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Dienstag, 7. März 1837

»Robert, rasch«, rief Agatha. »Sie bekommt keine Luft!«

Charmaine drückte sich in den Türrahmen zum Wohnraum, hielt die Zwillinge umfasst und presste den kleinen Pierre an ihre Brust. Als der Arzt die Treppe nach oben rannte, fing Jeannette an zu weinen. »Wird Mama wieder gesund, Mademoiselle?«

»Aber natürlich«, antwortete sie, ohne ihre Ängste zu zeigen. »Wenn Dr. Blackford da ist, wird es ihr bald besser gehen.« Sie trug Pierre ins Wohnzimmer und setzte ihn auf die Bank vor das Klavier. »Ich schlage vor, dass wir ein bisschen singen. Dann fühlen wir uns sofort besser.«

Die Kinder strahlten, aber Charmaines Unruhe wollte nicht weichen. Warum habe ich Colette nur ermutigt, die Kinder auf dem Sonntagsausflug zu begleiten? Natürlich hatte niemand das Unwetter vorhersehen können, nachdem der Tag so strahlend schön begonnen hatte. Doch als sie zu Hause ankamen, waren sie bis auf die Haut durchnässt und froren jämmerlich. Colette bekam fast augenblicklich hohes Fieber. Eine Lungenentzündung, wie Dr. Blackford sagte. Der Schleim saß in den Lungenflügeln fest und erschwerte das Atmen. Zu Charmaines Selbstvorwürfen kam noch Agathas besorgte Miene. Offenbar handelte es sich um etwas Ernstes.

Trotz allem verlief der Tag wie gewohnt. Als Dr. Blackford irgendwann das Krankenzimmer verließ und sich an der offen stehenden Tür zum Kinderzimmer räusperte, schraken alle zusammen.

»Wie geht es meiner Mutter?«, fragte Yvette.

»Ein klein wenig besser«, bemerkte der Arzt mit säuerlicher Miene.

So groß und schlank und mit dunklen, aristokratischen Gesichtszügen hätte Dr. Blackford eigentlich ein gut aussehender Mann sein können. Aber er lächelte nie, und seine verschlossene Miene ließ ihn eher griesgrämig wirken.

»Wenn sie sich weiter erholen soll«, fuhr er fort, »so sollte sie nicht gestört werden, bevor ich es erlaube. Dank dieses kleinen Ausflugs hat sie sich immerhin eine Lungenentzündung zugezogen.«

An diesem Abend hatte Charmaine alle Hände voll zu tun, um die Mädchen zur Ruhe zu bringen. Eigentlich hatte sie Schwierigkeiten vonseiten Pierres erwartet, weil er am Abend zuvor fast eine ganze Stunde lang geweint hatte. Ohne Nana Roses Hilfe – die Arme lag schon den größten Teil der Woche mit Rheumatismus im Bett – fürchtete Charmaine, dass sie einem neuen Weinanfall nicht gewachsen wäre. Aber das Gegenteil war der Fall. Pierre schlief fast augenblicklich ein, doch heute quälten sich die Mädchen mit Schuldgefühlen und sorgten sich um ihre Mutter. Erst als Charmaine ihnen vorlas, wurden ihre Lider schwer, und schließlich forderte die Müdigkeit ihren Tribut.

Danach war sie allein und hatte Zeit genug, um sich selbst Vorwürfe zumachen. Während der letzten beiden Monate hatte Colette sich fast immer schlecht gefühlt. Seit Weihnachten war es mit ihrer Gesundheit rapide bergab gegangen. Umso mehr hatte Charmaine gehofft, dass ein Tag in der Sonne und der frischen Luft Wunder wirken würde. Aber Agatha sollte recht behalten. Sie war kein Arzt und hätte Colette in Ruhe lassen sollen. Jetzt ging es ihr schlechter denn je. Bisher hatte Robert Blackford seine Patientin jeden zweiten Tag besucht, doch von nun an musste er wohl täglich kommen.

Charmaine ging hinunter in die Küche, um ein wenig mit Fatima zu plaudern. »Das Haus ist einfach zu leer«, klagte diese. Und genauso war es. Während Pauls Abwesenheit war George überlastet. In den letzten Wochen hatten sie ihn so gut wie gar nicht zu Gesicht bekommen. Charmaine war bedrückt. In Pauls Gegenwart hatte sie sich geborgen gefühlt, doch seit er fort war, war alles anders, und die Nächte dehnten sich unendlich lang. Sobald die Kinder im Bett waren, konnte sie nur ungeduldig die Stunden zählen.

Um etwas zu tun, ging sie nach unten zum Klavier. Vielleicht lenkte es sie ja ab, wenn sie sich einmal an einem wirklich schwierigen Stück versuchte. Sie suchte nach passenden Noten und fand schließlich in einer Schublade ein abgegriffenes Heft mit zahllosen Eselsohren. Sie lehnte die Noten auf den Ständer, strich ihre Röcke glatt und legte die Finger auf die Tasten.

Sie spielte die ersten sechzehn Takte, deren vier letzte als Sequenz das zweite Thema einleiteten. Sie seufzte. Die Komposition war wunderschön und gleichzeitig sehr traurig. Wieder und wieder begann sie von vorn und lauschte mit träumerischer Miene dem wunderbaren Klang des Instruments. Auf Loretta Harringtons Piano hätte das Stück niemals so weich geklungen. Es war ein Meisterstück, komponiert für ein meisterliches Instrument, und die Klänge erfüllten den weiten Raum.

Wieder bewegten sich Charmaines Finger über die elfenbeinernen Tasten. Langsam wurde ihr das Stück vertraut. Sie lächelte. Beim letzten Mal hatte sie nur einen einzigen Fehler gemacht, und nun erblühte die Rhapsodie unter ihren Fingern in all der Schönheit und Fülle einer Knospe, die sich der Sonne öffnet.

Obgleich die dissonanten Töne des zweiten Themas der perfekten Harmonie des ersten Teils zuwiderliefen, waren beide Tonfolgen eng ineinander verwoben: Wie ein Liebespaar, das gemeinsam dem Höhepunkt entgegenstrebt, sich entlang einer Tonleiter aufbaute, bis es in einem furiosen Arpeggio explodierte, bevor es in sich zusammensank. Nach drei Takten der Stille antwortete eine einsame Folge von Tönen dem wilden Chaos und brachte das Stück zu seinem Ende – einem verzweifelten, verlorenen und hoffnungslosen Ende …


Der Abend war viel zu warm, und die Luft drohte, sie zu ersticken. Colette fürchtete nichts mehr als dieses Erstickungsgefühl. Sie verließ das Bett und ging barfuß zu den französischen Türen hinüber und öffnete sie. Mit geschlossenen Augen stand sie da und spürte, wie der frische Märzwind über ihr Gesicht strich, ihr das goldene Haar von den Schultern wehte … und hoffentlich auch ihren Kopf von allen belastenden Gedanken befreite.

Dies ist nur ein kleiner Rückfall, sagte sie sich. Es stimmte, ihr Kopf pochte, ihre Kehle wurde von Nadelstichen malträtiert, und ihre Brust war eng. Aber gleich eine ernste Entzündung der Lunge? Nein, widersprach sie. Sie war nicht krank, obgleich Agatha Ward und Robert Blackford das jeden glauben machen wollten. Und dennoch … Nach zwei Tagen mit Husten und Fieber hatte sie heute am Nachmittag ihren Willen zum Widerstand eingebüßt und sich Roberts heimtückischem Serum und Agathas ständiger Mahnung nach Bettruhe ergeben.

Das lag jetzt einige Stunden zurück. Heute Nacht war das Haus ungewöhnlich still. Tief atmete sie die belebende Nachtluft ein, bis ein heftiger Windstoß sie mit voller Wucht traf und erschauern ließ. Rasch wickelte sie sich fester in ihre Samtrobe und schloss die Balkontüren, doch sofort war das erstickende Gefühl wieder da.

Eigentlich sollte sie sich hinlegen. Nein! Nicht wieder in dieses zerwühlte Bett, wo sie drei Tage lang gelegen hatte. Stattdessen tasteten ihre Füße nach den Schuhen. Sie wollte nach den Kindern sehen.

Sie befand sich gerade gegenüber der Treppe, als sie es zum ersten Mal hörte – Töne aus lang vergangenen Tagen, dennoch so frisch im Gedächtnis … Gleich darauf waren sie verstummt, und ein Gefühl der Enttäuschung blieb zurück. Sie hatte sie nicht wirklich gehört, dachte sie. Ihr benebelter Kopf hatte sie genarrt. Sie hätte sich nicht der Nachtluft aussetzen sollen. Die Erschöpfung forderte ihren Tribut. Sollte sie lieber in ihre Räume zurückkehren? Nein, das war unsinnig. Nachdem sie schon so weit gekommen war, wollte sie ihre Kinder auch sehen. Wenn sie sich nur einen Augenblick der Ruhe gönnte, würde es schon gehen. Na also, sie fühlte sich schon besser.

Die Kinder schliefen tief und fest. Dank Charmaine wurden sie auch in ihrer Abwesenheit bestens betreut. Sie küsste jedes der Kinder auf die Stirn und zog die Decken zurecht. Zufrieden schlich sie schließlich auf Zehenspitzen hinaus.

Das gesamte Haus war in Schweigen versunken, doch als sie den Korridor überquerte, waren die vertrauten Töne mit einem Mal wieder da. Sie trafen sie genau oben an der Treppe, lockten sie und zerrten an ihrer Seele. Ja, jetzt waren sie lauter. Kein bitterer Nachgeschmack der Enttäuschung. Sie hörte sie wirklich! Sie musste es nur bis hinunter in den Wohnraum schaffen. Ihr Herz klopfte voller Sehnsucht, die Rhapsodie umfing sie, spottete ihrer Unruhe und verlangte nur eines: Komm!


Charmaine spielte und spielte und ergab sich der Macht der Töne. Kein Poet konnte bessere Worte für den tiefen Kummer finden, der diesem Meisterstück innewohnte. Sie war nur das Medium, das den Schmerz lebendig werden ließ und als Gefangene dieser Töne erst jetzt begriff, dass viel mehr darin lag als nur die Musik. Sehr viel mehr. Fehlerfrei glitten ihre Hände über die Tasten, und ihre Finger belebten das unbekannte Land. Die Komposition verschlang sie, um ihre bedauernswerte Lage aufzuzeigen: Scharaden, die Wahrheiten verbargen, Ungerechtigkeiten, die die Lebenden heimsuchten, und Entscheidungen, die noch längst nicht getroffen waren … Charmaine hatte all das am eigenen Leib erlebt und wollte nur weinen.

Als die Tür aufflog, schrak sie zusammen, und ihre Hände misshandelten die Tasten. Erleichterung überkam sie, als sie den Geist erkannte. »Colette?«

Die Hausherrin schien benommen zu sein. Ihre Augen glänzten, und ihre Pupillen waren geweitet. Ihr Gesicht war gerötet, und ihr Atem ging schwer. Als sie keine Antwort bekam, ging Charmaine zu ihr hinüber und legte den Arm um die zarten Schultern. Colette schwankte ein wenig und begann zu husten. Als der Anfall vorüber war, schob Charmaine sie in den nächstbesten Sessel. »Geht es wieder? Soll ich Ihnen etwas holen? Vielleicht ein Glas Wasser? Oder soll Travis den Arzt rufen?«

Die letzte Frage drang in Colettes Bewusstsein. »Nein«, flüsterte sie. »Es geht gleich vorbei … nur eine Minute. Geben Sie mir nur eine Minute.« Ihr Blick irrte durch den Raum, als ob sie jemanden suchte. Schließlich sah sie zu Charmaine empor. »Sie … Haben Sie gerade Klavier gespielt?«

»Ja.«

Colette runzelte dir Stirn. »Ich wusste gar nicht, dass Sie so gut spielen …« Die Worte hingen in der Luft, während ihre Augen wieder die Dunkelheit zu durchdringen suchten. Stand er vielleicht irgendwo im Schatten?

»Ich hätte es selbst nicht gedacht. Es ist eher so, als ob mich die Komposition beherrscht hätte.«

Colettes Blick wurde eindringlich.

»Sie gehören ins Bett«, sagte Charmaine beunruhigt.

»Nein, es geht mir gut. Ich habe nach den Kindern gesehen, als ich plötzlich die Musik gehört habe. Sie haben so wunderschön gespielt, als ob … als ob Sie das Stück komponiert hätten …«

Charmaine lachte ungläubig. »Das könnte ich nie.«

»… als ob Sie Teil dieser Töne wären«, fuhr Colette, ohne auf die Bemerkung zu achten, fort.

Dem konnte Charmaine nicht widersprechen. »Es ist eine wunderbare Komposition. Ich wünschte, ich könnte sie fehlerfrei spielen.«

»Das werden Sie«, ermutigte sie Colette. »Mit etwas Geduld und Übung werden Sie es schaffen.«

»Ich fürchte, da wird sehr viel Übung nötig sein.« Sie nahm die Noten in die Hand und studierte sie genauer. »Es gibt einige Tonfolgen, die einander zu widersprechen scheinen. Ich muss mir das genauer ansehen, bevor ich dem gerecht werden kann. Meine Finger sind immer versucht, die Dissonanzen auszugleichen. Sie klingen einfach zu trostlos.«

Tränen schimmerten in Colettes Augen. »Die Beobachtung ist völlig richtig. Die Komposition braucht das Spiel Ihrer Finger, um sich zu verändern.«

»Zu verändern?«, fragte Charmaine entsetzt. »Es käme mir nie in den Sinn, etwas so Perfektes zu zerstören.«

»Nein, nein, nicht zerstören, sondern weiterentwickeln. Die Musik verlangt danach, verstanden zu werden. Eine sanfte Hand, die Hingabe an jeden Takt, wird die Komposition bereichern. Einige Noten, die in eine andere Richtung weisen, können die Traurigkeit durch Glück und Freude ersetzen. Sie sind stark genug, Charmaine, um ein solches Stück zu zähmen. Nicht zu brechen, aber es ebenso in Besitz zu nehmen, wie es Sie in Besitz genommen hat. Wenn Ihre Liebe zu Musik wird, dann wird die Harmonie perfekt sein.«

Eigentümliche Gedanken, dachte Charmaine. »Wer hat das Stück komponiert?«

»Offensichtlich ein Mensch, der Schweres erduldet hat.«

»Ja«, sagte Charmaine, »der Schmerz muss ihn inspiriert haben.«

Colette nickte und fühlte sich zum zweiten Mal in dieser Nacht völlig zufrieden. »Würden Sie das Stück noch einmal spielen? Es ist so lange her. Aber ich würde es zu gern noch ein letztes Mal hören.«

Charmaine legte die Finger auf die Tasten und ließ die Rhapsodie erneut entstehen.

Mittwoch, 8. März 1837

Colette saß an ihrem Schreibtisch und atmete so tief, wie ihre entzündeten Lungen das erlaubten. Agatha und Robert waren endlich gegangen, und sie hatte einen Moment ganz für sich allein. Sie hatte sich geweigert, im Bett zu bleiben, und war sicher, dass sie mehr Kraft bei der Diskussion mit dem Arzt und seiner Schwester verschwendet hatte, als es sie gekostet hatte, das kurze Stück vom Bett zum Schreibtisch zu gehen. Zugegeben, Roberts Arzneien hatten einen positiven Einfluss gehabt. Obwohl sie noch hin und wieder husten musste, so hatte doch das Senfpflaster den beißenden Schmerz von gestern gelindert, als sie die Anfälle kaum noch hatte kontrollieren können. Außerdem hatte die intensive Zuwendung sie vom Fieber und dem ständigen Frösteln kuriert.

In der letzten Nacht hatte sie nur wenig geschlafen, und doch fühlte sie sich an diesem Morgen geradezu munter und erfrischt. Charmaine Ryan hatte ihr den Weg gewiesen. Jetzt wusste sie, was zu tun war.

Sie nahm die Feder zur Hand und begann zu schreiben, was ihr Herz ihr diktierte. Mehr als nur einmal tropften Tränen auf das Papier, die sie mit der Hand wegwischte. Die Tränen gehörten der Vergangenheit an, und das Lächeln war die Zukunft. Sie dachte nur noch an das Lächeln.

Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie gar nicht hörte, wie die Tür geöffnet wurde.

»Warum bist du nicht im Bett, Colette?«

Sie zuckte zusammen und hätte beinahe die Tinte umgeworfen, als ihre Hand zum Mund fuhr. »Frederic«, keuchte sie, »was tust du hier?« Hat er über meine Schulter lesen können, was ich geschrieben habe? Nein, in seinen Augen spiegelte sich allein seine Sorge.

»Ich wollte nur sehen, wie es dir geht«, sagte er mit sanfter Stimme.

Sie seufzte vor Erleichterung, doch der Seufzer endete in einem Hustenanfall. Als sie zu ihm aufsah, hatte sich seine Miene verfinstert.

»Robert sagt, dass du seinen Rat abgelehnt hast. Muss ich etwa Gladys befehlen, an deinem Bett Wache zu halten?«

»Tu, was du für richtig hältst, Frederic. Ich lasse mich nicht drangsalieren!«

Sie konnte sich an Zeiten erinnern, wo ihn derartiger Widerspruch erzürnt hätte. Doch heute sah er eher traurig drein. »Ich will dich nicht drangsalieren, Colette. Ich möchte nur, dass du wieder gesund wirst.«

»Und warum?« Plötzlich war sie den Tränen nahe. »Welchen Unterschied macht das schon?«

»Die Kinder brauchen dich.«

»Die Kinder … Nur die Kinder?« Sie biss sich auf die Lippe und wartete einen atemlosen Moment lang, dass er die heiß ersehnten Worte endlich aussprach.

»Wo warst du letzte Nacht?«, fragte er stattdessen.

Einen Augenblick lang war Colette verwirrt. Die Gedanken stürmten durch ihren Kopf: das stickige Zimmer, der Wunsch, die Kinder zu sehen, die Musik … und dann diese Frage, diese ganz besondere Frage. »Du warst hier?« Ein vorwurfsvoller Schimmer lag in ihrem Blick. Guter Gott, er misstraut mir noch immer!

»Robert hat ein so schreckliches Bild gezeichnet. Ich war besorgt und konnte nicht schlafen.«

»Ich auch nicht. Ich habe nach den Kindern gesehen.«

»Seltsam«, schnaubte er. »Ich auch. Aber dort warst du nicht.«

»Doch, ich war dort. Anschließend war ich unten im Wohnzimmer. Aber wenn du immer nur das Schlimmste glauben willst, damit dein Schmerz leichter …«

Sie hustete wieder, und diesmal heftiger, sodass sie sich nach vorn krümmte und seinen verzweifelten Blick nicht sah. »Colette«, drängte er und zog sie mit seinem gesunden Arm in die Höhe, »du musst unbedingt zurück ins Bett. Ich werde dich auch bestimmt nicht mehr stören, wenn du nur im Bett bleibst.«

Freitag, 31. März 1837

Nach diesem Anflug einer Lungenentzündung verschlechterte sich Colettes Gesundheitszustand ständig weiter, sodass sie so gut wie gar nicht mehr zu den Kindern kam. Dieser Freitag war jedoch eine Ausnahme. Wenn Colette nicht zu den Kindern kommen konnte, wollten die Kinder sie besuchen. Schließlich hatte sie heute Geburtstag. Charmaine hatte alles geplant: zuerst einen Ausflug mit den Kindern, und nach dem Mittagessen dann den Besuch bei ihrer Mutter. Als Geschenk hatten sie vor ein paar Tagen einen hübschen Kasten in der Stadt erstanden.

Charmaine hatte gerade Pierres Schnürsenkel zugebunden, als Frederic unter der Tür stand. »Gehen Sie fort?«

»Ja, Sir.« Sie richtete sich auf. In Gegenwart des Hausherrn war sie noch immer befangen, weil sie jedes Mal an ihre erste Begegnung zurückdachte. Inzwischen sahen sie einander täglich. Im vergangenen Monat war Frederic Duvoisin sogar, wie zuvor seine Frau, jeden Tag zu genau derselben Zeit im Kinderzimmer erschienen. Ganz so, als ob er seinen Kindern die kostbare Zeit mit ihrer Mutter ersetzen wollte.

»Mademoiselle Charmaine macht ein Picknick mit uns«, sagte Jeannette. »Möchtest du mitkommen, Papa?«

»Ich glaube nicht. Aber ich habe ein Päckchen für Pierre. Wenn ich richtig informiert bin, wird er heute drei Jahre alt.«

Der kleine Kerl strahlte vor Freude. »Genau! Und wo ist mein Geschenk?«

Frederic zog das Paket hinter dem Rücken hervor, und sofort stürzte sich Pierre darauf und zerrte das Papier herunter. Er fand ein hölzernes Schiff, eine Nachbildung der Segler, die für die Duvoisins über den Atlantik fuhren. Er umschlang seinen Vater. »Vielen Dank, Papa!«

Charmaine freute sich über das Glück des Jungen und war stolz auf sein gutes Benehmen. Doch Pierre rutschte bereits auf Händen und Knien über den Boden und tat so, als ob er über den Ozean segelte.

Yvette war sichtlich enttäuscht. »An unserem Geburtstag hat Pierre auch ein Geschenk bekommen. Und was ist mit uns? Bekommen wir etwa nichts?«

»Wäre ein Besuch bei eurer Mutter vielleicht eine kleine Entschädigung?«, fragte Frederic. »Sie würde sich jedenfalls sehr freuen. Es geht ihr nämlich schon ein bisschen besser.«

Die Einladung hatte durchschlagenden Erfolg. Das Picknick war vergessen, und die Kinder stürmten davon. »Aber nicht auf dem Bett herumhüpfen«, rief Frederic ihnen nach. »Und das Gratulieren nicht vergessen.«

»Das vergessen wir sicher nicht«, rief Yvette.

Eine Sekunde später waren sie weg, und Charmaine war mit dem schweigsamen Mann allein. Frederic trat zur Seite und bedeutete ihr mit einem Wink, dass sie vorausgehen sollte. Charmaine gehorchte und fragte sich, ob sie sich an seine schweren Schritte gewöhnt hatte. Oder hatte sich sein Gang in den Monaten, seit sie ihn kannte, gebessert? Er schien sich nicht mehr so quälen zu müssen.

Obgleich die Sonnenstrahlen durch die weit geöffneten Fenstertüren hereinfielen, wirkte Colettes Schlafzimmer bedrückend. Sie saß, von Kissen gestützt, im Bett. Dunkle Ringe umgaben die eingesunkenen Augen, und ihr Lächeln wirkte eher bedrückt als froh.

Den Kindern schien der Ernst ihrer Erkrankung nicht bewusst zu sein. Pierre kuschelte an ihrer Seite, Jeannette saß dicht neben ihrem Bruder, und Yvette stand am Kopfende und hielt ihrer Mutter die Hand. Sie waren einfach nur glücklich, bei ihr zu sein.

»Wir machen heute ein Picknick«, erzählte Yvette. »Wir können ja nicht warten, bis du gesund genug bist und mitkommen kannst.«

»Eine gute Idee für Pierres Geburtstag«, sagte Colette. »Nächstes Jahr, wenn es mir besser geht, machen wir zusammen Pläne.«

»Ich bin drei!«, erklärte Pierre voller Stolz.

»Das weiß ich doch, mon caillou, und du wirst immer hübscher. Bald siehst du genauso aus wie dein Vater.« Sie strich ihm das Haar aus der Stirn und zog ihn für einen zärtlichen Kuss an sich. »Ich habe dich vermisst.«

»Wann geht es dir wieder besser, Mama?«

»Bald, hoffe ich … sehr bald.«

Frederic räusperte sich. »Ich habe noch gar keinen Glückwunsch gehört …«

»Oh, ja«, riefen alle wie aus einem Mund. »Happy Birthday, Mama!«

»Ich bin froh, dass wir dich endlich besuchen dürfen«, sagte Jeannette. »Mademoiselle dachte, dass wir noch bis zum Nachmittag warten müssten, aber Papa wusste, dass wir lieber gleich am Morgen kommen wollen!«

Mit Tränen in den Augen sah Colette ihre Kinder an, und dann blickte sie zu ihrem Mann hinüber. »Ich danke dir«, flüsterte sie, und ihr leises Erstaunen war nicht zu übersehen.

Früh am Morgen hatte Colette bereits mit dem Arzt diskutiert und nichts weiter erreicht als seine Drohung, dass er ihren Mann rufen würde, sollte sie das Bett verlassen. Als Agatha eifrig davongeeilt war, um genau das zu tun, war sie sicher gewesen, dass man ihr das Zusammensein mit den Kindern verwehren würde. Aber Frederic war ihnen entgegengetreten.

Bevor die Kinder gingen, überreichten sie ihrer Mutter zum Abschied noch schnell das Geschenk. Colette küsste sie der Reihe nach und genoss ihre Zärtlichkeiten. Als sie fort waren, sah sie nachdenklich vor sich hin.

Frederic setzte sich zu ihr auf die Bettkante und ergriff ihre Hand. Trotz ihrer Schwäche schlug ihr Herz schneller. Weiß er eigentlich, welche Gefühle er in mir erweckt? Sie las in seinen Augen. Nein.

»Ich danke dir«, flüsterte sie noch einmal. »Die Kinder machen mich schneller gesund als alle Tinkturen.«

Frederic schwieg und sah sie unverwandt an. »Wenn du mir versprichst, Roberts Ratschläge zu befolgen«, sagte er, »werde ich die Kinder so oft zu dir bringen, wie du willst. Wie würde dir das gefallen?«

Matt drückte sie seine Hand. »Das wäre wunderbar.«

Er tätschelte ihre Hand, bevor er sie unter die Decke schob. Mit einiger Mühe stand er auf und wandte sich zum Gehen. »Ich brauche dich auch«, murmelte er.

Sie sah ihm nach, wie er davonhinkte, und musste mit den Tränen kämpfen. In dem Maß, wie ihre Kräfte schwanden, nahm seine Lebenskraft zu. Doch für sie beide war es zu spät. Resigniert fand sie sich damit ab, weil es für alle Beteiligten das Beste war.

Sonntag, 2. April 1837

Wade Remmen stieg die Stufen zum Herrenhaus empor. Er klopfte an die mächtige Eichentür, und während er wartete, drehte er sich um und blickte von der Höhe der Veranda aus über die weiten Wiesen. Kaum zwei Jahre zuvor war er noch ein armer Kerl gewesen, aber er hatte sich nach oben gekämpft. Und er wollte mehr. Irgendwann würde er sein Glück machen und sich auch ein solch prachtvolles Haus bauen. Meiner Schwester würde es hier gefallen. Eines Tages … In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und der Butler bat ihn herein.

George saß vor seinem Teller und aß. Er bedeutete Wade, sich ihm gegenüber an den Tisch zu setzen, und bat Fatima um eine weitere Portion. Während sie aßen, rätselte Wade noch immer, was genau ihm diese zweite Einladung verschafft hatte. Zum ersten Mal war er vor ein paar Monaten hier gewesen – und zwar war er als Dank für sein beherztes Eingreifen in der Sägemühle zum Lunch ins Herrenhaus eingeladen worden.

In den neunzehn Jahren seines Lebens war Wade noch nie bei einem Notfall in Panik geraten. Ebenso wenig fürchtete er sich, seinen Mund aufzumachen. Diese Eigenschaften und seine Entschlossenheit, hart zu arbeiten, hatten ihm Paul Duvoisins Hochachtung eingetragen. Als sich der Vormann der Sägemühle Anfang November den Arm bis auf den Knochen aufgeschlitzt hatte und fast verblutet wäre, hatte Wade ihm eine Aderpresse angelegt und einen Mann nach dem Doktor geschickt. Nachdem er einen weiteren Mann beauftragt hatte, Paul oder George zu verständigen, kehrte er an die Arbeit zurück. Als die Mannschaft murrte, sagte er nur, dass ein bisschen Blut kein Grund sei, die Produktion stillzulegen, und machte unbeirrt weiter. Keine fünf Minuten später waren auch die anderen wieder an der Arbeit. Alles in allem war nicht nur ein Menschenleben, sondern obendrein auch noch die Produktion des Sägewerks gerettet worden. Und Paul war sehr zufrieden gewesen.

Doch im Augenblick war Wade verunsichert, weil er nicht wusste, was ihn erwartete. Er wusste nur, dass Paul die Insel verlassen hatte und George alle Verantwortung auf seinen Schultern trug. Seine Unsicherheit steigerte sich noch, als kurz darauf Harold Browning eintrat und man ihm ebenfalls einen Teller vorsetzte.

»Ich habe ein Problem«, sagte George nach einer Weile. »Ich muss für ein paar Wochen verreisen. Aber das geht nur, wenn ich auf Sie beide bauen kann, dass Sie mich bis zu meiner Rückkehr vertreten. Oder bis zu Pauls Rückkehr, mit der ich schon in den nächsten Tagen rechne.«

Harold war ein wenig verwirrt. »Darf ich fragen, wohin die Reise geht?«

»Nach Virginia«, antwortete George einsilbig, um keine weiteren Fragen aufkommen zu lassen. »Kann ich mich darauf verlassen, dass in der Sägemühle alles nach Plan läuft, Wade? Sie haben mich auch schon früher vertreten, doch dieses Mal müssen Sie die Verantwortung für vierzehn Tage oder vielleicht sogar für länger übernehmen.«

»Solange die Männer wissen, wer der Boss ist, sehe ich darin kein Problem.«

»Ich werde gleich morgen früh mit ihnen reden.« Dann wandte sich George an Harold. »Auf Sie wartet die größere Aufgabe, weil Sie sowohl die Zucker- als auch die Tabakarbeiter beaufsichtigen müssen. Jake und Buck können sich um den Hafen kümmern, die Ernte einlagern und die Schiffe be- und entladen, die den Hafen anlaufen. Mit etwas Glück wird Paul mit einem der ersten Schiffe aus Europa hier ankommen und kann dann wieder übernehmen.«

»Weiß Frederic, dass Sie die Insel verlassen?«, fragte Harold.

George lehnte sich zurück. »Er wird rechtzeitig davon erfahren«, antwortete er vage und war froh, als Charmaine und die Kinder den Raum betraten.

»Hallo, George«, begrüßte sie ihn mit strahlendem Lächeln. Sie konnte an den Fingern abzählen, wie oft sie ihn seit Pauls Abreise vor drei Monaten gesehen hatte, und war sichtlich erfreut. »Das ist ja eine Überraschung.«

Bevor George etwas erwidern konnte, bemerkte sie die anderen Männer, die bei ihrem Eintritt aufgesprungen waren. Sie begrüßte Harold Browning mit einem Nicken. An den Namen des jüngeren Mannes neben ihm konnte sie sich nicht mehr erinnern, aber sie wusste noch, dass er im Herbst einmal mit ihnen gespeist hatte. Die Andeutung eines Lächelns spielte um seine Mundwinkel, und sein gutes Aussehen rief ihr sofort wieder Colettes bewundernde Worte ins Gedächtnis, als der junge Mann damals das Haus verlassen hatte. Groß und schlank und ein glatt rasiertes Gesicht, dazu eine breite Nase, volle Lippen und ein Lächeln in den dunklen Augen, die genau dieselbe Farbe wie sein kurz geschorenes Haar hatten. Seine muskulösen Arme und die dunkle Haut belegten, dass er lange Stunden unter tropischer Sonne arbeitete. Er war ungefähr so jung wie sie … und dennoch so selbstbewusst wie ein sehr viel älterer Mann.

»Ich erinnere mich an Miss Ryan«, sagte er, als George sie einander vorstellte.

George verlor keine Zeit. »Ich habe noch eine Menge zu tun.«

Charmaine sah den Männern nach, als sie zusammen den Raum verließen. Sie hätte gern länger mit George geredet, doch so blieben ihr nur die Kinder. In Jeannettes traurigem Blick spiegelte sich Charmaines Stimmung.

»Hast du etwas, meine Süße?«, fragte sie.

»Ich wünschte, Mr. Remmen wäre ein bisschen länger geblieben. Mehr nicht.«

Mr. Remmen und Mr. Richards, dachte Charmaine.

Donnerstag, 6. April 1837

Dunkle Wolken ballten sich zusammen, bis sie die Sonne verdeckten, und der Donner grollte, aber all das reichte bei weitem nicht an das Wehklagen heran, das das Herrenhaus in seinen Grundfesten erschütterte. Alle Angestellten beteten für ihre zarte Herrin, die dem Tode nahe war. Die Lungenentzündung hatte sich verfestigt. Jede noch so kleine Besserung hatte sich als Täuschung erwiesen, und inzwischen kämpfte Colette um ihr Leben.

Frederic war der Verzweiflung nahe. In seiner Qual lief er ständig in seinen Räumen auf und ab. So verkrüppelt und machtlos wie er war, konnte er weder die Schwäche seiner Frau besiegen, noch konnte er sich selbst heilen. Man hörte nur das schwere Dröhnen seines Stiefels und das Klicken der Stockspitze. Wieder und wieder und wieder. Er hatte Colette erst vor kurzem verlassen, aber Roberts düstere Worte verfolgten ihn. »Ich fürchte, sie wird sterben, Frederic. Wir können nichts anderes tun als beten.«

Guter Gott, das durfte nicht sein! Colette war viel zu jung, zu schön und so voller Leben. Nein, korrigierte er sich verächtlich, so voller Leben war sie schon lange nicht mehr. Nicht mehr, seit er sie mit den Fesseln der Schuld an sich gekettet hatte. Aus dem lebensfrohen Mädchen war eine reservierte Lady geworden. Der Kummer und die Niederlage hatten ihr Lachen und ihr Feuer erstickt, und die einst leuchtend blauen Augen waren nur noch rauchgrau. Er verlor sie ebenso gewiss, wie er sie schon vor Jahren verloren hatte … und das alles aus eigener Schuld. Sie wollte nicht mehr leben. Er hatte dafür gesorgt, dass ihr Leben nicht mehr lebenswert war. Es war furchtbar, dass ihm nichts mehr zu tun blieb, als auf und ab zu laufen und zu beten.


Das Haus wurde von einem heftigen Sturm erschüttert. Die Türen knallten heftig auf und zu, als ob sie den Sturm verspotten wollten. Paul schob sich das nasse Haar aus der Stirn, streifte sein durchweichtes Cape von den Schultern und reichte es Travis.

»Wie war Ihre Reise?«, fragte der Diener höflich.

»Sehr gut … sehr gut«, entgegnete Paul nervös. »Aber was, zum Teufel, ist in Charmantes vorgefallen? Ich komme nach dreieinhalb Monaten zurück und finde nur Chaos vor. George ist nirgends zu finden, und Jake Watson und Harold Browning scheinen die Sprache verloren zu haben. Nicht einmal Wade Remmen ist mutig genug, um mir zu verraten, dass George der Insel den Rücken gekehrt hat. Das darf doch nicht wahr sein! Um die Sache noch schlimmer zu machen, befinden wir uns mitten in einem Sturm, ohne dass auf der Insel etwas gesichert wurde!«

»Das ist im Augenblick nicht der Rede wert«, versuchte Travis die Wogen zu glätten. »Noch ist die Zeit für Hurrikans nicht angebrochen.«

Paul schnaubte nur. »Wie konnte ich nur erwarten, dass in meiner Abwesenheit alles glattläuft?«

»Seit zwei Tagen ist das ganze Haus in heller Aufregung«, erklärte Travis mit angespannter Stimme. »Miss Colette ist sehr krank. Dr. Blackford ist ständig im Haus und lässt niemanden zu ihr. Selbst Mrs. Ward ist außer sich vor Angst.«

Pauls Ärger war wie weggeblasen. Die Haltung des Butlers ließ keinen Zweifel am Ernst der Lage. »Und mein Vater … weiß er davon?«

»Jedermann weiß es, Sir, und alle beten. Besonders die Kinder.«

Die Kinder, dachte Paul. Sie werden außer sich sein, wenn ihrer Mutter etwas geschieht. Unwillkürlich erstand Charmaines Bild vor seinem inneren Auge, doch er schüttelte solch profane Regungen ab. »Ich brauche ein Bad und muss mich umziehen und etwas essen. Und dann möchte ich meinen Vater sprechen.«

»Ja, Sir.« Travis nickte, sichtlich erleichtert, dass er etwas tun konnte. »Joseph wird sich um das Bad kümmern, Fatima richtet Ihnen etwas zu essen her, und ich sage Ihrem Vater Bescheid, dass Sie zurück sind.«

Paul war schon auf der Treppe, als ihm das Gerücht einfiel, das er sogleich bei seiner Ankunft auf Charmantes gehört hatte. »Travis, wo ist George?«

»Er hat die Insel vor drei Tagen an Bord der Rogue verlassen, Sir.«

»Wie bitte? Und warum?«

Travis erinnerte sich an Georges Anweisung: Sagen Sie das Paul oder Frederic nur, wenn sie ausdrücklich danach fragen. »Miss Colette hat ihn gebeten, einen Brief nach Virginia zu bringen.«

»Gütiger Gott im Himmel! Ist er denn übergeschnappt? Weiß mein Vater davon?«

»Nein, Sir. Er hat mich nicht danach gefragt.«

»Guter Gott«, fluchte Paul erneut, als ihm der ganze Umfang der Misere klar wurde. Georges Abwesenheit warf alle seine Pläne über den Haufen. Besonders der Fortschritt auf Espoir war gefährdet. Aber diese Gedanken waren rein gar nichts im Vergleich zu dem Unglück, das sie alle erwartete. Er rieb sich die Stirn, doch die Schmerzen wurden nur schlimmer.

Seine Gedanken waren bei Colette. Sie musste ihren Tod befürchtet haben, wenn sie George diesen Auftrag gegeben hatte. Aber warum? Welchen Nutzen erwartete sie außer Schmerz und Zerstörung für alle Beteiligten? Letzten Endes konnte es sogar den Zusammenbruch dieser wankenden Festung bedeuten … Paul schauderte.


So gut es ging, versuchte Charmaine, die Kinder abzulenken, doch sie waren nicht zu einem Versteckspiel zu be
wegen. »Komm von der Tür weg, Jeannette. Dein Vater ruft uns schon, wenn deine Mutter aufwacht.«

»Das hat er gestern auch gesagt, aber wir durften sie trotzdem nicht sehen.«

»Und am Tag davor nur zehn Minuten«, maulte Yvette.

Charmaine seufzte, weil ihr keine aufmunternden Worte mehr einfallen wollten. »Ich weiß, aber trotzdem müssen wir warten. Da eure Mutter Ruhe braucht, sollten wir sie ihr auch gönnen. Ihr wollt doch auch, dass sie wieder gesund wird, nicht wahr?«

Jeannette nickte, doch Yvette gab nicht so rasch auf. »Das hat man uns jetzt oft genug gesagt! Ich wette, Papa kommt auch heute nicht. Vor lauter Sorge um Mama hat er uns vergessen.«

Jeannette standen die Tränen in den Augen. »Glauben Sie das auch, Mademoiselle Charmaine? Er hat doch versprochen, dass wir Mama heute sehen dürfen.«

»Ich will sie auch sehen«, krähte Pierre und kroch unter dem Bett hervor, wo er sich bereits versteckt hatte. »Ich habe Sehnsucht nach Mama. Wann dürfen wir zu ihr?«

Charmaine hob ihn hoch und setzte ihn aufs Bett. »Jetzt hört mir einmal zu: Ich bin sicher, dass Dr. Blackford und auch euer Vater alles tun, um eure Mutter gesund zu machen. Aus diesem Grund müssen wir uns an das halten, was sie sagen. Und wenn eure Mutter euch sehen möchte, was sie ganz sicher will, dann seid ihr doch nicht vergessen, oder?« Als die Kinder die Köpfe schüttelten und die Tränen langsam versiegten, bat Charmaine die Kinder noch einmal um Geduld, woraufhin alle drei nickten.


Colettes Brust hob und senkte sich unter Schmerzen, und
ihr Atem ging so flach, als ob die Last der ganzen Welt sie niederdrückte. In einem Moment war ihr glühend heiß, und im nächsten schlotterte sie unter den feuchten Laken, die man gerade vor einer Stunde gewechselt hatte. Sie kämpfte wie eine Löwin und riss die Augen auf, als ihr eine kühle Kompresse auf die brennend heiße Stirn gedrückt wurde.

»Sch …«, flüsterte Rose Richards, »liegen Sie ganz still, Colette … versuchen Sie, nicht zu sprechen …«

Colette seufzte. Die alte Frau war wie eine Mutter zu ihr. Besser jedenfalls, als ihre Mutter jemals gewesen war. In ihrer Gegenwart fühlte sie sich geborgen. Die Zeit verging, und Rose wechselte immer wieder die Kompressen.

»Versuchen Sie zu schlafen, Colette«, redete Rose ihr gut zu. »Ein erholsamer ruhiger Schlaf …«

Doch die Worte bewirkten genau das Gegenteil. Colette öffnete die Augen. »Nana …«

»Sch … Sparen Sie Ihre Kräfte. Sie müssen nicht sprechen.«

Colette fuhr mit der Zunge über ihre aufgesprungenen Lippen. »Nan«, presste sie kaum hörbar hervor. »Ich muss es aber wissen … hat George …«

»Ja, Kind«, beruhigte sie die alte Kinderfrau. »George hat Charmantes vor ein paar Tagen verlassen und wird den Brief sicher ans Ziel bringen. Legen Sie sich zurück und schließen Sie die Augen. Sie müssen sich ausruhen.«

»Aber es ist wichtig … sehr wichtig …«

»Ja, ja, ich weiß!«

»Nein«, rief Colette, die einen beruhigenden Unterton gehört zu haben glaubte, und wollte sich aufrichten. »Ich will nicht noch mehr Schwierigkeiten machen.«

»Das haben Sie noch nie getan, Colette. Der Brief ist bei George in guten Händen und wird seinen Empfänger erreichen. Legen Sie sich wieder hin und schlafen Sie endlich.«

Erschöpft und sehr viel ruhiger sank Colette aufs Kissen zurück und schloss die Augen.


»Was, zum Teufel …«

Angesichts der weit geöffneten Terrassentüren und der kalten Kompressen, die Rose seiner Patientin auf die Stirn legte, geriet Robert Blackford außer sich. »Ich dachte, ich hätte klar genug gesagt, dass Miss Colette meine Patientin ist!«

Aber Rose Richards gab nicht klein bei. »Meine Mittel mögen Ihnen altmodisch erscheinen, Robert, aber Colette fühlt sich sehr viel wohler, als wenn sie in einem stickigen Raum eingeschlossen wäre.«

»Sie sind ja übergeschnappt. Außerdem habe ich alles versucht, wie Sie wissen. Sogar Schröpfköpfe.«

Roses Gedanken rasten. »Aber zur Ader gelassen haben Sie Mrs. Duvoisin noch nicht!«

»Natürlich nicht! Miss Colette ist viel zu schwach, um eine solch absurde Prozedur zu überstehen. Ihre Mittelchen helfen ebenfalls nicht. Wenn Sie mit dem Rosenkranz in die Kapelle gehen und beten, tun Sie ihr den größten Gefallen.«

Angesichts dieser ketzerischen Worte erbleichte Rose, und Roberts Wut schwand. »Es tut mir leid«, stotterte er. »Aber ich bin mit meinem Latein am Ende.«

So hatte Rose ihn bisher nur einmal erlebt … und zwar in der Nacht, als seine Schwester gestorben war. Der Gedanke erfüllte sie mit großem Kummer. »Colette erholt sich ganz bestimmt.«

»Aber die Blockade der Lunge ist es nicht allein, die ihr Leben bedroht. Der Rest ist eine Sache zwischen Colette und Frederic … und dem Priester.«

»Father Benito?«, fragte Rose beunruhigt.

Robert nickte mit ernster Miene. »Ja, Mrs. Duvoisin hat heute Morgen nach ihm verlangt. Er kam und ist erst vor ungefähr einer Stunde wieder gegangen. Vielleicht hat ihr sein Besuch neuen Frieden geschenkt.«

Frieden? Colettes verzerrtes Gesicht spiegelte keinen Frieden wider. Das mitreißende Lächeln war verschwunden, und ihr Gesicht war von tiefen Augenhöhlen und spitzen Wangenknochen gezeichnet.

»Lassen Sie es gut sein, Rose«, drängte der Arzt. »Sie schläft jetzt. Im Augenblick können Sie nichts für Colette tun. Gehen Sie lieber und beten Sie. Die Familie kann Ihren Beistand brauchen.«

Rose verließ den Raum und nickte Agatha bekümmert zu, als sie einander auf der Schwelle begegneten.


»Papa, dürfen wir Mama jetzt besuchen?«, fragte Jeannette sofort.

Frederic hinkte ins Kinderzimmer. »Im Moment schläft sie, Prinzessin, doch ich bringe dich hin, sobald sie aufwacht. Dr. Blackford weiß, dass ich hier bei euch bin«, fügte er schnell hinzu, weil er Yvettes Entgegnung bereits ahnte. »Sobald er mich ruft, gehen wir zu ihr.«

Die Kinder nickten.

»Was habt ihr denn heute gelernt?«, fragte er, um das Thema zu wechseln. »Womöglich kann ich Miss Ryan ja ein bisschen unterstützen?«

Zum ersten Mal freute sich Charmaine wirklich über seinen Besuch.


Er ist sicher bei Colette, dachte Paul, als er in den Räumen seines Vaters niemanden antraf. Er klopfte an die Tür zum Nebenzimmer. Agatha öffnete.

»Paul«, rief sie erfreut und schloss ihn in die Arme. »Du bist wieder zu Hause!«

Er ließ die ungewohnte Begrüßung über sich ergehen und gab nach, als sie ihn ins Zimmer zog. »Wo ist mein Vater?«

»Ich weiß es nicht. Ich dachte eigentlich, er sei in seinen Räumen.«

»Wie geht es Colette?«

Bekümmert sah sie ihn an. »Nicht gut, fürchte ich. Überhaupt nicht gut.«

»Kann ich sie sehen?«

»Ich halte das nicht für klug. Robert ist im Augenblick bei ihr …«

»Aber ich will sie sehen.«

Paul durchquerte den Salon und öffnete die Tür zum Schlafzimmer, ohne auf Agathas Protest zu achten. Er stand schon am Fuß des Betts, als Robert sich umsah. »Ich muss Sie bitten zu gehen«, befahl dieser in scharfem Ton. »Mrs. Duvoisin ist nicht in der Lage, Besucher zu empfangen.«

Paul achtete nicht auf ihn. Das Entsetzen war ihm ins Gesicht geschrieben, als er auf Colette hinuntersah. Zum Glück hatte sie die Augen geschlossen und musste sein Gesicht nicht sehen. Dann schlug sie die Augen auf, und er weinte fast, als sie ein Lächeln versuchte. »Guter Gott, Colette«, murmelte er erschüttert.

»Sehe ich wirklich so schrecklich aus?« Dem leisen Lachen folgte ein krampfhafter Hustenanfall.

»Raus«, kommandierte Robert. »Sie regen sie nur unnötig auf!«

»Nein«, bat Colette. »Bitte …« Der Rest ging in einem Hustenanfall unter.

»Ich sagte, Sie regen sie unnötig auf!«

Paul hörte nicht hin. Er ging um das Bett herum und zog Colette ein wenig hoch, damit sie besser atmen konnte. Ihre Haut glühte.

»Es geht mir schon besser«, flüsterte sie. »Ich würde gern etwas trinken.«

»Bitte, Paul, Sie müssen gehen!«

»Verdammt, geben Sie ihr lieber was zu trinken«, bellte Paul.

Agatha goss eilig ein Glas Wasser ein. Colette trank nur einen winzigen Schluck, bevor sie wieder in die Kissen sank. Kleine Schweißperlen erschienen auf ihrer Stirn. Paul wischte sie ab.

»Danke«, hauchte Colette und räusperte sich.

»Möchtest du sonst noch etwas?«

»Die Kinder … Robert weigert sich … aber ich möchte meine Kinder sehen …«

Paul nickte. »Ich hole sie.«

Als er in den Salon hinausging, folgte ihm Robert auf dem Fuß und schloss die Tür zwischen beiden Räumen. »Sie können das nicht tun. Sie ist nicht kräftig genug …«

»Was für ein Arzt sind Sie eigentlich, Robert?«, fuhr Paul ihn an. »Colette ist seit fast einem Jahr Ihre Patientin – und sehen Sie sie an!« Als Robert schwieg, schnaubte er verächtlich. »Gehen Sie mir aus dem Weg!«

»Das ist nicht meine Schuld«, brüllte Dr. Blackford ihm nach. »Colette hat eine Lungenentzündung! Ihre kleine Gouvernante hat sie in strömendem Regen zu einem Picknick mitgenommen. Sie hat sich erkältet, und ihre Lunge ist völlig verschleimt. Dagegen kämpft sie inzwischen seit einem ganzen Monat an.«

Wütend fuhr Paul herum, doch gleich darauf erstarb sein Zorn so rasch, wie er aufgeflammt war. Kopfschüttelnd verließ er das Zimmer.


»Warte einen Augenblick, Yvette«, sagte Charmaine, als sie zur Tür ging und öffnete.

»Miss Ryan«, begrüßte Paul die Gouvernante, die im Vergleich zu Colette wie das blühende Leben aussah.

»Paul«, rief Charmaine, aber dann fehlten ihr vor Überraschung die Worte.

Die anderen spitzten die Ohren, als sie ihren Aufschrei hörten. Selbst Frederic strahlte und ließ Pierre von seinem Schoß herunter. »Bitte, kommen Sie herein«, sagte Charmaine. »Wann sind Sie denn angekommen?«

»Vor etwa einer Stunde.« Er zauste Pierres Haar und umarmte Jeannette, die zu ihm herübergelaufen war.

Yvette blieb neben ihrem Vater stehen, der an ihrem Schreibtisch saß. »Mama ist sehr krank«, informierte sie Paul mit ernstem Gesicht, als ob es das Wichtigste sei, was im Augenblick zählte.

»Ich weiß, meine Süße. Sie hat nach euch gefragt. Möchtet ihr sie sehen?«

»Oh, ja«, riefen die Kinder im Chor.

»Aber sie hat hohes Fieber«, mahnte Paul. »Sie darf nicht viel sprechen, damit sie nicht hustet. Und wir dürfen nicht lange bleiben. Habt ihr das verstanden?«

Sie nickten eifrig.

Er hatte gerade Pierre auf den Arm gehoben, als Agatha mit aschfahlem Gesicht unter der Tür stand. »Es ist so weit. Robert fürchtet, dass es so weit ist.«


Tod … Das Wort hing in der Luft. Die versammelte Familie konnte es spüren, konnte es riechen und fühlen … und verinnerlichen. Doch vor den Geräuschen gab es kein Entkommen: Nicht vor Colettes gequältem Atem und dem hartnäckigen Husten und nun auch nicht vor der Trauer ihrer Liebsten. Vor der Endgültigkeit dieser Stunde schloss Charmaine die Augen.
Warum, in Gottes Namen, haben wir die Kinder hergebracht?

Nach dem harten Kampf war Colettes Schönheit nur noch Erinnerung. Eingesunkene Augen, raue Lippen, fahle Haut über abgemagerten Wangen und mattes Haar.

Yvette war die Erste, die der Wirklichkeit ins Gesicht sah. Mit kleinen Schritten ging sie zum Bett, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Ich bin hier, Mama«, sagte sie und nahm Colettes Hand.

Colette versuchte ein Lächeln.

Jeannette lief ihrer Schwester nach und fiel neben ihrer Mutter auf die Knie. Als Colette die Augen schloss, barg sie ihr Gesichtchen auf dem Laken und weinte.

»Weine nicht«, tröstete Colette sie und fand sogar die Kraft, um über Jeannettes Haar zu streicheln. »Ich bin glücklich …« Der Satz hing noch in der Luft, als sie erneut von einem Hustenanfall geplagt wurde.

Blackford drängte sich an Paul vorbei, der wie ein Posten auf Wache stand. »Die Kinder hatten Zeit genug«, drängte er. »Dieser Besuch bringt alle durcheinander. Vor allem Colette. Das ist nicht zu verantworten.«

Dieser Einwand war berechtigt, dachte Paul. Trotzdem konnte er Colettes gequälten Aufschrei nicht ignorieren: »Nein! Bitte! Noch einen Augenblick …« Er übergab Pierre an Charmaine und zog Robert beiseite. »Ich möchte, dass sie hierbleiben«, rief Colette heiser.

»Wir bleiben bei dir, Mama«, flüsterte Yvette, obwohl ihr die Tränen in der Kehle brannten. »Wir bleiben, solange du willst.«

Colette sah auf die haltlos schluchzende Jeannette hinunter. »Du sollst nicht weinen, meine Süße …«

»Ich … ich kann nicht anders«, heulte Jeannette. »Du darfst nicht sterben, Mama! Ich … ich erlaube das nicht! Ich liebe dich viel zu sehr!« Sie stand auf und umschlang ihre Mutter so fest, als ob sie das Gespenst des Todes er-drücken könnte.

Charmaine hielt den wimmernden Pierre umschlungen und war froh, sich an jemandem festhalten zu können. Sie drückte sein Köpfchen gegen ihre Brust und versuchte, ihn nach Möglichkeit vor dieser Lawine des Kummers zu schützen.

Rose trat aus dem Schatten hervor und beugte sich über Jeannette. »Komm, mein Liebling.« Mit tröstenden Worten löste sie die Arme des Mädchens. »Verabschiede dich jetzt von deiner Mutter.«

»Nein«, rief Jeannette und wehrte sich. »Ich lasse sie nicht allein!«

Colette wurde von einem heftigen Hustenanfall gepackt und kam überhaupt nicht mehr zu Atem.

Robert eilte an ihre Seite, zog sie in die Höhe und klopfte auf ihren Rücken, bis der Krampf endlich nachließ. »Sie kann die Qual nicht länger ertragen«, sagte er scharf und sah Jeannette vorwurfsvoll an, die vor Angst bis ans Ende des Betts zurückgewichen war.

»Es geht schon wieder«, keuchte Colette und rang nach Luft.

»Komm, Jeannette«, sagte Rose ruhig. »Du siehst, deine Mutter muss ausruhen. Gib ihr jetzt einen Kuss.«

Jeannettes Lippen ruhten lange auf Colettes Wange. »Mama? Ich liebe dich, Mama.«

Colette ergriff ihre Hand. »Und ich liebe dich«, murmelte sie und drückte die kleinen Finger.

Rasch wandte Jeannette sich ab und floh fast aus dem Raum.

Paul ging ihr nach.

Während Rose bereits auf sie zusteuerte, sah Yvette ihre Mutter unverwandt an. »Mama? Ist es dir recht, wenn ich jetzt gehe?«

Colette nickte. »Ich bin ja nicht allein … mein Kind. Ich bin immer hier … und auch bei dir.« Sie räusperte sich. »Yvette … passt du … passt du für mich … auf deinen Bruder und auf deine Schwester auf? Du bist ein starkes Mädchen. Versprich mir … versprich mir, dass ihr drei immer zusammenbleibt.«

»Das verspreche ich, Mama. Mach dir keine Sorgen.«

Mit Mühe zog Colette ihre Tochter in die Arme.

»Auf Wiedersehen, Mama«, stieß Yvette erstickt hervor. »Ich liebe dich!« Mit einem hastigen Kuss machte sie sich los und lief davon.

Colette wandte den Kopf zur Seite und schluchzte, ohne auf die Mahnungen ihres Arztes zu hören. Doch ihre Panik steigerte sich noch, als sie sah, dass Rose und Charmaine sich ebenfalls zum Gehen wandten. »Bitte!«, stöhnte sie fast unhörbar. »Bitte … meinen Sohn … ich möchte meinen Sohn halten.«

Keiner schien sie zu hören. Robert betupfte ihre Stirn, und Agatha flüsterte ihm etwas ins Ohr. Charmaine war schon fast aus dem Zimmer – und sie hatte ihren Sohn noch nicht geküsst. »Bitte!«, rief Colette verzweifelt.

An der Tür hielt Frederic Charmaine auf und ließ nur Rose hinausgehen. »Meine Frau möchte Pierre noch umarmen«, sagte er und nickte zum Bett hinüber.

Charmaine machte kehrt.

»Pierre!« Seufzend streckte Colette die Arme aus. »Pierre.« Sie lächelte, als Charmaine ihn aufs Bett setzte.

Doch ihre Freude erlosch, als der Kleine Angst bekam und lauthals gegen ihr zärtliches Streicheln protestierte. Er kletterte zum Rand der Matratze hinüber und streckte die Ärmchen nach Charmaine aus.

Diese Frau auf dem Bett kannte er nicht. Seine Mama war sanft und hübsch. Er kniete auf der Matratze und barg sein Gesichtchen in Charmaines Rockfalten.

Bekümmert schloss Colette die Lider, doch als sie die Augen wieder öffnete, waren Verzicht und Abschied darin zu lesen. »Charmaine«, hauchte sie und streckte die Hand aus.

Charmaine umschloss die zerbrechlichen Finger und drückte sie sanft.

»Sie werden … Sie werden für ihn sorgen?«

»Keine Sorge, Colette. Ich werde immer für Pierre und für die Mädchen da sein.«

»Und … Sie geben ihm … alle Liebe … die er braucht?«

»Aber ja, Colette. Ich liebe ihn wie meinen eigenen Sohn. Bitte, sagen Sie jetzt nichts mehr. Sie müssen unbedingt schlafen und ausruhen.«

»Aber er …!«, rief Colette, als ob Charmaine sie nicht richtig verstanden hätte. Wie besessen griff sie nach dem Jungen, weil sie Charmaine aufhalten wollte. »Er braucht Sie so sehr … er ist am verletzlichsten … Ich konnte ihm nie geben, was er …«

»Keine Sorge. Es wird ihm an nichts mangeln«, versprach Charmaine, während sie den Jungen hochnahm und mit der anderen Hand ihre Tränen abwischte.

Colette nickte und schloss erschöpft ihre Augen.

»Auf Wiedersehen, Colette«, sagte Charmaine leise, während sie die Umarmung des Jungen erwiderte. »Ich danke Ihnen für alles, was Sie mir gegeben haben, und am meisten danke ich Ihnen für Ihre Freundschaft.«

Colette ließ diese Erklärung in ihr Herz sinken. Lieben sie ihn, bat sie stumm.

Als sich die Tür hinter Charmaine geschlossen hatte, blieben drei Menschen zur Nachtwache im Raum zurück. Nach einer Weile durchbrach Frederics tiefe Stimme die Stille. »Lassen Sie uns allein.«

Robert starrte ihn an. »Aber, Frederic, dafür ist keine Zeit mehr.«

»Lassen Sie uns allein, Mann. Und zwar sofort. Ich sorge schon für meine Frau. Und jetzt hinaus mit Ihnen!«

Der Mund des Arztes klappte zu, und in weniger als einer Minute hatten er und seine Schwester das Schlafzimmer verlassen, das mit einem Mal sehr leer war. Leer … diese grausame Ironie. Würde sein Herz jedes Mal vor Schmerz überquellen, wenn er sich am leersten fühlte? Er hatte es nicht anders gewollt.


Es dauerte eine ganze Zeit, bis die Kinder endlich eingeschlafen waren. Paul, Rose und Charmaine bemühten sich nach Kräften. Pierre fielen zuerst die Augen zu, und irgendwann trocknete Charmaines zärtlicher Trost auch die Tränen der Mädchen. Nachdem Paul und Rose gegangen waren, sprachen sie noch eine ganze Zeit lang leise miteinander. Charmaine hatte zwar ihre Mutter verloren, aber vom Sterben wollte sie trotzdem nichts hören. »Eure Mutter schläft dort hinten in ihrem Zimmer«, sagte sie mehrmals. »Und wir geben die Hoffnung nicht auf. Es gibt schließlich auch Wunder. Wir sprechen jetzt unsere Gebete, und wir beten besonders zu St. Jude.«

Als die Mädchen endlich eingeschlafen waren, ging Charmaine nach unten in den Wohnraum, was lange nicht mehr vorgekommen war. Es stimmte sie froh, als sie Paul dort vorfand, auch wenn er offenbar mit Agatha, ihrem Bruder und Rose über Colettes Gesundheitszustand sprach. Agatha warf ihr einen verächtlichen Blick zu, doch Paul hieß sie in ihrer Runde willkommen.

»Wie ich soeben gesagt habe«, fuhr Dr. Blackford fort, »hatte Colette ihre Kräfte bereits eingebüßt, bevor sie sich die Lungenentzündung zuzog. Im Grunde konnte sie schon immer und kann sie auch heute noch diese Krankheit abwehren. Die nächsten vierundzwanzig Stunden werden es zeigen.«

»Und das heißt?«, fragte Paul scharf.

»Wenn sie durchhält, bis das Fieber nachlässt, hat sie vielleicht eine Chance.«

»Gibt es denn nichts, was Sie ihr noch verabreichen könnten?«

»Unglücklicherweise hat sie nur wenig gegessen, und das meiste auch wieder erbrochen. Darunter auch mein stärkstes Mittel.« Robert schüttelte den Kopf. »Nein. In diesem Kampf ist sie ganz allein auf sich gestellt. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen. Ich muss nach ihr …«

Aber Paul hielt ihn am Arm zurück. »Mein Vater ist im Augenblick bei ihr, Robert. Gönnen Sie den beiden einige Zeit unter vier Augen.«

Der Arzt sah auf Pauls Hand hinunter und machte sich ruckartig los. »Eine Stunde … Ich gebe ihm eine Stunde.« Mit diesen Worten ging er hinaus.

»Paul«, setzte Agatha an, »Robert hat alles versucht. Wirklich alles. Ich kann bezeugen, wie viele Stunden er an Colettes Bett verbracht hat. Er hat sogar seine anderen Patienten vernachlässigt, um rund um die Uhr hier sein zu können.«

Paul rieb seinen Nacken. »Davon bin ich überzeugt.«

»Agatha hat recht«, bestätigte Rose. »Robert hat getan, was in seiner Macht stand.«

»Dabei ist alles nur meine Schuld«, erklärte Charmaine bekümmert. »Vor einem Monat hat sich Colette so gut gefühlt, dass ich ein Picknick vorgeschlagen habe. Wenn wir vor dem Gewitter nach Hause gekommen wären, hätte sie sich nicht erkältet.«

»Ganz genau«, stieß Agatha voller Verachtung hervor. »Dass eine ausgebildete Kraft wie Sie eine so schwache Patientin zu einem so weiten Ausflug überredet, übersteigt meine Vorstellungskraft.«

»Überredet?«, wandte Paul ein. »Wenn Colette sich nicht wohl genug gefühlt hätte, hätte sie so viel Verstand gehabt, um zu Hause zu bleiben. Und was Charmaine angeht: Wie hätte sie ein solches Unwetter vorhersehen können? Nein, hier ist niemandem ein Vorwurf zu machen. Ich überlege nur, ob wir wirklich nicht mehr tun können. Colette ist eine junge Frau mit drei Kindern, die am Boden zerstört wären, sollte sie …« Er mochte den Gedanken gar nicht zu Ende denken.

Mit beleidigter Miene verließ auch Agatha den Raum.

Paul sah Rose an. »Ich habe sehr viel mehr Zutrauen in Ihre bewährten Hausmittel als in alle Medizin, die Robert Blackford ihr verabreicht. Wenn Sie bereit sind, die Nacht über an Colettes Bett zu wachen, werde ich ihm verbieten, auch nur einen Fuß in ihr Zimmer zu setzen – außer man ruft ihn.«

»Ob ich helfen kann, weiß ich zwar nicht, aber ich wäre natürlich froh, wenn ich bei ihr wachen dürfte«, sagte Rose und erhob sich.

Paul nickte und sah ihr nach.

Wehmütig ruhte Charmaines Blick auf ihm. Sie hatte so sehr auf seine Rückkehr gewartet, aber natürlich hatte niemand geahnt, welche Situation er anträfe. »Ohne Sie war es hier einfach schrecklich.«

Trotz aller Sorgen lächelte er. »Also haben Sie mich vermisst?«

»Ich habe das Gefühl, als ob mit Ihrer Abreise das Elend über Colette hereingebrochen wäre.«

»Aber damals war sie doch noch nicht krank, oder?«

»Aber auch nicht wirklich gesund«, erwiderte sie. »Von Weihnachten an ging es mit ihrer Gesundheit ständig bergab. Zu Anfang kam Dr. Blackford zweimal in der Woche, doch von da an besuchte er Colette jeden zweiten Tag. Manchmal ging es ihr besser, und alle schöpften Hoffnung, aber dann erlitt sie doch wieder einen Rückfall. Schließlich zog sie sich diese ›Lungenentzündung‹ zu. Von da an kam Dr. Blackford fast täglich. Es war eine entsetzliche Quälerei – nicht zuletzt auch für die Kinder.«

»Wenigstens haben die Kinder Sie. Colette ist eine kluge Frau. Sie hatte damals genau den richtigen Blick.«

Verlegen senkte Charmaine die Augen, doch Paul sprach einfach weiter. »Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Colette war schon längere Zeit geschwächt. Sie hätte Pierre niemals bekommen dürfen …«

Seine Worte blieben in der Luft hängen, während er ins Leere starrte …

»Ich muss nach den Kindern sehen«, sagte Charmaine. »Sie schlafen heute Nacht sicher sehr unruhig.«

Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Genau, und ich knöpfe mir Robert vor. Zumindest heute Nacht muss er Colette mit seiner Medizin verschonen.«

Frederic betupfte Colettes Stirn mit einem feuchten Tuch.

Ihre Lider flatterten. »Du musst nicht hierbleiben …«

»Ich möchte es aber«, fiel er ihr ins Wort. »Schließ die Augen, Colette, und ruh dich aus.«

Aber sie hielt den Blick auf ihn gerichtet. Als er sich zu der Waschschüssel umdrehte, bebten ihre trockenen Lippen. »Bitte … versprich mir, dass du Charmaine nicht wegschickst, wenn ich …«

Frederic fuhr herum, und sein tadelnder Blick erstickte die schrecklichen Worte.

»Bitte, Frederic … versprich es mir«, fuhr sie stattdessen fort.

»Wenn du die Augen schließt, verspreche ich dir alles. Charmaine war und ist in diesem Haus stets willkommen. Um sie musst du dir keine Sorgen machen.«

Beruhigt schloss Colette die Augen.

Mit großer Mühe zerrte Frederic den schweren Lehnstuhl ans Kopfende des Betts. Dort saß er lange, wechselte hin und wieder die Kompressen, sobald sie zu warm wurden, und dankte Gott für jeden Augenblick der Ungestörtheit.

Nach langer Zeit wich die Hitze allmählich, und als Frederic glaubte, dass Colette eingeschlafen sei, riss sie plötzlich die Augen auf und zitterte am ganzen Leib. Frederic war ratlos. In seiner Hilflosigkeit stand er auf, ging um das Bett herum und legte sich auf die Matratze. Dann zog er Colette in seine Arme und steckte die Decke rund um ihren Körper fest. Kurz darauf ließ das Zittern nach. Ihr rechter Arm ruhte auf seiner Brust, und irgendwann fühlte er, wie sich der andere um seinen Körper schlang. Er rutschte näher und zog sie noch enger an sich. Während er ihr übers Haar strich, atmete sie zusehends leichter und ruhiger, und er spürte, dass sie endlich einschlief.

Während die Minuten verrannen, dachte er an all das zurück, was sie von Beginn an gemeinsam erlebt und was sie an genau diesen Punkt in ihrem Leben geführt hatte. Die Hitze, die von ihren Wangen, ihren Brüsten, ihrem Bauch und ihren Beinen ausstrahlte, wärmte ihn durch die Kleidung hindurch und erfüllte seinen Körper mit einem Gefühl der Freude.

Die Tür quietschte ein wenig, als Rose auf Zehenspitzen ins Zimmer geschlichen kam. Mit einem Blick umfasste sie das Paar auf dem Bett, und als Frederic warnend den Finger auf die Lippen legte, nickte sie nur und zog sich geräuschlos auf das Sofa im Salon zurück. Ein sanfter Friede überkam sie, und sie fragte sich, ob Gott dieses ungeheuerliche Leid nur geschickt hatte, um den Schmerz zu beenden, mit dem sich die Familie während der letzten Jahre gequält hatte. Zum ersten Mal seit Jahren schöpfte Rose wieder Hoffnung.

Auch Frederic überkam große Zufriedenheit. Er küsste seine Frau aufs Haar, legte seinen Kopf neben ihren auf das Kissen und schlief ein.

Freitag, 7. April 1837

Der Morgen dämmerte strahlend schön herauf. Der Sturm hatte Charmantes blank gefegt, und derselbe Glanz herrschte auch in den Räumen der Hausherrin. Colette ging es deutlich besser.

Als sie aufwachte, lag ihr Kopf auf Frederics Brust, und seine Arme hielten sie umfangen, während er leise schnarchte. Das Nachthemd klebte ihr am Körper, aber sie fühlte sich in der Wärme der Umarmung geborgen und schmiegte sich noch ein wenig näher an ihn. Diese Bewegung und ihr leiser Husten weckten ihn, doch bevor er noch etwas sagen konnte, drückte sie ihn an sich. Zärtlich strich er ihr über die Brauen und streichelte ihre Wangen.

Ihre Haut fühlte sich kühl an. In stummem Gebet schloss Frederic die Augen und dankte Gott, dass er sein Versprechen erhört hatte. In Zukunft wollte er keine einzige Sekunde seiner Zeit mit dieser Frau mehr verschwenden.

Es klopfte, doch als er sich bewegen wollte, hielt Colette ihn fest. Er lächelte auf sie hinunter.

»Sag allen, sie sollen gehen«, flüsterte sie.

Seine Finger umfassten ihr Kinn und drückten ihren Kopf tiefer in seine Armbeuge. Dann beugte er sich über sie und küsste ihre aufgesprungenen Lippen. Als er sich von ihr löste, verzog sie das Gesicht.

»Ich werde dich keine Sekunde mehr allein lassen, ma précieuse«, versprach er. »Nie mehr.«

Die vertraute zärtliche Anrede, die sie so lange Jahre nicht mehr gehört hatte, trieb ihr die Tränen in die Augen.

Rose und Paul schauten durch die Tür. »Wie geht es ihr?«

»Besser«, antwortete Frederic. »Das Fieber hat während der Nacht den Höhepunkt überschritten.«

»Gott sei Dank.«

Frederic nickte. »Rose, könnte Fatima vielleicht eine Brühe zubereiten? Etwas Leichtes? Colette hat seit Tagen nichts mehr gegessen. Und du, Paul, kannst den Kindern ausrichten, dass sie ihre Mama später am Vormittag besuchen dürfen. Der gestrige Abend war schrecklich für sie.«

»Und was ist mit dir?«, fragte Paul. »Wie geht es dir? Möchtest du nicht auch etwas essen? Oder dich ein bisschen ausruhen?«

Frederic schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich ganz wunderbar. Ich bleibe genau hier, wo ich bin.«

Verwirrt runzelte Paul die Stirn. Eigentlich müsste sein Vater müde sein, aber stattdessen strotzte er vor Energie und schien sichtlich erleichtert zu sein. Rose schien es ebenfalls bemerkt zu haben, denn als sie sich zurückzogen, summte sie leise vor sich hin.

Schon auf dem Gang kehrten Pauls Gedanken wieder zu seinen Pflichten zurück. Womöglich konnte er sogar die angeworbenen Männer gleich heute, wie verabredet, auf die Insel Espoir bringen und musste die Sache nicht aufschieben, wie er anfangs befürchtet hatte.

Charmaine und die Kinder saßen gerade beim Frühstück, als er ihnen die wunderbare Nachricht überbrachte. Die Zwillinge waren sofort wie ausgewechselt und schmiedeten bereits Pläne. Doch Charmaines Freude ebbte ein wenig ab, als Paul erwähnte, dass er den restlichen Tag und die kommende Nacht auf Espoir verbringen würde. Da es Colette besser ging, wollte er wenigstens seine Männer auf die Insel übersetzen, damit sie sich häuslich einrichten konnten. Doch nach dem Alptraum seiner dreimonatigen Abwesenheit fürchtete Charmaine, dass es vielleicht Folgen nach sich zog, wenn Paul die Familie so schnell wieder verließ.

Als Agatha und Robert das Speisezimmer betraten, wuchs ihre Angst noch, denn ihre ernsten Mienen überschatteten die Freude der Kinder.

Paul lehnte sich zurück und sah Robert entgegen. »Das Fieber ist gesunken.«

Überrascht schossen Blackfords Brauen in die Höhe. »Muss ich mich vielleicht bei Rose Richards für ihre pflegerischen Fähigkeiten bedanken?«

»Das ist unnötig, da sich mein Vater um Colette gekümmert hat. Wie man sieht, hat sie nur ihn gebraucht.«

»Ich möchte ausdrücklich vor übereilter Freude warnen«, bemerkte Robert. »Wir haben immer wieder Besserungen erlebt, doch unsere Hoffnungen wurden regelmäßig enttäuscht.«

Paul merkte, dass die Kinder aufmerksam lauschten. »Diesmal wird sie sich vollkommen erholen, Robert«, erklärte er beinahe drohend.

Doch der Arzt schnaubte nur. »Was ist für heute Morgen vorgesehen?«

»Als ich ging, bereiteten Gladys und Millie gerade das Bad vor, und Fatima kümmert sich um ein leichtes Essen.«

»Ein Bad? Sind Sie verrückt geworden? Selbst wenn das Fieber gesunken ist, könnte Colette sich erneut erkälten und schlimmer erkranken als je zuvor.«

Paul zuckte die Schultern. »Sie möchte aber baden.«

Robert rieb seine Stirn. Dann warf er seiner Schwester einen flehentlichen Blick zu, weil ihn niemand unterstützte. »Und das Essen? Hoffentlich eine Suppe oder eine Brühe?«

»Genau das, denke ich, aber diese Frage kann Fatima sicher besser beantworten.«

Die Köchin eilte geschäftig hin und her und bereitete gleichzeitig zwei Tabletts vor. Wenn ihre Herrin Hunger hatte, galt dasselbe auch für ihren Herrn, wie sie Rose erläuterte.

Rose konnte dem nur zustimmen und legte Servietten und Besteck auf das Tablett. »Es geht ihr sehr viel besser, Robert«, sagte sie, als der Arzt und seine Schwester in die Küche kamen. »Sie will sogar etwas essen.«

»Das habe ich gehört.« Dr. Blackford verfolgte, wie die Brühe in die Tasse geschöpft, der Toast gebuttert und der Kaffee eingeschenkt wurde. »Ich nehme es«, sagte er und griff nach Colettes Tablett. Fatima nickte und wollte nach Felicia oder Anna läuten. »Das ist nicht nötig. Agatha begleitet mich. Sie kann Frederics Tablett tragen.«

Fatima hielt die Tür auf, damit Bruder und Schwester unbeschadet hinausgelangten.

Frederic aß fast alles auf, was ihm vorgesetzt wurde, doch Colettes Essen musste noch ein wenig warten. Seine Frau befände sich noch in der Wanne, erklärte er Robert und Agatha. Anschließend wolle er dafür sorgen, dass sie etwas aß. Später wolle Colette dann ungestört ausruhen.

Agatha eilte ungehalten zur Tür, und Robert warnte Frederic noch einmal eindringlich, den Leichtsinn nicht noch zu unterstützen. »Ihre Konstitution ist überaus empfindlich, Frederic. Wir wissen beide, dass sie auch früher schon Rückfälle erlitten hat. Ein Bad in diesem Zustand ist nicht zu verantworten. Sie werden noch an mich denken: Noch bevor es Abend wird, wird das Fieber wiederkehren. Wenn Sie klug sind, bestehen Sie darauf, dass sie ein wenig isst und sich dann ausruht.«

Frederic nickte nur, sagte aber nichts.

»Ich bleibe auf jeden Fall im Haus, falls ich gebraucht werde«, fügte Blackford noch hinzu.


Gladys und Millie stützten Colette, als sie aus dem Wasser stieg und die wenigen Schritte bis zum Lehnsessel ging, wo die beiden ihr beim Ankleiden behilflich waren. Obwohl sie zitterte, war sie froh, endlich von Kopf bis Fuß sauber zu sein.

Millie löste und bürstete die verklebten Haarsträhnen. »Das Fieber hat Ihrem Haar übel mitgespielt, Miss Colette«, sagte die Kleine – und fing sich einen tadelnden Blick und ein Kopfschütteln ihrer Mutter ein. Unter allen Umständen wollte Gladys verhindern, dass Colette nach einem Spiegel verlangte, um ihr elendes Aussehen zu betrachten. Im Moment waren aufmunternde Worte sehr viel wichtiger.

Sie hatten gerade das Bett frisch bezogen, als Frederic wieder hereinkam. Millie sah nervös zu Boden, aber Gladys knickste und lächelte. »Ich werde Joseph heraufschicken, um die Wanne zu holen, Sir.« Damit schob sie ihre Tochter aus dem Zimmer. »Brauchen Sie sonst noch etwas, Sir?«

»Würden Sie uns bitte das Tablett hereinbringen?«

Gladys gehorchte und entfernte sich dann rasch.

Mit liebendem Blick sah Frederic seine Frau an. »Fatima hat dir etwas zu essen hergerichtet. Denkst du, dass du ein wenig Brühe verträgst?«

Lächelnd nickte sie. Ihre Züge wirkten angestrengt, doch heute nahm Frederic zum ersten Mal wieder das Leuchten wahr, das er so lange Jahre vermisst hatte. In seinen Augen war Colette wunderschön.

Sie biss ein winziges Stückchen Toast ab und kaute mit großer Mühe. Doch als sie nach dem Löffel greifen wollte, gehorchten ihre Finger nicht. »Meine Hände fühlen sich taub an.«

Frederic zog seinen Sessel näher ans Bett und nahm ihr den Löffel aus der Hand. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das noch erleben würde«, scherzte er. »Oder lässt du mich nur glauben, dass ich der Stärkere bin?«

»Wir sind vielleicht ein Paar.« Sie lachte leise, was augenblicklich einen Hustenanfall nach sich zog, den sie vergeblich zu unterdrücken suchte. Als es vorbei war, war sie völlig erschöpft. »Ich fürchte, es dauert noch ein wenig, bis es mir wieder besser geht.«

»Das ist nicht wahr. Du hast dich schon gebessert. Und von heute an pflegen wir uns gegenseitig, bis wir wieder stark sind.«

Frederic führte den Löffel an ihre Lippen, doch die Brühe war inzwischen kalt geworden. Joseph musste das Tablett in die Küche bringen, um Brühe und Kaffee noch einmal aufzuwärmen. In der Zwischenzeit ermunterte Frederic seine Frau, die frische Luft auf der Veranda zu genießen, und ließ ihren Sessel in die warme Morgensonne rücken. Dort trafen die Kinder ihre Mutter, als sie zu Besuch kamen.

»Mademoiselle hat recht behalten«, rief Jeannette und lachte. »Es gibt wirklich Wunder! Heute Abend müssen wir uns bei Jesus und Maria bedanken. Aber vor allem bei St. Jude.«

Lächelnd sah Frederic seine Töchter an und freute sich an ihrem Glück. Dann fiel sein Blick auf Pierre, der still neben seiner Mutter saß und sich über das Haar streicheln ließ. Heute ohne Geschrei und ohne Protest. Ja, der Junge schien die Frau sogar zu erkennen, die sich über ihn beugte und ihn aufs Haar küsste. Frederic hatte ebenfalls Grund genug, um Gott für alles danken.

Als man Colettes Tablett brachte, erinnerte Charmaine ihre Schutzbefohlenen an den Unterricht. »Kommt jetzt, Kinder, wir müssen lernen. Außerdem ist es wichtig, dass eure Mutter in Ruhe isst und sich dann ausruhen und erholen kann.«

»Ihr könnt ja morgen wiederkommen«, fügte ihr Vater noch ermunternd hinzu.

Gehorsam gaben die Kinder ihrer Mutter einen Kuss zum Abschied und liefen dann glücklich über die Veranda zurück ins Kinderzimmer. Dieses Mal war die Brühe heiß, und der Kaffee duftete himmlisch.

»Sehr gut«, flüsterte Frederic, als Colette die letzten Tropfen schlürfte und sich wunderte, wie viel sie gegessen hatte. »Jetzt wird es Zeit, dass du ins Bett kommst und ein Nickerchen hältst. Ich werde Rose bitten, bei dir zu wachen, und ruhe mich ebenfalls ein bisschen aus.« Als er sah, wie sich ihre Augen weiteten, fügte er hinzu: »In spätestens einer halben Stunde bin ich wieder da. Agatha und Robert werden dich heute nicht drangsalieren, weil ich es ihnen ausdrücklich verboten habe.«

»Ich danke dir.«

Sanft zog er sie aus dem Sessel hoch und in seine Arme. Ihr Körper fühlte sich weich und anschmiegsam an und weckte zarte Gefühle. Zum ersten Mal seit Jahren küsste er sie, wie ein Mann seine Frau küsst, und die sachte Umarmung erblühte zu ungeahnter Leidenschaft, als seine Lippen die ihren öffneten.

Sie klammerte sich an ihn, weil ihr vor Aufregung schwindelte, wegen seines Geruchs, seiner Berührungen und seines ganzen Seins. Langsam wanderten seine Lippen über ihre Wange und weiter bis zu ihrem Hals, wo er das Gesicht in ihrem Haar vergrub und dicht an ihrem Ohr Zärtlichkeiten flüsterte.

»Ich liebe dich, Colette. Ich habe dich immer geliebt.«

Sie dachte an das letzte Mal, als sie die Worte gehört hatte, und vergrub vor Freude wimmernd ihr Gesicht in seinem Hemd.

Im Bett dachte sie an den Brief, den sie geschrieben hatte, und überlegte, ob sie das Richtige getan hatte. Aber eine Stimme in ihrem Inneren bestätigte, dass sie recht getan hatte. Erleichtert schloss sie die Augen und sank in friedvollen Schlaf.


Frederic hatte sich kaum angezogen, als wie wild an der Tür seines Ankleidezimmers geklopft wurde. Travis öffnete. Draußen stand Gladys mit aschfahlem Gesicht. »Schnell – Miss Colette geht es wieder schlecht!«

Frederic war überaus dankbar, dass Robert Blackford im Haus geblieben war, und ließ ihn augenblicklich rufen. Gleichzeitig verfluchte er sich dafür, dass er den Rat des Arztes missachtet hatte. Das Fieber war wieder aufgeflammt, und Colette musste sich unter Krämpfen erbrechen. Was war geschehen? Frederic wusste es: das Bad, die Brühe auf leeren Magen und der Ausflug auf die Veranda.

Dr. Blackford versuchte, Colette einen Löffel seiner Medizin einzuflößen, doch sie gab das Elixier sofort wieder von sich und krümmte sich vor Schmerzen. Beklommen schüttelte der Arzt den Kopf und musterte Frederic voller Verachtung. Und dieser war froh, dass er Roberts »Ich habe Sie ja gewarnt« nicht hören musste.

Rose nahm erneut ihren Platz am Kopfende ein und kühlte Colettes glühende Stirn mit feuchten Tüchern. Agatha ließ Gladys den Nachttopf leeren und weitere Laken und frisches Wasser holen.

Frederic sank auf den nächstbesten Lehnstuhl und barg den Kopf in den Händen. Ein Rückfall … Wie oft hatte Colette das im letzten Jahr erleben müssen? Sehr oft, aber nie so heftig wie dieses Mal. Die Rückfälle schienen unausweichlich zu sein. Warum also habe ich das Schicksal versucht?

Der Tag verging, aber Colettes Zustand besserte sich nicht. Sie hustete häufig und bekam kaum Luft. Sie hatte nicht genug Kraft, um sich aufzurichten. Ja, man musste sie sogar stützen, wenn ihr übel wurde. Ihr schwindelte, sie beschmutzte das Bett und verfiel immer wieder in unruhigen Schlummer, in dem sie seltsame Worte und Namen hervorstieß …

Frederic untersagte allen, die Kinder zu verständigen und ihnen den glücklichen Nachmittag zu verderben. Doch als niemand zum Abendessen erschien, wurde Charmaine unruhig. Keine Rose, keine Agatha und auch kein Robert Blackford, obwohl sich alle im Haus befanden. Wenn doch nur Paul endlich nach Hause käme …


Als der Abend dämmerte, senkte sich eine friedliche Stille über das Krankenzimmer. Das Erbrechen ließ nach, aber das Fieber blieb. Die beiden Frauen und Männer wichen nicht von Colettes Seite und wachten gemeinsam. Als die Uhr im Foyer neun schlug, unterbrach Frederics Stimme die Stille. »Ich möchte, dass Sie jetzt gehen, etwas essen und Sie sich dann ausruhen. Colette schläft ruhig, Robert. Falls ich Sie brauche, werde ich unverzüglich Travis schicken.«

Die drei nickten, weil sie wussten, dass sie im Moment nichts tun konnten. Womöglich würde diese Nacht ja genauso friedlich verlaufen wie die letzte.

»Bei der geringsten Änderung, ganz gleich, in welche Richtung sie geht, will ich sofort gerufen werden. Und keine altmodischen Methoden mehr! Colette ist meine Patientin, und ich werde sie, so Gott will, auch wieder gesund machen.«

Schweren Herzens nickte Frederic. »Alles, was Sie sagen, Robert.«

Als er allein war, hinkte er zum Bett hinüber. Heute Morgen hatte er sich jung und kräftig gefühlt, doch heute Abend war er wieder der alte Krüppel. »Colette?«, sagte er vorsichtig, als die Matratze unter seinem Gewicht nachgab. Er ergriff ihre fieberheiße Hand. »Colette?«

Mit glasigen Augen sah sie ihn an, und er verriet, dass sie jedes Wort gehört hatte. Ihr prüfender Blick erschreckte ihn. Als ob sie ihm bis ins Herz sehen und sich vergewissern wollte, ob die Stunden mit ihm Wirklichkeit gewesen waren. Die Tränen quollen ihm aus den Augen.

»Ich liebe dich auch«, flüsterte sie.

Er war verblüfft … und der Schmerz zerriss schier seine Brust. »Himmel, Colette! So viele Jahre lang habe ich auf diese Worte gewartet. Warum sagst du sie erst jetzt?«

»Ich dachte immer, dass ich dich hasse«, stieß sie hervor. »Meinem verletzten Stolz zuliebe wollte ich dich hassen … Ich war eine Närrin, Frederic. Später dann, als es mir klar wurde, als ich es dir sagen wollte, dachte ich, dass es zu spät sei … Ich dachte, dass du mich verachtest.« Sie weinte ebenfalls, und ihre Augen schwammen in Tränen. »Es tut mir leid, Frederic. Kannst du mir verzeihen?«

Sie mühte sich, seinen Arm zu fassen, presste die Hand auf den Mund, aber dann sank ihre Hand herab. Er fing sie auf und drückte ihre Finger an seine Lippen. »Nur wenn du mir verzeihst«, bat er mit heiserer Stimme.

»Das habe ich schon vor langer Zeit getan.«

Sie sehnte sich danach, dass er sie wieder in die Arme nahm. Und doch wusste sie, dass sie ihm etwas sagen musste, was ihn für immer von ihr entfernen würde. »John«, hauchte sie mit all ihrem Mut, »er braucht deine Liebe sehr viel mehr als ich … Ich sorge mich so sehr um euch, Frederic, dass ich nicht gesund werden kann. Bitte, versprich mir …«

»Sch … sch …«, zischte er nur leise und legte den Finger auf die Lippen. »Ich liebe ihn ebenso sehr, wie ich dich liebe, Colette. Die Vergangenheit ist vorüber. Lass uns in die Zukunft schauen … und zwar zusammen.«

Der Hass von gestern war vergangen. Heute herrschte die Liebe, und zum ersten Mal in ihrem Leben fürchtete sich Colette nicht vor dem kommenden Tag. Sie schloss die Augen und spürte, wie tiefe Ruhe sie überkam. »Halt mich so fest, wie du mich letzte Nacht umarmt hast«, bat sie. »Ich möchte deine Arme um mich spüren.«

Frederic streifte die Kleider ab und legte sich neben seine Frau aufs Bett. Und wie in der Nacht zuvor brannte sie fieberheiß in seinen Armen und zitterte, sobald kühle Luft unter die Decke geriet. Sie klammerte sich an ihn und liebkoste seine Brust. Sie genoss die Wärme seines Körpers, der neben ihr augestreckt lag, und seine starken Arme, die sie umfasst hielten. Während er sie aufs Haar küsste, glitt seine Hand über ihren Kopf, ihre Schultern und ihren Rücken. Glücklich schloss sie die Augen. Gibt es eine bessere Art, diese Welt zu verlassen?, fragte sie sich, ein Dankgebet auf den Lippen. Und dann sanken sie in friedvollen Schlummer, aus dem Colette nicht mehr erwachte.