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Freitag, 16. September 1836
Herrenhaus der Duvoisins

Der offene Wagen schwankte sanft, als die Pferde von der größeren Straße abbogen und gemächlich über den einsamen Weg zum Herrenhaus trabten. Hier im Wald war so gut wie niemand mehr unterwegs, und die vier Insassen wurden augenblicklich vom Frieden der Insel eingehüllt. Die kleine Straße führte genau nach Westen zu ihrem Ziel auf die andere Seite der neun Meilen breiten Insel – zum Paradies von Jean Duvoisin II. Die östliche Seite von Charmantes war inzwischen dicht besiedelt, doch am Westufer wohnte nach wie vor nur eine einzige Familie: die Duvoisins. Weder die entlegenen Zuckerrohrfelder und Obstplantagen im Süden noch der Kiefernwald im Norden rund um die Sägemühle konnten es mit der großartigen Landschaft des Westufers aufnehmen, wo die Insel bis auf den Herrensitz noch immer so unberührt war wie am ersten Tag.

»Was ist los, meine Liebe?«, fragte Loretta.

Charmaine holte tief Luft. »Ich bin sehr nervös. Was, wenn sie mich nicht mögen?«

»Dann gehen wir wieder.«

»Oh, Mrs. Harrington, aus Ihrem Mund klingt alles so einfach.«

»Genau das ist es doch auch«, erklärte Loretta mit einem aufmunternden Lächeln.

Gestern hatten sie einen handgeschriebenen Brief von Colette Duvoisin erhalten, in dem diese ein Treffen am sechzehnten September um vier Uhr nachmittags vorschlug. In der Nacht hatte Charmaine kaum geschlafen und nur schwach gelächelt, als Harold Browning ihr am Morgen seine Begleitung angeboten hatte. »Dann ist es weniger offiziell.« Er wollte ihr die Sache erleichtern, und sie hatte ihm gedankt. Aber ihre Ängste wirklich beruhigen konnte auch er nicht.

Als sie schon glaubten, dass die Fahrt nie ein Ende nähme, lichtete sich allmählich der Wald. Charmaine sah das Haus als Erste – ein prachtvolles Gebäude, von üppigem Grün umgeben, eine weiße Perle auf smaragdgrünem Teppich. Als sich der Wagen dem Eisenzaun näherte, der das weitläufige Grundstück umgab, wuchs das Gebäude höher empor als alle, die Charmaine bisher zu Gesicht bekommen hatte. Höher noch als die großen Herrenhäuser in Virginia. Das palastähnliche Haus war atemberaubend und so unbeschreiblich, dass sicher nur die größten Dichter die richtigen Worte finden würden.

Zehn dorische Säulen ragten vor der Front des Gebäudes himmelwärts und trugen nicht nur eine Veranda im oberen Stockwerk, sondern noch eine weitere im Stock darüber, bevor sie unter dem überstehenden Dach aus roten Ziegeln endeten. Die Veranden erstreckten sich über die ganze Breite der Fassade und umgaben die ausladenden Seitentrakte, die sich im Süden und Norden im rechten Winkel anschlossen. So weit man sah, reihte sich eine französische Terrassentür an die nächste, die allesamt weit offen standen, um die sanfte Brise des Nachmittags einzufangen. Der Eingang des Gebäudes versteckte sich im Schatten zweier großer Eichen, die zu beiden Seiten der Auffahrt emporragten. Die Seiten des Hauses wurden bis weit nach hinten von Papayas und Palmen flankiert, aber unwillkürlich kehrte der Blick wieder zu den majestätischen Eichbäumen zurück. Harold erzählte, dass Frederics Vater die Setzlinge einst als Erinnerung an seine verstorbene Frau aus Virginia mitgebracht und vor dem Eingang eingepflanzt hatte. Heute, nach ungefähr fünfzig Jahren, waren sie zu mächtigen Bäumen herangewachsen und erinnerten daran, dass der Wohlstand der Duvoisins seinen Ursprung in Amerika hatte. Gleichzeitig betonten sie den perfekten Gleichklang und die wunderbare Symmetrie der gesamten Anlage, die nicht einmal von der später angefügten kleinen Kapelle am Südflügel gestört wurde.

Alle schwiegen, während der Wagen durch das Haupttor und weiter über die gepflasterte Auffahrt fuhr und im Schatten der beiden Eichen anhielt, wo die vier Insassen ausstiegen. Charmaine gestattete, dass Robert Browning ihren Arm ergriff und sie die wenigen Stufen zum Säulengang und weiter bis zur Eichentür geleitete.

Offenbar hatte der Butler sie bereits erwartet, denn die Türflügel öffneten sich wie von Geisterhand, bevor sie überhaupt klopfen konnten. »Wenn Sie bitte eintreten wollen. Ich werde Miss Colette Ihre Ankunft sofort melden.«

Über das geräumige Foyer mit Marmorfliesen und einer großen Standuhr spannte sich eine Decke mit geschnitzten Verzierungen, an der ein üppiger Kronleuchter hing. Gegenüber der Eingangstür öffnete sich ein weitläufiges Treppenhaus. Ein verziertes Eisengeländer begleitete die geschwungenen Stufen bis hin zu einem breiten Treppenabsatz, über dem das überlebensgroße Porträt einer jun-gen Frau die Blicke auf sich zog. An dieser Stelle teilte sich die Treppe und führte zu den jeweiligen Seitenflügeln empor. Die Wände wurden von bodentiefen Fenstern eingenommen, die den Schein der Nachmittagssonne einfingen und die staunenden Besucher in goldenes Licht tauchten.

Der Butler führte die Gäste in den nördlichen Flügel bis in die Bibliothek und forderte sie auf, es sich bequem zu machen. Drei der Wände waren mit Bücherregalen bedeckt, und ein großer Schreibtisch, ein Sofa und einige Sessel bildeten die Mitte des Raums. Es herrschte dämmriges Licht, das aber nicht unangenehm war, denn durch die offen stehenden Fenstertüren wehte die kühle Brise des Ozeans herein.

Loretta sank in einen Lehnstuhl. »Etwas einschüchternd, nicht wahr?«

»Fürwahr«, murmelte Charmaine, während sie Lorettas Beispiel folgte.

»Hast du das Bild im Foyer gesehen?«, fragte Loretta. »Wer diese hübsche junge Dame wohl ist?«

»Das ist Miss Colette«, erklärte Harold Browning.

Loretta lächelte. »Dann wissen wir ja jetzt, warum Mr. Duvoisin sie geheiratet hat, nicht wahr, Charmaine? Ich sehe keinen Grund, warum ich sie nicht von deiner Eignung überzeugen könnte.«

Charmaine war verblüfft. »Und wie kommen Sie darauf?«

»Hast du dir denn nicht ihr Gesicht angesehen?«

»Dazu war ich viel zu aufgeregt!«

Lorettas Lächeln vertiefte sich. »So etwas sieht man auf den ersten Blick. Wenn der Maler sein Modell richtig erfasst hat, und dessen bin ich sicher, so ist Mrs. Duvoisin eine warmherzige und liebenswerte Person, die genau diese Eigenschaften sofort in dir entdecken wird. Ich vermute, dass sie bei unserer Abfahrt heute Abend mehr als zufrieden sein wird. Es gibt sicher nicht viele Bewerberinnen, die so umsichtig und dabei so jung und lebensfroh sind wie du.«

Als Charmaine antworten wollte, öffnete sich die Tür, und die Frau auf dem Porträt betrat, gefolgt von Paul Duvoisin, die Bibliothek. Der Inbegriff der Weiblichkeit, gefolgt von schroffer Männlichkeit. Colette und Paul Duvoisin, Stiefmutter und Stiefsohn – ein faszinierendes Bild, das jedermann in seinen Bann schlug. Die beiden waren ungefähr gleich alt und wirkten eher wie ein Paar, das auch der Gesellschaft in Richmond zur Ehre gereicht hätte. Doch ihre Verbindung war weit komplizierter. Dann richteten sich die Blicke aller auf die Tür, aber Frederic Duvoisin blieb dem Treffen fern.

Colette beendete die erwartungsvolle Stille mit einem freundlichen »Guten Tag« mit hinreißendem französischen Akzent und lud ihre Gäste in den Wohnraum ein, in dem es sehr viel heller war. Dieser Raum öffnete sich mit zwei großen Fenstertüren auf die weite Rasenfläche auf der Vorderseite des Hauses. Einige Sofas, Lehnsessel und kleine Tischchen gruppierten sich um einen kunstvoll gewirkten Orientteppich und den mächtigen Kamin, der in einem Haus in der Karibik etwas fehl am Platz zu sein schien. Die Wand über dem Sims wurde von dem Bild eines Mannes eingenommen, auf dessen Knien ein kleiner Junge saß. Ein zweiter Junge stand neben dem Sessel. Charmaines Blicke wurden jedoch magisch von einem großen Piano aus poliertem Ebenholz angezogen, das zwischen den beiden Türen stand, die in die Bibliothek und ins Foyer führten.

Nachdem Harold Browning die Anwesenden miteinander bekannt gemacht hatte, bat Colette ihre Besucher, sich zu setzen. Sie trug ein schlichtes blassblaues Kleid, das ihr ausgezeichnet stand, und hatte das helle Haar, das ihr Gesicht umrahmte, im Nacken zusammengefasst. Ihre faszinierenden eisblauen Augen, die schmale, gerade Nase und volle Lippen rundeten das Bild ab. Doch es war ihr Lächeln, das die feinen Züge belebte und, wie Loretta vorausgesagt hatte, ihren Besuchern die erste Befangenheit nahm. Allen – bis auf Charmaine.

Colette Duvoisin hielt die Hände im Schoß gefaltet und sah ihre Gäste aufmerksam an. Paul dagegen stand mit leicht gespreizten Beinen hinter ihrem Sessel, als ob er sich noch auf der Raven befände. Man hätte meinen können, dass er seine Stiefmutter vor unbekannten Gefahren schützen wollte. Seine dunklere Haut bildete einen lebhaften Kontrast zu ihrer eleganten Blässe, und wieder hielt Charmaine die beiden unwillkürlich für ein Paar.

»Nun, Miss Ryan«, begann Colette, »wie gefällt Ihnen denn unsere Insel?«

»Sie ist wunderschön«, antwortete Charmaine.

In diesem Moment sah Colette sich selbst an Stelle des jungen Mädchens, durchlebte erneut ihre eigene Ankunft vor neun Jahren und verspürte das Entzücken, das sie beim Betreten genau dieses Raums erfasst hatte. Natürlich hatte sie sich damals nicht um eine Stelle als Gouvernante beworben. Im Gegenteil. Sie sollte Frederic Duvoisin zum ersten Mal treffen und einen guten Eindruck machen. Noch heute konnte sie ihren schnellen Puls und das Herzklopfen spüren, als Frederic sich zu ihr umgedreht und sie zum ersten Mal angesehen hatte. Sein gutes Aussehen hatte sie eingeschüchtert, und sein eindringlicher Blick hatte bis auf den Grund ihrer Seele geschaut und ihr den Atem geraubt. Ja, sie wusste sehr genau, wie man sich in Gegenwart der Duvoisins fühlte. Sie lächelte Charmaine zu. »Sie sind jetzt seit … seit drei Tagen hier?«

»Vier«, verbesserte Charmaine. »Wir sind am Montag mit der Raven angekommen.«

Dort habe ich sie also gesehen! Plötzlich war Paul das Gesicht der jungen Frau in Wilkinsons Kabine wieder gegenwärtig. Aber damals hatte sie das Haar offen getragen – lang und lockig. Aus diesem Grund hatte er sie auch nicht sofort wiedererkannt. Jetzt war ihm auch klar, wie sie auf Jonah Wilkinsons Schiff gekommen war. Sie war von Richmond aus hierhergereist. Ob John sie kannte? Hatte er sie vielleicht vor der Abfahrt auf dem Schiff getroffen? Aber nein, überlegte Paul. Wenn sie seinen Bruder kennengelernt hätte, würde sie jetzt nicht wie ein Kaninchen in der Falle vor ihm sitzen. Und doch. Vielleicht hatte John sie ja völlig verunsichert. Es ist eine Schande, dieses Haar aufgesteckt zu tragen … Die wirren Locken waren so hübsch.

»… stimmt das nicht, Paul?«, fragte Colette.

»Es tut mir leid. Was hast du gesagt?«

»Mit den einsamen Stränden hat Miss Ryan den schönsten Teil von Charmantes bereits gesehen, nicht wahr?« Sie wandte sich um, damit sie ihn besser ansehen konnte.

»Ja«, murmelte er nur.

Charmaine erschauerte unter Pauls prüfendem Blick und fragte sich, ob sie ihn durch irgendetwas beleidigt hatte, weil er mit einem Mal so finster dreinsah. Sie war erleichtert, als plötzlich die Tür aufging, eine Frau eintrat und Pauls Aufmerksamkeit von ihr ablenkte.

»Hallo, Agatha«, begrüßte Colette die Frau. »Komm her und lass dir unsere Gäste vorstellen.«

Die Frau war nicht mehr ganz jung, aber in jeder Weise so aufrecht und eindrucksvoll wie Colette. Das schimmernde rötlichbraune Haar war sorgfältig zu einer bauschigen Frisur gekämmt, perfekte Brauen wölbten sich über stechend grünen Augen, und die gerade aristokratische Nase endete über einem ausdrucksvollen Mund. Mit herrischem Schritt trat sie näher und lächelte den Anwesenden freundlich zu.

»Ich wusste gar nicht, dass du Gäste eingeladen hast«, bemerkte Agatha mit deutlichem britischem Akzent. »Hältst du das nach Roberts Rat von gestern für klug?«

»Ich befolge Roberts Ratschläge durchaus, Agatha. Jedoch nur, wenn ich sie für vernünftig halte.«

Statt einer Antwort läutete Agatha und bestellte als Erfrischung eine Karaffe mit Limonade.

Als sie einander vorgestellt wurden, erfuhr Charmaine, dass Agatha Blackford Ward die Schwester von Frederic Duvoisins erster Frau Elizabeth war. Nachdem sie vor kurzem Witwe geworden war, hatte sie sich für immer auf Charmantes niedergelassen, um ihrem Zwillingsbruder Robert Blackford nahe zu sein. Robert Blackford war Agathas einziger lebender Verwandter und außerdem der einzige Arzt auf der Insel.

»Miss Ryan bewirbt sich um die Stellung als Gouvernante«, vollendete Colette ihre Erklärung.

Agathas anfängliche Höflichkeit schwand. »Ach, wirklich? Sie scheint mir sehr jung zu sein.«

Paul räusperte sich. »Soweit ich weiß, führt Colette dieses Gespräch, Agatha. Also sollte sie auch die Fragen stellen, nicht wahr?«

Diese höfliche Zurechtweisung verblüffte Agatha, doch sie bewahrte Haltung, indem sie zur Tür ging und das Tablett mit der Limonade in Empfang nahm. Sie goss jedem ein Glas ein und setzte sich dann in den Sessel neben Colette.

Wieder richtete Colette den Blick auf Charmaine. »Darf ich Sie nach Ihrem Lebenslauf fragen, Miss Ryan?«

»Nennen Sie mich doch bitte Charmaine.«

»Nun gut, Charmaine, wo waren Sie bisher angestellt?«

»Die vergangenen drei Jahre seit meinem fünfzehnten Geburtstag habe ich für Mrs. Harrington gearbeitet.«

»Und was waren Ihre Pflichten?«

»Meistens war ich ihre Gesellschafterin.«

»Und bevor Sie dort gearbeitet haben?«

»Davor bin ich in Richmond zur Schule gegangen. Außer den üblichen Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Mathematik verfüge ich noch über eine Menge anderer Kenntnisse.«

»Welche Schule haben Sie besucht?«

»Die Schule von St. Jude.«

Colettes Augen leuchteten auf. »St. Jude Thaddeus … der Patron der Hoffnungslosen.«

Charmaine war erstaunt. »Ja, aber das wissen die wenigsten.«

»Die Hoffnungslosen schon«, hauchte Colette. »Sind Sie demnach römisch-katholisch, Charmaine?«

»Ja. Meine Mutter war sehr gläubig, und ich versuche, ihrem Beispiel zu folgen.«

Colette nickte beifällig. »Welche Fähigkeiten haben Sie außerdem? Vielleicht eine Ausbildung an einer Akademie für Ladys?«

Charmaine zögerte ein wenig, doch sofort schaltete sich Loretta Harrington ein. »Charmaines Erziehung wurde während der Jahre in meinen Diensten fortgesetzt und vervollkommnet. Die Literatur und die Musik liebt sie besonders. Außerdem kann Charmaine wunderschön sticken und ihre eigenen Kleider nähen. Und sie kennt alle Tanzschritte und hat großes Talent zum Klavierspiel. Und nicht zuletzt verfügt sie über ein einwandfreies Benehmen, sodass sie Ihren Töchtern ein Vorbild sein kann.«

»Ich verstehe«, antwortete Colette. »Sprechen Sie auch Französisch?«

Charmaine erschrak. »Muss ich das denn?«

»Aber nein.« Colette lachte leise. »Das ist keine Bedingung. Ich habe nur gehofft, dass ich mich vielleicht ein wenig in meiner Muttersprache unterhalten könnte.«

Charmaine seufzte, doch ihre Erleichterung währte nicht lange, denn nun ergriff wieder Agatha das Wort. »Es mag sein, dass dich mein Rat nicht interessiert, Colette, doch ich fände es passender, wenn du für die Erziehung deiner Töchter nach einer reiferen Person Ausschau hieltest. Vielleicht besitzt Miss Ryan ja all die Fähigkeiten, die Mrs. Harrington aufgezählt hat, aber das heißt nicht, dass sie auch über die Gabe verfügt, den Kindern diese Dinge nahezubringen. Ich gehe davon aus, dass in ihrer Ausbildung Kindererziehung bisher nicht vorgekommen ist. Mit Frederics Geld könntest du doch den besten Professor engagieren, der Pierre und die Mädchen unterrichtet. Warum überstürzt du diese Entscheidung so? Warum siehst du dich nicht zuvor noch in Europa um?«

Charmaine sank in sich zusammen. So gesehen war Agathas Standpunkt vernünftig, und es gab nichts daran auszusetzen. Weshalb sollte Frederic Duvoisin jemanden wie sie einstellen, wenn er für sein Geld doch sehr viel mehr Fachwissen bekommen konnte? Paul Duvoisin ergriff als Nächster das Wort, und seine Feststellungen waren nicht weniger enttäuschend.

»Vielleicht hat Agatha in diesem Fall wirklich recht, Colette. Zweifellos kann Vater die besten Lehrer gewinnen, die man für Geld bekommen kann, wie er es ja schon bei John, George und mir bewiesen hat. Wenn Pierre heranwächst, wird ihm das Wissen eines hervorragenden Lehrers von großem Nutzen sein. Weshalb also suchst du nicht einen Mann wie Professor Richards? Dank Roses Ehemann wurde uns eine umfangreiche Bildung zuteil, sodass wir bestens auf die Universität vorbereitet waren. Miss Ryan hat dagegen nur drei Jahre lang als Gesellschafterin einer Lady Erfahrungen gesammelt. Trotz all ihrer Bildung – wo ist ihre Erfahrung im Umgang mit Kindern? Meiner Meinung nach ist diese nicht vorhanden.«

»Ganz im Gegenteil«, widersprach ihm Loretta energisch. Die Unterredung lief in die falsche Richtung, und es war an der Zeit, dass sie eingriff. »Charmaine hat sogar öfter mehrere Tage ganz allein für meine Enkelkinder gesorgt. Im Umgang mit den Kindern war sie immer sehr umsichtig und geschickt. Die Kindern betteln ständig um einen Besuch bei mir, damit sie mit Charmaine zusammen sein können.«

Einen kurzen Augenblick lang war Charmaine überrascht, was Paul nicht entging. So so, Loretta Harrington spielt also ein Spielchen. Nun gut, das kann ich auch. »Für eine andere Stelle«, sagte er, und seine Augen blitzten, »scheint mir Miss Ryan allerdings durchaus geeignet – und für eine weniger anstrengende obendrein, als ständig hinter drei Kindern herzulaufen, die sie Tag und Nacht auf Trab halten. Als Hausmädchen, zum Beispiel?«

»Ich fühle mich stark genug, vielen Dank, Mr. Duvoisin, und ich bin durchaus in der Lage, hinter drei kleinen Kindern herzurennen«, erklärte Charmaine unwirsch. »Vor meiner Tätigkeit bei den Harringtons habe ich die Waisenkinder von St. Jude betreut. Und zwar bestens. Ich habe sehr gern mit ihnen gespielt. Schließlich war ich meiner eigenen Kindheit gerade erst entwachsen.«

»Das ist völlig richtig«, pflichtete Colette ihr bei. »Ich suche ja auch mehr als nur eine Gouvernante für meine Kinder. Wie Agatha bereits angedeutet hat, steht es mit meiner Gesundheit nicht immer zum Besten. Wenn ich mich nicht wohlfühle, will ich meine Kinder in guten Händen wissen, die mehr für sie tun als sie nur zu unterrichten. Die Gouvernante, die ich mir vorstelle, muss tatkräftig, liebevoll, mitfühlend und vor allem bereit sein, sich auf alles einzulassen, was Kindern so einfällt. Meine Kinder sollen frei aufwachsen. Ich will, dass sie reiten lernen und im Ozean schwimmen, und ich will, dass sie tanzen – und leben! Sie sollen nicht Tag für Tag ins Kinderzimmer verbannt sein und nie die wunderbare Luft von Charmantes genießen. Wir leben in einem Paradies, und ich möchte, dass meine Kinder das spüren – dass sie mit gesundem Körper und gesundem Geist hier aufwachsen und glücklich sind! Hat das jedermann im Raum gehört?«

Dies war eine rhetorische Frage, die sich an keinen der Anwesenden im Besonderen richtete, sondern alle betraf. Einen Augenblick lang herrschte Stille.

»Da das nun ein für allemal geklärt ist«, fuhr Colette fort, »möchte ich Miss Ryan nun noch ein paar weitere Fragen stellen. Ihre Familie …« Als ob sie die schwierigen Gewässer ahnte, hielt sie einen Augenblick lang inne. »Bisher haben Sie Ihre Familie noch nicht erwähnt. Darf ich fragen, warum Mr. und Mrs. Harrington Sie hierher begleitet haben?«

Charmaine senkte den Kopf. Trotz der vielen Übungen war die Erinnerung noch immer schmerzlich. »Meine Mutter ist im vergangenen Jahr gestorben, und mein Vater hat uns schon vor langer Zeit verlassen. Ich weiß nicht, wo er ist.« Als sie Colette ansah, schimmerten Tränen in ihren Augen. »Wenn ich die Harringtons nicht gehabt hätte, weiß ich nicht, was aus mir geworden wäre. Sie haben sich um mich gekümmert und sind jetzt meine Familie.«

Sehr gut, dachte Loretta, ehrlich und kein Wort zu viel. Ein Blick auf Colette genügte ihr, und sie wusste, dass Charmaine das Herz dieser Frau berührt hatte.

»Das tut mir sehr leid«, murmelte Colette und schwieg einen Moment betroffen. Dann ergriff sie erneut das Wort. »Ich möchte gern, dass meine Kinder Sie kennenlernen. Das ist ein wesentlicher Punkt meiner Entscheidung, wenn Sie das verstehen, Miss Ryan?«

»Bitte, nennen Sie mich doch Charmaine. Aber natürlich verstehe ich das. Ich möchte die Kinder ebenfalls gern sehen.«

Agatha stand auf. »Soll Rose sie herunterbringen?«

Colette nickte, und die ältere Frau verließ den Raum.

»Rose Richards oder Nana Rose, wie die Kinder sie nennen, ist eine ganz besondere Kinderfrau«, erklärte Colette. »Sie steht bereits seit fast sechzig Jahren im Dienst der Duvoisins und hat nicht nur Paul und John, sondern zuvor auch schon ihren Vater Frederic großgezogen. Ihr Mann, Professor Harold Richards, hat zwei Generationen junger Duvoisins unterrichtet. Rose ist eine Seele von Mensch«, fuhr Colette fort, »doch allmählich machen sich die Jahre bemerkbar. Und mit drei kleinen Kindern Schritt zu halten ist ihr immer weniger möglich.

Aber nun will ich mit Ihnen über meine Kinder reden. Die beiden Mädchen sind die Älteren und werden Ende des Monats acht Jahre. Obgleich sie eineiige Zwillinge sind, sind sie vom Wesen her so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Sie auseinanderzuhalten dürfte Ihnen also nicht allzu schwerfallen. Yvette ist ein wenig vorlaut, und im Gegensatz zu ihr wirkt Jeannette eher still und schüchtern. Mein Sohn ist zweieinhalb, was üblicherweise ein schwieriges Alter ist. Aber nicht so bei Pierre. Er ist ein äußerst liebenswertes Kind und mein ganzes Glück.«

Im selben Moment öffnete sich die Tür, und ein hübsches Mädchen mit blassblauen Augen betrat den Raum. Das helle Haar war erst zur Hälfte geflochten, aber das schien sie nicht zu stören. Sie musterte die Fremden einen nach dem anderen, bis ihr Blick schließlich bei Charmaine hängen blieb. »Wie heißen Sie?«, wollte sie wissen.

»Aber, Yvette«, mahnte ihre Mutter. »So stellt man sich doch nicht vor. Unsere Gäste werden denken, dass du keine Manieren hast.«

»Ich will mich ja nicht vorstellen, Mama. Sie« – dabei deutete sie mit dem Finger auf Charmaine – »soll mir nur sagen, wie sie heißt.«

»Außerdem ist es unhöflich, mit dem Finger auf Menschen zu zeigen«, bemerkte nun auch noch Paul.

Mit finsterer Miene ließ sich das Mädchen auf einen Sessel plumpsen und schmollte.

Colette beachtete sie nicht, sondern rief Jeannette und Pierre zu sich. Schnurstracks rannte der kleine Junge in die ausgebreiteten Arme seiner Mutter. Nachdem sich Rose, Agatha und Jeannette gesetzt hatten, fuhr Colette mit der Vorstellung ihrer Besucher fort. »Dies sind Mr. und Mrs. Harrington aus Richmond in Virginia …«

Yvette spitzte die Ohren. »Dort wohnt auch Johnny.«

»… und dies ist Miss Ryan, eine Freundin von ihnen.«

»Wohnen Sie auch in Richmond?«, fragte Yvette.

»Ich bin dort aufgewachsen«, erwiderte Charmaine.

»Kennen Sie meinen älteren Bruder?«

»Nein. Es tut mir leid, aber ich kenne ihn nicht.«

Yvette war noch nicht zufrieden. »Könnten Sie ihn vielleicht finden?«

»Yvette«, mahnte ihre Mutter, »es ist genug.«

Das Mädchen lächelte bezaubernd. »Aber, Mama, du hast doch gesagt, dass jeder den Namen Duvoisin kennt. Vielleicht kann Miss Ryan ja herausfinden, wo Johnny wohnt.«

Charmaine lachte. »Vermutlich könnte ich das, wenn ich es versuchen würde.«

Das schien das Mädchen zu freuen. »Gut. Wenn Sie nach Richmond zurückfahren, könnten Sie ja vielleicht einen Brief für ihn mitnehmen. Ich wollte ihm schon früher schreiben, aber Mama sagt, dass sie nicht weiß, wohin sie den Brief schicken soll. Und Vater … nun, Johnny und er hatten einen schrecklichen …«

»Yvette!«, bellte Paul. »Unsere Gäste interessieren solche Dinge nicht!«

Das Mädchen verdrehte die Augen und rutschte im Sessel herum, als Rose Richards sich zu ihr hinabbeugte. »Das nächste Mal«, raunte die alte Frau ihr zu, während sie die goldenen Strähnen bürstete, »rennst du nicht einfach davon, bevor ich dich hübsch gemacht habe.«

Charmaines Blick wanderte zu Jeannette, die noch kein Wort gesagt hatte. Die Kleine lächelte schüchtern. »Sie sind sehr hübsch«, sagte sie.

Charmaine lachte leise. »Vielen Dank, Jeannette. Darf ich dir das Kompliment zurückgeben?«

»Woher kennen Sie meinen Namen?«

Yvette brummte. »Man hat ihn ihr verraten, bevor wir hereingekommen sind, Dummchen.«

»Deine Schwester hat recht«, bestätigte Charmaine. »Aber viel mehr konnte deine Mutter mir nicht erzählen. Ich würde gern mehr über euch wissen, aber nur, wenn ihr mich auch etwas fragt.«

»Ich wüsste gern, wie Sie heißen«, sagte Yvette.

Colette schnalzte mit der Zunge. »Ich habe dir doch gesagt, dass sie Miss Ryan heißt, Yvette.«

»Ich meine aber ihren Vornamen. Wie heißen Sie mit Vornamen?«

»Charmaine.«

Jeannette legte den Kopf schief. »Das ist ja lustig! Das klingt wie Charmantes.«

»Nicht wahr? Eine Freundin hat das vor kurzem auch gesagt. Da war es mir noch gar nicht aufgefallen.«

»Können wir Sie Charmaine nennen?«, fragte Yvette.

»Nein, das könnt ihr nicht«, fuhr Colette dazwischen, »aber ihr dürft Mademoiselle Charmaine sagen.«

Yvette wollte sich von Rose losmachen, die ihre Haare flocht. »Autsch!«, quietschte sie und fing sich einen tadelnden Blick ihrer Kinderfrau ein.

»Wenn du nicht so zappeln würdest, wäre ich längst mit dem Flechten fertig.«

»Warum muss ich es mir immer bürsten und flechten lassen? Wenn ich ein Junge wäre, dürfte ich es ganz kurz abschneiden!«

Charmaine schmunzelte. »Wie gut ich dich verstehe, Yvette. Ich hasse es auch, mein Haar zu bürsten, und überlege fast jeden Morgen, ob ich es nicht abschneiden soll.«

Yvettes Bewunderung für Charmaine wuchs. »Und warum tun Sie es nicht?«

»Man hat mir gesagt, dass es das Schönste an mir ist.«

Die Antwort schien Yvette nicht zu begeistern.

»Stell dir nur vor, ich sähe danach fürchterlich aus? Das wäre eine schöne Bescherung, nicht wahr? Außerdem würde es Jahre dauern, bis es wieder so lang ist wie heute.«

»Das stimmt«, räumte die Kleine widerstrebend ein. Nachdem der zweite Zopf fertig war, ging sie zu Charmaine hinüber. »Wann werden Sie unsere Gouvernante?«

Colette war sprachlos. »Wie, um alles in der Welt, kommst du denn darauf, Yvette?«

Das Mädchen zog ein Gesicht. »Nana hat gesagt, dass sie nicht mehr so für uns sorgen kann wie früher für Johnny, Paul und George. Und ich habe gehört, dass Mrs. Ward vorgeschlagen hat, eine Gouvernante einzustellen.«

Colette runzelte die Stirn. »Und wo hast du das gehört, junge Lady?«

»Keine Ahnung.« Sie zuckte die Schultern. »Ich habe es eben gehört.«

»Und möchtest du denn, dass Miss Ryan Eure Gouvernante wird?«

»Ich schon«, meldete sich Jeannette zu Wort. Dann wandte sie sich an ihren Bruder, der zufrieden auf Colettes Schoß thronte. »Was meinst du, Pierre? Willst du, dass Mademoiselle Ryan bei uns wohnt und für uns sorgt?«

Lächelnd rieb sich der kleine Kerl die Äuglein und gähnte.

»Er ist müde«, stellte Jeannette fest. »Aber ich glaube, er mag sie.«

»Und wie steht es mit dir, Yvette?«, fragte Colette. »Möchtest du, dass Mademoiselle Charmaine zu uns kommt?«

»Ich denke schon«, meinte sie schnippisch.

»Yvette, deine Mutter hat dich nach deiner Meinung gefragt«, mischte sich Paul ein. »Bitte, gib ihr eine höfliche Antwort.«

»Schwer zu sagen«, meinte Yvette und legte den Finger ans Kinn. »Aber ich glaube, dass sie mir besser gefällt als Felicia.«

Ein Blick zu Paul – und jedermann wusste, dass Yvette etwas gesagt hatte, was besser ungesagt geblieben wäre. Und genauso klar war auch, dass Colette genau wusste, worauf ihre Tochter anspielte. »Ich bin sehr enttäuscht, Yvette«, sagte sie, bevor Paul reagieren konnte.

Sofort brach das Mädchen in Tränen aus. Angesichts dieses Tadels war alle Aufsässigkeit wie weggeblasen. »Es tut mir leid, Mama! Es tut mir leid, Paul!«, heulte sie und rannte aus dem Zimmer.

Colette seufzte. »Ich halte es für besser, unser Gespräch an diesem Punkt zu beenden. Mir ist klar, dass Sie auf eine Antwort warten, Miss Ryan, doch ich möchte mir die Angelegenheit in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Ich werde Ihnen am Montag Bescheid geben, wenn Ihnen das recht ist?«

Charmaine lächelte zaghaft. »Aber natürlich ist mir das recht.«

Jeannette spürte, dass Charmaine bedrückt war, und ging zu ihr. »Ich mag Sie sehr, Miss Ryan, und ich verspreche, dass ich Mama und Papa überreden werde, Sie zu nehmen.«

Papa – Frederic Duvoisin. Charmaine hatte ihn völlig vergessen. Natürlich wollte Colette die Sache mit ihrem Mann besprechen. Mit einem Mal sah alles nicht mehr ganz so hoffnungslos aus. Sie lächelte der Kleinen zu. »Ich danke dir, Jeannette, und ich hoffe sehr, dass wir uns bald wiedersehen.«


Caroline Browning konnte ihre Rückkehr kaum erwarten. »Kommt schnell herein«, rief sie, als sie aus dem Wagen stiegen. »Wie ist das Gespräch verlaufen? Ist alles gut gegangen? Hast du die Stelle bekommen?«

Charmaine musste erst einmal Luft holen. »Ich weiß es nicht – ich meine, ich erfahre es erst am Montag. Mrs. Duvoisin möchte noch mit ihrem Mann darüber sprechen.«

»War Frederic denn nicht dabei?«, fragte Caroline empört. »Dann ist es also wahr!«

»Was ist wahr?«, fragte ihre Schwester.

»Dass Frederic seine Räume nicht mehr verlässt.«

»Das können wir doch gar nicht wissen«, erwiderte Loretta. »Vielleicht hatte er ja anderswo zu tun.«

Das hielt Charmaine für unwahrscheinlich. Schließlich hatte Paul Duvoisin auch Zeit gefunden, um bei dem Gespräch anwesend zu sein. Und wenn man Gwendolyn glauben wollte, so war er doch ständig beschäftigt.

Caroline sprach aus, was sie dachte. »Jedermann weiß, dass Frederic das Haus nicht mehr verlässt. Das stimmt doch, nicht wahr, Harold?«

Ihr Mann widersprach nicht.

»Nein, nein, sein Zustand muss ernst sein.« In ihrem Kopf arbeitete es. »Und Miss Colette? Ist sie auch so krank, wie man munkelt?«

Loretta runzelte die Brauen. »Du wusstest, dass es mit ihrer Gesundheit nicht zum Besten steht, und hast uns das nicht gesagt?«

»Ich kann doch nicht an alles denken.« Caroline setzte sich aufrecht hin und strich sich über das Mieder. »War das denn so wichtig?«

»Es hätte zumindest erklärt, weshalb Mrs. Duvoisin eine junge Gouvernante sucht, die sich um ihre Kinder kümmert.« Loretta war sichtlich verärgert. »Wir sind in dem Glauben zu dem Gespräch gegangen, dass die Erziehung und der Unterricht im Mittelpunkt stünden. Dabei stand für Mrs. Duvoisin die richtige Betreuung ihrer Kinder im Mittelpunkt. Wenn wir das gewusst hätten, hätte Charmaine sich besser vorbereiten können.«

»Soll das heißen, dass die Sache schlecht steht?«, fragte Gwendolyn schüchtern.

»Ganz im Gegenteil«, entgegnete Loretta. »Das Gespräch ist mehr als nur gut verlaufen.«

Sonntag, 18. September 1836

Der Tag hatte erfrischend kühl begonnen, was nach der Hitze endlich angenehmere Temperaturen verhieß, aber es nieselte. Seufzend stellte Colette fest, dass die Regensaison begonnen hatte. Bis in den Dezember hinein mussten sie nun öfter mit bewölktem Himmel rechnen. Sie saß in ihrem privaten Salon am Schreibtisch und beobachtete versonnen, wie ein sanfter Wind durch die Palmwedel und die Äste der Pawpawbäume vor dem Balkon strich, der durch die offenen Terrassentüren bis in den Salon wehte. Augenblicke wie dieser waren selten, doch Colette hatte gelernt, die kostbare Zeit zu genießen, und darauf bestanden, nach der sonntäglichen Messe eine Stunde für sich allein zu haben. Während Pierre tief und fest auf ihrem Bett schlief, empfand sie beinahe so etwas wie Frieden.

Einen Augenblick später kehrte sie in die Wirklichkeit zurück und sah auf den fast beendeten Brief auf ihrem Schreibtisch hinunter:

Liebe Miss Ryan,

nach unserem Gespräch vom Freitag habe ich mir alles durch den Kopf gehen lassen. Es erscheint mir wichtig, dass wir uns noch einmal treffen, damit ich Ihnen in Ruhe darlegen kann, wie ich mir die Betreuung meiner Kinder vorstelle. Ich möchte also meine Einladung erneuern. Würde es Ihnen passen, mich heute zu einem weiteren Gespräch in meinen Privaträumen aufzusuchen? Sagen wir um vier Uhr? Ich bin sicher, dass wir uns bei einem vertrauten Gespräch unter vier Augen sehr viel besser kennenlernen können.


Sollte sie noch etwas hinzufügen? Keinesfalls wollte sie die junge Frau mit dieser neuen Einladung verunsichern, aber am Freitag waren einfach zu viele Menschen im Raum gewesen, um sich in Ruhe aussprechen zu können. Charmaine Ryan gefiel ihr, und höchstwahrscheinlich würde sie ihr noch vor dem Abend die Stellung anbieten.

Es klopfte an der Tür zum Flur. War es etwa schon Mittag?

»Herein«, rief sie und verzog ihr Gesicht, als Agatha Ward eintrat.

Sie hasste diese Frau. Seit sie vor etwa sechs Monaten die Schwelle des Hauses überschritten hatte, hatte sie sich häuslich eingerichtet. Im Gegensatz zu früheren Besuchen schien dieser kein Ende zu nehmen. Rose Richards zufolge war Agatha Ward schon zu Stippvisiten auf die Inseln gekommen, als Paul und John noch klein waren. Da Agathas Eltern früh gestorben waren und sie keine Kinder hatte, war es nur natürlich, dass sie mit ihren einzigen Verwandten in Kontakt blieb … Vor allem mit ihrem Bruder Robert und ihrem Neffen John. Frederic hatte die Schwester seiner Frau vom ersten Besuch vor etwa zwanzig Jahren an stets willkommen geheißen. Hin und wieder auch für längere Zeit, wenn Agathas Mann als Offizier der British Royal Navy zur See fuhr. Dieser Mann war im Januar gestorben, und im März war seine Witwe in Colettes Welt eingebrochen und hatte sich im Nordflügel häuslich eingerichtet – und das offenbar für immer. Als Colette einmal vorsichtig einen getrennten Wohnsitz angeregt hatte, wurde sie von Agatha belehrt, dass sie seit Jahren im Besitz einer Einladung von Frederic sei, in seinem Haus zu leben, sollte sie jemals in Not geraten. Nun war dieser Fall eingetreten, und Agatha war gekommen, um zu bleiben. Und schlimmer noch. Sie hatte sich gekonnt beim Personal eingeschmeichelt und auf ihrer Rolle als persönliche Gesellschafterin für Colette beharrt. Colette wiederum hatte weder den Willen aufgebracht, sich gegen Agatha zu wehren, noch den Mut, um ihr Missfallen offen mit ihrem Mann zu besprechen. Inzwischen schalt sie sich selbst für ihre Zaghaftigkeit.

»Ich dachte, du ruhst dich ein wenig aus«, sagte Agatha vorwurfsvoll.

Trotz plötzlicher Kopfschmerzen bemühte sich Colette um Höflichkeit. »Aber das tue ich doch.«

»Wie ich sehe, schreibst du einen Brief.«

»Das ist ja nicht unbedingt kräfteraubend, oder?« Colette faltete das Blatt, als Agatha näher trat. »Gibt es einen Grund für deinen Besuch? Ich dachte, ich hätte klar gesagt, dass ich eine Stunde lang ungestört bleiben möchte.«

»Die Mädchen fragen nach dir.«

»Wie kann das denn sein? George hat sie doch mit in die Stadt genommen.«

Unsicher runzelte Agatha die Stirn, aber dann zuckte sie nur die Schultern. »Es tut mir leid. Ich dachte, dass Fatima sich vorhin in der Küche über sie beschwert hätte. Aber vielleicht bezog sich das auf gestern. Nach dem Vorfall in Pauls Zimmer letzte Woche halte ich es für das Klügste, dich sofort über alles ins Bild zu setzen. Yvette nutzt deine Abwesenheit gern aus.«

»Das haben wir bereits besprochen, Agatha. Sie ist noch ein Kind.«

»Umso besser sollte sie ihren Platz kennen. Wie soll sie denn zu einer anständigen jungen Lady heranwachsen, wenn man ihr alles durchgehen …«

»Du sprichst von meiner Tochter.«

»Und du verteidigst sie natürlich.« Agatha wurde energischer. »Ich will dich nicht beunruhigen, Colette, aber Yvette macht das jeden Tag. Nach Roberts Meinung ist Aufregung das Schlimmste für dich. Hör mir zu!« Sie hob die Hand, als Colette widersprechen wollte. »Yvettes Aufsässigkeit wird täglich schlimmer. Deine Schwäche und deine Unfähigkeit, ihr Grenzen zu setzen, hat dieses Benehmen gefördert. Aber das ist kein Grund, darüber hinwegzusehen. Als deine Freundin, deine Gesellschafterin, fühle ich mich verpflichtet, dich vor den Folgen zu warnen. Yvette braucht eine feste Hand, die ihr diese Unarten …«

»Es reicht, Agatha!« Colette funkelte sie an. »Du bist nur Gast im Haus meines Mannes.«

»O nein, ich betrachte mich eher als deine Freundin und Gesellschafterin.«

»Das ist deine Meinung, nicht meine. Für mich bist du ein Gast. Also merke dir eines: Ich liebe meine Kinder. Sieh dich vor, wenn es um sie geht, sonst widerrufe ich die großzügige Einladung meines Mannes. Hast du verstanden?«

»Aber nein, meine Liebe, du bist diejenige, die es nicht versteht. Dein Mann ist angesichts deiner schwachen Gesundheit verzweifelt und hat seine Bedenken nicht nur Robert, sondern auch mir gegenüber zum Ausdruck gebracht. Ihm zuliebe habe ich eingewilligt, auf Charmantes zu bleiben. Er hat mich gebeten, dir nicht nur jeden Wunsch zu erfüllen, sondern auch dafür zu sorgen, dass du den Anweisungen meines Bruders Folge leistest. Du siehst, du bist ganz ausdrücklich meiner Fürsorge anvertraut.« Sie lächelte triumphierend. »Sieh doch nicht so bekümmert drein, Colette. Frederic sorgt sich doch nur um dich – und um seine Kinder.«

Mutlos ließ Colette den Kopf sinken. Sie verstand nicht, dass Frederic ihr das antat. Allerdings wusste sie nur zu genau, welche Macht Agatha über ihn hatte. Deswegen hasste sie diese Person. Als Agatha den Raum verließ, floh Colette aus der erstickenden Atmosphäre hinaus auf den Balkon und hob ihr Gesicht, sodass die Regentropfen ihre Haut küssten und sich mit den Tränen mischten. Frederic – warum nur? Warum ziehst du diese Frau mir vor?

Colette konnte sich noch genau an die Nacht erinnern. Die Zwillinge waren damals gerade ein Jahr alt gewesen, und in all der Zeit seit ihrer Geburt hatte Frederic sie kein einziges Mal in die Arme geschlossen und geliebt. Es war ihre eigene Schuld. Er dachte, dass sie ihn hasste. Sie dachte, dass sie ihn hasste. Aber gleichzeitig liebte sie ihn, liebte ihn so sehr, dass es schmerzte und die Heftigkeit des Gefühls sie erschreckte, ja, lähmte. Dazu kam die Mahnung des Arztes, dass sie auf weitere Kinder verzichten sollten. Einige Tage zuvor war Agatha nach Charmantes gekommen – und das in Begleitung einiger Geschäftspartner ihres verstorbenen Vaters. Frederic trug sich damals mit der Absicht, ein neues Schiff mit Namen Destiny als Ergänzung seiner ständig wachsende Flotte in Auftrag zu geben, und die Männer waren angereist, um seine besonderen Wünsche an die Werft zu übermitteln und für den Bau des Schiffes zu sorgen. Ein jüngerer, gut aussehender Gentleman war von Colettes Jugend und Schönheit besonders begeistert, und es fiel ihr nicht schwer, ein wenig mit ihm zu flirten – und Frederic über den Tisch hinweg zu beobachten: Seine verkniffenen Lippen, die finsteren Brauen und seine kaum verhüllte Reizbarkeit – vielleicht war das ja das richtige Rezept, um ihn zu wecken und in ihre Arme zurückzuholen. Sie schenkte Frederic ein kokettes Lächeln, um ihn zu ermuntern. Doch später lief sie in ihrem Salon auf und ab und hatte Angst, dass sie womöglich die Grenzen überschritten hatte. Heute Abend würde er zu ihr kommen, dessen war sie sicher, aber war sie auch stark genug, um sich seinem Zorn zu stellen? Beim Gedanken an sein Liebesspiel raste ihr Puls, und ihr Herz hämmerte so laut, dass sie es hören konnte. Stunde um Stunde verging – aber Frederic kam nicht. In ihrer Enttäuschung fasste Colette den Entschluss, zu ihm zu gehen. Sie schluckte ihren Stolz hinunter und wollte ihm zeigen, dass sie ihn begehrte, ihn liebte. Aus seinem Schlafzimmer war schweres Atmen zu hören, Agathas Kleider waren überall im Ankleidezimmer verstreut. Also hatte Frederic in den Armen seiner Schwägerin Trost gefunden. Auf Zehenspitzen schlich Colette in ihre Räume zurück. Ihr Herz war wie tot, und sie fand Trost, indem sie unzählige Tränen in die Kissen vergoss.

Frederic erfuhr niemals, was Colette in dieser Nacht gesehen hatte. Sie ging davon aus, dass er Agatha von da an bei jedem ihrer Besuche in seinem Bett willkommen geheißen hatte, und sie fragte sich, ob er sie auch heute, in seinem verkrüppelten Zustand, noch immer in die Arme schloss.

Sie wandte sich wieder dem Brief zu. Sie freute sich auf das Treffen mit Charmaine Ryan, und ebenso behagte ihr der Gedanke, endlich eine Frau um sich zu haben, die in etwa ihr Alter hatte. In diesem Moment beschloss sie, die junge Frau einzustellen.

»Was machst du nur so lange, Charmaine?«, rief Loretta von der Tür her. »Es ist beinahe halb vier. Du wirst noch zu spät kommen.«

»Ich will doch gut aussehen, aber ich kann die Brosche einfach nicht feststecken.«

»Lass mich das machen.«

Loretta befestigte die Bosche, und Charmaine trat einen Schritt zurück. »Na, wie sehe ich aus? Werde ich die Prüfung bestehen?«

»Du siehst wunderhübsch aus.« Mit aufmunternder Geste ergriff Loretta Charmaines Hand. »Mein Gott, du zitterst ja wie ein Blatt im Sturm. Kein Wunder, dass du die Brosche nicht befestigen konntest.«

»Ich werde es schon schaffen«, versicherte Charmaine mit bebender Stimme und zaghaftem Lächeln. »Und falls ich die Stelle nicht bekomme …«

»… wird es ihr Schaden sein«, entgegnete Loretta. »Sei zuversichtlich und denk daran: Hin und wieder ein bisschen zu flunkern hat noch keinem geschadet.«

»Das kann ich nicht!«

»Unsinn. Du hast doch gesehen, welchen Erfolg ich damit hatte. Hinterher war keiner schlauer.«

»Aber was, wenn sie die Wahrheit herausfinden?«

»Wie sollten sie das denn anstellen? Du musst so mit den Menschen reden, wie sie es von dir erwarten, dir sozusagen ihre Absicht aneignen. Paul Duvoisin ist ein gutes Beispiel dafür. Er wollte deine Unerfahrenheit ins Feld führen, doch ich habe ihm den Wind aus den Segeln genommen. Schließlich bist du imstande, dich um meine Enkelkinder zu kümmern, selbst wenn du nie Gelegenheit dazu hattest.«

»Sie mögen ihn nicht, oder?«

»Wen? Mr. Duvoisin? Ganz im Gegenteil. Vermutlich ist der Mann ein Gentleman. Doch solange du ihn nicht besser kennst, solltest du auf der Hut sein.« Loretta lächelte aufmunternd. »Komm jetzt, Charmaine, der Wagen wartet, um dich in dein neues Leben zu bringen. Und in meinem Herzen weiß ich, dass du nicht enttäuscht sein wirst.«

Charmaine bestieg den Landauer, den Colette Duvoisin geschickt hatte, und während der Fahrt hatte sie Zeit genug, um über ihre Ängste nachzudenken. Loretta Harrington war so sicher, was ihre Zukunft betraf, doch ihr selbst fehlte diese Zuversicht. Für gewöhnlich fand sie Ruhe im Gebet, aber bei der heutigen Mittagsmesse hatte nicht mal das geholfen. Trotz des Briefs hatte Charmaine während Father Benitos langatmiger und wenig zuversichtlicher Predigt ständig nur das Schlimmste befürchtet. Wie leicht konnte die Macht dieser Familie ihr Leben vernichten. Wer war sie denn schon? Und wichtiger noch: Wenn Paul Duvoisin sie ablehnte, welches Glück konnte sie dann noch in den Mauern dieses Herrenhauses finden?


Die Räumlichkeiten des Hausherrn und der Hausherrin lagen am äußersten Ende des Südflügels, und zwar im Stockwerk über dem großen Ballsaal und somit weit vom Lärm und der Unruhe des Haushalts entfernt. Dort fanden der Hausherr und seine Frau die ersehnte Ruhe, weil sich niemand, ohne aufgefordert zu sein, bis in diese entlegenen Räume verirrte.

Dieses Leben in Abgeschiedenheit war Frederic Duvoisins selbst gewähltes Gefängnis, wo er über sein bisheriges Leben nachsann. Oft saß er in dem großen Sessel und starrte auf die geschlossene Eichentür. Insgesamt gab es drei Türen im Raum. Eine führte in sein Schlafzimmer und eine weitere auf den Flur, aber die interessierten ihn nicht. Er hatte nur Augen für die geschlossene Tür direkt vor ihm, nicht mehr als zehn Schritte von ihm entfernt, hinter der sich der Salon seiner Frau befand – dies war die einzige Tür, die ihn interessierte.

Er konnte jede Bewegung hören und verfolgte genau, was auf der anderen Seite der Barriere vor sich ging. So auch nachts, wenn er im Bett lag und auf die Geräusche ihrer abendlichen Toilette lauschte. Wenn sich die Stille der Verzweiflung breitmachte, drehte er sich im Bett auf die andere Seite und starrte auf die Tür, die ihre Schlafzimmer miteinander verband – aber nicht den Mann mit seiner Frau …

Frederic merkte, dass er mit den Zähnen knirschte, weil er dem Groll gegenüber hilflos war, der ihn beherrschte. In den vergangenen sechzig Jahren hatte er nie untätig herumgesessen und sein Leben von der Zeit und den Umständen bestimmen lassen. Ruhelos und fordernd hatte er die Dinge ständig vorangetrieben. Ruhelos und fordernd – und stur. Und genau dieser Wesenszug hatte ihn letztlich in die Hölle geführt, in der er sich nun befand: Er war geistig und physisch nur noch ein halber Mann – eine Entscheidung vor acht Jahren, als er am Tag seines Anfalls die vernichtende Wahrheit erfuhr. Colette … wie sehr er sie liebte.

Über diese Liebe nachzudenken tat ihm nicht gut. Er kämpfte darum, seine Gefühle zu beherrschen. Was seine Frau anging, so hatte er keine Rechte mehr. Aber hatte sie ihm vergeben? Nicht einmal die Erinnerung an seine erste Frau Elizabeth konnte ihn noch trösten, denn sie hatte er genauso enttäuscht.

»Was denkst du nur von mir, Colette?«, murmelte er, während sich sein Herz nach ihrem sanften Verständnis sehnte. Warum kam sie nicht zu ihm, obwohl er sie doch so nötig brauchte? Er kannte die Antwort. Sogar in diesem Moment war Elizabeth auf Colettes Seite.

»Genug«, brummte er und verdrängte mit letzter Kraft diese Gedanken. Da er während der letzten drei Jahre nicht gestorben war, musste er sich jetzt wohl zum Leben zwingen. »Ich habe viel zu lange herumgesessen und viel zu viel aufgegeben.«

Mit größter Anstrengung quälte er sich auf die Füße, wobei seine gekrümmte Gestalt seiner Größe Hohn sprach. Wenigstens hatte ihm der Anfall nicht alle Kraft geraubt. In früheren Tagen war er jedem Mann ein kraftvoller Gegner gewesen und von Seinesgleichen beneidet worden. Selbst heute staunten noch viele über seine Willenskraft, doch wer ihn von früher kannte, fühlte sich abgestoßen.

Seine linke Seite war noch immer teilweise gelähmt, wobei ihm das Bein größere Schwierigkeiten bereitete als sein Arm. Mit verzerrtem Gesicht stützte er sich auf den schwarzen Stock, ohne den er nicht mehr auskam, und dann hinkte und schleppte er sich bis zur Tür. Wie immer fiel sein Blick dabei auf den hohen Spiegel, den man auf seinen Befehl hin in der Ecke des Raums aufgestellt hatte. Und wie immer zuckte er vor seinem Abbild zurück. Der Spiegel erfüllte seinen Zweck und mahnte ihn tagtäglich an sein Aussehen und den Grund, warum er in dieser selbst gewählten Einsamkeit verharren musste. Er hätte die verstohlenen Blicke nicht ertragen, auch nicht das Geflüster und die heimlichen Bemerkungen und, was am schlimmsten war, das Mitleid.

Colette ließ ihn nichts von alledem spüren. Sie war der einzige Mensch, der den Blick nicht abwandte und ihm ohne Zögern oder Widerwillen in die Augen sah. Doch in ihrem Blick lag der größte Kummer. Er wusste, dass sie sich Vorwürfe machte und auf seine Vergebung hoffte. Aber er konnte sich nicht überwinden und die Worte aussprechen. Seltsam, wie er jedes Mal darüber nachdachte, bevor er zu ihr ging.


Colette blickte sich in ihrem Salon um und fand alles ihren Wünschen entsprechend hergerichtet. Mit einem Lä
cheln, das ihre blauen Augen förmlich zum Leuchten brachte, wandte sie sich an ihre Zofe. »Sehr schön, Gladys. Wirklich einladend. Ich bin sicher, dass Miss Ryan das ebenso empfinden wird. Würden Sie jetzt noch Cookie – ich meine natürlich Fatima – bitten, einige Erfrischungen bereitzustellen?«

»Ja, Ma’am«, erwiderte Gladys und verließ den Raum.

Colette trat unter die Balkontür und ließ sich den Wind über das Gesicht streichen. Wann werde ich jemals vergessen? Das Geräusch beim Öffnen der Tür rief sie in die Gegenwart zurück. »Haben Sie etwas vergessen …«

Die Frage erstarb ihr auf den Lippen, als Frederic hereingehumpelt kam. Es war drei Jahre her, seit er diesen Raum zuletzt betreten hatte. Entsprechend beunruhigt war Colette. In der letzten Zeit waren sie einander immer nur auf neutralem Boden oder im Kinderzimmer begegnet.

»Ich wollte dich nicht stören«, entschuldigte er sich mit undeutlicher Stimme.

»Du störst mich nicht.« Sie zwang sich zur Ruhe und sah ihm entgegen.

Er hinkte einige Schritte näher zu ihr. »Wie ich sehe, erwartest du einen Gast. Jemanden, den ich kenne?«

»Ich erwarte eine Frau, die ich als Gouvernante für die Kinder einstellen möchte.«

»Und wie heißt sie?«

»Charmaine Ryan.«

»Paul sagt, dass sie sehr jung ist. Und vermutlich noch etwas unerfahren.«

Colette wunderte sich. »Er hat das mit dir besprochen? Wie kann er das hinter meinem Rücken tun?«

»Dasselbe kann ich dich fragen, meine Liebe«, erwiderte er kühl. »Ich bin immerhin dein Mann und der Herr des Hauses. Im Grunde ist es nicht Pauls Aufgabe, mich über alles aufzuklären, was meine Kinder angeht, sondern deine. Oder ist das zu viel verlangt?«

»Nein, natürlich nicht«, flüsterte Colette. Sie sah zu Boden und kämpfte mit den Tränen.

Frederic vernahm das Zittern in ihrer Stimme sehr wohl und knirschte mit den Zähnen, als tiefe Abscheu vor sich selbst seinen Zorn verdrängte. »Erzähl mir von Miss Ryan«, bat er.

Colette nahm sich zusammen. »Miss Ryan kommt aus Richmond. Sie hat durch Harold Browning von unserer Suche erfahren. Seine Frau wiederum hat mit den Harringtons darüber gesprochen, bei denen Charmaine bisher drei Jahre lang beschäftigt war und wo sie auch Erfahrungen mit deren Enkelkindern gesammelt hat. Sie ist eine gebildete junge Frau und …«

»Du empfiehlst sie für diese Stellung«, fuhr er an ihrer Stelle fort.

»Ja, das tue ich«, murmelte Colette. Um ihre Position nicht gänzlich zu verlieren, setzte sie sich auf einen Stuhl, der einige Schritte weit von ihm entfernt stand.

Aber Frederic folgte ihr, sodass er sie auch weiterhin überragte. »Das klingt gut und schön, aber in meinen Augen macht es nicht den geringsten Sinn. Du, die du deine Kinder nie aus den Augen lässt, warum suchst du nach einer anderen Person für diese Aufgabe? Und erzähl mir nicht, dass die Bildung der Kinder der Grund ist. Genauso gut könntest du ihnen selbst alles beibringen, was sie zum Leben brauchen. Warum also willst du eine Fremde ins Haus holen und ihr die Sorge um unsere Kinder anvertrauen?«

»Ich gebe die Sorge nicht aus der Hand, aber ich bin nicht mehr so kräftig wie noch vor einem Jahr. Robert wiederholt ständig, dass die Kinder eine Belastung für mich seien. Obwohl ich ihm nicht zustimme, möchte ich verhindern, dass meine Schwäche ihre Entwicklung hemmt.«

»Du hättest den Jungen nicht bekommen dürfen«, stellte er in scharfem Ton fest. »Nach den Zwillingen hat Robert dich ganz klar gewarnt.«

»Pierre kann nichts dafür. Nach seiner Geburt ging es mir gut. Es war das Fieber im vergangenen Frühjahr.«

Frederics Miene verfinsterte sich, und Colette verstummte. Einige Minuten verstrichen, bis Frederic sich schließlich räusperte. »Hat Robert dir die Anstellung einer Gouvernante empfohlen?«

»Nein, seine Schwester.«

»Aber Agatha hält sie nicht für geeignet.«

»Und woher weißt du das?«, fragte Colette misstrauisch.

»Agatha hat Paul gebeten, mit mir zu sprechen. Nach ihrer Ansicht ist Charmaine Ryan zu jung und zu lebhaft.« Er hinkte zur Verbindungstür hinüber. Dort hielt er inne und sah sich noch einmal um. Ein Funkeln trat in seine Augen. »Ich würde sagen, dass Miss Ryan genau die richtige Gouvernante für unsere Kinder ist.«

Ein Lächeln trat auf ihr Gesicht, und zum ersten Mal seit Monaten weitete sich Frederics Herz. Als ihm die Tränen in die Augen traten, wandte er sich rasch ab. »Ich habe Paul versprochen, Agatha zuliebe mit dir zu sprechen, und das habe ich getan.« Als sie nichts erwiderte, öffnete er die Tür und kehrte in seine Räume zurück. Colette hatte seine Zustimmung erhalten.


Trotz der etwas verspäteten Abfahrt kam Charmaine pünktlich auf der Schwelle der Duvoisins an. Sie strich ihre Röcke glatt und sah kurz zu dem eindrucksvollen Haus. Mit einem tiefen Seufzer stieg sie die wenigen Stufen zum Säulengang hinauf. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und ein Mann stürmte mit gesenktem Kopf heraus. Um einen Zusammenstoß zu vermeiden, trat Charmaine einen Schritt zur Seite. Aber zu spät! Der Mann prallte mit voller Wucht gegen sie und hätte sie beinahe umgeworfen, doch instinktiv umklammerte er ihre Oberarme, bis sie ihre Balance wiedergefunden hatten.

»Verzeihen Sie.« Mit einem leisen Auflachen ließ er sie los, und als er sie von Kopf bis Fuß musterte, vertiefte sich sein Lächeln. »Du lieber Himmel.«

Unwillkürlich musste Charmaine lächeln. Der schlaksige junge Mann gefiel ihr.

»Ich hätte nicht wie ein Verrückter aus dem Haus rennen dürfen, aber der Zusammenstoß mit Ihnen war die Sache wert.« Ohne weitere Förmlichkeiten fasste er ihren Ellenbogen und geleitete sie die letzten Stufen empor. »Darf ich vielleicht noch Ihren Namen erfahren?«

Ihr Blick lag auf seinem schmalen Gesicht. »Charmaine Ryan.«

»Oh, die neue Gouvernante.«

»Bin ich das?«, fragte sie zurück.

Seine Miene wurde ernst, innerlich stöhnte er. »Nun ja, vielleicht noch nicht ganz, aber man zieht Sie immerhin in Erwägung. Es tut mir leid, wenn ich Hoffnungen geweckt habe, aber ich bin sicher …«

»George, wolltest du nicht Wade helfen, die Säge in der Mühle zu schleifen?«

Mit verschränkten Armen stand Paul Duvoisin unter der Tür und musterte den jungen Mann mürrisch. Charmaine hatte ihn noch gar nicht bemerkt, und mit einem Mal brannten ihre Wangen wie Feuer. »Nun?«

»Heute ist immerhin Sonntag«, rechtfertigte sich George. »Die Säge kann ruhig bis morgen warten. Außerdem habe ich fast den ganzen Nachmittag mit deinen Schwestern gespielt und sie gerade eben erst bei meiner Großmutter abgeliefert. Der Rest des Tages gehört jetzt mir.«

Paul erwiderte nichts darauf, doch Charmaine bemerkte das stumme Zwiegespräch zwischen den beiden Männern sehr wohl. »Ich will außerdem nach Alabaster sehen.«

Paul zog eine Braue in die Höhe. »Und warum?«

»Phantom hat ihn kürzlich gebissen.«

»Wie, zum Teufel, konnte das passieren?«

George räusperte sich und sah kurz in Charmaines Richtung. Aber Paul beeindruckte das nicht. Schließlich antwortete George zögernd. »Yvette hat …«

Bestürzt hob Paul die Hand. »Das will ich gar nicht hören! Aber ich verspreche dir eines – und das kannst du gern auch Rose ausrichten: Irgendwann wird Yvette zu weit gehen, und dann werde ich sie voller Wonne übers Knie legen und ihr den Hintern versohlen!«

George räusperte sich noch einmal, diesmal lauter, und sah wieder zu Charmaine hinüber, die errötet war. Paul folgte seinem Blick, und im selben Augenblick verdrängte ein Lächeln seinen missmutigen Gesichtsausdruck. »Nachdem unsere Bemühungen fehlgeschlagen sind, hat Miss Ryan vielleicht einen besseren Einfluss auf meine kleine Schwester. Wenn ja, so wäre das der Beweis, dass sie mit Kindern umgehen kann.«

»Ich sehe jetzt lieber nach Alabaster«, bemerkte George. »Guten Tag, Miss Ryan. Ich hoffe, ich komme jetzt öfter in den Genuss Ihrer Gesellschaft. Viel Glück!«

»Vielen Dank.« Wenigstens einer, der ihr Mut machte. »Unsere Begegnung hat mich sehr gefreut, obgleich uns keiner miteinander bekannt gemacht hat.«

»Ich bin George. George Richards.«

»Mr. Richards.« Charmaine nickte ihm zu. »Noch einmal vielen Dank.«

»Die Freude war ganz auf meiner Seite.« Spontan ergriff er ihre Hand und drückte einen Kuss darauf. Dann eilte er glücklich lächelnd über die Wiese davon und konnte es sich nicht verkneifen, sich noch einmal kurz umzudrehen. Das eifersüchtige Stirnrunzeln auf Pauls Gesicht enttäuschte ihn nicht. Ja, er hatte ihn loswerden wollen.

»Miss Ryan.« Paul wandte den Blick endgültig von George ab und konzentrierte sich auf Charmaine. »Wie ich sehe, sind Sie pünktlich.«

»Es war sehr nett, mir den Wagen zu schicken«, sagte sie ruhiger, als sie es für möglich gehalten hätte.

»Also gut … Gehen wir ins Haus? Colette erwartet Sie bereits.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm er den Platz ein, den George soeben geräumt hatte, und führte sie am Ellenbogen ins Haus.

Je schneller Charmaines Herz klopfte, desto flacher ging ihr Atem. Stumm geleitete Paul sie durchs Foyer und dann die südliche Treppe hinauf, die vermutlich zu den Räumen der Hausherrin führte. Charmaine war dankbar für das Schweigen, weil es ihr Zeit gab, sich zu sammeln.

»Es ist nicht mehr weit«, sagte Paul. »Colette ist der Meinung, dass Sie sich in ihren Räumen wohler fühlen würden, doch leider liegen sie am Ende des Hauses.«

»Ich wusste ja, dass das Haus groß ist, aber …«

»Wie groß es ist, konnten Sie sich nicht vorstellen«, folgerte er. Dabei spielte die Andeutung eines Lächelns um seine Mundwinkel.

»Dies hier ist der Südflügel«, erklärte er, als sie die oberste Stufe erreichten. »Die Räume auf dieser Seite des Hauses sind allein der Familie vorbehalten.« Er deutete auf den Absatz, wo die beiden Treppen sich trennten. »Der nördliche Flügel dagegen steht die meiste Zeit leer. Es sei denn, mein Vater hat Gäste.«

»Ich verstehe.« Sie bemerkte einen Flur, der entlang der Frontseite des Hauses verlief und die beiden Seitenflügel miteinander verband. Auf ihm öffneten sich zehn Türen.

Pauls Augen folgten ihrem staunenden Blick. »Die Räume auf der Vorderseite des Hauses sind nach Osten und damit zur Morgensonne hin ausgerichtet – zum Beispiel das frühere Zimmer meines Bruders« – er deutete auf eine nicht weit entfernte Tür – »und daran anschließend liegen das Schlaf- und das Spielzimmer der Kinder gegenüber dem südlichen Flügel. Hier entlang«, sagte er und geleitete Charmaine in den Korridor des südlichen Trakts.

Inzwischen hatte sich Charmaine an seine Stimme gewöhnt. »Und wo befindet sich Ihr Zimmer?«, fragte sie spontan.

Falls er die Frage vorlaut fand, so ließ er sich das nicht anmerken. »Wir sind gerade daran vorbeigekommen. Sie liegen weiter vorn, gleich gegenüber der Treppe.«

»Haben Sie denn mehr als nur eines?«

»Ja, ein Schlafzimmer und einen Ankleideraum. Die meisten Räume im Obergeschoss sind großzügig gestaltet, um den Bewohnern Platz und Freiheit zu geben.«

Angesichts der Ausmaße konnte Charmaine nur staunen. »Freiheit wovon?«

»Um sich zum Beispiel von der Welt zurückzuziehen, wenn es einem gefällt. Wer sich anders entscheidet, kann im Salon ein Ankleidezimmer einrichten, wie ich es bevorzuge.«

»Zum Glück flüchten Sie nicht vor der Welt«, bemerkte sie vielleicht ein wenig zu euphorisch.

Am Ende des Gangs drehte sich Paul um und lächelte schelmisch. Er war ihr so nahe, dass sie die dunklen Punkte in seinen olivgrünen Augen sehen konnte.

»O nein, das käme mir nicht in den Sinn«, versicherte er leise. »Sind Sie bereit?« Er sah zur letzten Tür auf der linken Seite hinüber. Als sie nickte, klopfte er, und auf Colettes Aufforderung hin betraten sie den Salon der Hausherrin.

Der Raum war elegant möbliert, aber von Großspurigkeit keine Spur. Ein paar Möbelstücke von erlesener Schönheit zogen sofort den Blick auf sich. In der Mitte des Salons lag das kleinere Gegenstück des prächtigen Orientteppichs im Wohnraum. Auf einer Seite stand eine Ottomane mit hoher Rückenlehne, davor ein kleiner Tisch mit Marmorplatte, und zwei Mahagonistühle vollendeten die Runde. Die Wand gegenüber wurde von einem großen Schrank beherrscht, eine Vase mit frisch geschnittenen Blumen schmückte die Kommode, und auf dem Frisiertisch daneben stand eine kostbare Schmuckschatulle. An der Wand zwischen beiden Fenstertüren hatte der Sekretär seinen Platz gefunden, und Colette hatte den Stuhl so zur Seite geschoben, dass sie genau vor einer der offenen Glastüren saß.

Sie ließ Charmaine einen Augenblick lang Zeit, um den Raum auf sich wirken zu lassen, bevor sie aufstand und ihrem Gast einen Platz auf dem Sofa anbot. Paul verabschiedete sich, damit sich die beiden unter vier Augen unterhalten konnten, wie Colette es in ihrem Brief versprochen hatte.

Sie unterhielten sich fast eine Stunde lang – ohne Kinder, aber auch ohne eine Begegnung mit dem Hausherrn. Nach Charmaines Ansicht hatte Mrs. Duvoisin dieses Treffen nur gewünscht, um ihr die Ängste zu nehmen und ihr deutlich zu machen, dass sie als Mutter am Leben ihrer Kinder teilhaben wollte, soweit ihre Gesundheit das erlaubte.

»Verzeihen Sie meine Neugier, Mrs. Duvoisin«, wagte Charmaine schließlich zu fragen, »unter welcher Krankheit leiden Sie eigentlich?«

Colette beugte sich nach vorn. »Ich bestehe darauf, dass Sie mich Colette nennen.«

»Sehr gern, Colette.«

»Eigentlich ist es keine wirkliche Krankheit. Die Geburt der Mädchen war schwer, und auf Anraten meines Arztes sollte ich keine weiteren Kinder mehr bekommen. Als ich feststellte, dass ich erneut schwanger war, waren alle sehr besorgt. Zum Glück war die Geburt meines Sohnes jedoch sehr leicht. Aber als ich zu Beginn dieses Jahres erkrankte, machte Dr. Blackford die Strapazen der Schwangerschaft mit Pierre dafür verantwortlich, dass sich die unbekannte Krankheit nicht gut behandeln ließ. Ich fürchte, ich muss ihm recht geben, denn ich muss mich noch immer erholen. Doch Robert ist optimistisch und prophezeit mir Besserung, wenn ich mich nicht überanstrenge. Die tägliche Messe wurde mir gestrichen, ebenso die Ausflüge in die Stadt, und man riet mir, eine Gouvernante einzustellen. Nun, da ich alle Bedingungen erfüllt habe, lege ich den Rest in Gottes Hand.«

Charmaine verharrte sprachlos auf ihrem Stuhl und wusste nicht recht, wie sie die Worte deuten sollte, bis Colette aufstand und mit einem herzlichen »Willkommen in der Familie Duvoisin« die Arme ausbreitete. Charmaine lachte, doch gleich darauf schlug sie ihre Hand vor den Mund. Dann stand sie auf und ließ sich in die Arme nehmen. Sie hatte die Stellung bekommen!

Beim anschließenden Tee kam auch die Höhe des Lohns zur Sprache, der in Charmaines Augen dem Lösegeld für einen König nahekam. Im Vergleich zu der Stelle bei den Harringtons würde sich ihr Einkommen fast verdreifachen. Das Geld würde monatlich bei der örtlichen Bank eingezahlt, wo sie ganz nach Belieben darüber verfügen konnte. Der Unterricht war zwar nur an den Wochentagen vorgesehen, dennoch benötigte man Charmaines Dienste an sieben Tagen in der Woche. Die Wochenenden durfte sie gestalten, wie auch immer es ihr gefiel, solange sie die Kinder einbezog. Für Zimmer, Unterhalt und Mahlzeiten würde nichts vom Lohn einbehalten, sodass sie nach einigen Jahren im Dienst der Duvoisins eine unabhängige Frau sein würde.

Auf der Rückfahrt war Charmaine nicht nur glücklich und erleichtert, sondern sie hatte auch das Gefühl, dass ihr neues Leben bereits begonnen hatte.