19
Freccia
Ein Luftwaffenjet verließ
die Formation, um Solo-Stunts zu fliegen. Er schoss laut über den
Himmel, knapp über dem Liebespaar, das sich im hüfthohen Wasser
leidenschaftlich küsste und mit seinen Zungen ganz eigene
Formationen bildete. Eine Flugzeugshow? Was für eine Flugzeugshow?
Manche Italiener kann wirklich nichts von ihren sommerlichen
Vergnügungen abbringen.
Wir anderen konnten
den Blick gar nicht vom Himmel abwenden. Tausende von Zuschauern
hatten die Plakate ignoriert, auf denen stand, es sei unmoralisch,
sich von solchen »Todesmaschinen« amüsieren zu lassen, und sich am
Strand von San Cataldo unweit von Lecce versammelt, um das
Akrobatenteam der italienischen Luftwaffe, Le
Frecce Tricolori – die dreifarbigen Pfeile – zu
bewundern.
Da ich selbst
Kunstflieger bin – leider eines der teuersten Hobbys der Welt -,
hatte ich Daniela zu der Show mitgenommen, in der Hoffnung,
angenehm überrascht zu werden. Beim Formationsfliegen muss man
perfekt kooperieren, etwas, das ich in Italien bisher eher selten
erlebt hatte. Kein Wunder, dass Le Frecce
Tricolori für eine der schlimmsten Flugzeugshowkatastrophen
überhaupt verantwortlich waren, als 1988 im deutschen Ramstein drei
Flugzeuge bei einem Formationsmanöver zusammenstießen und ein
Flugzeug in die Menge katapultierten, wobei 70 Menschen umkamen und
400 verletzt wurden. Aber die heutige Vorführung war einwandfrei.
Die einzigen Fastzusammenstöße fanden anschließend auf den
Ausfallstraßen statt, wo Autos und Vespas bei einer Wette, wer am
schnellsten zu Hause ist, waghalsige Solo-Stunts der ganz eigenen
Art vollführten.
Daniela und ich
kamen nach Hause, wo uns vor unserem Tor gleich zwei ungewöhnliche
Anblicke erwarteten: Pippos Fiat fehlte, aber dafür hatte sich ein
zitternder, dreckiger, völlig abgemagerter Hund eingefunden, der
sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten konnte und seinen
Mitleid erregenden Kopf gesenkt hatte, als warte er auf das
Fallbeil einer Guillotine. Schon eine leichte Brise hätte genügt,
um den halbtoten Hund umzuwehen. Ihn wegzuscheuchen war genauso
sinnlos, da er so schwach war, dass er ohnehn nur in meine Arme
gefallen wäre.
Obwohl es sich um
einen mittelgroßen Hund handelte, wog er kaum mehr als ein paar
Kilo, die hauptsächlich Flöhen und Zecken geschuldet waren. Selbst
heute zucke ich noch zusammen, wenn ich an den Anblick dieses
moribunden Mischlings denken muss: ein zerbrechliches Weibchen, dem
die Zunge seitlich aus dem Maul hing. Ihre Augen waren verklebt und
ihre Nase von zähem Schleim verstopft. Sie war nur noch ein schwer
atmendes Skelett, das Fell fiel ihr in Büscheln aus, und Rippen und
Hüftknochen standen genauso vor wie die Wirbelsäule, die aussah wie
der Griff einer Handtasche, an dem wir sie gleich am nächsten
Morgen zum Tierarzt bringen wollten, falls sie nicht noch in der
Nacht starb.
Ich trug das
Federgewicht in den Garten und legte die Hündin auf ein Handtuch
vor der Hintertür. Jeder mühsame Atemzug schien ihr letzter zu
sein, und ich muss zugeben, dass ich hoffte, dem wäre auch so. Sie
zeigte keinerlei Interesse an Nahrung oder Wasser, so als wisse sie
schon gar nicht mehr, was das sei. Aber für alle Fälle stellte ich
ihr doch etwas hin. Sie schien es im Liegen genauso unbequem zu
haben wie im Stehen, sodass ich, als Daniela gerade nicht hinsah,
ein Kissen aus ihrer Abstellkammer klaute. Wir nannten sie nach den
dreifarbigen Pfeilen, die wir am Nachmittag bewundert hatten,
Freccia – Pfeil, auch wenn wir nicht
glaubten, dass sie lange genug überleben würde, um sich diesen
Namen zu merken.
Mahatma Gandhi hat
einmal gesagt, dass man ein Land danach beurteilen kann, wie es
seine Tiere behandelt. Anhand von Freccia hätte er ein verheerendes
Urteil über Italien gefällt. Dass die Italiener ihren Müll auf die
Straße werfen, kann ich gerade noch tolerieren, aber nicht, wenn
dieser Müll noch lebt. Freccia war der Abfall jener egoistischen
Hundebesitzer, die es schaffen, jeden Sommer 400 000 Haustiere
auszusetzen, nur um ungestört Urlaub machen zu können. Für viele
Italiener sind Hunde und Katzen nichts als Wegwerfartikel, die
unter Brücken, im Gebüsch oder an Leitplanken gebunden
zurückgelassen werden. Und was man von Menschen zu halten hat, die
ihren besten Freund verhungern lassen, kann man sich
denken.
Wie immer schrecken
die Gesetze nur wenige Urlauber davon ab, ihr Haustier auszusetzen,
statt es mitzunehmen oder sich um eine vorübergehende Unterbringung
zu kümmern. Und da es die meisten Italiener überflüssig finden,
ihre Tiere zu sterilisieren, zeugen sie weitere Streuner, die,
zumindest im Süden, zu einer richtigen Plage werden können. Im
Sommer sah ich oft, wie sich auf dem Burggelände zwei
zusammentaten, um sechs oder acht weitere zu zeugen. Solch
verantwortungslose Vorfahren besaß auch Freccia. Sie war ein
klassischer italienischer Straßenköter, dessen Vater sich gleich
nach der Zeugung auf einer Straßenkreuzung aus dem Staub gemacht
hatte und dessen Mutter nicht wusste, wie ihr geschah.
Wie die verbeulten
Haushaltsgeräte, die überall liegen gelassen werden, gehören
räudige Straßenhunde zum Landschaftsbild Süditaliens. Ihre genaue
Anzahl lässt sich genauso wenig bestimmen wie die Anzahl der Flöhe
in ihrem Fell. Aber man nimmt an, dass etwa ein Viertel aller Hunde
auf Sizilien Streuner sind, obwohl »Streuner« nicht gerade das
richtige Wort für ausgesetzte Tiere ist. Und es gibt noch mehr
ungewollte Katzen als Hunde, die im Müll nach Nahrung suchen, um zu
überleben. Der italienische Begriff für ein kleines Dorf lautet
un paese di quattro gatti – ein Dorf
mit vier Katzen, aber in Andrano sind es bestimmt
viertausend.
Die Streuner suchen
sich einen Platz, an dem sie Essensreste finden, und streifen
umher, bis sich irgendjemand aus dem Dorf ihrer erbarmt. Das kann
der Metzger sein oder der Barmann – ja, sogar der Priester besitzt
eine »Herde«, die an seine Vordertür kommt, um gesegnet zu werden,
und eine weitere, die vor der Hintertür wartet, um gefüttert zu
werden. Auf Supermarktparkplätzen suchen sich die Hunde Käufer
anhand des Inhalts ihrer Einkaufswagen aus und folgen ihnen zum
Auto, in der Hoffnung, gefüttert zu werden. Ich kaufte stets extra
Schinken, den die Hunde verschlangen, bevor sie die Verpackung so
lange ableckten, bis ihr Aufdruck verschwand. Ein Labrador war so
ausgehungert, dass er sogar die Verpackung fraß.
Die meisten
Einwohner von Andrano finden einen besseren Ort für ihren Müll als
die Tonne, und sobald die Tiere fruchtbare Jagdgründe gefunden
haben, bleiben sie ihnen auf immer treu. Eine alte Frau, die in der
Nähe der Piazza wohnte, nannte ihr Haus L’Arca
di Noè – Noahs Arche – und fütterte ganze acht Straßenhunde
– einige mit drei Beinen, einige mit vieren – sowie zehn Katzen.
Vielleicht hatten sie die Statue von Padre Pio vor ihrer Tür
bemerkt und hofften, ihr Wohlwollen gelte allen Geschöpfen. Wenn
einen die Streuner nicht selbst adoptierten, konnte man immer noch
sie adoptieren. Jede Woche widmete die Fernsehzeitschrift
heimatlosen Tieren eine Seite. Über anderthalb Millionen befanden
sich in Tierheimen, verteilt über das ganze Land. Ich hätte sie am
liebsten alle genommen, wenn das gegangen wäre. Aber Freccia wollte
nur, dass ich einen nahm.
Ich saß bis spät in
der Nacht bei ihr auf der Hintertreppe, kraulte sie, während sie
eindöste, und hoffte, ihr wenigstens das Ende so angenehm wie
möglich zu gestalten. Massenweise Zecken hatten Energie aus ihr
herausgesaugt und sie anämisch werden lassen, plumpe Parasiten auf
dem Schatten eines Hundes. Ihr geschwollenes Gesäuge bestätigte die
Geschichte eines Jungen, der uns erzählte, er habe Freccia vor zwei
Tagen im ausgetrockneten Burggraben entdeckt und ihr die Welpen
weggenommen, um ihnen ein Zuhause zu besorgen. Die Welpen hatten
ihre Mutter ausgesaugt und sie so geschwächt, dass sie nicht mehr
die Kraft hatte, sich dagegen zu wehren.
Gegen Mitternacht
verließ ich Freccia. Als ich am nächsten Morgen zurückkehrte, hob
und senkte sich ihr Brustkorb immer noch, schwach, aber regelmäßig,
obwohl sie weder Futter noch Wasser angerührt hatte. Wir hoben sie
ins Auto und fuhren mit ihr zu drei Tierärzten, die sich
ausnahmslos weigerten, ihr Leiden zu beenden. Ja, sie starb, aber
nur aus Hunger. Sie litt an keiner tödlichen Krankheit außer am
Ausgesetztsein, ein Schicksal, das sie allein in Apulien mit
Tausenden von anderen Hunden teilte. Die Ärzte weigerten sich, sich
in das Leben des Hundes einzumischen, und bestanden darauf, sie
einen natürlichen Tod sterben zu lassen. Ich hätte von
Naturwissenschaftlern ein logischeres Denken erwartet.
Ich appellierte an
ihr Mitgefühl, an ihren gesunden Menschenverstand. Freccia starb
einen qualvollen Tod, es wäre grausam, ihn nicht zu beschleunigen.
Was hatte es schon für einen Sinn, sie wieder aufzupäppeln, wenn
sie in naher Zukunft wieder in so einen elenden Zustand geriet?
Niemand würde Freccia adoptieren. Es gab nicht einmal genügend
Plätze für die gesunden Welpen, die gratis über die
Fernsehzeitschrift und über die Schwarzen Bretter in jedem
Tierarztwartezimmer vermittelt wurden. Wer würde sein Herz da schon
an eine drei Jahre alte Hündin voller Flöhe verschenken, deren
Steißbein dermaßen hervorstach, dass sie aussah wie ein
Kleiderbügel? Außerdem war sie schon einmal ausgesetzt worden.
Caro veterinaio, Italien will dieses
Häuflein Knochen nicht!
Daniela rief ihre
Freundin Teresa an, die schon drei Streuner aufgenommen hatte, aber
keinen Platz mehr für einen vierten hatte. »Egal, was du tust, aber
bring sie nicht in den Zwinger«, riet sie ihr. »Da ist sie tot oder
auf der Straße immer noch besser dran.« Ich hatte Fotos von den
furchtbaren Zuständen in italienischen Tierheimen gesehen, wo zehn
oder mehr Hunde in Betonzellen gepfercht werden. Laut Teresa dienen
diese Heime nicht dazu, für die Tiere zu sorgen, sondern um sie von
der Straße zu holen, wo sie eine Unfallgefahr darstellen. Es wird
geschätzt, dass Straßenhunde in Italien jedes Jahr etwa 4000
Unfälle verursachen, die 20 Tote und 400 Verletzte fordern. Das ist
die Rache für das Aussetzen, nehme ich an.
In der Zwischenzeit
stellte ich mir selbst die nächstliegende Frage – dieselbe, die mir
auch die Tierärzte, Teresa und alle anderen stellten, die ich bat,
Freccia zu nehmen: Warum adoptierte ich sie nicht? Die Antwort war
einfach. Ich wusste nicht, wie lang ich in Andrano bleiben würde.
Ich war selbst ein Streuner und konnte ihr schlecht einen Platz
anbieten, der mir gar nicht gehörte. Daniela hatte keinerlei
Interesse an einem vierbeinigen Erbe, um das sie sich dann kümmern
müsste. Aber wenn ich die Hündin in ihrem jetzigen Zustand zurück
in den Park brachte, konnte ich sie genauso gut eigenhändig
umbringen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als sie zu säubern,
sie wieder an Futter zu gewöhnen, ihr die Medizin zu geben, die der
Tierarzt empfahl, und zu hoffen, dass sie sich wieder erholte. Die
Hintertreppe gehörte ihr, bis sie starb oder sich berappelte. Und
wenn sie es schaffte, würde sie als Straßenhund
höchstwahrscheinlich irgendwann freiwillig wieder abziehen.
Höchstwahrscheinlich.
Nachdem ihre
Exekution gerade noch mal abgewendet worden war, schlief Freccia
zwei Tage lang und wurde nur geweckt, damit wir ihr die in
Parmaschinken versteckten Antibiotika verabreichen konnten.
Danielas Vorschlag, sie auf diese Weise wieder für Nahrung zu
interessieren, war ein durchschlagender, wenn auch teurer Erfolg.
Als sich die Hündin zum ersten Mal wieder aus eigenem Antrieb
regte, sah ich zum ersten Mal ihre Augen: Zwei haselnussbraune
Kugeln, die mich ängstlich und absolut ergeben ansahen. Sie wehrte
sich weniger als Daniela, als ich beide zum Waschbecken im
Waschraum führte. Wieder trennten uns zwei Kulturen. Daniela war
damit aufgewachsen, dass Hunde vor ihrer Haustür starben. Sie hatte
nie ein Tier ausgesetzt, aber auch nie eines aufgenommen. Dieses
Bad war sowohl für Freccia als auch für Daniela eine
Premiere.
Widerwillig und mit
Gummihandschuhen hielt Daniela Freccias Kopf, während ich sie von
Tausenden von Flöhen und dem Dreck Salentos befreite. Ihr borstiges
Fell wurde langsam weicher, aber wir mussten sie noch zwei Mal
waschen, bevor die eigentliche Freccia zum Vorschein kam: ein
schwarzer volpino, eine fuchsartige
Promenadenmischung mit vier weißen Pfoten, einem buschigen Schwanz
und einem schmalen, aufgeweckten Gesicht. Als wir sie aus dem
dunkelbraunen Wasser zogen, befand sich im Becken genug Erde, um
Karotten darin anzupflanzen.
Nach einer Woche war
Freccia wieder fit, und nach zwei Wochen besaß sie wieder richtig
Elan. Ihrem Schwanz nach zu urteilen, der gegen meine Schienbeine
schlug, sobald ich nach ihr sah, hatte sie sich wieder gut erholt.
Der Schwanz eines Hundes sagt immer die Wahrheit. Freccia war nicht
nur nach Nahrung ausgehungert, sondern auch nach Zärtlichkeit. Sie
folgte mir auf Schritt und Tritt und wechselte gern abrupt die
Richtung. Doch selbst wenn ich über sie stolperte, verbuchte sie
das noch als Körperkontakt. Sie machte kein Hehl daraus, dass der
Schinken lecker war, sie aber meine Gesellschaft bei Weitem
bevorzugte. Immer wenn ich ihr Essen hinstellte, sah sie zwischen
mir und der Schüssel hin und her und schmiegte sich gegen meine
Beine. Trotz ihrer Leidensgeschichte war sie äußerst zutraulich und
klug und wollte mir aus Dank, verschont worden zu sein, unbedingt
gefallen.
Anstatt Siesta zu
halten, pflegte ich mich jetzt zu Freccia auf die Hintertreppe zu
setzen und ihre Ohren zu kraulen oder sie nach Zecken abzusuchen.
Eines Nachmittags, als der ganze Ort schlief, durchbrach Daniela
die Stille und schrie »Cristoforo
Colombo« aus dem Wohnzimmer. Das war mein Spitzname, wenn es
Ärger gab, also zog nicht nur Freccia den Kopf ein.
»Si«, entgegnete ich schüchtern.
»Da sind Flöhe auf
dem Sofa meiner Mutter!«
»Die wollen bestimmt
nur fernsehen.«
Wir duckten uns
erneut, als ein Schuh gegen die Hintertür geschleudert wurde. Am
nächsten Tag desinfizierten wir die Möbel, zu denen jetzt auch
Freccia und eine Fußmatte gehörten, auf der wir uns nie die Füße
abstreiften.
Unser Haus wurde
bald zu ihrem Hotel. Wir fütterten Freccia jeden Abend,
hauptsächlich mit Essensresten, und ich sorgte dafür, dass es
genügend davon gab. Wenn sie satt war, zwängte sie sich durch die
Stäbe unseres Tors und verbrachte die Nacht mit dem Rudel von
Streunern, zu dem sie vorher gehört hatte. Jedes Mal, wenn ich sie
durchs Tor kriechen hörte, dachte ich, ich hätte sie zum letzten
Mal gesehen. Aber jeden Morgen lag sie wieder auf der Hintertreppe.
Die Vagabundin war zurückgekehrt, ihr Fell voller Kletten und
Stacheln. Wahrscheinlich schlüpfte sie mit Absicht durch so viele
Hecken wie möglich, denn sie liebte die Aufmerksamkeit, die ich ihr
schenkte, wenn ich den halben Vormittag damit verbrachte, ihr das
Zeug aus dem Fell zu klauben.
Freccia war ein
Rowdy, den man einfach gernhaben musste, ein vierbeiniger
Huckleberry Finn. Nur hatte sie die Gabe, nicht nur sich in
Verstrickungen zu bringen. Sie brachte mich sogar dazu, Laura zu
beleidigen, eine enge Freundin von Danielas Mutter. Laura war auf
zwei Dinge stolz: auf ihre Kochkünste und ihre Tochter Adele, und
zwar so sehr, dass sie mir anbot, mich mit selbst gemachten
Köstlichkeiten zu bezahlen, wenn ich Adele Englischunterricht gab.
Da ich dachte, sie scherze, erklärte ich mich einverstanden, nur um
bald darauf festzustellen, dass sie ihr Angebot ernst gemeint
hatte. Also tauschte ich zweimal die Woche Grammatik gegen Gemüse
und Pronomen gegen Pasta und gab dem Sprichwort »genügend
verdienen, um das Essen auf den Tisch zu bringen« eine ganz neue
Bedeutung. Aber wie man solche Einnahmen in der Steuererklärung
berücksichtigt, weiß ich bis heute nicht.
Lauras bestes
Gericht waren ihre Gnocchi, die locker eine Stunde Grammatik wert
waren. Aber eines Abends schafften wir es nicht, sie aufzuessen,
und das kostbare Essen wanderte in den Hundenapf. Freccia
arrangierte ihre Mahlzeiten um ihren Terminplan herum, fraß die
Hälfte, bevor sie sich ins Nachtleben stürzte, und den Rest bei
ihrer Rückkehr am nächsten Morgen. Diesmal hatte sie die Reste
jedoch verschmäht und war gleich schlafen gegangen. Vielleicht
hatte sie etwas mit ihren Streunerfreunden gefressen, die Gott sei
Dank dick genug waren, um sich nicht hinter ihr durchs Tor zu
quetschen, obwohl es mehrere versucht hatten und auf halbem Wege
stecken geblieben waren.
Laura stand früh
auf, um für ihre Familie zu kochen. Außerdem zog sie es vor, ihre
Bezahlung in Naturalien vorbeizubringen, solange sie noch heiß
waren, damit wir sie richtig schätzen und dementsprechend loben
konnten. Sie kam in der Regel so gegen neun vorbei, und zumindest
im Sommer lagen Daniela und ich nach nächtlichen Abenteuern, die
mindestens so unerschrocken waren wie die von Freccia, um diese
Zeit noch im Bett. Aber an jenem Tag war Daniela auf den Markt nach
Poggiardo gefahren, sodass ich allein zu Hause war, als Lauras
manikürter Finger auf die Klingel drückte. Da ich erst gegen vier
Uhr früh ins Bett gekommen war, dachte ich nicht daran, einen
prüfenden Blick in Freccias Napf zu werfen, bevor ich das Tor für
unser Essen auf Rädern öffnete.
Laura, die zwei
Tabletts balancierte, verkündete das Menü des Tages – maccheroni und scaloppine ai
funghi -, als sie plötzlich abrupt stehen blieb. Sofort
vergewisserte ich mich, ob auch nichts Skandalöses seinen Kopf aus
meiner Schlafanzughose streckte. Aber es waren ihre Gnocchi, die
sie soeben entdeckt hatte, und nicht die meinen, die, über und über
mit Ameisen bedeckt, im Hundenapf lagen. Überraschung und Entsetzen
ließen die dicke Make-up-Schicht, mit der Laura dezentere Grimassen
überdeckte, brüchig werden.
»Madonna mia!«, rief sie. »Du verfütterst mein Essen
an den Hund?«
»Äh, ähm.« Dass
einem die richtigen Worte nicht einfallen, kennt man in jeder
Sprache. »Daniela muss sie ihr gegeben haben«, stammelte ich und
machte mir ihre Abwesenheit rücksichtslos zunutze.
»Erzähl mir
nichts!«, sagte Laura und hob die Hand, um mich zum Schweigen zu
bringen. »Ich will es lieber gar nicht wissen.«
Sie übergab mir ihre
Lieferung, setzte ihre goldgeränderte Sonnenbrille auf und stürmte
aus dem Garten. Nichts ahnend, was sie da soeben angerichtet hatte,
zuckte Freccia in ihrem zum ersten Mal seit langem sorglosen Schlaf
mit den Pfoten.
Laura schickte ihre
Tochter zwar noch zum Unterricht, nur hatte Adele jetzt am Ende
eines Monats einen Umschlag dabei. Freccias Reste waren wieder von
gewohnter Qualität, aber das schien meiner neuen Gefährtin nichts
auszumachen. Ein Hund, der von italienischen Essensresten lebt,
isst besser als die meisten Engländer.
Am Donnerstag ist in
Andrano Markttag, der von Einwohnern wie Straßenhunden
gleichermaßen sehnsüchtig erwartet wird. Von Sonnenaufgang bis zur
Siesta-Stunde quillt die Piazza Castello schier über mit Ständen
und ist bis auf Fußgänger und Radfahrer komplett für den Verkehr
gesperrt. Neben Lebensmitteln und Kleidern gibt es auch einen zum
Delikatessengeschäft umgewandelten Wohnwagen, unter dem Freccia mit
ihren Artgenossen geduldig wartete. Ihre Körper steckten unter dem
Wagen, aber ihre Schnauzen sahen so weit hervor, wie die Ladentheke
reichte. Dann und wann fiel etwas herunter, berührte jedoch nur
selten den Boden. Freccia und ihre Freunde waren bessere Fänger als
das australische Cricketteam.
Ich liebte es, am
Markttag über die Piazza zu radeln, alle, die ich kannte, kurz zu
grüßen – und das waren mittlerweile fast alle – und die Horden von
Hunden unter dem mobilen Delikatessengeschäft zu beobachten, deren
Augen nach oben gerichtet waren und den prosciutto aus dem Paradies erwarteten. Egal, wohin
ich wollte, ich nahm sogar Umwege in Kauf, nur um an der Piazza
vorbeizukommen. Der kalksteingepflasterte Platz war der Treffpunkt
schlechthin, geschäftig und müßiggängerisch zugleich, wo Verkäufer
ihre Rabatte herausschrien, die die Käufer noch weiter
herunterhandelten.
Als ich eines
Donnerstags auf dem Rückweg über die Piazza fuhr, bemerkte mich
Freccia und folgte mir nach Hause. Sie quetschte sich vor mir
durchs Tor, obwohl ich es geöffnet hatte, um selbst durchzukommen.
Es war eines der letzten Male, dass ihr das noch gelang, denn von
Lauras Essensresten und den herabfallenden Delikatessen wurde sie
immer dicker. Danielas Eltern wollten im Oktober aus Sizilien
zurückkommen, und da das Tor wegen Franco geschlossen bleiben
musste, der noch weiter streunen würde als Freccia, wenn man es
offen ließe, war die halbstreunende Lebensweise von Freccia akut
bedroht.
Wie immer fand
Daniela eine Lösung, die alle Beteiligten zufriedenstellte. Sie
rief den fabbro an, den Schmied –
wieder so ein buckliger compare -, der
einen der unteren senkrechten Stäbe entfernte. Daniela hoffte, dass
Valeria sein Fehlen nicht bemerken würde, bewahrte ihn aber für
alle Fälle auf. Freccia besaß ein neues Fenster zur Welt und konnte
wieder kommen und gehen, wann sie wollte.
Eine Woche nachdem
wir dieses Fenster geöffnet hatten, sah ich mich gezwungen, es mit
einem Ziegelstein zu schließen und Freccia am Geländer der
Hintertreppe anzubinden. Der Tierarzt, der sie am nächsten Tag
sterilisieren sollte, hatte ihr einen nüchternen Magen verordnet.
Wenn sie in der Nacht frei umherstrich, würde sie bestimmt
irgendetwas zu fressen finden. Für einen Freigeist wie Freccia war
das wie eine Nacht im Gefängnis. Ihre räudigen Rudelgefährten kamen
zur üblichen Stunde zum Haus, aber als sie nicht auftauchte,
warteten sie vor dem Tor und heulten einen vigile herbei. Als ich rausging, um ihm zu
versichern, dass es sich um eine einmalige Maßnahme handele, die
uns alle vor weiterem Elend bewahren würde, sah ich, dass das Seil
nass war, wo Freccia versucht hatte, sich frei zu kauen. Treue
lässt sich niemals anhand der Länge eines Seils oder der Höhe eines
Zaunes bemessen. Aber ich war froh darüber, denn Unabhängigkeit war
ihre einzige Hoffnung.
Am nächsten Morgen
brachten wir Freccia zu einem Tierarzt nach Melafano, den uns
Teresa empfohlen hatte, da er für Streuner einen Rabatt machte.
Teresa, die seine Dienste bereits mehrfach in Anspruch genommen
hatte, begleitete uns und hoffte, den Preis noch etwas weiter
drücken zu können. Als wir um halb zehn wie vereinbart zu seiner
Praxis kamen, war diese geschlossen. Also warteten wir vor dem weiß
gestrichenen Haus, das genauso aussah wie die anderen in der
Straße, nur dass ein Messingschild mit dem Namen des Tierarztes,
seinen Öffnungszeiten und seinen Telefonnummern daran befestigt
war. Seine Handynummer hatte sich geändert, und die neue war mit
Klebeband über die alte geklebt worden.
Eine halbe Stunde
später tauchte die Helferin des Tierarztes auf und öffnete die
vordere serranda, um einen Foxterrier
freizulassen. Der raste in einem solchen Tempo die Straße hinunter,
dass offensichtlich war: Man hatte ihn eindeutig gegen seinen
Willen festgehalten. Vielleicht gefiel ihm das Wartezimmer nicht:
ein Metallkruzifix, eine verdurstende Topfpflanze, Hundehaare in
jeder Ecke und ein abgestandener Geruch nach
Tiermedikamenten.
Um halb elf, also
eine Stunde zu spät, kam der Tierarzt so gemütlich daher, als sei
er früh dran. Die Ähnlichkeit der kahlköpfigen und beleibten
Gestalt mit Mussolini war kein Zufall, sondern eine bewusst
kultivierte Ähnlichkeit: Dieser Mann wollte seinem Helden eindeutig
nacheifern. Er ignorierte die Tiere, die geduldiger warteten als
ihre Besitzer, begrüßte Teresa und gab uns ein Zeichen, ihm in sein
Büro zu folgen, in einen Schrein für faschistische Andenken. Über
seinem unaufgeräumten Schreibtisch hing der »Benito Mussolini
2000«-Kalender, auf dem stand: »Der duce ist auch im dritten Millennium mit Ihnen«. In
einem Regal befanden sich drei verstaubte Flaschen Wein. Auf ihren
Etiketten prangte ein Porträt von Benito, der den Gedenk-Bordeaux
als »Stolz von Predappio« anpries, dem Geburtsort des Diktators.
Wohin ich auch sah – überall entdeckte ich Andenken an den
Faschismus, nur nicht im Wartezimmer, das von der Straße einsehbar
war.
Wo sonst, wenn nicht
in Italien, kann man über den Preis einer Gebärmutterentfernung
verhandeln? Nach einer Diskussion, die besser auf den Markt gepasst
hätte, führte man uns in ein Zimmer im hinteren Teil der Praxis,
von dem aus man in einen ungepflegten Garten sah, wo eine
Wäscheleine unter dem Gewicht einstmals weißer Handtücher
durchhing. Wie der Rest des Hauses war auch der OP-Raum dreckig und
mit einem Foto von Mussolini geschmückt. Diesmal saß er hoch zu
Ross und zeigte in die Ferne auf noch zu erobernde Kolonien. Na ja,
sagen wir mal auf Abessinien. In den Regalen standen außerdem
Einmachgläser mit präparierten Organen, und auf der Bank lag eine
tote Katze, die alle viere von sich gestreckt hatte. Der Hund, der
mehr Terrorist war als Terrier, war inzwischen auch wieder
zurückgekehrt und sprang auf einen Tisch in der Zimmerecke, wo er
aus einer Schale mit chirurgischen Instrumenten trank, um gleich
darauf im Warteraum zu verschwinden und einen Cockerspaniel zu
besteigen.
Was soll man tun,
wenn sich ein Neofaschist anschickt, seinen neuesten Freund zu
einem Spottpreis aufzuschneiden? Im Nachhinein hätte ich eine
Entschuldigung erfinden und die Pfoten unter den Arm nehmen sollen
wie der Terrier. Aber im Eifer des Gefechts waren wir viel zu
schockiert, um zu protestieren, und sahen reumütig zu, wie der
Tierarzt das Betäubungsmittel verabreichte und die zierliche
Freccia in einen künstlichen Schlaf fiel. Dann packte sie die
Tierarzthelferin mit den hochhackigen Schuhen im Genick, brachte
sie in Position und band ihre Pfoten an einem Tisch fest, der
weniger steril war, als Freccia bald sein würde. Indem er
Gummihandschuhe verteilte, lud uns der Tierarzt ein, bei der
Operation zuzusehen, besser gesagt mich, denn Daniela und Teresa
waren bereits beim Anblick der Spritze geflohen.
Freccias Bauch wurde
mit einem Skalpell aufgeschnitten, eine kleine Öffnung entstand, in
die der Tierarzt einen knubbeligen Finger steckte. Ihr
geschmeidiges rosa Fleisch gab nach, und ich sah den empfindlichen
Kern eines dickfelligen Hundes. In einem Moment, den nur er für
angemessen hielt, versuchte der Tierarzt, eine Unterhaltung in Gang
zu bringen. »Was zum Teufel hat ein Australier hier unten zu
suchen?«, fragte er und meinte damit höchstwahrscheinlich
Süditalien. »Turismo«, entgegnete ich
kurz angebunden, in der Hoffnung, er würde sich wieder auf den Hund
statt auf mich konzentrieren. Doch der Arzt wollte partout plaudern
und stellte mir eine Frage nach der anderen, während Freccias Zunge
schlaff aus ihrem Maul hing und der Terrier, der aus dem
Wartezimmer zurückgekehrt war, um seine Füße strich und Blut von
den Fliesen leckte.
»Wie lange fliegt
man nach Australien?«, fragte der Tierarzt, der seinen Finger bis
zum Knöchel in meinem Hund stecken hatte.
»Von Rom aus
ungefähr einundzwanzig Stunden.«
»Cazzo! Da werde ich bestimmt nie hinreisen. Ich
habe eine Heidenangst vor dem Fliegen.«
»Hm-hm.«
»Vor Zügen auch.
Aber Autos und Boote sind mein Ding. Geben Sie mir irgendein Boot
an irgendeinem Meer, und ich bring es zurück in den
Hafen.«
»Hm-hm.«
Er fummelte in
Freccia herum und suchte nach den benötigten Organen.
»Eines Nachts ist
mir das Benzin ausgegangen, und ich trieb elf Stunden lang inmitten
von meterhohen Wellen umher. Das war ganz schön haarig, aber ich
bin immer noch hier, um Ihnen davon zu erzählen.«
»Hm-hm.«
Zum Glück wurde er
vom Telefon in seinem Büro unterbrochen.
Leider war es für
ihn – »Ihr Schwager«, verkündete die Tierarzthelferin, die in den
Raum zurückgekehrt war.
»Chi?«
»Ihr
Schwager.«
»Ich habe keinen
Schwager.«
»Er hat gesagt, er
sei ›Luigi, der Schwager des Tierarztes‹.«
»Luigi?«, sagte der
Arzt zu sich selbst. »Ich kenne keinen Luigi.«
Sein Gesicht zuckte,
als er seinen Finger weiter in seine Patientin schob.
»Was soll ich ihm
sagen?«, fragte seine frustrierte Helferin.
Einen Moment lang
hatte ich Angst, er würde das Telefonat entgegennehmen, aber zum
Glück überlegte er es sich anders und fuhr mit seiner Suche nach
Freccias Eierstöcken fort.
»Notieren Sie sich
seine Nummer, ich ruf zurück«, befahl er, »wer immer das auch
ist.«
Freccias Wunde
öffnete sich weiter, während der Tierarzt rief: »Wo zum Teufel sind
sie?«, und einen zweiten Finger einführte. Er sah zur Decke und
schloss die Augen, ich fürchte, in dem Bemühen, sich die Seiten
eines Lehrbuchs wieder vor Augen zu führen. Nachdem sie den
mysteriösen Anrufer abgefertigt hatte, kehrte die Tierarzthelferin
zurück, während der Arzt verkündete: »Die Dinger verstecken sich«
und nach seinem Skalpell griff, um Freccia noch weiter
aufzuschneiden. Der Hund wimmerte, woraufhin ich es ihm gleichtat,
aber der Tierarzt versicherte mir, dass sie nur »von gut gebauten
Rüden träume, für die sie schon bald keine Verwendung mehr habe«.
Er war der Typ grobschlächtiger Süditaliener, der sämtliche
Vorurteile von Norditalienern bestätigte.
Als ein dritter
Finger ebenfalls nichts zutage förderte, verzichtete der Tierarzt
darauf, die ganze Hand hineinzustecken, sondern brach die Suche im
Bauchraum ab. Stattdessen zog er Freccias Eingeweide heraus, wo er
sie bei Tageslicht auseinandersortieren konnte. Ihre Eingeweide
glänzten in seinen Gummihandschuhen. Wie ein Fotograf, der eine
Reihe Negative durchgeht, inspizierte er ein Stück Darm, bevor er
es auf den Tisch legte.
Da es keine Tür gab,
die ihn davon abhalten konnte, kam ein Mann im Leinenanzug ins
Zimmer, der eine Zigarette rauchte. Keine Ahnung, wer das war, auf
jeden Fall nicht der Schwager des Tierarztes, aber er schien den
Arzt gut zu kennen, da er sich nicht lange bitten ließ und auf der
Bank neben der toten Katze Platz nahm.
»Morto?«, fragte er und betrachtete den Leichnam
gleichgültig.
»Offensichtlich ja«,
entgegnete der Tierarzt ungewohnt knapp – hoffentlich, weil er sich
gerade konzentrierte.
»Was ist
passiert?«
»Dasselbe wie mit
dem Hund Ihrer Frau – sie wurde vergiftet.« Der Tierarzt sah mich
an. »Das passiert hier oft.«
Der Eindringling zog
an seiner Zigarette, die sich nach oben bog und deutlich
verkürzte.
»Schumacher hat die
Pole-Position im morgigen Rennen«, fuhr er fort und aschte auf den
Boden.
»Bene.«
»Was für ein Team,
diese Ferrari-Jungs! Campioni.«
Ich wusste nicht
recht, was mich mehr beunruhigte: dass er den Tierarzt ablenkte
oder dass er rauchte.
Ich spielte den
Touristen und fragte den Tierarzt: »Darf man in Italien in
OP-Räumen rauchen?«
»Probabilmente no«, entgegnete er, sah seinen
Besucher an und zog die Brauen hoch. Daraufhin hob dieser beide
Hände, was auf Italienisch »Wer, ich?« bedeutet, bevor er einen
letzten Zug nahm und die Kippe aus dem Fenster warf. Anschließend
tätschelte er dem Tierarzt den Arm und ging zum
Ausgang.
»Ich ruf dich an,
sobald meine Frau weiß, was sie mit der Leiche machen will«, sagte
er und meinte damit vermutlich seinen vergifteten
Hund.
»Va bene«, sagte der Tierarzt. »Und grüß deine
Mutter.«
Wir hätten genauso
gut in einer Bar sein können.
Nach einem
frustrierenden Anfang war der Rest nur noch Routine. Der Tierarzt
verkündete, er könne Freccias Eierstöcke nicht finden, sodass er
ihre Gebärmutter entfernen müsse. Er schnitt drei Streifen Fleisch
aus dem Durcheinander von Organen auf dem Operationstisch und warf
sie in einen Eimer wie ein angeberischer Küchenchef, der zeigen
will, wie gut er zielen kann. Die Patientin blutete, und die
Helferin tupfte die Wunde mit einem Handtuch von der Wäscheleine
ab. Der Tierarzt stopfte Freccias Eingeweide zurück in die
Bauchhöhle – hoffentlich in derselben Reihenfolge, wie er sie
entnommen hatte -, wischte die Wunde sauber, nähte sie zu, sprühte
seine Arbeit mit Desinfektionsspray ein und bedeckte die Narbe mit
einem Tupfer. Dann wickelte er dasselbe Klebeband, auf dem auch
seine Handynummer stand, zweimal um Freccias Taille und verpackte
sie wie ein Weihnachtsgeschenk.
»Wie wollen Sie das
je wieder abkriegen, ohne ihr das Fell auszureißen?«, fragte
ich.
»Tranquillo«, entgegnete er und warf seine
Handschuhe in denselben Eimer wie den Uterus. »Sie wird nicht das
Geringste spüren.«
Freccia war
losgebunden und auf die Seite gelegt worden, bevor der Tierarzt und
seine Helferin den Raum verließen. Ohne sich die Hände zu waschen,
ging der Grobian in sein Büro und rief seinem nächsten Opfer ein
»Avanti!« entgegen. Ich blieb allein
mit Freccia und Mussolini zurück, dem Hund und dem Hundesohn. Ich
tätschelte die Patientin und starrte auf das Porträt des »Apostels
der Gewalt«, wie sich Mussolini selbst tituliert hatte. Was er wohl
zu der Darbietung des Tierarzts gesagt hätte? Abgesehen von den
anfänglichen Komplikationen hätte er ihm bestimmt die Bestnote
gegeben: Nüchtern, brüsk und gnadenlos – genau, wie es sich für
einen anständigen Faschisten gehört.
Eine halbe Stunde
später kam der Tierarzt zurück, stopfte Freccia wieder die Zunge
ins Maul und gab ihr mehrere Klapse, um sie zu wecken, als ob sie
in Ohnmacht gefallen wäre. Als sie widerwillig zu sich kam,
inspizierte er ihren Verband, befand ihn für perfetto und führte mich in sein Büro, damit wir
die Rechnung begleichen konnten. Ich zahlte hundert Euro statt den
üblichen zweihundert, natürlich in bar. Es gab keine Quittung, und
nichts verriet unser kleines Geschäft bis auf den Verband um
Freccias Torso. Selbst wenn die Guardia di
Finanza am Ausgang auf uns gewartet hätte – ich hätte es
nicht übers Herz gebracht, ihn abzureißen. Ein Bußgeld wäre weniger
schmerzhaft gewesen, zumindest für Freccia.
Trotz der holprigen
Straßen verschlief Freccia die ganze Heimfahrt von Melafano und
hatte den auch für mich schmerzhaften Vormittag hoffentlich wieder
vergessen. Ich fragte mich, warum Teresa diesem grobschlächtigen
Tierarzt dermaßen die Treue hielt, und erzählte ihr und Daniela,
was im »Operationssaal« passiert war.
»Bist du sicher,
dass er ihre Eierstöcke nicht finden konnte?«, fragte
Teresa.
»Das hat er
gesagt.«
»Wenn du mich
fragst, hat er sie gefunden, wollte sie aber nicht
entfernen.«
»Warum?«
»Damit sie immer
noch läufig werden kann.«
»Aber ohne
Gebärmutter kann sie doch nicht mehr läufig werden«, warf Daniela
ein.
»O doch«, beharrte
Teresa.
»Keine Ahnung«,
meinte ich. »Aber selbst wenn, warum sollte er das
wollen?«
»Damit sie Sex haben
kann, natürlich.«
»Aber warum sollte
er Interesse am Sexleben eines Streuners haben?«
»Crris, die meisten
Italiener glauben, dass es grausam ist, Tiere zu sterilisieren,
weil es unnatürlich ist.«
»Aber sie aussetzen
– das ist natürlich, was?!«
Teresa wurde genauso
still wie Freccia.
Wieder einmal
sorgten Antibiotika und Parmaschinken für eine rasche Genesung.
Obwohl man ihr Ruhe verordnet hatte, stromerte Freccia mit ihren
Gefährten schon am nächsten Abend wieder herum. Sie sah lächerlich
aus mit ihrem Verband, und ich musste eines Nachmittags aufs
Burggelände eilen, als ich sah, wie ein alter Mann versuchte, ihn
abzumachen. Aus Angst, das könnte noch mal passieren, schrieb ich
darauf: »Nicht abmachen. Ich wurde operiert«, worüber der Tierarzt
herzlich lachen musste, als ich Freccia zu ihm brachte, um die
Fäden ziehen zu lassen. Wie befürchtet, schnitt der Sadist den
Verband nicht etwa auf, sondern riss ihn ihr abrupt ab. »Wie ein
Bikini-Waxing«, sagte er, als Freccia aufjaulte. Dann zog er die
Fäden und inspizierte die Wunde, bevor Freccia und ich genauso
schnell aus seinem kleinen Horrorladen verschwanden, wie es der
Terrier in der Woche davor getan hatte – eine Warnung, die ich
leider nicht beherzigt hatte.
Als Belohnung dafür,
Mussolini überlebt zu haben, kauften wir Freccia eine Hundehütte.
Dabei wurden wir auf traurige Weise daran erinnert, wie viel wir
für einen Hund taten, aber wie wenig wir für die anderen tun
konnten. Die Hütten standen vor der Tierhandlung von Tricase auf
dem Bürgersteig. Die Verkäuferin trat gegen jede, an der wir
Interesse zeigten, woraufhin ein Streuner zum Vorschein kam.
Beinahe jede Hütte war bereits bewohnt, also nahmen wir die
einzige, die noch frei war, in der Hoffnung, die Hausbesetzer nicht
um ihr Dach über dem Kopf zu bringen.
Freccia liebte ihr
neues Zuhause, in dem sie nur tagsüber wohnte, denn nachts hielt
sie ihrem Rudel die Treue, das nach wie vor am Tor vorbeikam. So
sah ihr Alltag aus, bis ich etwa einen Monat nach ihrer Operation
sah, dass ihr Napf voll und ihre Hütte leer war. Zwei Tage
vergingen, ohne dass sich die Hündin zeigte, und erst in diesem
Moment wurde mir klar, wie sehr ich an ihr hing. Ihr Rudel war
ebenfalls verschwunden, und ich befürchtete schon, von den
Verlassenen verlassen worden zu sein.
Am dritten Morgen
nach Freccias Verschwinden schrieb ich gerade etwas im
Arbeitszimmer, als ich das unnachahmliche Geräusch hörte, wie sie
sich durchs Tor quetschte, und eilte nach draußen, um sie völlig
erschöpft in ihrer Hütte vorzufinden. Ihr Brustkorb hob und senkte
sich rasch, und ihre Pfoten bluteten. Sie schlief zwei Tage lang,
und erst, als sie wieder hervorkam und ich sie nach Zecken
absuchte, entdeckte ich eine Tätowierung in ihrem Ohr.
Ein Ausflug zur
polizia municipale bestätigte Danielas
Verdacht, dass der Hundefänger von Corsano, einem Ort hinter
Tricase, seine Nachsommerrunde gedreht hatte, um die Straßen vom
diesjährigen Müll an Vierbeinern zu säubern, der im Juni
weggeworfen und im Oktober eingesammelt wurde. Die Anzahl der in
Andrano aufgegriffenen Hunde entsprach den Mitgliedern ihres
Rudels, darunter auch ein Teilzeitmitglied. Ein so zarter Hund
schafft es nur, aus dem Zwinger zu fliehen und fünfzehn Kilometer
in unwegsamem Gelände zurückzulegen, wenn er etwas hat, wofür es
sich zu leben lohnt. Freccia wusste, dass sie mich hatte und dass
ich auf sie warten würde wie ein besorgter Vater.
Ich war entzückt,
sie wiederzusehen, und kaufte ihr ein Halsband, damit sie nicht
noch einmal aufgegriffen wurde. Sie trug es mit Stolz, so als
bestätige es ihre Adoption. Und das tat es wahrscheinlich auch. Die
zärtliche Flohfängerin, die Krankheit, Hunger, den Verlust ihrer
Jungen, meine Versuche, sie einschläfern zu lassen, Mussolinis
Skalpell und jetzt auch noch den Hundefänger überlebt hatte, hatte
sich meinen ganzen Respekt, meine Bewunderung und einen festen
Platz in meinem Herzen ertrotzt. Weil ich am Anfang so stark
dagegen angekämpft hatte, sie zu lieben, liebte ich sie am Ende
umso mehr.
Ohne Gefährten, die
sie weglockten, streunte Freccia immer weniger. Nur am Markttag
entdeckte ich sie irgendwo im Ort, meist unter dem
Delikatessenwohnwagen, der ihr jetzt ganz allein gehörte. Sie wurde
mein Hund, meine Gefährtin und vor allem mein Schatten, der meinem
Rad folgte, wo immer es auch hinfuhr. Und wenn ich mich über die
Grenzen Andranos hinauswagte, kletterte sie auf meine Vespa, saß
zwischen mir und dem Lenker und zog den Kopf ein, als ob sie etwas
von Aerodynamik verstünde – für einen Hund, der Pfeil heißt, die
einzig angemessene Art zu reisen. Sie kam mit zum Tennis, zum
Strand und zur »California«-Tankstelle, aber ihr Lieblingsausflug
war natürlich der zum Metzger. Von dort aus kehrte sie zwischen
meinen Armen heim, während ihr der Fahrtwind das Fell zerzauste und
sie einen Knochen im Maul hatte.
Freccia sollte mir
noch ein halbes Jahr Gesellschaft leisten, bis ein Tierarzt in
Tricase, ein einfühlsamer junger Mann, den ich am liebsten früher
kennengelernt hätte, einen Tumor in ihrem Bauch entdeckte und sie
von ihrem Leiden erlöste. Ich strich Freccia über die Ohren, als er
die Spritze aufzog, sah ihr in die Augen, während sie glasig wurden
und schließlich erstarrten. Das Letzte, was sie spürte, war das
Versprechen von Sicherheit und wie ich dankbar über ihre
sandpapierrauen Pfoten strich. Ich hatte seit meinem Umzug nach
Italien schon einige unangenehme Dinge erlebt, aber bei Freccias
Tod brach ich zum ersten Mal in Tränen aus. Aber nicht nur Freccia
brach mir das Herz, sondern auch die Millionen anderen ausgesetzten
Hunde in Italien, die nie die Chance hatten, ihre Nasen durch mein
Tor zu stecken.
Wenn ich an Freccia
zurückdenke, glaube ich, dass sie mich ebenso gerettet hat wie ich
sie, da wir im Grunde beide Streuner in Andrano waren. Vielleicht
sucht derjenige, der einen Hund adoptiert, genauso sehr nach einem
Gefährten wie der Hund. Ich fühlte mich in Italien oft isoliert,
und zwar eher seelisch als körperlich. Egal, wie gut ich mich
anpasste, ich war in jeder Hinsicht anders, angefangen von meinem
Humor bis hin zu meiner Fähigkeit, Schlange zu stehen, ohne einen
Streit vom Zaun zu brechen. In soziologischer, kultureller, ja
sogar in religiöser Hinsicht hatte ich einen sehr unorthodoxen
Blick auf die meisten Dinge. Freccia war die Einzige, die mich
nicht daran erinnerte, wie fremd ich hier war. Ich tauschte
Essensreste gegen ein stilles Einvernehmen, das so kostbar war,
dass es sich mit Worten kaum beschreiben lässt. Sie war eine
Gleichgesinnte, die mir Gesellschaft leistete und mir das Gefühl
gab, zu Hause zu sein. Sie fraß sogar Toast mit Vegemite und war somit die einzige Italienerin, die
ich von dieser delikaten Hefepaste überzeugen konnte.
Bevor Freccia vor
dem Tor gestanden war, hatte es »mich« und »die anderen« gegeben,
danach nur noch »uns« und »die anderen«. Daniela war meine
Freundin, aber Freccia war meine Verbündete. Man kann die ganze
Welt bereisen, die unterschiedlichsten Menschen kennenlernen, aber
egal, wo man hinkommt, Hunde sind überall gleich. Man braucht sie
nur zu streicheln und ihnen eine Schüssel mit Futter hinzustellen,
und sie weichen einem nicht mehr von der Seite, solange sie leben.
Und solange ich lebe, werde ich den hungrigen Hund in Erinnerung
behalten, dem Freundschaft über Futter ging, jenen einfarbigen
Pfeil, der mein Herz durchbohrte.
In einer kargen
Landschaft aus Kalkstein ein Grab ausheben zu wollen ist nahezu
unmöglich. Nach einer ausgedehnten Suche nach weichem Boden,
einschließlich mehrerer gescheiterter Versuche, bei denen meine
Zähne knirschten und meine Schaufel verbogen wurde, entdeckten wir
ein ebenso passendes wie schönes Fleckchen in einem Olivenhain auf
der Landzunge hinter dem Torre del Sasso, dem Aussichtsturm mit
Blick auf La Botte und das Blau des Mittelmeers.
Die Sonne ging
gerade unter, als wir Freccia zwischen den jahrhundertealten
Olivenbäumen begruben und ihnen diesen leichtfüßigen Racker für die
nächsten Jahrtausende übergaben.