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Keine Ausländer... oder Süditaliener
 
Il postino drückte mit seinem Unterarm alle Klingeln des Wohnblocks auf einmal. Durch das Schrillen dieser siebenstöckigen Eieruhr wurden sämtliche Bewohner aufgeschreckt, darunter auch Francescos Dackel Liuto (Laute), der nach dem langhalsigen Musikinstrument benannt worden war, an das er vage erinnerte. Er sprang vom Bett, auf dem er gedöst hatte, rutschte vor lauter Eile, zur Tür zu kommen, mit seinen winzigen Krallen auf dem Parkett aus und knallte mit der Schnauze zuerst gegen die Flurwand. In der Wohnung brach Panik aus, wie in einem Cockpit, in dem plötzlich ein rotes Lämpchen blinkt. Ein alarmierendes, aber auch angemessenes Signal, wenn man bedenkt, dass es ein Wunder ankündigt – nämlich das Eintreffen der Post. Ich konzentrierte mich gerade auf einen beschlagenen Rasierspiegel, als ich diesen Aufruhr zum ersten Mal miterlebte, und erschrak so, dass ich von Glück sagen konnte, dass mein Rasiermesser stumpf war. Sechs Wochen zuvor hatten meine Eltern ein Päckchen in Australien abgeschickt, also rannte ich ähnlich aufgeregt wie Liuto zur Gegensprechanlage, in der festen Überzeugung, dass es endlich angekommen war.
»Si?«
»Postino.«
»Arrivo.«
Ich drückte auf den Türöffner, wischte mir den verbliebenen Rasierschaum aus dem Gesicht und eilte zum Lift.
»Fuori servizio« – Außer Betrieb. Noch im Schlafanzug nahm ich drei Stufen auf einmal.
Jede Form von Kritik, Beschwerde oder Tadel sind vor lauter Aufregung vergessen, wenn die Post doch endlich mal kommt. »Besser spät als nie« wäre ein höchst passender Werbeslogan für die Poste Italiane. Als ich in Italien lebte, bekam ich meine Weihnachtsgeschenke zu Ostern und die Glückwünsche zu meinem Dreißigsten kurz vor meinem einunddreißigsten Geburtstag. Außerdem wurde ich zu einer Hochzeit eingeladen, als die Flitterwochen bereits seit Monaten vorbei waren.
Ein Ausflug zum örtlichen Postamt half, solche Verspätungen zu erklären. Eine krumm dasitzende Frau benutzte einen Pinsel, um meine Postkarte mit Klebstoff zu betupfen, und brachte eine Briefmarke darauf an, die ihr unbeholfenes Kunstwerk leider nur unvollständig bedeckte. Wenn sie meine Sendung in den Sack mit der Auslandspost warf, würde sie sich zweifellos an eine Karte für eine Albanerin heften, die zur Geburt eines Kindes beglückwünschte, das bei Ankunft der Karte bestimmt schon ein Teenager war. Das Wechselgeld kam aus einer Bonbondose von Quality Street. Und das sollte Italiens fortschrittlichste Stadt sein?
Auf der Post von Andrano kleben sie die Briefmarken nicht vor dem Kunden auf. Sie notieren nur den Wert, den sie »später« auf den Umschlag kleben werden. Eines Augusts schickte ich Freunden in Irland eine Karte, die ich dann im September besuchte. Die Postkarte kam nach mir an, und dem Poststempel konnte ich entnehmen, dass sie acht Tage auf dem Postamt gelegen hatte, bevor sie weiterbefördert worden war. Was ist der Unterschied zwischen einem Streiktag und einem ganz normalen Arbeitstag auf einem italienischen Postamt? An einem Streiktag hängt man ein Schild vor die Tür, das erklärt, warum niemand arbeitet.
 
Nach zwölf Treppenabsätzen erreichte ich das Foyer und sah, wie der Postbote Post aus seiner braunen Ledertasche sortierte.
»Postino?«
»Si?«
»Sie haben bei mir geklingelt.«
»Das kann sein. Ich hab bei allen geklingelt. Irgendjemand muss mir die Tür aufmachen.«
»Oh, ich dachte, Sie brauchen mich, damit ich etwas unterschreibe. Ich warte auf ein wichtiges Paket.«
»Ich klingle, wenn es kommt«, sagte er und wandte sich wieder den Briefkästen zu.
Da mein Weg nicht umsonst gewesen sein sollte und ich auch noch keine große Lust aufs Treppensteigen zurück hatte, wartete ich auf Francescos Post, während ich Zeuge der Arbeit des Zustellers wurde. Er holte jeden an das Gebäude adressierten Brief einzeln heraus, las den Namen des Empfängers, überflog zig Briefkästen, die mit den jeweiligen Nachnamen versehen waren, und wenn er keinen passenden fand, warf er den Brief oben auf einen der Briefkästen. Kein Wunder, dass der Service so langsam ist!
Mit Namen versehene Wohnungen machen Postboten das Leben schwer, vor allem wenn die Bewohner aus steuerlichen Gründen ihre Untermieter nicht anmelden, da Mietverträge das Interesse der Quittungspolizei auf sich ziehen. Deshalb steht nur ihr eigener Name auf Klingel, Briefkasten und Wohnungstür. Wenn Freunde des Untermieters zu Besuch kommen, müssen sie den Nachnamen des Vermieters kennen, um ins Gebäude zu gelangen. Wenn man jemanden zum ersten Mal einlädt, ist es nicht unüblich, dass der Mailänder sagt: »Wir sehen uns also gegen neun, an der Klingel steht übrigens Di Costanza.«
Der Job des Postboten wäre wesentlich angenehmer, wenn sich die Italiener genauso über die wortwörtliche Bedeutung ihrer Nachnamen amüsieren würden wie ich. Die Namen auf den meisten italienischen Briefkästen sind eine unterhaltsame Lektüre, vor allem wenn es sich um die Nachnamen von Ehepaaren handelt. Auf einem Briefkasten in Francescos Haus steht: Panico e Pace – Panik und Frieden. Zwei Türen weiter wohnt ein Paar namens Guerra e Pace – Krieg und Frieden. Zum Glück ist ihr Nachbar ein gewisser Salvatore Capace – ein fähiger Retter, falls Herr Krieg in der Wohnung nebenan einmal die Oberhand gewinnen sollte.
Italienische Nachnamen sind am komischsten, wenn ihre Bedeutung eine Eigenschaft ihres Trägers widerspiegelt, so als habe sie auf ihn abgefärbt. Es ist schwer, mehr als ein paar höfliche Worte aus Danielas altem Schulfreund Davide Timido (David Schüchtern) herauszubringen, und Valerias Freundin Stefania Frigida blieb ihr Leben lang ledig. Auch äußere Umstände können die wortwörtliche Bedeutung eines Nachnamens komisch wirken lassen. In den Abendnachrichten sah ich einmal Giovanni Lava, der vom Ätna aus berichtete, nachdem dieser ausgebrochen war. Allerdings hatte ich mich in Sydney auch schon von einem Dr. Tan (Bräune) auf Hautkrebs hin untersuchen lassen – so gesehen sind Italiener da keine Ausnahme.
Mein Lieblingsbuch auf Italienisch ist das Telefonbuch. Es macht mir einen Riesenspaß, darin nach neckischen Namen zu suchen und mich zu fragen, was sie wohl über ihren Träger aussagen. Ob Elvio Mezzogufo – Elvis Halbeule – wohl an Schlafstörungen leidet? Ist Crucifisso San Filippo – Kruzifix Heiliger Philipp – religiös? Bekommt Signor Massimo Peloso – Herr Max Haarig – eine Glatze? Und hat Pietro Calvo – Peter Kahl – einen dichten Wuschelkopf?
Manche Italiener haben Namen mit einer positiven Bedeutung wie Marco Magnifico – Markus Großartig – oder Maria Bella – Maria, die Schöne. Aber lassen Sie sich mal so etwas wie Carla Vacca – Karla Kuh – und Anna La Rana – Anna, der Frosch – auf der Zunge zergehen! Hat Letztere vielleicht einen Sohn namens Kermit? Zu Annas großem Glück neigen die Italiener dazu, die Bedeutung ihrer Namen zu ignorieren, mit Ausnahme von Italiens berühmtestem Industriellen und Playboy, Gianni Agnelli, der viele Jahre den Fiatkonzern leitete. Bevor Das Schweigen der Lämmer in Italien herauskam, wollte Agnelli, dessen Nachname wortwörtlich »Lämmer« bedeutet, verhindern, dass man seinen Namen mit dem Film in Verbindung bringt, und sorgte dafür, dass der Titel in Das Schweigen der Unschuldigen geändert wurde. Wenn alle Lämmer so viel Macht haben, wären wir wahrscheinlich alle Vegetarier.
Als der Postbote mit dem Sortieren fertig war, lagen mehr Briefe auf den Briefkästen als darin. In Francescos Briefkasten fand ich einen Umschlag, der »an den Süditaliener« adressiert war. Er enthielt ein Gedicht mit dem Titel Preghiera per i terroni – Ein Gebet für die Bauern. Terroni ist ein abwertender Begriff, der wortwörtlich »Erdmensch« bedeutet und auf alle Süditaliener gemünzt ist, die Norditaliener als unzivilisiert empfinden. Der Postbote hatte den unfrankierten Hassbrief nicht zugestellt, also musste ihn jemand aus dem Haus eingeworfen haben, der Francesco, Daniela und vielleicht auch mich aufgrund unserer jeweiligen Herkunft unsympathisch fand.
Da mein kleines Päckchen immer noch in der großen weiten Welt herumschwirrte, kehrte ich in die Wohnung zurück und musterte meine lächerlichen nur zur Hälfte abrasierten Bartstoppeln im Spiegel. Ich wartete auf Danielas Rückkehr, damit sie mir das Gedicht übersetzen konnte. Als ich ihr den Titel nannte, lachte sie, doch das Lachen verging ihr, als sie die Zeilen überflog.
Preghiera per i terroni
 
Oh mio caro buon Gesù
Fa che non ce ne siano più.
Fagli capire che non sono voluti
E pulisci l’Italia da questi cornuti.
Da Roma in giù un grande ciclone
Che cancelli per sempre i dannati terroni.
Pioggia, vento e temporali
Solo e soltanto sui meridionali.
Ein Gedicht zu übersetzen ist schwerer, als es zu schreiben, aber rein inhaltlich lautete der Text in etwa so:
 
Oh lieber Herr Jesus.
Mach, dass es keine mehr gibt.
Mach ihnen klar, dass sie hier nicht erwünscht sind
Und säubere Italien von diesen Gehörnten.
Südlich von Rom soll ein Riesenzyklon
Die verdammten terroni ausradieren.
Regen, Wind und Stürme
Sollen ausschließlich Süditaliener heimsuchen.
 
Ein befreundeter Mailänder bemerkte dazu scharfsinnig: »Ausländer halten Italiener normalerweise nicht für Rassisten. Dafür hegen wir so viele Vorurteile gegen unsere eigenen Landsleute, dass wir einfach keinen Hass mehr für Ausländer übrig haben. Wir wären die besten Rassisten der Welt, wenn nur so viele Ausländer herkämen, wie Italiener ins Ausland gegangen sind, Übung haben wir schließlich genug.«
Es ist alles eine Frage der Geographie, wenn sich Italiener aufgrund der Stadt oder Region, aus der sie stammen, nicht ausstehen können. Sie glauben, dass bestimmte negative Eigenschaften typisch für eine gewisse Gegend sind. Wer geizig ist, kommt fraglos aus Genua, wer arrogant ist, aus Florenz, wer keinen Humor hat, ist in Mailand beheimatet, wer ein Snob ist, stammt aus Padova, Eingebildete kommen aus Bologna, Sturköpfe aus Sardinien, und alle, die südlich von Roma geboren wurden, könnten genauso gut aus Afrika stammen.
Norditaliener glauben, dass die Erste Welt in Rom aufhört, den unterentwickelten Süden bewohnen ausschließlich unzivilisierte terroni. Manche Norditaliener sind sogar der Auffassung, dass sie ihre Pässe mitnehmen müssen, wenn sie sich weiter südlich als bis zu ihrer Hauptstadt vorwagen. Die terroni gelten als primitive Proleten, ohne die Italien nach Meinung vieler Norditaliener deutlich besser dran wäre. Umberto Bossi, der Führer der Lega Nord – Der nördlichen Liga – ist ein bekannter Vertreter dieser Einstellung. Xenophobe wie er wollen das Land auseinanderreißen, auf dass der Norden den Norden regiert, die Mitte die Mitte und der Süden den Süden.
Doch das Problem einer gespaltenen Nation lässt sich nicht dadurch lösen, dass sich die Landesteile immer mehr voneinander entfremden. Die Geschichte Italiens ist eine des Nord-Süd-Gefälles, und zwar schon seit Anfang des 16. Jahrhunderts. Damals eroberten die Spanier den Süden des Landes und gründeten das »Königreich Neapel«, das über dreieinhalb Jahrhunderte Bestand hatte. Während sich im Norden eine Reihe von wohlhabenden, souveränen Staaten abwechselten, bestand der Süden überwiegend aus einer Bauernschaft, der man jegliche Bildung vorenthielt, um sie leichter regieren zu können. Die Vorteile der Industriellen Revolution kamen dem Norden zugute, aber dem Süden blieben sie verwehrt, wo die Spanier, die sich über verbesserte Zustände in ihrer Heimat freuten, nichts vom Fortschritt hielten.
Selbst nachdem Garibaldi Süditalien 1861 von der Herrschaft der Bourbonen befreit und das von Vittorio Emanuele II. regierte »Königreich Italien« gegründet hatte, blieb die Entwicklung des Südens weit hinter der des Nordens zurück, wo Straßen, Schulen und Fabriken an der Tagesordnung waren. Der Süden wurde mehr oder weniger vergessen und aus irgendwelchen Gründen Mezzogiorno (Mittag) genannt. Vielleicht, weil das die Uhrzeit ist, zu der man dort aufhört zu arbeiten.
Im 20. Jahrhundert wurde die Süditalienproblematik überwiegend ignoriert, und im Faschismus war es verboten, das Wort Mezzogiorno – die Achillesferse der Nation – auch nur in den Mund zu nehmen. Erste finanzielle Hilfe kam in den 1950er-Jahren durch den »Mezzogiorno Fund«, aber dank korrupter Lokalregierungen und der Mafia floss das Geld nur an diejenigen, die ohnehin reich waren. Das wiederum gab den Vorwürfen des Nordens, der Süden sei korrupt und solle selbst sehen, wo er bleibt, nur wieder neue Nahrung.
In den darauf folgenden zehn Jahren zogen über eine Million Süditaliener auf der Suche nach Wohlstand in den Norden, der dort hängen blieb wie Sand in einer verstopften Sanduhr. Eine noch größere Anzahl versuchte ihr Glück in Übersee, vor allem in Amerika und Australien.
Diese historischen Unterschiede können die Kluft teilweise erklären, aber das heutige Problem beruht mindestens so stark auf gegenwärtigen wie auf vergangenen Fehlern. In der letzten Zeit hat sich die Lage des Südens geringfügig verbessert. Dafür sorgten mehrere Faktoren wie eine eigene, wenn auch bescheidene industrielle Revolution, besser ausgebildete Arbeiter und Angestellte, Zweitjobs, die den wachsamen Augen der Quittungspolizei entgehen, der Wirtschaftsboom in den 1980er Jahren, als die Regierung Stellen gegen Stimmzettel tauschte, aber auch weitervererbtes Vermögen in Form von Grundbesitz, der im Wert steigt, je mehr sich der Mezzogiorno zu einer Touristenattraktion entwickelt.
Dieser Wohlstand hat jedoch auch Schattenseiten und warf die Süditaliener auf sich selbst zurück. Ihr Mangel an Gemeinsinn und ihr angeborenes Misstrauen Autoritäten gegenüber, die sich bisher immer nur selbst bereicherten, bescheren Süditalien fast mittelalterliche Zustände und trennen es immer mehr vom modernen Norden.
Wie hatte ich mich nur in eine unzivilisierte terrona verlieben können? Und wie schaffte es die Einfältige, in meinen Augen als absolut gebildet durchzugehen? Daniela gibt zu, dass die Neigung der Süditaliener zu melodramatischen Gefühlsausbrüchen und lautem Palavern durchaus unzivilisiert wirken kann. Trotzdem zieht sie das heißblütige Temperament eines Süditalieners der eiskalten Scheinheiligkeit eines Norditalieners bei Weitem vor. Sie findet Norditaliener inkonsequent, die Süditalien zehn Monate lang als Außenposten Afrikas verunglimpfen, um dann im Juli und August ganz selbstverständlich die südlichen Strände und die mediterrane Küche zu genießen. »Kein Wunder, dass sie wegen unseres Essens kommen«, sagt Daniela. »Polenta ist das Einzige, was sie hier kochen können. Und weißt du, was Polenta ist, Chris? So was wie eine Unterart von Couscous. Und dann nennen sie uns Afrikaner!«
Mit seinen seltenen Momenten der Einigkeit hat das Italien des 21. Jahrhunderts 600 Jahre alte Probleme im Gepäck, zu denen auch Hassbriefe in Briefkästen gehören. Nach dem ersten Schrecken beruhigte sich Daniela wieder und sah die Preghiera einfach nur als Beweis, dass die Philister des Nordens auch Gedichte schreiben können, obwohl das Gros der italienischen Literatur von Süditalienern verfasst wurde. Touché.
 
Das Telefon klingelte lange, bevor ein älterer Herr dranging.
»Pronto.«
»Buon giorno. Ich rufe wegen der Wohnung an.«
»Wo kommen Sie her?
»Aus Lecce.«
»Ich vermiete nicht an Süditaliener.«
Daniela hielt den Hörer vom Ohr weg, während der ältere Herr seinen aufknallte.
Wir hatten nie vorgehabt, länger bei Francesco zu wohnen. Sich eine Wohnung mit dem Chef und dem Bruder der eigenen Freundin zu teilen ist nicht gerade optimal – und erst recht nicht, wenn beide ein und dieselbe Person sind. Wir wollten allein wohnen, und bestimmte Angewohnheiten Francescos ließen darauf schließen, dass er das ganz ähnlich sah. Zunächst einmal wies das riesige Aquarium voller Piranhas auf sehr spezielle Vorlieben hin. Und auch Liutos überall verteilte Pfützen und klebrige Überraschungen ließen darauf schließen, dass der Hund entweder nicht genug Auslauf bekam oder Angst vor den Fischen hatte. Noch schwerer zu ertragen war Francescos kürzliche Trennung von seiner Freundin aus Kindertagen. Lucinda kam eines Tages vorbei, als Francesco im Büro war, und fragte mich, wie ich die Eigentumsverhältnisse des Erbes ihrer Beziehung wie CD-Regale und Lampenschirme einschätzte. Woraufhin ich entgegnete, dass sie alles mitnehmen dürfe – vorausgesetzt, Liuto und die Piranhas wären ebenfalls dabei.
Aber unser Wunsch nach mehr Privatsphäre blieb unbefriedigt. Zum einen, weil Mailands Mietmarkt genauso ein Haifischbecken ist wie Francescos Aquarium, zum anderen aus jenen Gründen, die Danielas Telefonat so unsanft beendet hatten: Ihre süditalienische und meine ausländische Herkunft machten uns für viele Vermieter unattraktiv.
Als Francesco fünf Jahre zuvor nach Mailand gezogen war, hatte er sich mit ganz ähnlichen Vorurteilen herumschlagen müssen. Bei einer Wohnungsbesichtigung zeigte eine Frau auf die Waschmaschine und fragte, ob er so ein Gerät schon jemals gesehen habe. Als sich Francesco beschwerte, entschuldigte sich die Frau und sagte, sie habe ihn nicht beleidigen wollen. Sie sei wirklich nur daran interessiert, ob es »da unten« mittlerweile auch elektrische Haushaltsgeräte gebe. Jetzt hatte Daniela zu leiden, weil sie in den Norden gezogen war. Aber sie gab die Hoffnung nicht auf, da sich Francesco am Ende ebenfalls gut eingelebt hatte. Mit ihrem angeborenen Optimismus nahm sie von uns dasselbe an.
Daniela besaß einen großen Vorteil. Sie hatte ein Ass in ihrem süditalienischen Ärmel, denn sie war eine statale – eine Beamtin, die man nicht entlassen konnte, außer sie würde einen Putsch begehen. Eine bessere Garantie für regelmäßige Mieteingänge gibt es in ganz Italien nicht, und zwar im Norden wie im Süden. Wenn Norditaliener begreifen, dass ihre Investitionen zuverlässig Profit abwerfen, lassen sie ihre Vorurteile noch schneller fallen als ihre Kleider unter der südlichen Sonne.
Doch nach mehreren frustrierenden Wochen, in denen Daniela mittags von der Schule nach Hause eilte, um wegen Wohnungen zu telefonieren, die bereits vor dem Frühstück vermietet worden waren, wurde uns klar, dass ich anrufen musste, wenn wir nicht ewig mit Francesco zusammenwohnen wollten. Zu diesem Zeitpunkt sprach ich schon so fließend Italienisch, wie ein Seiltänzer seiltanzt: langsam, aber sicher – doch ein falscher Schritt, und schon war es um mich geschehen. Da viele Vermieter Makler beschäftigen, die Ausländer von vorneherein aussortieren, war ich kaum der Richtige für den Job. In den meisten Wohnungsanzeigen, die ich auf den Schreibtischen der Makler sah, stand oben fett gedruckt: NIENTE STRANIERI – KEINE AUSLÄNDER. Diese Worte standen sogar in der Anzeige für die Wohnung, die ich schließlich mietete und nach der ich zwei Wochen suchen musste.
Italienische Städte sind wie faules Obst – der beste Teil ist der Kern. In Mailands periferia wuchern Bausünden wie Unkraut in einem vernachlässigten Garten. Die Vororte sind auf eine deprimierende Weise trostlos und ungepflegt. Die klassische Schönheit der Stadt hatte durch die explosionsartige Migration der Süditaliener tiefe Narben davongetragen. Denn sie sorgte dafür, dass hastig billiger Wohnraum ohne jede Baugenehmigung und jeden Geschmack hochgezogen wurde. Ich wollte Italien inmitten der Architektur der Alten Welt kennenlernen, und wenn ich schon nicht mittendrin wohnen konnte, dann wenigstens ganz in ihrer Nähe. Mit Danielas Schule als Anhaltspunkt suchte ich so zentral wie möglich, da wir uns beide einig waren, dass klein, aber fein besser war als groß und steril. Die Jagdsaison hatte begonnen.
Spatzen flogen auf, als ich dem Winter trotzte, um die Morgenzeitung zu kaufen. Aber bei den privaten Anzeigen, die ich abtelefonierte, waren die Wohnungen entweder schon vermietet oder der Anrufbeantworter ging dran oder aber man landete heimtückischerweise bei bancadarias – bei Pseudomaklern, die erst einmal umgerechnet 200 Dollar verlangen, bevor sie überhaupt eine Adresse herausgeben. Bevor ich lernte, sie herauszufiltern, landete ich einmal im Warteraum einer solchen bancadaria, wo eine Maklerin ihr Bestes tat, einen verärgerten Vermieter zu beruhigen. Worüber er sich aufregte? Über diese widerlichen Ausländer natürlich. »Sie haben selbstverständlich Recht«, sagte die Agentin und blinzelte durch ihren Zigarettenqualm. »Ich würde sie auch nicht im Haus haben wollen, aber ich dachte, bei Ihnen wäre das anders.« Damit war die Diskussion noch lange nicht zu Ende.
Ich gab es auf, die privaten Anzeigen durchzulesen, und rief nur noch bei Maklern an, die zwar auch eine Gebühr verlangen, aber im Unterschied zu den bancadarias erst, nachdem sie einem eine Wohnung vermittelt hatten. Ich rief an, sobald sie aufmachten, und trug auf Italienisch Danielas Checkliste mit Fragen vor: Wo liegt die Wohnung? In welchem Stockwerk? Gibt es einen Lift? Funktioniert er? Ich machte nur einen Fehler und fragte, ob eine Wohnung ein Dach (tetto) besäße statt ein Bett (letto).
Wenn ich die erste Runde überlebte, waren die anderen mit Fragen dran. Das bedeutete in erster Linie, zu erklären, warum ich eine Checkliste vorlas. Ich erzählte, dass ich ein Australier mit Aufenthaltsgenehmigung und einem festen Job sei und nachher zum Mittagessen eine statale erwarten würde. Die nächste Fragerunde war noch persönlicher, aber dank meines Trainings mit Daniela deutlich leichter zu beantworten. Wie alt waren Daniela und ich? Waren wir verheiratet? Hatten wir Kinder? Irgendwelche Haustiere? Was arbeiteten wir genau? Eine Maklerin zögerte, bevor sie sagte: »Es ist mir peinlich, das zu fragen, aber der Eigentümer will nur Mieter mit Universitätsabschluss. Haben Sie oder Ihre Freundin einen?«
»Genau genommen haben wir sogar drei.«
»Das ist wahrscheinlich einer zu viel.«
Laut meiner Checkliste sollte ich mich abschließend nach einem Besichtigungstermin erkundigen und möglichst darauf bestehen, die Wohnung als Erster ansehen zu dürfen. Die Nachfrage nach Wohnungen ist so groß, dass Interessenten sie schon nach einer oberflächlichen Besichtigung durch die Hinterlegung einer Kaution reservieren. In mehreren Fällen kam ich nach ermüdenden Fahrten mit der Straßenbahn, U-Bahn und langen Fußmärschen zum verabredeten Treffpunkt, nur um zu sehen, wie der Makler mit Taschen voller Geld bereits abschloss. Man hat kaum Zeit, über eine Wohnung nachzudenken oder sie mit anderen zu vergleichen, denn bis man sich entschieden hat, sind beide weg. Zwei Wohnungen gingen uns durch die Lappen, während wir über ein Bad ohne Fenster oder eine Küche diskutierten, die so klein war, dass der Kühlschrank in der Vorratskammer stand.
Nachdem ich die Besichtigungstermine organisiert hatte, ging ich mit einem Handy, einem Stadtplan von Mailand und mehreren Fahrkarten für die metropolitana aus dem Haus. Zigeuner liefen durch die vollen Waggons und entlockten alten Akkordeons böhmische Klänge. Ein Kind ging hinterher und klapperte mit Kleingeld in einem Pappbecher. Bei jeder Haltestelle wechselten sie den Wagen, vergrößerten so ihre Zuhörerschaft und zogen die einzige Melodie, die sie konnten, so weit wie möglich in die Länge.
Sowohl über als auch unter der Erde hetzte ich von Termin zu Termin, bis mir die Stadt vertraut wurde. Nur einmal verfuhr ich mich und verpasste eine Besichtigung in der schwer auffindbaren Via Copernicus. Ich drehte den Sadtplan minutenlang in meinen Händen und begriff einfach nicht, ob ich um die Via Copernicus herumlief – oder sie nicht doch um mich.
Die Nachfrage nach Wohnungen ist dermaßen groß, dass die Eigentümer sie für den Besichtigungstermin weder putzen noch aufräumen. In einer Wohnung schwamm noch Müll in der Toilette, in einer anderen lagen Essensreste und Lappen in der Spüle. Für die Apartments in unserer Preisklasse war das Wort winzig noch untertrieben. Sie besaßen Flugzeugtoiletten und Bäder von der Größe eines Bidets. Die Milanesi wohnen in Zwergenhöhlen, und je kleiner sie sind, desto zentraler liegen sie. Viele kann man damit beheizen, dass man den Toaster anmacht. Michele, ein Freund von Francesco aus Palermo, wohnte in einer 18 Quadratmeter großen Einzimmerwohnung einschließlich Balkon, die kleiner war als eine Garage auf Sizilien. Aber für einen jungen Bauingenieur ist Mailand die Stadt, wo die Jobs sind, auch wenn man sich damit nur eine erbärmliche Existenz in einer noch erbärmlicheren Metropole leisten kann.
Nach einer Weile begriff ich, dass mit »Ausländer« Albaner, Afrikaner, Osteuropäer oder Schwarze gemeint waren, aber solch dezidierte Vorurteile passen nicht in die Felder der Annoncenformulare. Australier zu sein wirkte sich letztendlich doch nicht negativ aus – im Gegenteil. Viele Eigentümer erwärmten sich für die Idee, einen Mieter zu haben, der aus einem Land stammt, das sie bewundern. Dabei fiel ihnen gar nicht auf, dass es wohl kaum ein südlicheres Land gibt als Australien, außer man vermietet seine Wohnung an einen Pinguin. Absurd, dass ich den Vermietern attraktiver erschien als ihre Landsmännin Daniela.
Nach einer sechswöchigen Suche machten wir uns auf ein Weihnachten bei Francesco gefasst. Was schenkt man einem Liebhaber von Killerfischen zu Weihnachten? Eine Badehose? Dann war ich eines eiskalten Morgens, der trotzdem nicht nebelfrei war, der Erste, der ein chices und bezahlbares monolocale besichtigte, das einigermaßen zentral lag. Die Einzimmerwohnung lag in der Nähe des Mailänder Friedhofs, im gepflegtesten Viertel der Stadt, und war nur geringfügig größer als ein durchschnittliches Grab. Achtundzwanzig Quadratmeter für 600 Euro im Monat, und gleich beim Friedhof gab es einen Irish Pub. Meine Mutter hat schon immer gesagt, dass einen das Trinken ins Grab bringt. Die Wohnung war nicht perfekt, aber sie war in Ordnung. Die Suche war vorbei. Wir würden Weihnachten alleine feiern können.
Ich zahlte dem Makler die Kaution, bevor ich ihn in sein Büro begleitete. Als ich Daniela anrief, um ihr zu sagen, dass sie sofort herkommen müsse, hoffte ich nur, dass sie mir die algengrünen Wände vor lauter Erleichterung vergeben würde. Ehrlich gesagt erinnerten sie mich verdächtig an das Aquarium, dem wir genauso dringend entfliehen wollten wie die Eigentümerin ihren ungehobelten Mietern. Die junge Frau aus Padova, die pünktlich im Maklerbüro eintraf, um uns weiter auszufragen und den Mietvertrag abzuschließen, ließ keinen Zweifel daran, dass sie eine absolute Ausnahme mache, wenn sie Daniela die Wohnung vermietete. Wir hätten wahrscheinlich geschmeichelt sein sollen. Nachdem der Vertrag unterschrieben war, sah ich, wie der Makler die Zeile NIENTE STRANIERI durchstrich.
Bevor er uns in seine Bücher aufnahm, schlug uns der Makler völlig ungerührt einen Deal vor, wie jemand, der das Gesetz regelmäßig ignoriert. Wenn wir nicht darauf bestanden, Steuern auf die Maklergebühr zu zahlen, was sowohl uns als auch ihm zugute käme, würde er diese drastisch senken und unser Geschäft in ein Buch eintragen, das er ganz schnell verschwinden lassen konnte, wenn die Quittungspolizei die Treppe hochkam. Sollten wir dagegen darauf bestehen, die Steuer zu zahlen, würde die Maklergebühr teurer, und er würde unser Geschäft in die offiziellen Bücher eintragen. Ich fragte mich, wer korrupter war: der Norditaliener, der uns einen Betrug vorschlug, oder die Süditaliener, die sein Angebot ernsthaft in Erwägung zogen?
Die Einladung auf einen Kaffee lehnten wir ab, indem wir behaupteten, in der zweiten Reihe zu parken, woraufhin der Makler »Ich auch« sagte, bevor er nach seinen Zigaretten griff. Als wir zu Francescos Wohnung zurückfuhren, in der wir nur noch ein, zwei Tage verbringen würden, kamen wir an einem verlassenen Park vorbei. Im hüfthohen Gras stand ein Schild, auf dem nach einem Sponsor für den Park gesucht wurde. Vielleicht, wenn man Steuern zahlen würde …
Wir stießen kurz an, um unsere neue Wohnung zu feiern, und schrieben dann Einladungen für die Einweihungsparty, einschließlich der Wegbeschreibung und des Namens für die Klingel.
Es wäre schön, dieses Kapitel mit der frohen Botschaft beenden zu können, dass mein Päckchen endlich angekommen war. Aber die Poste Italiane überraschen einen genauso selten mit einem Happy End, wie sie ihre Arbeit tun.