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Montag, 19. September 1836

Früh am nächsten Morgen kam Charmaine im Herrenhaus an. Colette hatte darauf bestanden, dass sie am ersten Tag noch frei hatte, um sich in ihrem Zimmer im zweiten Stock einzurichten. Ihr Dienst als Gouvernante sollte erst am Dienstag beginnen. Loretta und Gwendolyn begleiteten sie, und als sie das große Foyer betraten, musste Charmaine mühsam an sich halten, um nicht zu kichern. Gwendolyns unzählige »Ahs« und »Ohs« waren schon schlimm genug.

»Es ist sehr hübsch, nicht wahr, Gwendolyn?«, flüsterte sie dem Mädchen zu, bevor Colette ihr das Hauspersonal vorstellte.

Als Erstes begrüßte Charmaine Mrs. Jane Faraday, die gestrenge Witwe und oberste Haushälterin. Ihr unterstanden die beiden Hausmädchen, Felicia Flemmings und Anna Smith, die kaum älter waren als Charmaine und für die Reinigung des Hauses, die Wäsche und den Dienst bei Tisch zuständig waren. Als Nächstes waren die Thornfields an der Reihe, und zwar Gladys und Travis und ihre beiden Kinder Millie und Joseph. Millie war so alt wie Gwendolyn, und Joseph war ungefähr zwölf. Sie versahen allerlei kleine Arbeiten im Haus und auf dem Grundstück, während ihre Eltern als persönliche Zofe und Diener der Besitzer fungierten. Wenn Travis einmal nicht als persönlicher Diener des Hausherrn Dienst tat, versah er die Rolle des Butlers. Im Gegensatz zur gestrengen Mrs. Faraday und ihren beiden Schützlingen schienen die Thornfields liebenswerte Leute zu sein. Doch Mrs. Fatima Henderson, die runde schwarze Köchin mit ihrer warmherzigen, lauten Art und ihrem verschmitzten Lachen, war von Beginn an Charmaines Favoritin.

Mit Travis’ und Josephs Hilfe wurden Charmaines Habseligkeiten über die Personaltreppe auf der Rückseite des Nordflügels in den zweiten Stock geschafft. Anschließend verbrachte Charmaine den größten Teil des Vormittags mit Auspacken und gestaltete das schönste Zimmer, in dem sie jemals genächtigt hatte, nach ihrer Vorstellung um. Dabei standen ihr Loretta und Gwendolyn mit Rat und Tat zur Seite.

Kurz vor Mittag kam Millie, um sie zum Essen nach unten zu holen – aber nicht zur Dienerschaft in der Küche, sondern ins Speisezimmer der Familie. Der Raum lag im Nordflügel, gut vierzig Fuß in der Länge und der Breite, und zwar zwischen der großen Bibliothek und der Küche. Die beiden Längsseiten bestanden aus einer langen Reihe Glastüren, die sich auf der einen Seite auf die Rundumveranda des Hauses öffneten und auf der anderen auf den Innenhof zwischen den beiden Gebäudeflügeln. Wie in einem Kristallpalast fing der Raum die mittägliche Sonne ein und blendete die Augen. In der Mitte stand eine dunkelrot schimmernde Mahagonitafel mit vierzehn passenden Stühlen, an der jedoch mit Leichtigkeit auch die doppelte Zahl von Gästen Platz gefunden hätte. Trotzdem wirkte die Tafel im Gegensatz zu dem riesigen Raum fast klein. Drei Kronleuchter, deren Funkeln es durchaus mit den Glastüren aufnehmen konnte, rückten die Tafel ins rechte Licht. Vor der Wand, hinter der sich die Bibliothek verbarg, war eine Bar installiert, und die gegenüberliegende Wand schmückte eine Vitrine mit ausgesuchtem Porzellan.

Ein opulentes Mahl erwartete die Gäste. Auch die Kinder nahmen an der Mahlzeit teil, und es dauerte nicht lange, bis sich eine lebhafte Unterhaltung entwickelte. Die Mädchen waren über die ungewohnte Gesellschaft entzückt, und als sich Charmaine bewundernd über das Haus äußerte, bestanden sie sogleich darauf, sie überall herumzuführen. Doch Colette wandte ein, dass sie sich bis zum kommenden Tag gedulden müssten, wenn Charmaines Pflichten begannen.

Nachdem der letzte Gang beendet war, begleitete Charmaine ihre Besucher zum Eingang und musste tief Luft holen, als Loretta sie zum Abschied lächelnd in die Arme schloss.

»Ich bin sicher, dass es dir hier gefallen wird, Charmaine.«

»Das weiß ich.« Rasch schluckte sie einen Anfall von Rührung hinunter. »Sie werden auch bald abreisen, nicht wahr?«

»Erst wenn wir sicher sind, dass du hier glücklich bist. Ich kann die Gesellschaft meiner Schwester schon noch ein oder auch zwei Wochen ertragen.« Gwendolyn lachte, und Loretta und Charmaine stimmten ein. »Außerdem wissen wir ja noch gar nicht«, fuhr Loretta fort, »wann das nächste Schiff im Hafen einläuft.«

Charmaine sah noch zu, wie die beiden in den Wagen stiegen und davonfuhren. Doch als sie sich dem Haus zuwandte und ihr plötzlich klar wurde, dass der restliche Nachmittag ihr nun ganz allein gehörte, wünschte sie mit einem Mal, dass sie das Angebot der Mädchen zur Besichtigung des Hauses angenommen hätte. Wie dem auch sei. Colette hatte ihr ja ausdrücklich ans Herz gelegt, dass sie das Haus von nun an als ihr Zuhause betrachten solle und sie sich ungehindert überall bewegen dürfe.

Als Erstes spazierte Charmaine in den großen Wohnraum und wurde magisch vom Piano angezogen. Mit größter Vorsicht hob sie den Deckel an und strich über die elfenbeinernen Tasten. Doch bevor sie sich hinsetzen und spielen konnte, wurde sie von einer Stimme aufgehalten. »Hier sind Sie also!«

Es war Yvette, und sie war allein. Unwillkürlich musste Charmaine an Pauls gestrige Worte denken: Irgendwann wird Yvette zu weit gehen … Miss Ryan hat vielleicht einen besseren Einfluss auf meine kleine Schwester. Wenn ja, so wäre das der Beweis, dass sie mit Kindern umgehen kann … Offenbar hatte er noch immer keine bessere Meinung von ihr. Sie würde ihm schon noch beweisen, dass er sich irrte und man Kinder auch ohne Schläge erziehen konnte.

»Yvette? Du bist doch Yvette, oder?«

»Ja, richtig«, bestätigte die Kleine. »Haben Sie schon alles ausgepackt?«

Als Charmaine das bestätigte, meinte Yvette: »Dann können Sie sich ja jetzt ausdenken, was wir morgen Lustiges machen könnten.«

»Lustiges?«, fragte Charmaine. »Warum sagst du das?«

»In der letzten Zeit war es ziemlich langweilig. Nana Rose ist alt. Sehr alt! Und weil es Mama oft nicht gut geht, haben wir schon lange keine lustigen oder spannenden Sachen mehr gemacht. Wir hocken immer im dämlichen Kinderzimmer!«

»Also gut. Ich werde darüber nachdenken. Wie klingt das?«

Yvette schien nicht sehr überzeugt zu sein. Sie warf sich auf einen Sessel und zuckte die Schultern. »Wunderbar klingt das.«

Charmaine überlegte. Diese Unzufriedenheit konnte sie sich zunutze machen. »Ich habe eine Idee. Ich denke, dass man mit dir ein Geschäft machen kann.«

Yvette war ganz Ohr. »Ja?«

»Ich habe gehört, du sollst ziemlich schwierig sein.«

»Wer hat das gesagt?«

»Das ist nicht weiter wichtig. Wenn wir aber einen Vertrag schließen, könnten wir vielleicht beide mit dem Ergebnis zufrieden sein.«

»Was für einen Vertrag?«, fragte Yvette misstrauisch.

»Am letzten Freitag hast du deinen Bruder John erwähnt.«

»Was ist mit ihm?«

»Ich könnte ihm vielleicht einen Brief schicken.«

Yvette riss die Augen auf. »Wirklich?« Aber im nächsten Moment hatte sie Angst, dass sie hereingelegt wurde. »Und wie soll das gehen? Sie wohnen ja jetzt auch hier!«

»Aber meine Freunde kehren in ein paar Wochen nach Richmond zurück. Mr. Harrington kennt deinen Bruder. Er kann ihn sicher ausfindig machen.«

Yvette war vorsichtig. »Und was muss ich dafür tun?«

»Dich gut benehmen«, sagte Charmaine.

»Mich gut benehmen? Sonst nichts?«

»Nach allem, was ich gehört habe, fällt dir das ganz schön schwer. Du musst mir so gehorchen, wie du deiner Mutter gehorchst. Und keine Ausflüchte.«

Myriaden von Empfindungen spiegelten sich auf Yvettes Gesicht, während sie die Vor- und Nachteile abwog.

»Du hast recht, es ist vielleicht wirklich zu schwierig …«

»Ich bin einverstanden«, fiel ihr das Mädchen ins Wort. »Wollen wir uns die Hand darauf geben?«

Charmaine nickte. Sie griff nach Yvettes ausgestreckter Hand, doch plötzlich wurde diese zurückgezogen. »Eines noch«, sagte Yvette und versteckte ihre Hand auf dem Rücken. »Sie sollten Mama und Papa nichts davon sagen. Sonst darf ich den Brief vielleicht gar nicht schicken.«

Charmaine war sprachlos. Sicher würden die Eltern ihrem Kind nicht verbieten, einen ganz normalen Brief an seinen großen Bruder zu schreiben. »Warum sollten sie das tun?«

»Weil sie auf Johnny wütend sind. Das ist der echte Grund, warum ich ihm keinen Brief schicken kann. Ich sollte Ihnen das auch nicht sagen, aber Johnny ist an Papas Anfall schuld. Das ist ein großes Familiengeheimnis! Doch Sie hätten es ja sowieso erfahren. Jeder im Haus weiß, was passiert ist. Aber Johnny hat das nicht gewollt. Das weiß ich genau. Zum Glück ist Papa nicht gestorben.« Das Mädchen seufzte. »Inzwischen darf ich nicht einmal mehr seinen Namen aussprechen. Sie werden nie erlauben, dass ich ihm einen Brief schreibe.«

»Ich werde mit deiner Mutter darüber reden«, sagte Charmaine in sanftem Ton.

»Nein!«, rief das Mädchen. »Kein Geheimnis, keine Abmachung! Wenn Sie meiner Mutter von dem Brief erzählen, wird er die Insel nie verlassen.«

Charmaine runzelte die Stirn. Sie mochte es nicht, wenn man sie unter Druck setzte. Und hinter Colettes Rücken wollte sie schon gar nichts tun. »Ich muss darüber nachdenken.«

»Vergessen Sie es«, sagte Yvette enttäuscht. »Ich wusste ja, dass Ihnen der Mut fehlt.«

»Aber Yvette.« Charmaine hatte das Gefühl, dass sie sich das Mädchen zum Feind gemacht hatte. »Wenn dir der Brief so viel bedeutet, verspreche ich, dass wir ihn deinem Bruder irgendwie zukommen lassen.«

Es gab eine lange Pause. »Sind Sie sicher? Sagen Sie das nicht nur so?«

»Ich bin sicher, und ich verspreche es. Aber jetzt komm, ich bringe dich ins Kinderzimmer zurück, bevor Nana Rose oder deine Mutter nach dir suchen.«

Listig drehte sich das Mädchen zum Klavier um. »Können Sie darauf spielen?«

»Aber ja.«

»Wollen Sie mich unterrichten?«

»Vermutlich könnte ich das. Allerdings wärst du meine erste Schülerin.«

»Das ist mir egal. Ich würde es gern lernen. Johnny kann sehr gut spielen.« Dabei klimperte sie auf einer Taste herum. »Er wäre bestimmt überrascht, wenn er nach Hause kommt und mich spielen hört. Ich würde ihn wirklich gern überraschen.«

Charmaine lächelte auf das Mädchen hinunter, das seinen Bruder so sehr verehrte. »Nun gut, Mademoiselle Duvoisin, wenn du bereit bist, eine Stunde pro Tag zu üben, kannst du an Weihnachten schon ein paar einfache Melodien spielen. Wollen wir gleich anfangen?«

Yvette nickte begeistert, und sie setzten sich ans Piano. »Schau her, dies ist das mittlere C.«

So fand Colette die beiden vor, als sie den Wohnraum betrat. Sie lächelte zufrieden.

Als Yvette von der ersten Lektion genug hatte, brachte Charmaine sie zurück ins Kinderzimmer und bestand dann auf einer Führung durch das Haus. Sie staunte nicht schlecht über das, was die Mädchen ihr zeigten. Besonders über das Wasserklo am oberen Ende der Treppe zum Südflügel und das eine Etage tiefer. Sowohl die Toiletten als auch die Waschbecken waren an ein Wassersystem angeschlossen, das der Großvater der Mädchen beim Bau des Herrenhauses entworfen hatte. Das Regenwasser wurde vom Dach in eine Zisterne über der Toilette abgeleitet. Als Yvette einen Pumpenschwengel betätigte und daraufhin ein Schwall Wasser durchs Klo rauschte, sprang Charmaine erschrocken einen Schritt zurück. Die Mädchen lachten begeistert. »Haben Sie noch nie ein Spülklo gesehen?« Ein solches jedenfalls nicht. Nicht einmal die Harringtons besaßen ein solch modernes Badezimmer.

Im Erdgeschoss zeigten die Zwillinge Charmaine den riesigen Ball- und Bankettsaal, der den gesamten Südflügel einnahm. Ihre Schritte hallten durch den Raum, als sie ihn auf dem Weg zur kleinen Kapelle durchquerten. Das kleine Gebäude aus Stein wurde erst vor acht Jahren errichtet und scherte als einziger Teil aus der strengen Symmetrie des Herrenhauses aus.

Als Nächstes führten die Mädchen ihre Gouvernante in den Garten, der den Hof zwischen Nord- und Südflügel ausfüllte. Frederics Vater hatte einen Gärtner beauftragt und diesen geschlossenen Raum mit Büschen und exotischen Blüten bepflanzen lassen. Heute kümmerten sich Travis und Gladys darum. Unter überhängenden Zweigen, besetzt mit feuerroten Blüten, und dem Blütenmeer der Frangipanibäume in dunklem Orange, Weiß, Pink und Gelb herrschte süß duftende Kühle. Entlang der gepflasterten Wege luden Marmorbänke zum Verweilen ein, damit man sich an der Schönheit des Gartens und der Zartheit seiner Blütenpracht erfreuen konnte. Die Mitte der Anlage zierte ein Springbrunnen, dessen Fontäne in ein Marmorbecken fiel und von dort in immer größere Becken hinabplätscherte.

»Dies ist ein wirkliches Paradies«, sagte Charmaine.

»Aber wenn man sich daran gewöhnt hat, ist es trotzdem langweilig«, sagte Yvette.

»Das stimmt«, bestätigte Jeannette. »Es macht viel mehr Spaß, irgendwo ein Picknick zu machen oder auszureiten, was wir oft getan haben, bevor Mama krank wurde.«

Hier also liegt das Problem, dachte Charmaine. Die Mädchen langweilten sich, weil ihre Tage immer gleich verliefen. Und das konnte sie ihnen nicht verdenken. Kinder sollten ihre Freiheit genießen. Noch heute Abend wollte sie Pläne schmieden, um das Leben der Kinder aufregender zu gestalten. Natürlich war der Unterricht wichtig – Colette legte schließlich Wert darauf, dass ihre Töchter lesen und schreiben lernten –, aber die Wochenenden standen ihr zur freien Verfügung. Vielleicht konnten sie ja hin und wieder ein Picknick veranstalten, solange das regnerische Wetter mitspielte.

Um sieben Uhr versammelten sich die Bewohner des Hauses im Speisezimmer – Charmaines erstes Abendessen im Kreis ihrer neuen Familie. Genau wie beim Lunch setzten sich Rose und Yvette an gegenüberliegende Seiten des Tischs auf die beiden mittleren Plätze. Colette half ihrem Sohn in den Kinderstuhl, der direkt neben ihrem Platz am Fußende der Tafel in der Nähe der Tür zu Küche stand. Charmaine ging davon aus, dass Frederic Duvoisin, sollte er an der Mahlzeit teilnehmen, gegenüber seiner Frau am Kopfende Platz nahm. Auch dieses Mal bat Colette die Gouvernante, auf dem Stuhl neben Pierre Platz zu nehmen, und Jeannette setzte sich blitzschnell neben sie.

»Ist das erlaubt, Mama?«, fragte sie höflich.

»Solange Nana sich nicht vernachlässigt fühlt.«

Rose schüttelte den Kopf. »Sie kann gern neben Charmaine sitzen. Mir ist das recht.«

Im Foyer ertönten Stimmen, und wenig später traten George Richards und Paul ins Speisezimmer. Zu Charmaines Verwunderung setzte sich Paul an den Kopf der Tafel, während George zu seiner Rechten Platz nahm. Demnach nahm Frederic Duvoisin wohl nicht am Abendessen teil. Wieder schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass Paul und Colette eigentlich eher wie Mann und Frau wirkten.

Agatha Ward kam als Letzte. Charmaine hatte sie nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, als sie Colette gegen Mittag zu einer Ruhepause ermahnt hatte. Die Witwe nickte freundlich in die Runde und setzte sich gegenüber von Pierre an den Tisch.

Während die Gänge aufgetragen wurden, entwickelte sich rasch eine zwanglose Unterhaltung. Voller Genuss widmete sich Charmaine dem Essen. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie hungrig sie war, obgleich schon das Mittagessen so köstlich geschmeckt hatte. Hin und wieder half sie Pierre und unterhielt sich dabei mit Rose und den Mädchen. Nach etwa der Hälfte der Mahlzeit richtete George das Wort an sie. »Nun, Miss Ryan, wie war Ihr erster Tag als Gouvernante?«

»Oh, ganz wundervoll.«

Colette lachte leise. »Charmaine sollte eigentlich erst morgen anfangen. Doch« – mit gespielt tadelndem Blick sah sie ihre Tochter an – »Yvette hat sich heute schon einmal eine Klavierstunde bei Miss Ryan gesichert.«

Alle sahen Yvette an, nur Paul ließ Charmaine nicht aus den Augen.

»Das stimmt«, rief Yvette. »Mademoiselle gibt mir Unterricht.«

»Mir auch«, rief Jeannette.

Paul lehnte sich zurück. »Miss Ryan steckt voller Überraschungen, nicht wahr?«

Charmaine sah ihm direkt in die Augen. »Es ist keine Überraschung, dass ich Klavier spielen kann, Mr. Duvoisin. Mrs. Harrington hat das bereits bei unserem Gespräch am Freitag erwähnt.«

»Das ist wahr«, erwiderte Paul mit angedeutetem Lächeln. »Sagen Sie, Mademoiselle, was wollen Sie meinen Schwestern und Pierre noch alles beibringen?«

»Was auch immer sie lernen möchten.«

Als sein Lächeln breiter wurde, verspürte Charmaine Schmetterlinge im Bauch. Verlegen wandte sie ihren Blick ab.

»Wir haben Mademoiselle Charmaine das ganze Haus gezeigt«, berichtete Jeannette. »Sie fand es sehr schön.«

»Ja«, murmelte Paul, »das kann ich mir denken.«

Charmaine war erleichtert, als sich die Unterhaltung anderen Themen zuwandte. Tag für Tag mit Paul Duvoisin am Tisch zu sitzen würde nicht ganz einfach werden. Zumindest hatte er sie heute wahrgenommen. Und seine Anwesenheit bei Tisch gefiel ihr natürlich besser als seine Abwesenheit.

Als sie überlegte, was George hier zu suchen hatte, fiel ihr sein Nachname ein. George Richards. Rose Richards … Ich habe deine Schwestern gerade eben erst bei meiner Großmutter abgeliefert. George war also Roses Enkel. Sie erinnerte sich an Yvettes Bemerkung während des Vorstellungsgesprächs. Nana hat gesagt, dass sie nicht mehr so für uns sorgen kann wie früher für Johnny, Paul und George. Deshalb also saß George hier am Tisch. Das erklärte auch sein enges Verhältnis zu Paul. Wie seine Großmutter war auch er mehr als nur ein Angestellter: Er war ein Teil der Familie.

Nach dem Essen räumten Anna und Felicia das Geschirr ab. Charmaine sah genau, wie Letztere Paul Duvoisin schon zum zweiten Mal schöntat. Beim ersten Mal war sie sich noch unsicher gewesen, doch diesmal waren die Zeichen nicht zu übersehen: der Augenaufschlag, die schwingenden Hüften. Mit ihrer olivfarbenen Haut, dem schwarzen Haar und ihrer weiblichen Figur sah Felicia Flemmings hinreißend aus, und Paul schien ihren Anblick zu genießen.

Colette bemerkte es ebenfalls. »Morgen Vormittag möchte ich dich in meinem Salon sprechen, Felicia«, erklärte Colette in scharfem Ton.

Das Mädchen schrak zusammen und knickste. Dann rannte sie davon und ließ sich den ganzen Abend über nicht mehr blicken.

Nach dem Dessert hob Colette die Tafel auf, und die Anwesenden zogen sich in den Wohnraum zurück. Paul und George lehnten ab. »Wir haben noch einiges im Arbeitszimmer zu besprechen«, bemerkte Paul. »Leider kann ich auch Vater einige der Themen nicht ersparen. Nichts Aufregendes, nur …«

»Im Gegenteil, Paul«, fiel ihm Colette ins Wort. »Es wird ihm guttun, in geschäftlichen Dingen wieder mitreden zu können. Je aufregender, desto besser. Er hat lange genug tatenlos herumgesessen.«

Mit einem Nicken verabschiedeten sich George und Paul und gingen in die Bibliothek. Im diesem Moment wurde Charmaine klar, dass die Bibliothek auch als Arbeitszimmer genutzt wurde.

Gegen neun Uhr schliefen die Kinder tief und fest, und Charmaine zog sich in ihr Zimmer im zweiten Obergeschoss zurück. Während ihres ersten Tages im großen Haus war viel geschehen, und ihr Kopf und ihr Herz waren voll von diesen Eindrücken. Es war ein guter Tag gewesen, und sie freute sich schon auf morgen. Mit einem Seufzer stieg sie ins Bett und fiel rasch in einen tiefen Schlaf.

Doch dann träumte sie beunruhigende Dinge. Zu Anfang stand sie am Kai und sah, wie Paul Duvoisin den Hafenarbeiter Jessie Rowlan beschimpfte. Dann wurde Jessie zu ihrem Vater. Paul packte ihn am Kragen und hob ihn, mir nichts, dir nichts, in die Höhe. Im nächsten Moment lag John Ryan rücklings auf dem Boden des Versammlungshauses, und Paul herrschte den Priester an: »Erklären Sie Mr. Ryan, wen seine Tochter geheiratet hat.«

Schweißgebadet erwachte Charmaine und fröstelte. Trotz der schmeichelhaften Andeutung, dass sie Pauls Frau war, war John Ryans Bild sehr lebendig. Du bist hier in Sicherheit … Paul wird dich beschützen. Genau das will der Traum dir sagen. Er wird dich beschützen. Doch trotz dieser beruhigenden Gedanken dauerte es noch eine ganze Zeit, bis sie wieder einschlafen konnte.

Sonntag, 25. September 1836

Charmaines erste Woche als Gouvernante verlief ohne Zwischenfälle. Yvette benahm sich vorbildlich, und Charmaine fragte sich zuweilen, ob Pauls Zornesausbruch vom letzten Sonntag womöglich gar nicht nötig gewesen wäre. Wie dem auch sei. Rose und Colette lobten das Mädchen jedenfalls wegen ihres guten Benehmens. Und während sie gelobt wurde, wanderte Yvettes Blick zu Charmaine, um sie an ihren Part der Abmachung zu erinnern. Ein kleines Zwinkern bestätigte den Handel.

Die Mädchen setzten ihren Klavierunterricht mit unvermindertem Interesse fort. Sie übten täglich eine ganze Stunde, und am Freitag gingen ihnen einige leichte Melodien bereits flüssig von der Hand.

Als am Samstag die Sonne schien, entschied sich Charmaine für ein Picknick. Dr. Blackford war bereits früh am Morgen ins Haus gekommen, um Colette zu behandeln, und die beiden hatten sich in Colettes Räume zurückgezogen. Da Rose darauf bestand, sich um Pierre zu kümmern – »Sie werden sehr viel mehr Spaß mit den Mädchen haben, wenn er zu Hause bleibt« –, machten sich Charmaine und die Mädchen, mit einem schweren Korb beladen, auf den Weg zu den südlich des Hauses gelegenen Stränden. Sie sammelten Muscheln, wateten bis zu den Knien im warmen Wasser und tobten herum, lachten und erzählten sich allerlei Geschichten. Natürlich wollten die Mädchen auch alles über Charmaines Vergangenheit hören, und sie gehorchte ihrem Wunsch, ohne auf die betrüblichen Einzelheiten einzugehen. »Arm zu sein«, wie sie es nannten, fanden sie jedenfalls sehr viel spannender, als »reich zu sein«. Charmaine schnaubte nur verächtlich.

Am Sonntag besuchten alle die Messe in der kleinen Kapelle. Nur Frederic Duvoisin fehlte wie gewöhnlich, und Charmaine fragte sich, ob sie den Patriarchen der Familie wohl jemals zu Gesicht bekommen würde. Wie am Sonntag zuvor war Father Benitos langatmige Predigt auch diesmal mit drohender Verdammnis überfrachtet. Unwillkürlich dachte Charmaine an Father Michael Andrews und seine Predigten, die die Botschaft der Liebe und Vergebung verbreiteten und den Menschen Erfüllung schenkten. Mit welcher Verehrung hatte ihre Mutter stets von diesem Priester gesprochen. Father Benito sollte sich ein Beispiel an seinem Amtsbruder nehmen.

Charmaine war jedenfalls froh, als die Messe endlich vorbei war. Die Mädchen hatten in einem fort gezappelt, Pierre war unruhig gewesen, und Paul hatte sie ständig beobachtet. Ob er es ihr anlastete, wenn die Kinder nicht stillsaßen? Colette zog sich gleich nach der Messe in ihre Räume zurück, sodass die Sorge um die Kinder Rose und Charmaine überlassen blieb. Nach dem Mittagessen brachte Charmaine den kleinen Pierre für seinen Mittagsschlaf nach oben. Die Mädchen wollten am Piano üben, und Rose leistete ihnen dabei Gesellschaft.

Als der Junge binnen Sekunden eingeschlafen war, schlich Charmaine auf Zehenspitzen in ihr Zimmer, um sich ein Buch zu holen. Als sie zurückkam, erschrak sie zutiefst: Pierres Bettchen war leer. Wo steckte er nur? In ihrer Panik rannte Charmaine zur Treppe. Nichts. Aber dann vernahm sie ein leises Kichern aus den Räumen hinter ihr. Erleichterung überkam sie. Die Tür war nur angelehnt. Charmaine stieß sie auf – und erblickte den Vermissten, der bis zu den Hüften in Pauls Reitstiefeln steckte.

»Pierre«, schimpfte sie, während ihr Blick durch das Zimmer glitt. »Komm sofort her!« Aber Pierre jauchzte laut und versuchte, in den Stiefeln zu laufen. »Komm schnell her, Pierre, du hast hier nichts verloren. Bitte!«

Doch der Kleine fiel um und kicherte nur noch mehr. Strampelnd befreite er seine Beinchen und lief in das Schlafzimmer seines großen Bruders. Die Jagd war eröffnet. Charmaine hatte keine Wahl. Sie rannte durch den Ankleideraum und blieb schüchtern an der Tür zum Schlafraum stehen. Zum Glück war der Raum leer – bis auf das große Bett, unter dem Pierre soeben verschwand.

»Warte nur, wenn ich dich erwische!« Aufstöhnend machte sie sich an die Verfolgung. Je eher sie den Kleinen einfing, desto besser. Als sie flach auf dem Boden lag und ihr Opfer gerade an einem Beinchen hervorziehen wollte, räusperte sich jemand hinter ihr. Sie schrak zusammen und hätte am liebsten nicht hingesehen. Aber sie musste. Sie ließ das Beinchen los, dann stand sie auf und sah Paul, ihre Wangen flammend rot, an.

»Haben Sie etwas verloren, Miss Ryan?« Mit gekreuzten Armen und Beinen lehnte er am Türrahmen und grinste diabolisch. »Oder sind Sie vielleicht aus anderen Gründen hier?«

»Nein, Sir … ich meine … ja, Sir«, stammelte sie und fühlte sich unendlich gedemütigt. »Ich meine, ich habe etwas verloren, Sir.«

»Ach ja?«

Zum Glück kroch Pierre in diesem Moment auf der anderen Seite des Betts hervor und rannte auf direktem Weg in die Arme seines großen Bruders. Paul hob ihn schwungvoll hoch und sah Charmaine mit gerunzelten Brauen an. »Demnach haben Sie also den kleinen Pierre verloren? Wirklich erstaunlich. Rose kümmert sich um die Mädchen, und Sie hatten nur ihn zu hüten. Ist es denn wirklich so schwierig, einen kleinen Racker im Zaum zu halten?«

»Ich dachte, er schläft«, erwiderte Charmaine sichtlich beleidigt. »Ich habe ihn nur einen Augenblick allein …«

»Sie müssen mir das nicht erklären, Miss Ryan. Wie ich schon in unserem ersten Gespräch sagte, kann es durchaus anstrengend sein, hinter einem kleinen Kind herzurennen. Womöglich ist es ja doch zu viel für Sie.«

»Sie irren sich, Sir«, fauchte Charmaine, »und irgendwann werden Sie Ihre Worte zurücknehmen.«

Er lachte herzlich, was Pierre mit einem Quietschen quittierte. Charmaine wurde immer zorniger und musste regelrecht an sich halten, um nicht nach vorn zu treten und ihm den spöttischen Ausdruck aus dem Gesicht zu schlagen.

Paul bemerkte ihren Zorn. »Meiner Ansicht nach haben Sie Ihren Wert für meine Familie bereits unter Beweis gestellt, Miss Ryan. Was die Kinder betrifft, so haben Sie Ihre Pflicht bestens erfüllt. Besonders was Yvette angeht.«

Diese Worte kamen völlig unerwartet. Und sie klangen aufrichtig. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte.

»Nehmen Sie mein Lob an?«, fragte er mit schiefem Grinsen.

»Ja, Sir«, antwortete Charmaine mit rauer Stimme.

»Warum sagen Sie nicht einfach Paul zu mir? Natürlich nur, wenn ich Sie auch mit dem Vornamen anreden darf. Auf Charmantes sind wir nicht ganz so förmlich wie die gute Gesellschaft in Richmond. Und einfacher auszusprechen ist der Name außerdem.«

Dieser kleine Stachel verlockte sie zu einer Antwort. »Also gut, Paul.«

»Charmaine«, erwiderte er mit einer kleinen Verbeugung. »Nun gut, Charmaine, dann wollen wir Pierre jetzt wieder ins Kinderzimmer bringen. Wir wollen Mrs. Faraday ja nicht in Verlegenheit bringen, wenn sie uns allein in meinem Schlafzimmer überrascht.«

Wieder röteten sich Charmaines Wangen, und Paul lachte leise in sich hinein. Ein paar Minuten später lag der Kleine wieder in seinem Bettchen, und Paul war fort. Charmaine bebte innerlich noch über eine Stunde und fühlte sich angenehm erregt. Paul hatte sie gelobt. Endlich hatte er sie gelobt!

Später am Nachmittag kamen Loretta und Gwendolyn zu Besuch. Sie verbrachten fast eine ganze Stunde bei den Säulen, wo die Mädchen und Pierre Verstecken spielten. Gwendolyn wäre fast in Ohnmacht gefallen, als irgendwann Paul aus dem Haus trat und sie grüßte. Er ging zum Stall und dem Unterstand für die Wagen südlich der großen Wiese hinüber. Als er außer Hörweite war, flüsterte sie: »Was musst du glücklich sein, Charmaine!«

Loretta Harrington war weniger begeistert. »Charmaine sollte lieber einen kühlen Kopf bewahren.«

»Keine Sorge, Mrs. Harrington. Ich bin nur eine Gouvernante, aber träumen ist doch nicht verboten.«

»Solange es beim Träumen bleibt.«

Am Abend war Charmaines erste Woche bei den Duvoisins vollendet. Als sie die Mädchen ins Bett brachte, flüsterte Yvette ihr zu: »Sie haben meinen Brief noch nicht vergessen, oder?«

»Nein, habe ich nicht«, flüsterte Charmaine.

»Das ist gut. Ich bin nämlich seit gestern fertig. Ich habe sogar ein Bild gemalt! Wann fahren Ihre Freunde nach Richmond?«

»Wahrscheinlich erst in einer Woche. Zuerst einmal muss ein Schiff im Hafen anlegen. Auf jeden Fall habe ich unsere Abmachung nicht vergessen. Lässt du mich den Brief morgen lesen?«

Yvette riss die Augen auf. »Überhaupt nicht! Der ist doch privat.«

Charmaine lachte und gab ihr einen Kuss. »Du hast dich eine Woche lang vorbildlich betragen, Yvette. Ich hoffe, das bleibt auch so, wenn dein Brief die Insel verlassen hat.«

»Keine Sorge, Mademoiselle.« Yvette gähnte. »Ich mag Sie, also benehme ich mich.« Mit einem zufriedenen Lächeln kuschelte sie sich unter ihre Decke.

Jeannette schlief bereits, aber Pierre war eigensinnig. Er weinte und jammerte nach seiner Mutter, die er die meiste Zeit des Tages nicht gesehen hatte. Zum Glück kam Colette, auch wenn sie geisterhaft blass war und kaum laufen konnte. Es sah nicht danach aus, als ob ihr Dr. Blackfords samstäglicher Besuch sonderlich gutgetan hätte. Sie blieb nur so lange, bis sie ihren Sohn in den Schlaf gewiegt hatte, und Charmaine beschloss, die Sache mit dem Brief erst dann mit ihr zu erörtern, wenn es ihr wieder besser ging.

Montag, 26. September 1836

Charmaines zweite Woche begann ziemlich genau wie die erste, nur dass sie inzwischen Pauls Respekt gewonnen hatte. Während der ersten Woche hatte sein immer gleiches Guten Morgen, Miss Ryan oder Guten Abend, Miss Ryan sie schon glauben lassen, dass der Mann nur höflich und nicht wirklich freundlich sein konnte. Aber am Sonntag hatte sich das geändert. Sie lächelte bei der Erinnerung. Am Montagabend hatte sie sich bereits an die neue Anrede gewöhnt und freute sich, wenn er sie Charmaine nannte und sich liebenswürdig erkundigte, wie sie den Tag mit den Kindern verbracht hatte.

Ihre neue »Freundschaft« war den beiden Hausmädchen natürlich nicht entgangen, und als sie spät am Abend in ihr Zimmer ging, fingen Felicia und Anna sie ab. »Sie nennen ihn schon Paul, was?«, zischte Felicia. »Aber in sein Bett plumpsen Sie nicht sofort, oder?«

Die gewöhnliche Ausdrucksweise stieß Charmaine ab. »Paul respektiert mit Sicherheit keine, die sich ihm an den Hals wirft. Außerdem weiß ich, dass Miss Colette solches Benehmen nicht duldet.«

Felicias Augen funkelten. »Miss Colette ist mir egal. Und woher wollen Sie wissen, was Paul gefällt und was nicht? Lassen Sie ihn in Ruhe, klar? Bleiben Sie ihm vom Leib.«

»Lassen Sie mich durch«, entgegnete Charmaine mit einer gewissen Herablassung.

Überrascht suchte die üppige Schönheit bei der etwas begriffsstutzigen Anna Smith nach Verstärkung, doch Charmaine nutzte die Gunst des Augenblicks, huschte in ihr Zimmer und warf Felicia die Tür vor der Nase zu. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich dagegen und wünschte, dass sie nicht auf demselben Flur mit Felicia Flemmings wohnen müsste. Mit dieser Konfrontation war die Sache sicher noch nicht ausgestanden. Wütend packte Charmaine ihr Buch und beschloss zu lesen, bis ihr die Augen zufielen.

Dienstag, 27. September 1836

Nach einem regnerischen Montag versprach der Dienstag sonnig zu werden. Auf Colettes Wunsch hin fuhr Charmaine am Vormittag in die Stadt. Am nächsten Tag hatten die Zwillinge Geburtstag, und Colette brauchte jemanden, am liebsten eine Frau, die ihre Besorgungen im Warenhaus erledigte. Sie bestellte den Wagen, und Charmaine ließ den Kutscher zuerst bei den Brownings halten und bat Gwendolyn, sie zu begleiten. Voller Freude holten sie die Geschenke ab, die Colette schon vor Monaten für ihre Töchter bestellt hatte. Besonders hübsch waren die beiden Miniaturpferdchen aus Glas für ihre Sammlung. »Die Mädchen lieben den Stall über alles«, hatte Colette gesagt. »Und jetzt haben sie sogar eigene Pferde.«

Kurz vor Mittag verabschiedete sich Charmaine von ihrer Freundin und ließ sich zum Herrenhaus zurückfahren. Dort lief sie rasch nach oben, legte die Pakete auf ihr Bett und kam pünktlich zum Essen an den Tisch.

»Wo sind Sie gewesen?«, wollte Yvette wissen.

»Das wirst du morgen schon sehen.« Mehr ließ sich Charmaine nicht entlocken.

Später am Abend, als alle längst im Bett lagen, packte Charmaine die Geschenke ein und gab sich besondere Mühe mit den Schleifen. Colette hatte vorgeschlagen, die Päckchen im Schrank hinter den Kleidern der Mädchen zu verstecken. Am besten erledigte sie das, solange die Kinder tief und fest schliefen. Gesagt, getan – und keiner hatte sich auch nur gerührt. Auf dem Weg in die Bibliothek lief sie auf der Treppe Jane Faraday in die Arme.

»Brauchen Sie noch etwas, Miss Ryan?«, herrschte die Haushälterin sie unfreundlich an.

Charmaine beschloss, friedlich zu bleiben, da die Frau immer sehr barsch war. »Ich bin auf dem Weg in die Bibliothek.«

»Um diese Zeit?«

»Ich bin noch nicht müde, und dem kann ich am besten abhelfen, indem ich bei Lampenlicht lese.«

Misstrauisch sah die Haushälterin sie an. »Dann schlage ich vor, dass Sie sich rasch ein Buch holen und anschließend sofort in Ihr Zimmer zurückkehren.« Damit setzte sie ihren Weg nach oben fort.

Verwundert ging Charmaine in die Bibliothek und wählte einen Roman mit dem Titel Stolz und Vorurteil aus. Der große Raum war einladender als ihr Zimmer und das Licht ganz wunderbar. Also setzte sich Charmaine kurzerhand über Mrs. Faradays Anordnung hinweg und ließ sich in einem der hochlehnigen Sessel nieder. Ungefähr eine Stunde lang versank sie in der Geschichte, die so ganz anders war als alles, was sie bisher gelesen hatte. An Stelle von Mr. Darcey und Elizabeth Bennet stellte sie sich Paul und sich selbst als Held und Heldin der Geschichte vor. Oh, eine solche Romanze zu erleben!

Irgendwann unterbrach verstohlenes Gekicher ihren Traum. Mrs. Faraday glaubte vielleicht, dass alle in ihren Betten lagen. Aber dem war nicht so. Charmaine erkannte die Stimmen: Felicia und Anna eilten durchs Haus. Paul hatte nicht mit ihnen zu Abend gegessen. Ob er vielleicht gerade nach Hause gekommen war? Wo immer er sich aufhielt, waren Felicia und Anna nie weit entfernt. Was tun sie nur?

Charmaine zündete eine Kerze an und löschte die Lampe. Dann öffnete sie geräuschlos die Tür. Zu ihrer Überraschung war der Flur dunkel und verlassen, aber durch die französischen Türen des Speisesaals fiel ein Lichtschein. Sie ging hinüber und steckte den Kopf hinein, aber auch hier war niemand.

Anschließend trat Charmaine in den Hof hinaus, wo sie schwacher Blütenduft empfing. Die leichte Brise war kühl, fast kalt, aber sehr erfrischend. Die Luft schien den Duft der Gischt mit sich zu tragen, der sich zart auf ihr Gesicht legte und die Spuren des heißen Tages wegwischte. Charmaine wanderte den Weg entlang. Die Kerze war überflüssig, da hier und dort eine Laterne brannte und der Vollmond das Allerheiligste des Hauses in fahles Licht tauchte. Sie blies die Kerze aus und legte sie zusammen mit dem Buch auf eine der Bänke.

Dann setzte sie sich und dachte mit geschlossenen Augen über ihr neues Leben und alles nach, was im letzten Monat geschehen war. So viele Veränderungen, doch alle zum Besseren, wie sie feststellte. War sie glücklich? Ja, das war sie. Mit der Reise nach Charmantes hatte sie die richtige Entscheidung getroffen. Genau wie Yvette und Jeannette hatte sie von Abenteuern geträumt – die sie nun wundersamerweise auch erlebte. Ihr Leben war nicht länger einförmig und langweilig.

Es wurde immer später, und es war längst Zeit, zu Bett zu gehen. Seufzend erhob sie sich.

»Gehen Sie schon?«

Erschrocken fuhr sie herum. »Es tut mir leid«, sagte Paul und trat unter dem Baum hervor, an dessen Stamm er gelehnt hatte. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

»Wie lange stehen Sie denn schon dort?«

Er kam näher. »Lange genug, um Sie hier herumwandern zu sehen und um Ihr Gesicht zu beobachten, als Sie auf der Bank saßen. Ehrlich gesagt war ich neugierig. Ihr Gesicht hat so viele Gefühle widergespiegelt – unter anderem sahen Sie verärgert aus.«

Charmaine trat einen Schritt zurück, bis ihre Beine die Bank berührten, von der sie soeben aufgestanden war. »Verärgert war ich sicher nicht, das weiß ich genau.«

»Worum kann sich eine so junge Frau wie Sie nur so sorgen?«, überlegte er laut, ohne auf ihre gegenteilige Beteuerung zu achten. Er musste an sich halten, um ihre Wange nicht zu liebkosen. Ihr Erröten war berauschend. In der vergangenen Woche hatte er oft an sie denken müssen und seit Sonntag noch viel öfter.

»Aber ich war nicht verärgert, Sir, und ich habe mich um nichts gesorgt.«

»Sir? Ich dachte, wir hätten diese formelle Anrede begraben?«

»Paul.« Ihr Herz hämmerte.

»Sind Sie denn zufrieden?«

»Ich denke schon«, flüsterte sie. »Nein, besser gesagt – ich bin zufrieden. Genau das habe ich gedacht, bevor Sie mich erschreckt haben.«

»Wie können Sie nach knapp zwei Wochen schon sicher sein?«

»Das kann ich nicht, aber mein Herz sagt mir, dass ich zufrieden bin.«

Paul lachte leise, als ob ihre Schlussfolgerung ihn begeisterte. Dann trat er näher, sodass ihre Körper einander fast berührten. Charmaine schloss die Augen, weil sie den nächsten Schritt ahnte. Sie fürchtete sich, und gleichzeitig bebte sie vor Erregung. Aber er nahm sie nicht in die Arme. Und als sie die Augen öffnete, war sie erleichtert und wütend zugleich, dass er sich inzwischen auf die Bank gesetzt hatte.

»Bleiben Sie noch ein wenig.« Er zog sie neben sich auf die Bank. »Es gibt keinen Grund, uns in der Gegenwart des anderen nicht wohlzufühlen. In Ihren Augen bin ich nur Ihr Dienstherr. Aber sehr viel lieber wäre ich natürlich Ihr … Ihr Freund. Würde Ihnen das gefallen?«

»Ja, das würde mir sogar sehr gefallen.«

»Wunderbar … Vielleicht könnte ja aus dieser Freundschaft eines Tages auch mehr erblühen. Würden Sie sich das wünschen?«

Er rückte ein Stück näher, sodass sie die Wärme seines Körpers durch ihr Kleid am Schenkel fühlte und sich kaum noch konzentrieren konnte. »Ich denke schon«, flüsterte sie mit bebender Stimme.

Er legte seinen Arm auf die Rückenlehne der Bank und neigte sich ihr zu. »Das Leben kann so herrlich sein, Charmaine. Sie sind eine wunderschöne junge Frau, und ich kann Ihnen jeden Wunsch erfüllen.« Mit verwegenem Lächeln lehnte er sich zurück. Sie schien über seine Worte nachzudenken, was ihn wiederum über ihre Unschuld nachdenken ließ.

»Sie waren schon viel zu nett zu mir, Paul. Gerade am letzten Sonntag hätten Sie wütend auf mich sein können, weil ich Pierre in Ihr Zimmer laufen ließ, aber Sie haben mir stattdessen angeboten, Sie beim Vornamen zu nennen. Mehr kann ich wirklich nicht verlangen. Colette und Sie haben es mir leicht gemacht, mich hier wohlzufühlen.«

Demnach hielt sie ihn für einen Gentleman, dachte er, und zwar im strengsten Sinne. Bisher hatte er keinen Fehler gemacht. Sie wohnte seit zehn Tagen unter seinem Dach und hatte – ganz gleich, ob Gouvernante oder nicht – seine Aufmerksamkeit erregt. Er wusste, dass er sie verunsicherte. Wie oft war sie in seiner Gegenwart errötet? Er konnte die Male kaum zählen. Und sie verriet auch ihre Sehnsüchte. Im Moment sehnte sie sich danach, dass er sie küsste. Aber er wollte mehr als nur einen flüchtigen Kuss. Er hätte sich lieber mit einem Hausmädchen vergnügt als ausgerechnet mit der Gouvernante der Kinder. Doch als seine Bemühungen fehlgeschlagen waren, hatte er seine Taktik geändert. Bis heute Abend hatte er den Gentleman herausgekehrt, doch nun war seine Sehnsucht kaum noch zu beherrschen, und die Zeit zum Pflücken war gekommen.

»Ich rede nicht von Freundlichkeiten, Charmaine, sondern von Wohlgefühl.«

»Aber ich fühle mich doch wohl, Paul.« Sie hatte seine Absicht gänzlich missdeutet. »Mein Zimmer ist schöner als jedes, das ich bisher bewohnt habe. Und erst dies schöne Haus. Ich fühle mich wohl, weil ich überall herumlaufen und weil ich die Bibliothek und das Klavier benutzen darf, wann immer ich möchte. Ich habe mich vom ersten Moment an zu Hause gefühlt.«

Mit einem Anflug von Spott fuhr sich Paul durchs Haar. Muss ich ihr wirklich haarklein sagen, was ich möchte? Hat sie wirklich keine Ahnung von Männern? Das war kaum zu glauben. Ohne Zweifel hatte ihre Schönheit schon immer die Blicke der Männer auf sich gezogen, doch wie eine Southern Belle war sie sicherlich nicht tagtäglich von einer Anstandsdame begleitet worden. Nein, diese Charmaine Ryan hatte bereits ihre Erfahrungen mit Macht und Hingabe gemacht, und nun spielte sie ihr Spiel und versuchte, ihren Lohn zu mehren. Aber das sollte bald ein Ende haben.

»Miss Ryan«, begann er noch einmal unverdrossen, »ich halte Sie für nicht ganz so naiv, wie Sie mich glauben machen möchten. Ich freue mich, dass Ihnen mein Haus gefällt, doch eigentlich habe ich an ganz etwas anderes gedacht. Sagen wir, vielmehr hatte ich das Schlafen im Sinn … Ihres und meines.«

Ganz langsam dämmerte es Charmaine – und prompt erglühten ihre Wangen wie Feuer. Sie stand auf und entzog sich der Hand, die auf ihrem Schenkel lag. »Wie können Sie nur so etwas sagen«, empörte sie sich, als ihr Zorn über die Scham siegte. »Ich bin ein anständiges Mädchen und würde niemals tun, was Sie da vorschlagen. Ich bin hier, um mich um die Kinder zu kümmern – und nicht um Sie!« Tränen traten ihr in die Augen, und sie unterdrückte den Wunsch, aus dem Garten zu flüchten. Diesen Triumph wollte sie ihm nicht auch noch gönnen.

Paul stöhnte innerlich und verfluchte seine dumme Art. Dabei hatte er genau gewusst, dass Charmaine anders war. Bildete er sich etwa ein, dass jedes Mädchen auf der Insel bereitwillig mit ihm ins Bett stieg? Er hätte warten sollen. Aber nein, er hatte die Grenze überschreiten müssen! Nun würde sie den Garten als unschuldige Jungfrau verlassen, und auf seiner Brust würde von heute an das Wort Lüstling eingebrannt sein. In Zukunft würde sie vor ihm auf der Hut sein. Irgendwie musste er den Schaden reparieren und sie vor allzu finsteren Schlussfolgerungen bewahren.

»Was, um Himmels willen, ist denn in Sie gefahren?«, fragte er voll Sorge. »Habe ich etwas Falsches gesagt? Was hat denn diese Tränen verursacht?« Er stand auf, zog ein Taschentuch heraus und trat auf sie zu.

»Kommen Sie mir nicht zu nahe!«

Es war ihr Ton, der ihn innehalten ließ. Fünf Schritte von ihr entfernt versuchte er es noch einmal. »Bitte, was habe ich denn gesagt, dass Sie so außer sich sind?«

»Sie wissen genau, was Sie gesagt haben. Ich werde es Ihnen ganz bestimmt nicht noch erklären!«

»Ich fürchte, Sie tun mir Unrecht«, jammerte er. »Sie denken doch hoffentlich nicht, dass ich Ihnen … vorschlagen wollte …« Er ließ die Frage verhallen, als ob er wirklich entsetzt sei. »Sie haben meine Bemerkung völlig fehlgedeutet, Charmaine. Bitte glauben Sie mir, dass es mir beim ›Schlafen‹ – sehen Sie, nun habe ich es wieder gesagt! – nur um etwas Äußerliches ging.«

Voll Zweifel sah sie ihn an und wirkte verunsichert, weil er sich unbedingt reinwaschen wollte. Falls er den Vorschlag ernst gemeint hatte, wie sie annahm, weshalb zögerte er dann? Sie beruhigte sich ein wenig und griff nach dem Taschentuch, das er ihr hinhielt.

»Charmaine«, flüsterte er und trat einen Schritt näher. »Es tut mir ehrlich leid. Ich wollte Sie nicht beleidigen. Auf Charmantes sind wir oft so direkt. Aber wenn Sie mich noch einen Augenblick länger ertragen, kann ich Ihnen das erklären. Ich habe überlegt, dass Ihr Zimmer im zweiten Stock nicht nah genug bei den Kindern liegt. Da es Colette manchmal nicht gut geht, wäre es doch sinnvoller, wenn Sie direkt neben dem Kinderzimmer wohnten. So könnten Sie vor allem den kleinen Pierre besser trösten, wenn er nachts aufwacht.«

Er machte Fortschritte. Er konnte es in ihren Augen lesen, und ihr Körper wirkte auch nicht mehr ganz so angespannt. Begeistert fuhr er fort: »Wenn Sie einverstanden wären, könnte ich sogar eine Tür in die Mauer brechen lassen, damit Sie direkten Zugang hätten.« Er trat noch einen Schritt näher und sah zu, wie sie ihre Augen trocken tupfte. »Können Sie sich das vorstellen?«

Sie flüchtete hinter die förmliche Anrede. »Ich weiß nicht recht, Sir.«

»Aber, Charmaine, Sie wollen doch nicht wieder ›Sir‹ zu mir sagen, oder?«

»In meinen Augen ist ›Sir‹ sehr viel passender. Mag sein, dass Sie mich für naiv halten. Vielleicht bin ich es ja auch, aber deswegen bin ich nicht dumm. Ich kann Recht von Unrecht unterscheiden. Und Anstand von Unschicklichkeit. Wenn ich auf Ihren Vorschlag eingehe, so nur den Kindern – und nicht Ihnen – zuliebe. Ich hoffe, dass Sie meinen Standpunkt respektieren.«

Er hatte sie unterschätzt. Als sie fertig war, kochte er innerlich. Wer, dachte sie, war sie eigentlich, dass sie ihn wie einen Schuljungen abkanzelte? Warum hatte er überhaupt versucht, sie zu besänftigen? Er hätte sie leidenschaftlich küssen sollen und so weiter … zum Teufel mit ihrem Widerstand. Aber der Augenblick war vorüber. Stattdessen sagte er: »Unsere Standpunkte sind dieselben, Mademoiselle. Wie lautet Ihre Antwort?«

Sie zögerte. »Ja, aber …«

»Aber was?«, fragte er höhnisch.

»Auf einer Seite des Kinderzimmers befindet sich das Spielzimmer und das Zimmer Ihres Bruders auf der anderen. Die beiden Räume kommen wohl kaum in Frage.«

»Johns Raum wird nicht benutzt. George soll ein Loch in die Wand brechen und in der Sägemühle eine Tür zuschneiden.«

»Und was soll werden, wenn Ihr Bruder zurückkommt? Er wird sicher nicht erfreut sein, wenn die Gouvernante in seinem Zimmer wohnt.«

»Das wird nicht passieren.«

»Was wird nicht passieren?«

»Dass er zurückkommt. John kommt nicht mehr nach Charmantes.« Das sagte er mit solcher Überzeugung, dass das Thema so schnell beendet war, wie es aufgekommen war. »Wenn wir uns so weit einig sind, dann wünsche ich Ihnen jetzt eine gute Nacht. Es ist schon spät, und morgen muss ich bei Sonnenaufgang aufstehen. Ich erwarte ein Schiff aus Europa.«

»Ja«, sagte sie, »dann gute Nacht und vielen Dank …«

Sie richtete die Worte bereits an seinen Rücken, da er sich schon abgewandt hatte.


Paul war froh, als er sein Zimmer erreichte und über die Szene nachdenken konnte, die er soeben geliefert hatte. Zum Glück hatte sein Bruder nicht miterlebt, wie er sich völlig zum Narren gemacht hatte. Das hätte er nie wiedergutmachen können.
Nun, Miss Ryan, dachte er, als er sich auf seinem Bett ausstreckte, von morgen an haben Sie Ihr feines Zimmer und Ihre feinen Manieren ganz für sich allein. Ich will mich nicht einmischen. Dazu reißen sich zu viele Frauen auf der Insel um mich. Ich brauche keine hübsche Gouvernante. Aber wenn Sie einsam sind, wenn Sie endlich eine wirkliche Frau sein wollen, dann kommen Sie vielleicht zu mir gekrochen. Und wer weiß, vielleicht nehme ich Sie dann sogar mit in mein Bett. Zufrieden mit sich und seinen Gedanken schlief er ein.