hunde sind überall gleich. Man braucht sie nur zu streicheln und ihnen eine Schüssel mit Futter hinzustellen, und sie weichen einem nicht mehr von der Seite, solange sie leben. Und solange ich lebe, werde ich den hungrigen Hund in Erinnerung behalten, dem Freundschaft über Futter ging, jenen einfarbigen Pfeil, der mein Herz durchbohrte.
In einer kargen Landschaft aus Kalkstein ein Grab ausheben zu wollen ist nahezu unmöglich. Nach einer ausgedehnten Suche nach weichem Boden, einschließlich mehrerer gescheiterter Versuche, bei denen meine Zähne knirschten und meine Schaufel verbogen wurde, entdeckten wir ein ebenso passendes wie schönes Fleckchen in einem Olivenhain auf der Landzunge hinter dem Torre del Sasso, dem Aussichtsturm mit Blick auf La Botte und das Blau des Mittelmeers.
Die Sonne ging gerade unter, als wir Freccia zwischen den jahrhundertealten Olivenbäumen begruben und ihnen diesen leichtfüßigen Racker für die nächsten Jahrtausende übergaben.