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Die Piazza am Meer
 
Ich schlief schnell ein, wurde aber von einem selbst gebastelten Megaphon ebenso schnell wieder aus dem Schlaf gerissen. »Meloni meloni meloni!« In Andrano hatte sich nichts verändert. Signor Api betankte Autos in einem ölverschmierten Hemd, Obst- und Gemüsehändler scheuchten Käufer aus ihren Häusern, und eine streunende Katze suchte Zuflucht unter Pippos Fiat, der wie immer in Danielas Einfahrt stand. Fischerboote kehrten in den Hafen zurück, Bauern schufteten auf ihren Feldern, Hausfrauen hingen die Wäsche auf der Dachterrasse auf, und Kinder stahlen Tomaten von Ladeflächen. Ein Mann auf einem Motorrad sauste an der Burg vorbei und balancierte eine Wassermelone auf seinem Benzintank. Eine schwarze Witwe radelte über die Piazza und brachte einen frischen Blumenstrauß auf den Friedhof. Und als die Kirchturmglocke neun Uhr schlug, strahlte das weiße Dorf heller als die Sonne. Es waren bereits dreißig Grad – der Sommer war nach Andrano zurückgekehrt.
»Meeeeelanzzaaaneeciicoooooorie!« Diesmal verstand ich das Geschrei, das mich aus dem Schlaf riss. Noch vor einem Jahr war es mir völlig unverständlich, aber jetzt begriff ich jedes Wort. Meine zweite Heimat und meine zweite Sprache waren mir zur zweiten Natur geworden. Ich war endlich unabhängig und schaffte es sogar, den Preis für eine Artischocke weiter herunterzuhandeln als Daniela. Ich lief in der Badehose auf die Straße und gab den Händlern ein Zeichen, anzuhalten. Alle kannten mich, den einzigen Australier im Ort. »Il Canguro!«, riefen sie, bevor sie ihren Motor abstellten, um mir etwas zu verkaufen und – was noch viel wichtiger war – einen Schwatz mit mir zu halten.
Meine Rückkehr nach Andrano bewegte mich sehr. Ich hatte zwar auf dem Papier über ein Jahr hier gelebt, aber nicht gemerkt, wie sehr ich den Ort ins Herz geschlossen hatte, bis er mir zeigte, wie sehr er mich ins Herz geschlossen hatte. Freunde hupten, wenn sie an unserem Haus vorbeifuhren. Andere schauten vorbei und brachten mir Geschenke wie selbst gemachte Pasta, Gnocchi und Gemüse, das sie im eigenen Garten gezogen hatten. Daniela kaufte mir eine Vespa, Valeria backte mir einen Kuchen, und Franco sah durch mich hindurch und lächelte. Aber das größte Trara veranstaltete Signor Api. »Eeeeei!«, rief er, als wir an der California-Tankstelle hielten. »Bentornato Arrison!« Dann ging er um den Wagen herum, starrte durch die Scheiben und rief: »Was? Kein Baby? Warum nicht? Du hattest ein Jahr Zeit!«
 
Danielas Vater wirkte geschwächt. Er war noch unsicherer auf seinen zittrigen Beinen als vorher, aber als Kranker genauso stur wie als Gesunder. Also weigerte er sich, ohne einen anständigen Kampf zu Boden zu gehen. Eine Woche nach meiner Ankunft flog Francesco aus Mailand zu uns und fuhr Valeria und Franco nach Sizilien. Daniela und ich blieben während ihrer zweimonatigen Schulferien allein in Andrano zurück. Der Sommer gehörte uns, und wir hatten vor, schwimmen zu gehen, zu lesen und uns zu entspannen. Aber eine zufällige Begegnung auf einem Abendspaziergang machte aus dem geplanten Erholungsurlaub die hektischsten Ferien meines Lebens.
Als wir nämlich an dem Haus von Riccardo, dem Polizeichef, vorbeigingen, der mir mit meinen Papieren geholfen hatte, bemerkten wir, dass er die Autoscheinwerfer angelassen hatte. Wir hatten ihm einiges zu verdanken, also klingelten wir, um ihm Bescheid zu sagen. Der Summer am Tor wurde von seiner atemberaubenden Frau Maria bedient, die uns mit Küssen bedeckte und zwischendrin ihren Dobermännern befahl, das Maul zu halten. Bevor wir den Grund unseres Besuchs überhaupt erwähnen konnten, hatte uns Maria bereits in den Garten hinter dem Haus geführt, wo wir Riccardo mit hochgekrempelten Ärmeln über den Kadavern von zwei geköpften Hühnern vorfanden. Ein noch lebender, aggressiver dritter Vogel, der ganz außer sich war, weil er den Mord an seinen Gefährten hatte miterleben müssen, stand ebenfalls kurz davor, exekutiert zu werden. Der Polizeichef schlug ihm mit einem Ziegel auf den Kopf, mit einem anderen auf seine Füße, und nach einem »sauberen« Schnitt mit dem Küchenmesser verstummte die Henne. Riccardos beide kleinen Töchter, die nicht mitbekommen hatten, dass der Vater ihre Haustiere zum Abendessen zubereitete, spielten mit Freunden auf der anderen Straßenseite.
»Schau mal, wer da ist!«, rief Maria und lenkte ihren Mann ab, dessen Gesicht zu strahlen begann, als er Daniela und mich entdeckte. Er war so aufgeregt, dass er mit dem Messer auf uns zurannte. Riccardo war ein Hüne, der trotz seines Körperumfangs so agil und lebhaft war wie ein kleines Kind. Seine Zunge war genauso flink wie er und bombardierte uns mit Fragen, ohne die Antwort auch nur abzuwarten. Wie er so Verdächtige vernehmen wollte, war mir ein Rätsel.
»Meine lieben Freunde. Wie geht es euch? Wie geht es deinem Vater, Daniela? Habt ihr morgen Abend schon was vor?«
»Auf jeden Fall mehr als diese Hühner«, beantwortete ich seine letzte Frage als erste.
»Kommt gegen halb zehn. Wir werden viele Leute sein und die hier essen.« Er zeigte auf seine Kadaversammlung. »Ich hab sie selbst aufgezogen«, fuhr er fort und zeigte auf einen Verschlag, in dem ein Dutzend Hennen in ihrem Todestrakt herumstolzierten. »Sie schmecken köstlich, ihr werdet sehen.« Wir nahmen gemeinsam einen Drink und wurden mit Fragen überhäuft, die zu beantworten uns meist unmöglich gemacht wurde. So war das immer bei dem Polizeichef – man fühlte sich, als ob man gleichzeitig gefeiert und ignoriert wird. Mit demselben Trara, mit dem man uns empfangen hatte, wurden wir auch wieder zum Tor begleitet. Erst als wir zu Hause waren, merkten wir, dass wir ganz vergessen hatten, Riccardo von seinen Scheinwerfern zu erzählen.
»Ich ruf ihn an«, sagte Daniela.
»Nein, lass«, entgegnete ich grinsend. »Diese Hühner müssen gerächt werden.«
Am Abend darauf entspannten wir uns mit zwanzig durchgedrehten Italienern und ihren Kindern in Riccardos Garten. Wir aßen und tranken bis weit nach Mitternacht. Ich hatte keine Ahnung, wer zu wem gehörte. Mädchen wurden von diversen Müttern verwarnt, nicht mit vollem Mund zu sprechen, und Jungen von ihren Vätern, ihre Wassermelonen nicht so brutal mit dem Messer zu massakrieren. Severgnini hat Recht mit seiner Terrazzo Law: Wenn man unter freiem Himmel mit netten Leuten zu Abend isst und guten Wein trinkt, lösen sich Italiens Alltagsprobleme in Wohlgefallen auf. Berlusconi hätte seine Hände in der Staatskasse haben können, und es wäre uns egal gewesen.
Trotzdem wurde ich den Verdacht nicht los, dass die Hühner umsonst gestorben waren. Sie waren der vierte Gang eines fünfgängigen Festmahls, und als sie endlich aufgetragen wurden, konnten wir einfach nicht mehr. Aber als ich sah, dass Riccardo auf einen Schwatz herüberkam, nahm ich ein paar Bissen.
»Allora?«, fragte er. »Wie sind sie?«
»Buonissimo«, erwiderte ich und unterdrückte ein Rülpsen.
»Complimenti«, ächzte Daniela, die genauso vollgestopft war wie ich.
»Das freut mich«, sagte Riccardo. »Aber sagt bitte den Mädchen nichts. Sie haben den ganzen Vormittag damit verbracht, die Hühner zu zählen, die zum Glück nicht lange genug still gestanden sind, dass sie die fehlenden drei bemerkt hätten. Ich habe ihnen gestanden, eines getötet zu haben, aber die anderen hat der Metzger gebracht, kapiert?« Wenn ein Polizist seine Version des Geschehens mit Zeugen bespricht statt umgekehrt, weiß man, dass man in Süditalien ist.
Als perfekter Gastgeber kam Riccardo nach dem Essen mit einem Teewagen voller Liköre an und bestand darauf, dass ich einen Amaro probierte – einen Verdauungsschnaps, der als Kräutertee durchgehen könnte, wenn er nicht 30 Prozent Alkohol hätte. Die Tische wurden weggeräumt und ein Akkordeon hervorgezaubert. Kinder tanzten, Eltern sangen, und ein streunender Hund schnupperte am Tor. Viele Lieder waren im Dialekt, und ich verstand nur, dass eine Frau namens Adriana zu viele Männer liebte und sich dringend entscheiden musste. Dann ging es mit Tarantellas weiter, die Kinder wanden sich und zappelten, als hätten sie den »Trance-Tanz« im Blut. Gegen zwei Uhr nachts sangen wir immer noch. Keiner der Eltern verschwendete auch nur einen Gedanken daran, die Kinder nach Hause zu bringen, und diejenigen, die auf ihren Stühlen eingenickt waren, wurden am Ende eines jeden Lieds von dem herzlichen Applaus der sommerlichen Sänger geweckt.
Gegen drei gingen die meisten nach Hause, während der Rest beschloss, nach Castro zu fahren, um dort ein Eis zu essen. Riccardo war mit von der Partie, brauchte aber eine Mitfahrgelegenheit, weil seine Autobatterie leer war. Wir fuhren im Konvoi hinter Riccardos Freund Diego her, der behauptete, eine Abkürzung zu kennen. Diego, der die Anwesenheit eines Polizisten im Auto vollständig ignorierte, fuhr den größten Teil der Strecke auf der falschen Straßenseite, also auf der linken Fahrbahn, »damit sich der Australier ganz wie zu Hause fühlt«, wie er uns erklärte.
Es dauerte nur noch wenige Stunden, und eine erbarmungslose Sonne würde vom Himmel brennen. Dann wäre es zu heiß, um sich zu bewegen, also mussten wir die Dunkelheit weitestgehend ausnutzen. Nur die Unverzagtesten blieben übrig: Riccardo, Diego, Daniela und ich, ein Konzertpianist und der örtliche Klempner. Aber was nun? Mein Vorschlag, zum Hafen zu fahren und schwimmen zu gehen, schockierte alle. Nicht, weil sie etwas dagegen hatten, sondern weil sie meine Idee für den sicheren Tod hielten. Also verdauten wir noch eine halbe Stunde, bevor wir zum Hafen von Andrano aufbrachen. Von einem Felsen aus neben den Fischerbooten, die an ihren Leinen ächzten, wurde ein Tauchwettbewerb organisiert. In Unterwäsche stürzten wir uns ins Wasser und kreischten wie die Kinder, während sich das Wasser weiß und der Horizont hellrosa färbte.
Als Daniela und ich endlich ins Bett gingen, war die Sonne bereits aufgegangen, doch indem wir die serranda schlossen, ließen wir sie wieder untergehen. Zum ersten Mal verschliefen wir den Wassermelonenverkäufer, der kurz darauf lauthals seine Runde drehte.
Wir verbrachten fast den ganzen Sommer mit diesem Haufen über vierzigjähriger Teenager und waren dermaßen aktiv, dass nicht mal die Kirchturmglocke hinterherkam. Auf lebhafte Nächte folgten faule Tage an Andranos beliebtestem Badestrand La Botte, der so heißt, weil er wie ein Weinfass geformt ist. Viele Strände im Salento haben Spitznamen und sind nach den Konturen benannt, die ihnen das Wasser und die Zeit gegeben haben. Ein paar Kilometer weiter südlich liegt La Grotta Verde – die grüne Grotte, wo die Fischer Seile vom »Schweinerüssel« werfen und Badende vom »Adlerschnabel« springen. Alle diese Strände waren beliebt, aber La Botte war mit seinem Parkplatz und Kiosk am leichtesten zu erreichen und dementsprechend überfüllt.
Jetzt, wo die Einwohner von Andrano den Hügel zu ihren Ferienhäusern heruntergerollt waren, brauchten sie einen neuen Treffpunkt. Das relativ ebene, große Felsplateau von La Botte an einer sonst eher schroffen Küste war genau der richtige Ort dafür – eine Piazza am Meer. Ganz so, als hätte man den Marktplatz in den heißesten Monaten des Jahres an den Strand verlegt, wo es mindestens fünf Grad kühler war als im Ort oben auf dem Hügel. Ein Kiosk ersetzte die Bar, Märkte wurden auf dem Parkplatz abgehalten, und selbst der Priester hielt eine Nachmittagsmesse am Strand, um der Hitze in der Kirche zu entgehen.
Dicht an dicht tummelten sich die Andranesi am Strand wie Pinguine einer Kolonie. Sie kümmerten sich um alle möglichen Angelegenheiten, nur nicht um ihre eigenen. In Badeanzügen und Plastiksandalen, weil die spitzen Felsen und Seeigel zu scharf für Barfußläufer waren, gingen sie ihrem Alltag nach wie sonst auf der Piazza, nur dass sie ab und zu ins Meer sprangen, um sich abzukühlen. Lokalpolitiker debattierten Gemeindeangelegenheiten und fuchtelten genauso mit den Armen, um ihre Worte zu unterstreichen, wie im Rathaus. Der Klassenlehrer erklärte einer Mutter, warum ihr Sohn Schwierigkeiten in Mathe hatte. Der Mechaniker schilderte einem Kunden, warum sein Wagen nicht ansprang. Junge Leute tauschten verliebte Blicke und die Älteren Klatsch. Musik plärrte aus dem Kiosk, wo Teenager den Chihuahua und den »IMCA« tanzten – im italienischen Alphabet gibt es kein Ypsilon. Ältere Männer spielten Karten und tranken knallrote aperitivi. Wie an den meisten italienischen Stränden ging es eher karnevalesk zu. Es gab mehr Eiscreme als Sonnencreme, und das Meer lag spiegelglatt vor uns.
Die Aussicht war fantastisch. Im Norden lag der Ort Castro – weiße Häuser auf einer Landzunge, typisch Mittelmeer eben. Im Süden befand sich ein mit Olivenbäumen bewachsener Hügel, der vom Torre del Sasso, einer Wachturmruine, gekrönt wurde. Und auf der anderen Seite des Meers lag Albanien, unsichtbar wegen des Dunstes, aber nah genug für seine Bewohner, um zu sehen, wie sehr wir uns amüsierten – und ihr Leben zu riskieren, um zu uns zu stoßen.
Hinter dem Strand lag ein schattiger Fußweg, der La Botte mit dem Hafen von Andrano verband. Dieser wurde von pubertierenden Jugendlichen heimgesucht, die zu cool waren, um bei ihren Eltern am Strand zu bleiben. Sie unterhielten sich, schrien, rauchten, spuckten, fluchten, schickten sich SMS-Nachrichten, obwohl sie direkt nebeneinanderstanden, und grüßten Freunde, die auf Vespas vorbeischossen – vorausgesetzt, sie erkannten sie. Der neue Helmzwang verdarb ihnen eine von Andranos Lieblingsbeschäftigungen – das Grüßen im Vorbeifahren, zumindest, wenn der vigile Dienst hatte und das Gesetz gerade respektiert wurde. »Diese Helmpflicht ist Mist«, sagte Danielas Freundin Patrizia. »Jetzt weiß ich gar nicht mehr, wer da hupt, um mich zu begrüßen.« Die Vorteile der modernen Gesetzgebung setzen sich nur sehr langsam in alten Orten durch, wo man das Sozialleben über die persönliche Sicherheit stellt. Ich kann mir kaum einen schlimmeren Job vorstellen, als in Italien vigile zu sein. Pocht man dort auf die Einhaltung der Gesetze, gilt man hauptsächlich als Spielverderber und nicht als Polizist.
Am Strand teilten sich vier Generationen den Schatten eines Sonnenschirms. Das Loch, das ihn aufrecht hielt, hatten Vater und Sohn, die den Kiosk führten, selbst in den Fels gebohrt. Wenn man ein solch freies Loch finden oder sein Handtuch auf einer einigermaßen ebenen Fläche ausbreiten wollte, musste man entweder sehr früh oder nach ein Uhr mittags kommen, wenn sich der Strand innerhalb weniger Minuten leerte und die hungrigen Mägen zu ihren Spaghetti nach Hause eilten.
Nach einem Abend, an dem es wieder mal spät geworden war, trafen Daniela und ich die anderen so gegen elf am La Botte. Um diese Uhrzeit war es zu heiß, um sich zu sonnen, und das Meer war überfüllter als der Strand. Unsere Freunde sahen uns kommen und empfingen uns feierlich, so als ob wir uns nicht nur sechs Stunden, sondern sechs Jahre nicht gesehen hätten. Wir ließen unsere Handtücher fallen und eilten zu ihnen ins Wasser, das an manchen Stellen warm und an anderen kühl war. Das lag an den unterirdischen Quellen, die kalte Strömungen in das von der Sonne erwärmte Meer leiteten.
So wie die Leute auf der Piazza schwatzten, traten sie am La Botte Wasser und tauschten Höflichkeiten aus. Sie kamen nicht zum Entspannen her, sondern um zu klatschen und dabei braun zu werden. Am La Botte erfuhren sie, was im Ort passierte. Einmal kam Danielas Nachbar zum Morgenschwimmen und hörte, dass sein Bruder, der direkt über ihm wohnte, in der Nacht ins Krankenhaus gebracht worden war. Noch in der Badehose raste Umberto in die Klinik, und zwar in einem derartigen Tempo, dass es fast schon an ein Wunder grenzte, dass er nicht ebenfalls eingeliefert wurde.
Eben weil La Botte wie die Piazza war, hatte sich Danielas Vater stets geweigert, dort schwimmen zu gehen. Das hatte ihm die Kritik seiner Freunde zugezogen, die das als Affront verstanden. Jedes Jahr wollte die Frau, die die tabaccheria führte, von Franco wissen, warum er so antisociale sei. Und jedes Jahr erhielt sie die gleiche Antwort: »Warum sollte ich meine Ferien mit Leuten verbringen, die ich sowieso das ganze Jahr über sehe? Und warum sollte ich an einen Strand gehen, wo man mir sagt, dass mein Bauch dicker und meine Falten tiefer geworden sind? Ich will mich erholen und nicht hören, wie hässlich ich bin.« Beinahe jede Anekdote, die mir Daniela über ihren Vater erzählte, weckte in mir den Wunsch, ihn früher kennengelernt zu haben. Er klang so herrlich respektlos, ein anti-conformista im traditionsbewussten Süden.
Franco fuhr jedes Jahr mit seiner Familie nach Sizilien, einerseits, um La Botte zu entgehen, und andererseits, um Valerias Sommerhaus auf dem Hügel zu genießen. Er hatte einfach keine Lust, sich neben seinen Schülern, seinem Anwalt, seinem Arzt, seinem Zahnarzt, dem Mann, der sein Haus gestrichen, und der Frau, die seinen Hund vergiftet hatte, zu sonnen. Er konnte dem Alltag einfach nicht entfliehen, wenn er von den üblichen Verdächtigen umgeben war. Für manche war La Botte das Paradies, für andere wie Daniela, die eher ihrem Vater glich, war es der letzte Ort, wo sie sich entspannen wollte. Während meines ersten Sommers in Andrano nahm sie mich beinahe zu jedem anderen Strand an der Küste mit. Hauptsächlich, um ungestört mit mir zusammen sein zu können und um zu verhindern, dass alle über ihren australischen Freund klatschten. Aber jetzt, wo ich meine eigenen Freunde hatte, für die La Botte Pflicht war, schleifte ich Daniela jeden Morgen dorthin, zumindest so lange, bis sich die Neuigkeit, dass wir wieder da waren, herumgesprochen hatte. Oder bis mir jemand sagte, dass mein Bauch dicker sei als letztes Jahr.
Nach einer Runde Schwimmen setzten wir uns zu unseren Freunden und verbrachten den Vormittag damit, den Abend zu planen. Solange wir uns ans Essen und die Religion hielten, mussten wir nie lange überlegen, wie wir uns im Sommer im Salento amüsieren konnten. Wir machten erneut die sagre-oder Festival-Tour und aßen so viel, dass wir den Meeresspiegel beim nächsten Schwimmen locker um mehrere Zentimeter ansteigen ließen. Um ihr für ein weiteres gutes Jahr zu danken, nahmen wir auch an der Nacht der Nächte von Andrano teil, der Festa della Madonna delle Grazie. Wieder einmal erinnerte die Piazza an Las Vegas, und wieder einmal flehte Daniela einen Hagelsturm herbei, der nicht kam.
Am Abend des 10. August trafen wir uns am La Botte, um ein Feuerwerk der natürlichen Art zu erleben. Laut einer Heiligenlegende stehen die dann fallenden Sternschnuppen für die Tränen des heiligen Laurenz, ein katholischer Diakon, der im Jahr 258 den Märtyrertod gestorben war. Laut Wissenschaftlern, die in Andrano allerdings nicht sehr beliebt sind, sind die »Tränen« in Wahrheit Teile des Swift-Tuttle-Kometen, der bei einem Tempo von 230 000 Stundenkilometern mit der Erdatmosphäre kollidiert. Egal, welche Erklärung man bevorzugt – La Notte di San Lorenzo geht einem im wahrsten Sinne des Wortes auf die Nerven: Zwei Jahre hintereinander habe ich diese Nacht damit verbracht, mir den Hals zu verrenken und den Himmel nach Sternschnuppen abzusuchen. Doch das Einzige, was ich dort habe aufblitzen sehen, ist der letzte Flieger von Rom nach Athen.
Ein paar Abende später kehrten wir an den La Botte zurück, um einer ganz besonderen religiösen Prozession beizuwohnen. Eine Fischerbootflotte fuhr langsam am Strand vorbei und lobpries den heiligen Andreas, Andranos Schutzheiligen. An Bord des ersten Boots befanden sich Geistliche sowie eine Statue des Heiligen, die so lebensecht aussah, dass man meinen könnte, der heilige Andreas sei seekrank. Im zweiten Boot folgte eine Blechblaskappelle, die sich redlich bemühte, auf einer schwimmenden Bühne zu spielen, aber bei jeder Welle falsche Töne spielte. Kleinere Boote voller Pilger, die die Welle der guten Vorsätze ritten, bildeten das Schlusslicht. Die Statue wurde in den Hafen gebracht, auf dem Parkplatz gesegnet und dann den Hügel hoch in die Andreaskirche getragen. Die Schlichtheit der Prozession machte sie zu etwas ganz Besonderem. Zu einem Ort, der von kretischen Fischern gegründet wurde, passt ein Dutzend träger Fischerboote tausend Mal besser als ein kitschiges Arrangement aus Neonlichtern.
Am Abend danach veranstalteten wir ein Scopa-Turnier an den wackeligen Tischen des Kiosks. Zehn Paare lieferten sich bei der sogenannten »Andrano International Scopa Competition« einen lautstarken Wettkampf um eine wertlose Blechtrophäe – international war er deshalb, weil auch ein Australier mitspielte. Ich hätte sogar fast gewonnen, wenn Daniela im Halbfinale nicht so blöd gewesen wäre, die falsche Karte auszuspielen. Am Ende holten Riccardo und Maria den Titel, obwohl der Polizeichef im Finale des Betrugs bezichtigt wurde.
Nach dem Turnier verließen wir La Botte und fuhren den Hügel hoch Richtung Ort. Auf halbem Weg nahmen wir eine Landstraße, die zu einer Kirche auf einer Lichtung führt, von der aus man einen herrlichen Blick aufs Meer hat. Wie die Kirche war auch der Abend der Madonna dell’Attarico geweiht, der sagenumwobenen Retterin eines Kleinkinds, dessen Mutter sie um Hilfe anflehte, weil sie ihr Kind nicht stillen konnte. Laut der Andrano-Folklore ist die Madonna dell’Attarico, ein Wort, das wahrscheinlich von allattare - stillen – kommt, daraufhin der Mutter im Traum erschienen und hat sie auf die Anwesenheit einer Schlange aufmerksam gemacht. Diese trank ihre Milch, während sie schlief, sodass sie am nächsten Morgen keine mehr hatte, als das Baby dran gewesen wäre.
Daniela hatte mir dieses Heiligtum schon eine ganze Weile zeigen wollen. Nicht die Kirche – ein moderner Bau, der aussieht wie ein Wasserkessel -, sondern die unterirdische Krypta, in der die Legende ihre Wurzeln hat. Ein paar Stufen führen zu einer steinernen Grotte, die man durch einen kreuzförmigen Eingang betritt. Darin befindet sich ein stark verblasstes Fresko, das die heilige Jungfrau beim Stillen zeigt. Nach Jahrhunderten in einer Höhle, die mit Wasser vollläuft, wenn es regnet, ist kaum noch etwas davon zu erkennen. In seinem Buch Was dir Steine erzählen können schreibt Andranos Priester, Don Francesco Coluccia, dass die Legende, die sich um das Fresko rankt, auch als soziale Allegorie gelesen werden kann. Zur Zeit ihrer Entstehung »molken« Andranos Großgrundbesitzer ihre Tagelöhner nämlich wie die Schlange, die die Mutter zwang, für das Überleben ihres Kindes zu beten.
Don Francesco glaubt, das Fresko stamme von byzantinischen Mönchen, die an die heutige italienische Küste flohen, um der religiösen Verfolgung während des achten bis zehnten Jahrhunderts im orthodoxen Osten zu entgehen. Er glaubt, sie hätten in der Höhle Zuflucht gesucht, weil sie dort sicher waren und eine fantastische Aussicht genießen konnten. Doch die fliehenden Mönche hatten dem Salento noch mehr zu bieten als künstlerisches Geschick. Neben ihren spärlichen Habseligkeiten brachten sie auch Samen einer speziellen Eichenart namens La Vallonea mit, die eigentlich nicht in Italien heimisch ist, aber die jetzt in bescheidener Anzahl rund um Andrano gedeiht. Der beeindruckendste Baum wurde im zwölften Jahrhundert gepflanzt und ist jetzt ein Riese am Rand von Tricase.
Andranos Geschichte schlägt sich in der Landschaft nieder, im Dialekt der Menschen und den Heiligenlegenden. Legenden wie die der Madonna dell’Attarico, deretwegen wir in jener Nacht zu der Lichtung gefahren waren. Tatsächlich hatten sich die meisten Dorfbewohner dort eingefunden, und das Fest war bereits in vollem Gange. Es gab eine Band, es wurde gegrillt, ein Albaner verkaufte Gürtel, ein vigile dirigierte den Verkehr, und ein Esel war an einen Baum gebunden.
»Poverino«, sagte ich zu Daniela und zeigte auf das angebundene Tier.
»Ach, um den brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, entgegnete sie. »Esel kommen schon angebunden zur Welt.«
Ich liebe es, wenn die coolste Frau, die ich jemals hatte, ihre derben Bauernweisheiten zum Besten gibt.
Obwohl ich ein offizieller Einwohner von Andrano war, behandelte mich die Gruppe wie einen Gast. Ich bekam zwar nicht den Stadtschlüssel ausgehändigt, aber nur, weil das Tor sowieso unverschlossen war. Dafür bestand man darauf, dass ich die servola probierte, eine Cervelatwurst, die bei diesem Anlass traditionellerweise gegessen wird, füllte mir zudem bei jeder Gelegenheit das Glas und erklärte mir die Geschichte und Bedeutung des Abends. Die Leute schreckten vor nichts zurück, um mir ihren Ort schmackhaft zu machen. Diego wagte sich sogar in ein dunkles Feld vor, um ein Kraut für mich zu suchen, an dem ich wegen seiner Anissamen saugen sollte. Und genau das ist auch das Problem, wenn man Ehrengast ist: Es ist schön, sich feiern zu lassen, aber man muss tun, was von einem verlangt wird – auch an Dingen saugen, an denen man eigentlich nicht saugen will -, und dann noch so tun, als habe man es genossen. Wenn man sagt, dass man etwas nicht mag, riskiert man es, einen ganzen Ort zu enttäuschen.
Die Lichtung war so belebt wie eine beleuchtete Bühne, während die sie umgebende Landschaft vollkommen im Dunkeln lag und sich von den langen Sonnenstunden erholte. Ein berühmter Liedermacher der 1970er Jahre, Piero Focaccia, war für ein Konzert engagiert worden, und wir saßen alle auf einer Steinmauer und sangen den Refrain seines berühmtesten Hits »Stessa spiaggia, stesso mare« mit – jene Sommerhymne, die sogar ich auswendig konnte. Neben uns befand sich ein Steinhäuschen mit einer ein Meter zwanzig hohen Türöffnung, aus der ein ein Meter zwanzig großer Mann kam, der einen solch schweren Weinkrug hochhielt, dass die Adern an seinen Armen hervortraten. Er musste um die sechzig sein und hatte eine Kartoffelnase, die wie seine wettergegerbte Haut von der schweren Arbeit auf den Feldern ruiniert worden war. Er eilte auf Riccardo zu, der von der Mauer sprang und ihn im Dialekt begrüßte, dem hiesigen Slang, den ich erst noch zähmen musste. Ich verstand nicht genau, was sie sagten, nur, dass er Tonino hieß und der Wein für uns gedacht war.
Nachdem er seinen Platz auf dem Mäuerchen wieder eingenommen hatte, erklärte uns Riccardo, warum alle bis auf ihn für Toninos Wein zahlen mussten. Mit züchtigen Worten erzählte er die Geschichte einer Thailänderin, die für den Kardinal von Andrano gearbeitet hatte – der mit dem glasscherbenversehenen Zaun neben dem Schild »Wir erwarten dich«. Nachdem sie sich kennengelernt und verliebt hatten, ging die Frau eine Beziehung zu Tonino ein, was ihrem »heiligen« Arbeitgeber schwer missfiel, der sie daraufhin angeblich nach Thailand zurückverbannte. Mit seiner Mütze in der Hand wandte sich Tonino an den Polizeichef und flehte ihn an zu intervenieren. »Wenn ich etwas hasse, dann ist es Ungerechtigkeit«, sagte Riccardo. (Beim Kartenspielen schienen ihn solche Skrupel allerdings nicht zu plagen.) Trotz der Einwände des Kardinals ließ Riccardo seine gut vernetzten Muskeln spielen und half der Thailänderin, nach Italien zurückzukehren, wo sie später Tonino heiratete, der behauptet, seitdem schmecke sein Wein noch besser als sonst. Es war also schon das zweite Mal, dass Riccardo Cupido bei offiziellen Dokumenten unter die Arme griff.
Fast ganz Andrano hatte sich auf der Lichtung versammelt, um der Madonna die Ehre zu erweisen. Aber der zwergenhafte Tonino gab sich irdischeren Freuden hin. Er war ein lebender Heiliger, dessen Gesicht man sehen und berühren konnte, anstatt es sich im Gebet oder mithilfe von Bildern nur vorzustellen. Ein rundes Gesicht, das nach einem Glas seines selbst gemachten Weins rot wurde wie nach einem zu langen Aufenthalt an der Sonne. »Salute!«, prostete ihm Riccardo zu. Und schon floss der gute Tropfen durch die Kehlen.
 
Gegen Mitte August war ich ein Nachtmensch und so schwarz, als sei ich in das Töpfchen mit der schwarzen Farbe für die Fingerabdrücke gefallen. Ich hörte die Uhr öfter vier Uhr morgens schlagen als vier Uhr nachmittags, wenn ich mich an Daniela kuschelte und Siesta hielt. Ein Nachmittagsschläfchen war unumgänglich, um genug Kraft für den Abend zu schöpfen, außerdem verschlief man so den heißesten Teil des Tages. Wenn es zu heiß war, um im Schlafzimmer zu schlafen, legten wir unsere Matratzen in den Flur und öffneten Vorder- und Hintertür, um so einen kühlen Luftzug zu erzeugen. Das funktionierte so lange, bis ich von einer streunenden Katze geweckt wurde, die über meine Brust tapste. Also beschlossen wir, im Keller zu schlafen, zumal das Thermometer fast vierzig Grad zeigte. Gegen fünf erhoben wir uns zur zweiten Hälfte des Tages, stärkten uns mit Obst aus dem Kühlschrank und kehrten entweder an den Strand zurück oder erledigten Pflichten, die nicht bis zum September warten konnten.
Wenn Riccardos Clique nichts für den Abend geplant hatte, fuhr ich zum Tennisclub von Tricase. Italiener sind ohnehin schwer zu organisieren, aber im Sommer ist es noch schwieriger. Ein Doppel mit Renato und seinen Freunden zu organisieren war schwieriger als das Match selbst. Entweder kamen drei oder fünf Spieler, aber nur selten die erforderlichen vier. Wenn es zahlenmäßig klappte, kam garantiert jemand zu spät, meist Renato, dessen Vorhand besser funktionierte als die Zeiger seiner Uhr. Aber ich genoss seine Entschuldigungen mindestens so sehr wie seine Gesellschaft. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, sagte er eines Abends. »Ich musste noch einen Kuchen für meine Mutter backen.« Ob das Rezept wohl von Rita aus dem Zug war? Wir spielten in der Regel bis nach Mitternacht und tranken nach jedem Satz ein Bier. Dann kamen unsere Freundinnen, und wir gingen zu Renato, wo er kochte und das Abendessen zu einer Zeit servierte, zu der ich normalerweise frühstücke.
Wenn man weiß, wie loyal die Süditaliener gegenüber ihren Stränden sind, war es eine enorme Leistung, dass wir Renato und seine Freundin überzeugen konnten, »ihren« Strand zu verlassen und uns eines Vormittags am La Botte Gesellschaft zu leisten. Wir hätten uns allerdings keinen ungeeigneteren Vormittag dafür aussuchen können, denn als unsere Besucher auftauchten, waren nur wenige im Wasser, weil Polizeiboote nach zwei italienischen Polizisten und einem Albaner suchten, die vermutlich ertrunken waren. Hubschrauber der Küstenwache schwebten über dem Wasser und sorgten für eine Szene, die eher an einen Hollywoodfilm als an einen Tag am Meer erinnerte. Außer uns eine Taucherbrille mit Schnorchel aufzusetzen und uns an der Suche zu beteiligen oder Eiscreme zu kaufen und zuzusehen gab es wenig, was wir tun konnten. Die Männer wurden seit drei Uhr morgens vermisst, und niemand rechnete mit guten Nachrichten.
Ein ruhiges Meer und eine klare Nacht hatten den Schleusern perfekte Bedingungen dafür geliefert, ihre menschliche Fracht über die schmalste Stelle des Meeres zwischen Albanien und Italien zu schmuggeln. In der Nähe von Andrano sind es gerade mal 75 Kilometer bis auf die andere Seite, und je nachdem, mit welcher Mafia man zusammenarbeitet, kostet die Überfahrt um die 3000 Dollar. Schnellboote verlassen Albanien nach Mitternacht und erreichen kurz darauf italienische Gewässer, wo die Küstenwache und die Guardia di Finanza alles tun, um sie aufzuspüren.
Meine Erfahrungen bei der Einreise nach Italien haben mir allerdings gezeigt, dass schon an den Flughäfen lasch kontrolliert wird. Als ich einmal aus Prag nach Rom zurückkehrte, sah ich, dass der Einreiseschalter nicht besetzt war. Da ich den Flughafen inzwischen gut kannte, ging ich zu einem nahe gelegenen Büro, wo ich drei Polizisten störte, die sich um einen winzigen Fernseher versammelt hatten. Ich hielt meinen Pass hoch, aber die Beamten waren nicht interessiert. »Gehen Sie einfach durch«, sagte einer. »Michael Schumacher ist gerade dabei, wieder einmal Weltmeister zu werden.«
Angesichts der mangelhaften Flughafenkontrollen werden sich die Schleuser wohl kaum vor verlassenen, im Schutz der Dunkelheit daliegenden Stränden fürchten. Einmal gelandet, betteln, leihen oder stehlen die clandestini Geld, um weiter nach Norden zu gelangen. Aber das Glück, einen Platz auf dem Boot zu ergattern, ist noch lange keine Erfolgsgarantie, wie die Leichen von sechs Kurden an einem Straßenrand im Salento demonstrierten. Die illegalen Einwanderer hatten sich in einem griechischen Laster mit dem Ziel Mailand versteckt. Aber ihr Versteck war nicht von den Abgasen isoliert gewesen, und alle sechs erstickten jämmerlich. Als der Fahrer begriff, was geschehen war, fuhr er von der Hauptstraße ab und entsorgte die verdorbene Fracht in einer Haltebucht – einer über dem anderen, wie Zementsäcke.
Noch mehr Menschen sterben, bevor sie überhaupt wieder festen Boden unter den Füßen haben, da die Passagiere manchmal vor der Küste ins Wasser geworfen werden, damit die Schleuser nicht von der Polizei entdeckt werden. Nach Sichtung eines Bootes kam es auch schon vor, dass ein Baby ins Wasser geworfen wurde, damit der Polizei nichts anderes übrig bleibt, als die Verfolgung aufzugeben und einen Rettungsversuch zu unternehmen, während die Banditen längst wieder in Albanien sind. Kommt es dennoch zur Verfolgung, besteht die Verzweiflungstaktik darin, das Polizeiboot zu rammen. Genau das war auch an jenem Morgen passiert, als Renato und seine Freundin La Botte testen wollten. Durch den Zusammenprall waren drei italienische Polizisten und ein Albaner über Bord gegangen. Einer der Italiener konnte gerettet werden, aber die anderen drei wurden nie gefunden.
Das Mittelmeer verwandelt sich immer mehr in einen Friedhof, da bei dem Versuch, Europa durch die Hintertür zu betreten, jährlich um die 2000 Menschen sterben. Sie kommen nicht nur in kleinen Nussschalen, sondern auch in großen, überfüllten, seeuntauglichen Gefährten, die entweder auf Grund laufen und von der Mannschaft im Stich gelassen werden oder bei rauer See leckschlagen. Wenn man den Fernsehnachrichten glaubt, vergeht selten ein Tag, an dem nicht ein alter Frachter in italienischen Gewässern gesichtet wird, dessen Crew den Motor zerstört hat, um sich dann zwischen den anderen Passagieren zu verstecken. Dann haben die italienischen Behörden keine andere Wahl, als das in Seenot geratene Gefährt an Land zu ziehen. So viel zu einem gutmütigen Italien, das oft für sein Staatsoberhaupt kritisiert, aber selten für sein gutes Herz gelobt wird.
Die Taucher suchten das Meer vor La Botte noch tagelang ab, während Renato und seine Freundin längst an ihren Strand zurückgekehrt waren und sich geschworen hatten, nie mehr fremdzugehen. Aber Daniela und ich hielten der Piazza am Meer die Treue und genossen ein Leben, bei dessen Entdeckung weniger Glückliche sterben mussten. Doch zu wissen, dass die Hölle so nah war, vergällte uns das Paradies, und ein berauschender Sommer nahm ein ernüchterndes Ende.
 
Nach dem Atomunglück von Tschernobyl rieten Ärzte Kindern aus der verstrahlten Zone, einige Zeit in einem warmen Klima zuzubringen. So kam es, dass Andrano drei Jahre lang jeden Sommer dreißig russische Kinder beherbergte. Eines davon wurde von Danielas Familie aufgenommen. Eines Nachts hörte Daniela, wie Olga im Bett weinte, und ging zu ihr, um das Mädchen zu trösten.
»Bist du traurig, weil du wieder nach Hause willst?«, fragte Daniela.
»Nein«, entgegnete Olga. »Ich bin traurig, weil ich bleiben will, aber nicht darf.«
Gegen Ende meines zweiten Sommers in Andrano musste Daniela getröstet werden, als sie nachts wach lag, sich Sorgen um die Zukunft machte und unsere Entscheidung, Mailand zu verlassen, hinterfragte. Ich beruhigte sie, so gut ich konnte, indem ich sagte, dass mir ihr Dorf zur zweiten Heimat geworden sei und ich meine Entscheidung zu bleiben keine Sekunde bereut hätte, zumindest noch nicht. Keine Ahnung, ob ich die Wahrheit sagte, aber in dem Moment dachte ich an die Menschen, die alles darum geben würden, in Andrano leben zu können, und schwor mir, alles zu versuchen, um das Leben hier zu genießen.