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Keine Ausländer... oder
Süditaliener
Il postino drückte mit
seinem Unterarm alle Klingeln des Wohnblocks auf einmal. Durch das
Schrillen dieser siebenstöckigen Eieruhr wurden sämtliche Bewohner
aufgeschreckt, darunter auch Francescos Dackel Liuto (Laute), der
nach dem langhalsigen Musikinstrument benannt worden war, an das er
vage erinnerte. Er sprang vom Bett, auf dem er gedöst hatte,
rutschte vor lauter Eile, zur Tür zu kommen, mit seinen winzigen
Krallen auf dem Parkett aus und knallte mit der Schnauze zuerst
gegen die Flurwand. In der Wohnung brach Panik aus, wie in einem
Cockpit, in dem plötzlich ein rotes Lämpchen blinkt. Ein
alarmierendes, aber auch angemessenes Signal, wenn man bedenkt,
dass es ein Wunder ankündigt – nämlich das Eintreffen der Post. Ich
konzentrierte mich gerade auf einen beschlagenen Rasierspiegel, als
ich diesen Aufruhr zum ersten Mal miterlebte, und erschrak so, dass
ich von Glück sagen konnte, dass mein Rasiermesser stumpf war.
Sechs Wochen zuvor hatten meine Eltern ein Päckchen in Australien
abgeschickt, also rannte ich ähnlich aufgeregt wie Liuto zur
Gegensprechanlage, in der festen Überzeugung, dass es endlich
angekommen war.
»Si?«
»Postino.«
»Arrivo.«
Ich drückte auf den
Türöffner, wischte mir den verbliebenen Rasierschaum aus dem
Gesicht und eilte zum Lift.
»Fuori servizio« – Außer Betrieb. Noch im
Schlafanzug nahm ich drei Stufen auf einmal.
Jede Form von
Kritik, Beschwerde oder Tadel sind vor lauter Aufregung vergessen,
wenn die Post doch endlich mal kommt. »Besser spät als nie« wäre
ein höchst passender Werbeslogan für die Poste
Italiane. Als ich in Italien lebte, bekam ich meine
Weihnachtsgeschenke zu Ostern und die Glückwünsche zu meinem
Dreißigsten kurz vor meinem einunddreißigsten Geburtstag. Außerdem
wurde ich zu einer Hochzeit eingeladen, als die Flitterwochen
bereits seit Monaten vorbei waren.
Ein Ausflug zum
örtlichen Postamt half, solche Verspätungen zu erklären. Eine krumm
dasitzende Frau benutzte einen Pinsel, um meine Postkarte mit
Klebstoff zu betupfen, und brachte eine Briefmarke darauf an, die
ihr unbeholfenes Kunstwerk leider nur unvollständig bedeckte. Wenn
sie meine Sendung in den Sack mit der Auslandspost warf, würde sie
sich zweifellos an eine Karte für eine Albanerin heften, die zur
Geburt eines Kindes beglückwünschte, das bei Ankunft der Karte
bestimmt schon ein Teenager war. Das Wechselgeld kam aus einer
Bonbondose von Quality Street. Und das sollte Italiens
fortschrittlichste Stadt sein?
Auf der Post von
Andrano kleben sie die Briefmarken nicht vor dem Kunden auf. Sie
notieren nur den Wert, den sie »später« auf den Umschlag kleben
werden. Eines Augusts schickte ich Freunden in Irland eine Karte,
die ich dann im September besuchte. Die Postkarte kam nach mir an,
und dem Poststempel konnte ich entnehmen, dass sie acht Tage auf
dem Postamt gelegen hatte, bevor sie weiterbefördert worden war.
Was ist der Unterschied zwischen einem Streiktag und einem ganz
normalen Arbeitstag auf einem italienischen Postamt? An einem
Streiktag hängt man ein Schild vor die Tür, das erklärt, warum
niemand arbeitet.
Nach zwölf
Treppenabsätzen erreichte ich das Foyer und sah, wie der Postbote
Post aus seiner braunen Ledertasche sortierte.
»Postino?«
»Si?«
»Sie haben bei mir
geklingelt.«
»Das kann sein. Ich
hab bei allen geklingelt. Irgendjemand muss mir die Tür
aufmachen.«
»Oh, ich dachte, Sie
brauchen mich, damit ich etwas unterschreibe. Ich warte auf ein
wichtiges Paket.«
»Ich klingle, wenn
es kommt«, sagte er und wandte sich wieder den Briefkästen
zu.
Da mein Weg nicht
umsonst gewesen sein sollte und ich auch noch keine große Lust aufs
Treppensteigen zurück hatte, wartete ich auf Francescos Post,
während ich Zeuge der Arbeit des Zustellers wurde. Er holte jeden
an das Gebäude adressierten Brief einzeln heraus, las den Namen des
Empfängers, überflog zig Briefkästen, die mit den jeweiligen
Nachnamen versehen waren, und wenn er keinen passenden fand, warf
er den Brief oben auf einen der Briefkästen. Kein Wunder, dass der
Service so langsam ist!
Mit Namen versehene
Wohnungen machen Postboten das Leben schwer, vor allem wenn die
Bewohner aus steuerlichen Gründen ihre Untermieter nicht anmelden,
da Mietverträge das Interesse der Quittungspolizei auf sich ziehen.
Deshalb steht nur ihr eigener Name auf Klingel, Briefkasten und
Wohnungstür. Wenn Freunde des Untermieters zu Besuch kommen, müssen
sie den Nachnamen des Vermieters kennen, um ins Gebäude zu
gelangen. Wenn man jemanden zum ersten Mal einlädt, ist es nicht
unüblich, dass der Mailänder sagt: »Wir sehen uns also gegen neun,
an der Klingel steht übrigens Di Costanza.«
Der Job des
Postboten wäre wesentlich angenehmer, wenn sich die Italiener
genauso über die wortwörtliche Bedeutung ihrer Nachnamen amüsieren
würden wie ich. Die Namen auf den meisten italienischen Briefkästen
sind eine unterhaltsame Lektüre, vor allem wenn es sich um die
Nachnamen von Ehepaaren handelt. Auf einem Briefkasten in
Francescos Haus steht: Panico e Pace –
Panik und Frieden. Zwei Türen weiter wohnt ein Paar namens
Guerra e Pace – Krieg und Frieden. Zum
Glück ist ihr Nachbar ein gewisser Salvatore Capace – ein fähiger
Retter, falls Herr Krieg in der Wohnung nebenan einmal die Oberhand
gewinnen sollte.
Italienische
Nachnamen sind am komischsten, wenn ihre Bedeutung eine Eigenschaft
ihres Trägers widerspiegelt, so als habe sie auf ihn abgefärbt. Es
ist schwer, mehr als ein paar höfliche Worte aus Danielas altem
Schulfreund Davide Timido (David Schüchtern) herauszubringen, und
Valerias Freundin Stefania Frigida blieb ihr Leben lang ledig. Auch
äußere Umstände können die wortwörtliche Bedeutung eines Nachnamens
komisch wirken lassen. In den Abendnachrichten sah ich einmal
Giovanni Lava, der vom Ätna aus berichtete, nachdem dieser
ausgebrochen war. Allerdings hatte ich mich in Sydney auch schon
von einem Dr. Tan (Bräune) auf Hautkrebs hin untersuchen lassen –
so gesehen sind Italiener da keine Ausnahme.
Mein Lieblingsbuch
auf Italienisch ist das Telefonbuch. Es macht mir einen Riesenspaß,
darin nach neckischen Namen zu suchen und mich zu fragen, was sie
wohl über ihren Träger aussagen. Ob Elvio Mezzogufo – Elvis
Halbeule – wohl an Schlafstörungen leidet? Ist Crucifisso San
Filippo – Kruzifix Heiliger Philipp – religiös? Bekommt Signor
Massimo Peloso – Herr Max Haarig – eine Glatze? Und hat Pietro
Calvo – Peter Kahl – einen dichten Wuschelkopf?
Manche Italiener
haben Namen mit einer positiven Bedeutung wie Marco Magnifico –
Markus Großartig – oder Maria Bella – Maria, die Schöne. Aber
lassen Sie sich mal so etwas wie Carla Vacca – Karla Kuh – und Anna
La Rana – Anna, der Frosch – auf der Zunge zergehen! Hat Letztere
vielleicht einen Sohn namens Kermit? Zu Annas großem Glück neigen
die Italiener dazu, die Bedeutung ihrer Namen zu ignorieren, mit
Ausnahme von Italiens berühmtestem Industriellen und Playboy,
Gianni Agnelli, der viele Jahre den Fiatkonzern leitete. Bevor
Das Schweigen der Lämmer in Italien
herauskam, wollte Agnelli, dessen Nachname wortwörtlich »Lämmer«
bedeutet, verhindern, dass man seinen Namen mit dem Film in
Verbindung bringt, und sorgte dafür, dass der Titel in Das Schweigen der Unschuldigen geändert wurde. Wenn
alle Lämmer so viel Macht haben, wären wir wahrscheinlich alle
Vegetarier.
Als der Postbote mit
dem Sortieren fertig war, lagen mehr Briefe auf den Briefkästen als
darin. In Francescos Briefkasten fand ich einen Umschlag, der »an
den Süditaliener« adressiert war. Er enthielt ein Gedicht mit dem
Titel Preghiera per i terroni – Ein
Gebet für die Bauern. Terroni ist ein abwertender Begriff, der
wortwörtlich »Erdmensch« bedeutet und auf alle Süditaliener gemünzt
ist, die Norditaliener als unzivilisiert empfinden. Der Postbote
hatte den unfrankierten Hassbrief nicht zugestellt, also musste ihn
jemand aus dem Haus eingeworfen haben, der Francesco, Daniela und
vielleicht auch mich aufgrund unserer jeweiligen Herkunft
unsympathisch fand.
Da mein kleines
Päckchen immer noch in der großen weiten Welt herumschwirrte,
kehrte ich in die Wohnung zurück und musterte meine lächerlichen
nur zur Hälfte abrasierten Bartstoppeln im Spiegel. Ich wartete auf
Danielas Rückkehr, damit sie mir das Gedicht übersetzen konnte. Als
ich ihr den Titel nannte, lachte sie, doch das Lachen verging ihr,
als sie die Zeilen überflog.
Preghiera per i terroniOh mio caro buon Gesù
Fa che non ce ne siano più.
Fagli capire che non sono voluti
E pulisci l’Italia da questi cornuti.
Da Roma in giù un grande ciclone
Che cancelli per sempre i dannati terroni.
Pioggia, vento e temporali
Solo e soltanto sui meridionali.
Ein Gedicht zu
übersetzen ist schwerer, als es zu schreiben, aber rein inhaltlich
lautete der Text in etwa so:
Oh lieber Herr
Jesus.
Mach, dass es keine mehr gibt.
Mach ihnen klar, dass sie hier nicht erwünscht sind
Und säubere Italien von diesen Gehörnten.
Südlich von Rom soll ein Riesenzyklon
Die verdammten terroni ausradieren.
Regen, Wind und Stürme
Sollen ausschließlich Süditaliener heimsuchen.
Mach, dass es keine mehr gibt.
Mach ihnen klar, dass sie hier nicht erwünscht sind
Und säubere Italien von diesen Gehörnten.
Südlich von Rom soll ein Riesenzyklon
Die verdammten terroni ausradieren.
Regen, Wind und Stürme
Sollen ausschließlich Süditaliener heimsuchen.
Ein befreundeter
Mailänder bemerkte dazu scharfsinnig: »Ausländer halten Italiener
normalerweise nicht für Rassisten. Dafür hegen wir so viele
Vorurteile gegen unsere eigenen Landsleute, dass wir einfach keinen
Hass mehr für Ausländer übrig haben. Wir wären die besten Rassisten
der Welt, wenn nur so viele Ausländer herkämen, wie Italiener ins
Ausland gegangen sind, Übung haben wir schließlich
genug.«
Es ist alles eine
Frage der Geographie, wenn sich Italiener aufgrund der Stadt oder
Region, aus der sie stammen, nicht ausstehen können. Sie glauben,
dass bestimmte negative Eigenschaften typisch für eine gewisse
Gegend sind. Wer geizig ist, kommt fraglos aus Genua, wer arrogant
ist, aus Florenz, wer keinen Humor hat, ist in Mailand beheimatet,
wer ein Snob ist, stammt aus Padova, Eingebildete kommen aus
Bologna, Sturköpfe aus Sardinien, und alle, die südlich von Roma
geboren wurden, könnten genauso gut aus Afrika
stammen.
Norditaliener
glauben, dass die Erste Welt in Rom aufhört, den unterentwickelten
Süden bewohnen ausschließlich unzivilisierte terroni. Manche Norditaliener sind sogar der
Auffassung, dass sie ihre Pässe mitnehmen müssen, wenn sie sich
weiter südlich als bis zu ihrer Hauptstadt vorwagen. Die
terroni gelten als primitive Proleten,
ohne die Italien nach Meinung vieler Norditaliener deutlich besser
dran wäre. Umberto Bossi, der Führer der Lega
Nord – Der nördlichen Liga – ist ein bekannter Vertreter
dieser Einstellung. Xenophobe wie er wollen das Land
auseinanderreißen, auf dass der Norden den Norden regiert, die
Mitte die Mitte und der Süden den Süden.
Doch das Problem
einer gespaltenen Nation lässt sich nicht dadurch lösen, dass sich
die Landesteile immer mehr voneinander entfremden. Die Geschichte
Italiens ist eine des Nord-Süd-Gefälles, und zwar schon seit Anfang
des 16. Jahrhunderts. Damals eroberten die Spanier den Süden des
Landes und gründeten das »Königreich Neapel«, das über dreieinhalb
Jahrhunderte Bestand hatte. Während sich im Norden eine Reihe von
wohlhabenden, souveränen Staaten abwechselten, bestand der Süden
überwiegend aus einer Bauernschaft, der man jegliche Bildung
vorenthielt, um sie leichter regieren zu können. Die Vorteile der
Industriellen Revolution kamen dem Norden zugute, aber dem Süden
blieben sie verwehrt, wo die Spanier, die sich über verbesserte
Zustände in ihrer Heimat freuten, nichts vom Fortschritt
hielten.
Selbst nachdem
Garibaldi Süditalien 1861 von der Herrschaft der Bourbonen befreit
und das von Vittorio Emanuele II. regierte »Königreich Italien«
gegründet hatte, blieb die Entwicklung des Südens weit hinter der
des Nordens zurück, wo Straßen, Schulen und Fabriken an der
Tagesordnung waren. Der Süden wurde mehr oder weniger vergessen und
aus irgendwelchen Gründen Mezzogiorno (Mittag) genannt. Vielleicht,
weil das die Uhrzeit ist, zu der man dort aufhört zu
arbeiten.
Im 20. Jahrhundert
wurde die Süditalienproblematik überwiegend ignoriert, und im
Faschismus war es verboten, das Wort Mezzogiorno – die
Achillesferse der Nation – auch nur in den Mund zu nehmen. Erste
finanzielle Hilfe kam in den 1950er-Jahren durch den »Mezzogiorno
Fund«, aber dank korrupter Lokalregierungen und der Mafia floss das
Geld nur an diejenigen, die ohnehin reich waren. Das wiederum gab
den Vorwürfen des Nordens, der Süden sei korrupt und solle selbst
sehen, wo er bleibt, nur wieder neue Nahrung.
In den darauf
folgenden zehn Jahren zogen über eine Million Süditaliener auf der
Suche nach Wohlstand in den Norden, der dort hängen blieb wie Sand
in einer verstopften Sanduhr. Eine noch größere Anzahl versuchte
ihr Glück in Übersee, vor allem in Amerika und
Australien.
Diese historischen
Unterschiede können die Kluft teilweise erklären, aber das heutige
Problem beruht mindestens so stark auf gegenwärtigen wie auf
vergangenen Fehlern. In der letzten Zeit hat sich die Lage des
Südens geringfügig verbessert. Dafür sorgten mehrere Faktoren wie
eine eigene, wenn auch bescheidene industrielle Revolution, besser
ausgebildete Arbeiter und Angestellte, Zweitjobs, die den wachsamen
Augen der Quittungspolizei entgehen, der Wirtschaftsboom in den
1980er Jahren, als die Regierung Stellen gegen Stimmzettel
tauschte, aber auch weitervererbtes Vermögen in Form von
Grundbesitz, der im Wert steigt, je mehr sich der Mezzogiorno zu
einer Touristenattraktion entwickelt.
Dieser Wohlstand hat
jedoch auch Schattenseiten und warf die Süditaliener auf sich
selbst zurück. Ihr Mangel an Gemeinsinn und ihr angeborenes
Misstrauen Autoritäten gegenüber, die sich bisher immer nur selbst
bereicherten, bescheren Süditalien fast mittelalterliche Zustände
und trennen es immer mehr vom modernen Norden.
Wie hatte ich mich
nur in eine unzivilisierte terrona
verlieben können? Und wie schaffte es die Einfältige, in meinen
Augen als absolut gebildet durchzugehen? Daniela gibt zu, dass die
Neigung der Süditaliener zu melodramatischen Gefühlsausbrüchen und
lautem Palavern durchaus unzivilisiert wirken kann. Trotzdem zieht
sie das heißblütige Temperament eines Süditalieners der eiskalten
Scheinheiligkeit eines Norditalieners bei Weitem vor. Sie findet
Norditaliener inkonsequent, die Süditalien zehn Monate lang als
Außenposten Afrikas verunglimpfen, um dann im Juli und August ganz
selbstverständlich die südlichen Strände und die mediterrane Küche
zu genießen. »Kein Wunder, dass sie wegen unseres Essens kommen«,
sagt Daniela. »Polenta ist das Einzige, was sie hier kochen können.
Und weißt du, was Polenta ist, Chris? So was wie eine Unterart von
Couscous. Und dann nennen sie uns
Afrikaner!«
Mit seinen seltenen
Momenten der Einigkeit hat das Italien des 21. Jahrhunderts 600
Jahre alte Probleme im Gepäck, zu denen auch Hassbriefe in
Briefkästen gehören. Nach dem ersten Schrecken beruhigte sich
Daniela wieder und sah die Preghiera
einfach nur als Beweis, dass die Philister des Nordens auch
Gedichte schreiben können, obwohl das Gros der italienischen
Literatur von Süditalienern verfasst wurde. Touché.
Das Telefon
klingelte lange, bevor ein älterer Herr dranging.
»Pronto.«
»Buon giorno. Ich rufe wegen der Wohnung
an.«
»Wo kommen Sie
her?
»Aus
Lecce.«
»Ich vermiete nicht
an Süditaliener.«
Daniela hielt den
Hörer vom Ohr weg, während der ältere Herr seinen
aufknallte.
Wir hatten nie
vorgehabt, länger bei Francesco zu wohnen. Sich eine Wohnung mit
dem Chef und dem Bruder der eigenen Freundin zu teilen ist nicht
gerade optimal – und erst recht nicht, wenn beide ein und dieselbe
Person sind. Wir wollten allein wohnen, und bestimmte
Angewohnheiten Francescos ließen darauf schließen, dass er das ganz
ähnlich sah. Zunächst einmal wies das riesige Aquarium voller
Piranhas auf sehr spezielle Vorlieben hin. Und auch Liutos überall
verteilte Pfützen und klebrige Überraschungen ließen darauf
schließen, dass der Hund entweder nicht genug Auslauf bekam oder
Angst vor den Fischen hatte. Noch schwerer zu ertragen war
Francescos kürzliche Trennung von seiner Freundin aus Kindertagen.
Lucinda kam eines Tages vorbei, als Francesco im Büro war, und
fragte mich, wie ich die Eigentumsverhältnisse des Erbes ihrer
Beziehung wie CD-Regale und Lampenschirme einschätzte. Woraufhin
ich entgegnete, dass sie alles mitnehmen dürfe – vorausgesetzt,
Liuto und die Piranhas wären ebenfalls dabei.
Aber unser Wunsch
nach mehr Privatsphäre blieb unbefriedigt. Zum einen, weil Mailands
Mietmarkt genauso ein Haifischbecken ist wie Francescos Aquarium,
zum anderen aus jenen Gründen, die Danielas Telefonat so unsanft
beendet hatten: Ihre süditalienische und meine ausländische
Herkunft machten uns für viele Vermieter unattraktiv.
Als Francesco fünf
Jahre zuvor nach Mailand gezogen war, hatte er sich mit ganz
ähnlichen Vorurteilen herumschlagen müssen. Bei einer
Wohnungsbesichtigung zeigte eine Frau auf die Waschmaschine und
fragte, ob er so ein Gerät schon jemals gesehen habe. Als sich
Francesco beschwerte, entschuldigte sich die Frau und sagte, sie
habe ihn nicht beleidigen wollen. Sie sei wirklich nur daran
interessiert, ob es »da unten« mittlerweile auch elektrische
Haushaltsgeräte gebe. Jetzt hatte Daniela zu leiden, weil sie in
den Norden gezogen war. Aber sie gab die Hoffnung nicht auf, da
sich Francesco am Ende ebenfalls gut eingelebt hatte. Mit ihrem
angeborenen Optimismus nahm sie von uns dasselbe an.
Daniela besaß einen
großen Vorteil. Sie hatte ein Ass in ihrem süditalienischen Ärmel,
denn sie war eine statale – eine
Beamtin, die man nicht entlassen konnte, außer sie würde einen
Putsch begehen. Eine bessere Garantie für regelmäßige Mieteingänge
gibt es in ganz Italien nicht, und zwar im Norden wie im Süden.
Wenn Norditaliener begreifen, dass ihre Investitionen zuverlässig
Profit abwerfen, lassen sie ihre Vorurteile noch schneller fallen
als ihre Kleider unter der südlichen Sonne.
Doch nach mehreren
frustrierenden Wochen, in denen Daniela mittags von der Schule nach
Hause eilte, um wegen Wohnungen zu telefonieren, die bereits vor
dem Frühstück vermietet worden waren, wurde uns klar, dass ich
anrufen musste, wenn wir nicht ewig mit Francesco zusammenwohnen
wollten. Zu diesem Zeitpunkt sprach ich schon so fließend
Italienisch, wie ein Seiltänzer seiltanzt: langsam, aber sicher –
doch ein falscher Schritt, und schon war es um mich geschehen. Da
viele Vermieter Makler beschäftigen, die Ausländer von vorneherein
aussortieren, war ich kaum der Richtige für den Job. In den meisten
Wohnungsanzeigen, die ich auf den Schreibtischen der Makler sah,
stand oben fett gedruckt: NIENTE STRANIERI – KEINE AUSLÄNDER. Diese
Worte standen sogar in der Anzeige für die Wohnung, die ich
schließlich mietete und nach der ich zwei Wochen suchen
musste.
Italienische Städte
sind wie faules Obst – der beste Teil ist der Kern. In Mailands
periferia wuchern Bausünden wie Unkraut
in einem vernachlässigten Garten. Die Vororte sind auf eine
deprimierende Weise trostlos und ungepflegt. Die klassische
Schönheit der Stadt hatte durch die explosionsartige Migration der
Süditaliener tiefe Narben davongetragen. Denn sie sorgte dafür,
dass hastig billiger Wohnraum ohne jede Baugenehmigung und jeden
Geschmack hochgezogen wurde. Ich wollte Italien inmitten der
Architektur der Alten Welt kennenlernen, und wenn ich schon nicht
mittendrin wohnen konnte, dann wenigstens ganz in ihrer Nähe. Mit
Danielas Schule als Anhaltspunkt suchte ich so zentral wie möglich,
da wir uns beide einig waren, dass klein, aber fein besser war als
groß und steril. Die Jagdsaison hatte begonnen.
Spatzen flogen auf,
als ich dem Winter trotzte, um die Morgenzeitung zu kaufen. Aber
bei den privaten Anzeigen, die ich abtelefonierte, waren die
Wohnungen entweder schon vermietet oder der Anrufbeantworter ging
dran oder aber man landete heimtückischerweise bei bancadarias – bei Pseudomaklern, die erst einmal
umgerechnet 200 Dollar verlangen, bevor sie überhaupt eine Adresse
herausgeben. Bevor ich lernte, sie herauszufiltern, landete ich
einmal im Warteraum einer solchen bancadaria, wo eine Maklerin ihr Bestes tat, einen
verärgerten Vermieter zu beruhigen. Worüber er sich aufregte? Über
diese widerlichen Ausländer natürlich. »Sie haben
selbstverständlich Recht«, sagte die Agentin und blinzelte durch
ihren Zigarettenqualm. »Ich würde sie auch nicht im Haus haben
wollen, aber ich dachte, bei Ihnen wäre das anders.« Damit war die
Diskussion noch lange nicht zu Ende.
Ich gab es auf, die
privaten Anzeigen durchzulesen, und rief nur noch bei Maklern an,
die zwar auch eine Gebühr verlangen, aber im Unterschied zu den
bancadarias erst, nachdem sie einem eine Wohnung vermittelt hatten.
Ich rief an, sobald sie aufmachten, und trug auf Italienisch
Danielas Checkliste mit Fragen vor: Wo liegt die Wohnung? In
welchem Stockwerk? Gibt es einen Lift? Funktioniert er? Ich machte
nur einen Fehler und fragte, ob eine Wohnung ein Dach (tetto) besäße statt ein Bett (letto).
Wenn ich die erste
Runde überlebte, waren die anderen mit Fragen dran. Das bedeutete
in erster Linie, zu erklären, warum ich eine Checkliste vorlas. Ich
erzählte, dass ich ein Australier mit Aufenthaltsgenehmigung und
einem festen Job sei und nachher zum Mittagessen eine statale erwarten würde. Die nächste Fragerunde war
noch persönlicher, aber dank meines Trainings mit Daniela deutlich
leichter zu beantworten. Wie alt waren Daniela und ich? Waren wir
verheiratet? Hatten wir Kinder? Irgendwelche Haustiere? Was
arbeiteten wir genau? Eine Maklerin zögerte, bevor sie sagte: »Es
ist mir peinlich, das zu fragen, aber der Eigentümer will nur
Mieter mit Universitätsabschluss. Haben Sie oder Ihre Freundin
einen?«
»Genau genommen
haben wir sogar drei.«
»Das ist
wahrscheinlich einer zu viel.«
Laut meiner
Checkliste sollte ich mich abschließend nach einem
Besichtigungstermin erkundigen und möglichst darauf bestehen, die
Wohnung als Erster ansehen zu dürfen. Die Nachfrage nach Wohnungen
ist so groß, dass Interessenten sie schon nach einer
oberflächlichen Besichtigung durch die Hinterlegung einer Kaution
reservieren. In mehreren Fällen kam ich nach ermüdenden Fahrten mit
der Straßenbahn, U-Bahn und langen Fußmärschen zum verabredeten
Treffpunkt, nur um zu sehen, wie der Makler mit Taschen voller Geld
bereits abschloss. Man hat kaum Zeit, über eine Wohnung
nachzudenken oder sie mit anderen zu vergleichen, denn bis man sich
entschieden hat, sind beide weg. Zwei Wohnungen gingen uns durch
die Lappen, während wir über ein Bad ohne Fenster oder eine Küche
diskutierten, die so klein war, dass der Kühlschrank in der
Vorratskammer stand.
Nachdem ich die
Besichtigungstermine organisiert hatte, ging ich mit einem Handy,
einem Stadtplan von Mailand und mehreren Fahrkarten für die
metropolitana aus dem Haus. Zigeuner
liefen durch die vollen Waggons und entlockten alten Akkordeons
böhmische Klänge. Ein Kind ging hinterher und klapperte mit
Kleingeld in einem Pappbecher. Bei jeder Haltestelle wechselten sie
den Wagen, vergrößerten so ihre Zuhörerschaft und zogen die einzige
Melodie, die sie konnten, so weit wie möglich in die
Länge.
Sowohl über als auch
unter der Erde hetzte ich von Termin zu Termin, bis mir die Stadt
vertraut wurde. Nur einmal verfuhr ich mich und verpasste eine
Besichtigung in der schwer auffindbaren Via Copernicus. Ich drehte
den Sadtplan minutenlang in meinen Händen und begriff einfach
nicht, ob ich um die Via Copernicus herumlief – oder sie nicht doch
um mich.
Die Nachfrage nach
Wohnungen ist dermaßen groß, dass die Eigentümer sie für den
Besichtigungstermin weder putzen noch aufräumen. In einer Wohnung
schwamm noch Müll in der Toilette, in einer anderen lagen
Essensreste und Lappen in der Spüle. Für die Apartments in unserer
Preisklasse war das Wort winzig noch untertrieben. Sie besaßen
Flugzeugtoiletten und Bäder von der Größe eines Bidets. Die
Milanesi wohnen in Zwergenhöhlen, und
je kleiner sie sind, desto zentraler liegen sie. Viele kann man
damit beheizen, dass man den Toaster anmacht. Michele, ein Freund
von Francesco aus Palermo, wohnte in einer 18 Quadratmeter großen
Einzimmerwohnung einschließlich Balkon, die kleiner war als eine
Garage auf Sizilien. Aber für einen jungen Bauingenieur ist Mailand
die Stadt, wo die Jobs sind, auch wenn man sich damit nur eine
erbärmliche Existenz in einer noch erbärmlicheren Metropole leisten
kann.
Nach einer Weile
begriff ich, dass mit »Ausländer« Albaner, Afrikaner, Osteuropäer
oder Schwarze gemeint waren, aber solch dezidierte Vorurteile
passen nicht in die Felder der Annoncenformulare. Australier zu
sein wirkte sich letztendlich doch nicht negativ aus – im
Gegenteil. Viele Eigentümer erwärmten sich für die Idee, einen
Mieter zu haben, der aus einem Land stammt, das sie bewundern.
Dabei fiel ihnen gar nicht auf, dass es wohl kaum ein südlicheres
Land gibt als Australien, außer man vermietet seine Wohnung an
einen Pinguin. Absurd, dass ich den Vermietern attraktiver erschien
als ihre Landsmännin Daniela.
Nach einer
sechswöchigen Suche machten wir uns auf ein Weihnachten bei
Francesco gefasst. Was schenkt man einem Liebhaber von
Killerfischen zu Weihnachten? Eine Badehose? Dann war ich eines
eiskalten Morgens, der trotzdem nicht nebelfrei war, der Erste, der
ein chices und bezahlbares monolocale
besichtigte, das einigermaßen zentral lag. Die Einzimmerwohnung lag
in der Nähe des Mailänder Friedhofs, im gepflegtesten Viertel der
Stadt, und war nur geringfügig größer als ein durchschnittliches
Grab. Achtundzwanzig Quadratmeter für 600 Euro im Monat, und gleich
beim Friedhof gab es einen Irish Pub. Meine Mutter hat schon immer
gesagt, dass einen das Trinken ins Grab bringt. Die Wohnung war
nicht perfekt, aber sie war in Ordnung. Die Suche war vorbei. Wir
würden Weihnachten alleine feiern können.
Ich zahlte dem
Makler die Kaution, bevor ich ihn in sein Büro begleitete. Als ich
Daniela anrief, um ihr zu sagen, dass sie sofort herkommen müsse,
hoffte ich nur, dass sie mir die algengrünen Wände vor lauter
Erleichterung vergeben würde. Ehrlich gesagt erinnerten sie mich
verdächtig an das Aquarium, dem wir genauso dringend entfliehen
wollten wie die Eigentümerin ihren ungehobelten Mietern. Die junge
Frau aus Padova, die pünktlich im Maklerbüro eintraf, um uns weiter
auszufragen und den Mietvertrag abzuschließen, ließ keinen Zweifel
daran, dass sie eine absolute Ausnahme mache, wenn sie Daniela die
Wohnung vermietete. Wir hätten wahrscheinlich geschmeichelt sein
sollen. Nachdem der Vertrag unterschrieben war, sah ich, wie der
Makler die Zeile NIENTE STRANIERI durchstrich.
Bevor er uns in
seine Bücher aufnahm, schlug uns der Makler völlig ungerührt einen
Deal vor, wie jemand, der das Gesetz regelmäßig ignoriert. Wenn wir
nicht darauf bestanden, Steuern auf die Maklergebühr zu zahlen, was
sowohl uns als auch ihm zugute käme, würde er diese drastisch
senken und unser Geschäft in ein Buch eintragen, das er ganz
schnell verschwinden lassen konnte, wenn die Quittungspolizei die
Treppe hochkam. Sollten wir dagegen darauf bestehen, die Steuer zu
zahlen, würde die Maklergebühr teurer, und er würde unser Geschäft
in die offiziellen Bücher eintragen. Ich fragte mich, wer korrupter
war: der Norditaliener, der uns einen Betrug vorschlug, oder die
Süditaliener, die sein Angebot ernsthaft in Erwägung
zogen?
Die Einladung auf
einen Kaffee lehnten wir ab, indem wir behaupteten, in der zweiten
Reihe zu parken, woraufhin der Makler »Ich auch« sagte, bevor er
nach seinen Zigaretten griff. Als wir zu Francescos Wohnung
zurückfuhren, in der wir nur noch ein, zwei Tage verbringen würden,
kamen wir an einem verlassenen Park vorbei. Im hüfthohen Gras stand
ein Schild, auf dem nach einem Sponsor für den Park gesucht wurde.
Vielleicht, wenn man Steuern zahlen würde …
Wir stießen kurz an,
um unsere neue Wohnung zu feiern, und schrieben dann Einladungen
für die Einweihungsparty, einschließlich der Wegbeschreibung und
des Namens für die Klingel.
Es wäre schön,
dieses Kapitel mit der frohen Botschaft beenden zu können, dass
mein Päckchen endlich angekommen war. Aber die Poste Italiane überraschen einen genauso selten mit
einem Happy End, wie sie ihre Arbeit tun.