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Mittwoch, 28. September 1836

Die Arbeit an der neuen Tür begann früh am nächsten Morgen. Das Geräusch von splitterndem Holz hallte durchs Haus und alarmierte alle, die sich am Frühstückstisch versammelt hatten. Die Zwillinge ließen die Löffel fallen und rannten trotz der Ermahnungen ihrer Mutter einfach aus dem Zimmer. Charmaine und Colette folgten ihnen ins Kinderzimmer und starrten ebenfalls mit großen Augen auf das gähnende Loch in der Wand und den Schutt auf dem Fußboden.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Colette, als Nana Rose und Pierre neben ihr standen.

George steckte den Kopf durch die Öffnung. »Das wird die neue Tür.«

»Die neue Tür?« Colette wurde immer ärgerlicher. »Welche Tür denn?«

»Die Tür, die ich in Pauls Auftrag hier einbauen soll.«

»Und warum sollte Paul dich um so etwas bitten?«

George sah Charmaine an. »Zum Wohl der Kinder. Paul ist der Meinung, dass Miss Ryan näher bei den Kindern schlafen soll, und hat ihr deshalb diesen Raum gegeben – und die Tür soll den Weg in der Nacht noch einfacher machen.«

»Aber dies ist Johns Zimmer!« Colette war wütend. »Das kannst du doch nicht einfach zerstören.«

»Ich denke nicht, dass ich es zerstört habe. Außerdem war das Ganze nicht meine Idee. Ich führe nur aus, was man mir aufgetragen hat.«

»Und was soll werden, wenn John nach Hause kommt?«

»Er kommt nicht, Colette, und das weißt du.«

»Aber eines Tages vielleicht doch«, murmelte sie, als der erste Ärger verraucht war. »Es wird ihn kränken, wenn jemand anderer in seinem Zimmer wohnt.«

Jeannette ergriff die Hand ihrer Mutter. »Reg dich nicht auf, Mama. Wir haben so viele Zimmer. Johnny macht es bestimmt nichts aus, woanders zu wohnen. Ich finde es schön, wenn Mademoiselle Charmaine so nahe bei uns ist. Vielleicht ist das ja unsere Geburtstagsüberraschung von Paul.«

Colette lächelte auf ihre Tochter hinunter. »Mag sein, dass du recht hast. Ich bin allerdings gespannt, was dein Vater sagt, wenn er dieses Chaos sieht.«

»Laut Paul hat er die Sache genehmigt«, sagte George.

Colette rieb sich die Stirn. »Das kann ich mir sogar vorstellen.« Sie wandte sich an die Mädchen. »Geht ein bisschen zur Seite, Kinder. George braucht Platz zum Arbeiten.«

»O bitte, Mama, dürfen wir zuschauen?«, bettelten sie.

Colette war unter der Bedingung einverstanden, dass sie sich auf dem Bett am anderen Ende niederließen. Die nächste Stunde verging mit angeregtem Geplauder, während George, Travis und Joseph sägten, hämmerten und Holzreste und Mörtel beseitigten, die überall herumlagen. Als Pierre genug hatte, zogen sich Colette und Charmaine mit ihm ins benachbarte Spielzimmer zurück. Rose entschuldigte sich, weil ihre Hilfe nicht länger gebraucht wurde.

Charmaine holte tief Luft. »Es tut mir leid, Colette, dass Paul nicht zuerst mit Ihnen gesprochen hat. Ich hatte keine Ahnung, dass er die Arbeiten sofort in Auftrag geben wollte. Ich hätte darauf bestehen sollen, dass er zuerst Ihre Erlaubnis einholt.«

Colette war sichtlich betroffen. »Sie wussten davon?«

»Paul hat es gestern Abend kurz erwähnt. Er hat vorgeschlagen …«

»Gestern Abend? Er ist doch gestern Abend erst spät nach Hause gekommen.«

Charmaine war zu überrascht, um etwas zu sagen, und Colette zog ihre Schlüsse daraus.

»Charmaine«, begann sie und hob die gefalteten Hände an die Lippen. »Ich denke, dass ich Sie vor Paul warnen sollte. Vielleicht hätte ich das schon früher tun sollen. Paul ist ein Schürzenjäger.« Als Charmaine den Kopf sinken ließ, war Colette bemüht, ihre Worte ein wenig abzumildern. »Ich möchte nicht, dass Ihnen wehgetan wird.«

»Seien Sie unbesorgt, Colette. Ich werde keine Schande über Ihr Haus bringen.«

»Ich spreche nicht von Schande, Charmaine. Ich will nur verhindern, dass Sie Ihr Herz an jemanden hängen, der nicht beabsichtigt, Ihre Gefühle zu erwidern.«

Die Worte schmerzten, aber Charmaine wusste, dass es die Wahrheit war. Ihr erster Eindruck war richtig gewesen. Paul hatte ihr einen Antrag gemacht, doch als sie sich nicht überreden ließ, hatte er die ganze Sache als Missverständnis hingestellt. Ihre Mutter hatte sie oft vor dieser Art von Männer gewarnt, und nun tat Colette genau dasselbe. Paul wollte nur das eine – und »Freundschaft« war das nicht. Und Liebe erst recht nicht.

»Ich werde mich vorsehen«, versprach sie. Und dann: »Falls Sie nicht möchten, dass ich in diesem Zimmer …«

»Unsinn, Charmaine! Ich halte Ihren Umzug sogar für eine gute Idee. Und der Schaden an der Wand ist ohnehin schon geschehen.«

Charmaine dachte an den Sohn der Familie, den sie noch nicht kannte, und an die seltsame Reaktion, die allein die Erwähnung seines Namens heute Morgen ausgelöst hatte. Dabei fiel ihr Yvettes Brief ein. Am besten brachte sie das Thema sofort zur Sprache, statt es noch länger hinauszuzögern. »Yvette möchte so gern ihrem Bruder in Richmond schreiben. Unter der Bedingung, dass sie sich gut benimmt und Sie die Erlaubnis geben, habe ich ihr versprochen, Joshua Harrington zu bitten, den Brief nach Virginia mitzunehmen.«

»Yvette soll ihren Brief schreiben«, antwortete Colette ohne das geringste Zögern. »John freut sich bestimmt über ein paar Neuigkeiten von zu Hause.«

Charmaine war sehr erleichtert. »Der Brief ist bereits fertig.«

Colette schien das nicht zu überraschen.

Einige Zeit später rief sie die Mädchen, um mit ihnen zu lesen, und gemeinsam beendeten sie eine Geschichte über Eleonore von Aquitanien. Im zwölften Jahrhundert hatte die französische Herzogin im Alter von achtzehn Jahren zuerst den König von Frankreich geheiratet und in zweiter Ehe dann den König von England. Die Mädchen bestürmten ihre Mutter mit Fragen, weil sie wussten, dass die Familie ihrer Mutter, die Familie Delacroix, ebenfalls aus Poitiers stammte, wo Eleonore aufgewachsen war. Als Colette erwähnte, dass Eleonores Mutter bereits im Alter von siebenundzwanzig Jahren gestorben war, jammerte Jeannette: »Das ist furchtbar traurig, Mama. Du wirst ja auch bald siebenundzwanzig.«

Colette drückte ihre Tochter an sich und versprach ihr, noch ganz lange zu leben. Dann schickte sie die Mädchen zu Charmaine, die eine Liste mit der richtigen Aussprache einzelner Wörter angefertigt hatte. Die Mädchen konnten zwar fließend lesen, aber diese Liste war ihnen neu.

Keine fünf Minuten später beschwerte sich Yvette. »Das stimmt doch nicht!«

Charmaine sah ihr über die Schulter. »Was genau meinst du denn?«

»Diese blöden Wörter«, brummte sie. »Oil, boil, soil, foil …«

»Und was ist damit?«

»Die spricht man alle mit eu aus, also müsste man Duvoisin auch Dü-veu-san aussprechen … und Mademoiselle wie Mad-meu-zel.«

Charmaine lachte in sich hinein. »Sehr gut, Yvette«, lobte sie. »Das zeigt, dass du aufpasst. Duvoisin und auch Mademoiselle werden zwar genauso geschrieben, aber anders ausgesprochen, da diese beiden Wörter aus dem Französischen kommen.«

Colette sah von dem Buch auf, das sie Pierre gerade vorlas. »Mademoiselle Charmaine hat recht, Yvette. Auf Französisch sagt man nicht eu, sondern oa. Es gibt außerdem noch andere französische Wörter in unserer Sprache. Zum Beispiel armoire, reservoir und repertoire. Auch die andere Insel Espoir wird mit oa ausgesprochen.«

»Ich finde das verwirrend«, brummte Yvette.

»Manche Leute sagen, dass Englisch eine besonders schwierige Sprache ist, weil es so viele Ausnahmen gibt.«

»Stimmt das, Mama?«, fragte Jeannette.

»Was, meine Süße?«

»Dass Englisch schwierig ist.«

»Ich denke schon. Als Kind habe ich nur einige Begriffe gelernt, besser kann ich es erst, seit … seit ich hierhergekommen bin.«

»Hat Papa dir Unterricht gegeben?«

Colette wurde einsilbig. »Ein wenig«, flüsterte sie. Als Jeannette weiterbohrte, meinte sie: »Wir sollten für heute Schluss machen. Es ist gleich Mittag.«

Nach dem Essen eilten die Mädchen zum täglichen Unterricht ans Klavier, und wiederum eine Stunde später versammelten sich alle in der ruhigen Abgeschiedenheit von Colettes Salon. Die Aussicht auf Geburtstagsgeschenke war eindeutig verlockender als die Baustelle im Kinderzimmer. Charmaine erbot sich, die Päckchen aus dem Versteck zu holen. Doch am Ende des Korridors lief sie prompt Agatha Ward in die Arme.

»Miss Ryan, hat man Sie engagiert, damit Sie den Flur verschönern, oder sollten Sie nicht vielmehr auf die Kinder aufpassen?«

Die Bösartigkeit dieser Bemerkung machte Charmaine sprachlos. Zum Glück hatte sie außer einem höflichen »Guten Tag« so gut wie keinen Kontakt zu dieser Person. Agatha mied die Kinder, wann immer es möglich war, und man sah sich höchstens bei den Mahlzeiten oder wenn sie zu Colette kam, um diese zu einer Ruhepause zu drängen. Colette blieb stets höflich, doch meistens ignorierte sie Agatha.

»Nun, Miss Ryan?«

»Ich … ich muss etwas erledigen«, stammelte Charmaine. »Für Miss Colette.«

»Etwas erledigen?«, äffte Agatha sie nach. »So so, und wo sind die Kinder?«

»Bei Miss Colette. Im Salon.«

»Aber Miss Colette fühlt sich nicht wohl«, schimpfte Agatha, »und es ist Ihre Aufgabe, sich um die Kinder zu kümmern. Sie ruinieren die Gesundheit ihrer Mutter.«

Da hatte Charmaine genug. »Miss Colette scheint es oft schlechter zu gehen, wenn Ihr Bruder den Nachmittag über bei ihr war, Mrs. Ward. Doch in Gesellschaft ihrer Kinder blüht Miss Colette regelrecht auf.«

Einen kurzen Moment lang riss Agatha die Augen auf, bevor sich ihre Lider zu Schlitzen verengten. Charmaine begriff zu spät, dass sie sich in diesem Augenblick eine Feindin gemacht hatte. »Wollen Sie damit andeuten, dass mein Bruder unfähig ist, Miss Ryan? Hoffen wir nur, dass Sie nie einen Arzt benötigen, solange Sie auf Charmantes leben. Ich glaube nicht, dass Robert gern jemanden betreut, der seinen Namen so eifrig besudelt.«

»Ich sagte doch nicht …«

»Wirklich nicht?«, zischte die Witwe. »Machen Sie lieber, dass Sie …«

»Was geht hier vor?«

Der feindliche Gesichtsausdruck verschwand, und Agatha starrte entgeistert über Charmaines Schulter. »Frederic!« Sie erholte sich rasch. »Das nenne ich eine Überraschung!«

Charmaine fuhr herum und sah sich zu ihrer Verblüffung dem berühmten Frederic Duvoisin gegenüber. Er stützte sich schwer auf seinen schwarzen Stock, und dennoch strahlte seine Erscheinung Macht und Stärke aus. Er war etwas größer als Paul und trug bequeme, maßgefertigte Kleidung. Ein imposanter, gut aussehender Mann. Einige graue Strähnen belebten sein Haar, das nicht ganz so dunkel war wie das seines Sohnes. Sein Kinn war ausgeprägt und frisch rasiert, seine Nase war lang und gerade, und schmal waren seine Lippen.

»Sind Sie mit dem Anblick zufrieden, Miss Ryan?«, fragte er mit leicht undeutlicher Aussprache und kaum verhüllter Ironie. Er wusste, wer sie war! »Gefällt Ihnen der Krüppel, Mademoiselle?«

»Sie sind kein Krüppel, Sir«, entgegnete sie ruhig.

Ihre Reaktion überraschte ihn. Er schnaubte ein wenig und wandte sich dann an Agatha. »Hat Miss Ryan etwas getan, was dich empört?«

»Sie hat die Kinder unbeaufsichtigt gelassen.«

»Wo?«

Agatha reckte die Nase in die Luft. »In Colettes Salon.«

»Und wo ist meine Frau?«

»Bei ihnen.«

»Demnach sind sie nicht unbeaufsichtigt, nicht wahr? Colette ist immerhin ihre Mutter.«

»Das ist richtig, Frederic, aber sie ist nicht gesund. Deshalb wurde Miss Ryan ja eingestellt. Doch wozu braucht man eine Gouvernante, wenn sie sich nicht um ihre Schutzbefohlenen kümmert?«

»Nun, Miss Ryan?«, wandte sich Frederic an Charmaine.

»Ihre Frau hat mir aufgetragen, die Geschenke der Kinder zu holen.«

»Aha.« Er sah Agatha an.

»Wenn ich das gewusst hätte … Miss Ryan hat nichts von Geschenken gesagt.«

»Sie haben mir keine Gelegenheit dazu gegeben.«

Agatha knirschte mit den Zähnen. Die Debatte war nicht mehr zu gewinnen. Besser, sie schluckte ihren Stolz hinunter. Sie murmelte eine Entschuldigung und ging.

Charmaine sah ihr einen Augenblick lang nach, bevor ihr Blick zu Frederic Duvoisin zurückkehrte. Sie ahnte, weshalb sich Colette von diesem Mann angezogen gefühlt hatte, der im Grunde ihr Vater sein konnte. Im Vergleich zu Paul mit seiner jugendlichen Ausstrahlung war Frederic ein beeindruckender und vornehmer Mann. Früher hatten ihm sicher alle Frauen zu Füßen gelegen. Ob er um seine faszinierende Ausstrahlung wusste? Ja, ganz bestimmt sogar. Selbst in seinem Zustand wusste er darum.

»Miss Ryan«, unterbrach Frederic Duvoisin das Schweigen, »wenn ich mich recht erinnere, sollten Sie etwas für meine Frau holen?«

»Oh, ja.« Charmaine eilte ins Kinderzimmer und fühlte sich unbehaglich, als er ihr folgte und seine Behinderung bei jedem Schritt deutlich zu merken war. Mit Sicherheit verbot er sich jedes Mitleid, also beachtete sie ihn nicht und suchte im Schrank nach den Geschenken. Als sie sich umdrehte, stand Frederic an der Mauer und betrachtete das Loch. Im Moment wurde nicht gearbeitet. Vermutlich machten die Männer Pause. Nach Pauls Aussage hatte sein Vater den Umbau genehmigt. Was er wohl dachte?

»Ich wollte mir den Fortschritt der Arbeit ansehen, nachdem ich den ganzen Vormittag über das Gehämmer gehört habe«, sagte er, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. »Außerdem wollte ich ein wenig Zeit mit meinen Töchtern verbringen.« Er sah Charmaine an. »Sie gefallen meiner Frau, Miss Ryan.«

»Und ich bin froh, dass ich hier sein darf. Ich mag Ihre Kinder sehr, und Ihre Frau ist wirklich liebenswert.«

»Dem kann ich nur zustimmen«, erwiderte er mit einem Leuchten im Blick. »Und wenn Sie in Zukunft hier unten bei den Kindern wohnen, kann sie völlig beruhigt sein, weil Sie immer in der Nähe sind.«

»Ja, Sir.« Demnach hatte er seine Zustimmung gegeben. Auch wenn er seine Räume nur selten verließ, war er doch über alles unterrichtet, was im Haus vorging. Der Klatsch war also falsch.

»Wie ich sehe, haben Sie die Pakete gefunden. Sollen wir gehen?« Er nickte in Richtung des Korridors, und es war klar, dass er sie begleiten wollte.

»Aber natürlich. Die Mädchen fragen sich sicher schon, wo ich so lange bleibe.«

Wieder humpelte er hinter ihr her, und Charmaine ging langsamer, um es ihm leichter zu machen. Die Geste ärgerte ihn. »Laufen Sie zu, Miss Ryan. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Errötend gehorchte sie.

Kurz vor Colettes Tür fragte er, ob sie vielleicht noch ein paar Päckchen holen könnte. »In meinem Ankleidezimmer liegen noch einige Geschenke.«

Die Räume des Hausherrn waren genau spiegelverkehrt zu Colettes angeordnet und von gleicher Größe, aber damit waren die Ähnlichkeiten auch schon erschöpft. Frederic Duvoisins Räume strahlten eine eindeutig männliche Atmosphäre aus und waren mit dunklen Möbeln mit aufwändigen Schnitzereien ausgestattet.

Doch Charmaine blieb keine Zeit, sich lange umzusehen. Sie hastete ins Ankleidezimmer, holte die Geschenke und stand gleich darauf wieder draußen im Flur. Mühsam balancierte sie die Päckchen und war froh, als Frederic an die Tür zum Salon klopfte.

Yvette öffnete und war sichtlich überrascht, ihren Vater zu sehen. »Papa?«

Fragend zog er eine Braue in die Höhe. »Soll ich hier im Korridor Wurzeln schlagen, oder bittest du uns herein? Miss Ryan ist außerdem mit Geburtstagsgeschenken beladen.«

»Komm herein, Papa«, sagte Yvette und trat zur Seite. »Wir wussten ja nicht, dass du kommst. Mama hat uns nämlich versprochen, dass wir heute Abend nach dem Essen zu dir gehen.«

»Der Plan wird hiermit geändert«, sagte Frederic und hinkte in den Salon. »Ich habe den Lärm aus dem Kinderzimmer gehört und wollte mir die neue Tür ansehen. Aber ihr wart nicht dort. Stattdessen hatte ich die Freude, eure Gouvernante kennenzulernen.«

Yvette hörte längst nicht mehr zu. »Du lieber Himmel!«, rief sie, als sie die vielen Päckchen auf Charmaines Armen sah. »Wie viele sind das denn?«

»Lass Miss Ryan sie erst einmal ablegen, Yvette.« Frederic Duvoisin ließ sich mit einem erschöpften »Hmph« und schmerzverzerrtem Gesicht auf das Sofa fallen. Dann sah er sich um. »Wo ist eure Mutter?«

»Im Schlafzimmer. Pierre braucht eine neue Windel. Die Zahl der Päckchen ist aber komisch«, meinte sie, als sie das Größte in die Höhe hob.

»Eines davon ist für Pierre«, erklärte ihr Vater.

»Für Pierre? Warum bekommt er denn ein Geschenk? Er hat doch erst im März Geburtstag.«

»Du gönnst ihm doch sicher, dass er auch ein Päckchen aufreißen darf, oder? Ich weiß, dass er nicht Geburtstag hat, aber er wird sehr enttäuscht sein, wenn er euch beim Auspacken zusehen muss.«

Charmaine war vom Einfühlungsvermögen und der sanften Stimme des Mannes begeistert.

»Darf ich schon ein Päckchen aufmachen, Papa?«

»Sag erst deinem Bruder und deiner Schwester, dass ich da bin.«

Yvette sprang auf und rief durch die Tür: »Papa ist da.«

Sofort sauste Jeannette herein und fiel ihrem Vater um den Hals. »Papa!«

»Du siehst hübsch aus, Jeannette.«

»Ich freue mich, dass du uns besuchst, Papa! Heißt das, dass es dir jetzt besser geht?«

»Wenn das stimmt, dann nur wegen euch.« Mit leuchtenden Augen strich er seiner Tochter übers Haar.

Der innige Moment war vorbei, als Colette mit Pierre auf dem Arm hereinkam. Frederic sah auf, achtete aber nicht auf ihr Lächeln. »Hältst du das für klug?«, fragte er in scharfem Ton.

Das Lächeln erstarb. »Was denn?«

»Den Jungen zu tragen. Du sollst dich doch nicht anstrengen.«

Colette biss sich auf die Unterlippe und setzte den Kleinen ab. Der rannte sofort quer durch den Salon und brüllte begeistert: »Manie ist da!«

»Manie?«, fragten die Mädchen wie aus einem Mund.

Colette lachte. Sie schüttelte Frederics Tadel ab und stimmte in die Freude ihres Sohnes ein. »Ich glaube, Pierre hat einen neuen Namen für Sie gefunden, Charmaine.«

»Der gefällt mir.« Charmaine nahm den Kleinen hoch und liebkoste ihn.

»Manie«, rief Pierre und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

Charmaine erwiderte die Zärtlichkeit, was sofort einen zweiten Kuss zur Folge hatte. Dann ging sie zum Sofa. »Sieh mal, Pierre, dein Vater ist hier.« Sie setzte den Jungen auf Frederics Schoß.

Pierre sträubte und wand sich, und Frederic hatte Mühe, ihn festzuhalten. Doch bevor der Junge sich losmachen konnte, setzte sich Colette neben die beiden. Frederic sah Colette an und rutschte näher zu ihr hin, bis ihre Schenkel sich berührten. Dann lockerte er seinen Griff, und Pierre krabbelte überglücklich auf den Schoß seiner Mutter hinüber.

Die Minuten vergingen, ohne dass etwas gesagt wurde. Charmaine war verunsichert, weil auch ohne Worte viel gesagt wurde und die Spannung stieg. Selbst die Mädchen verstummten und warteten, dass etwas geschah. Nur Pierre schien völlig unbeeindruckt und spielte glücklich mit den Knöpfen von Colettes Kleid.

»Vielleicht sind Sie lieber ein wenig allein«, sagte Charmaine und wandte sich zum Gehen.

»Einen Augenblick, Miss Ryan«, meinte Frederic. »Würden Sie bitte meine Geschenke an die Kinder verteilen? Sie sind alle markiert.«

Charmaine gehorchte, und Yvette riss sofort das Papier auf. Jeannette hielt ihr Päckchen einen Augenblick länger in der Hand und sah stattdessen ihre Eltern an.

Frederic lächelte ihr zu. »Willst du denn dein Geschenk nicht auspacken?«

»Na los, beeil dich«, drängte Yvette. »Ich will sehen, ob du etwas Besseres als eine dumme Puppe bekommen hast. Vielleicht können wir ja tauschen.« Sie hielt eine hübsche Porzellanpuppe mit beweglichen Lidern in die Höhe.

Charmaine zuckte innerlich zusammen. Würde der Vater das Mädchen tadeln? Aber der lachte nur, ohne die Bemerkung vorlaut zu finden. »Was ist los, Yvette? Ich dachte, alle Mädchen spielen mit Puppen?«

»Nein, Sir. Ich hätte viel lieber ein Pferd!«

»Ein Pferd?«, fragte ihr Vater. »Aber wie hätte ich das denn in eine so kleine Schachtel verpacken sollen?«

»Das muss doch nicht verpackt werden«, erwiderte Yvette ernsthaft. »Du hättest es einfach im Stall verstecken können. Mit einer großen blauen Schleife um den Hals!«

»Ach, wirklich? Und was würdest du mit dem Pferd tun?«

»Reiten natürlich, was denn sonst?«

»Aber das ist nicht ladylike.«

Yvette rümpfte die Nase. »Ich will auch keine Lady sein, Papa. Ich wäre viel lieber ein Junge.«

»Wirklich? Warum denn das?«

»Eine Lady zu sein macht keinen Spaß. Man muss Kleider anziehen und immer aufpassen, dass sie nicht schmutzig werden. Jungen dürfen Hosen anziehen. Außerdem dürfen sie böse Wörter sagen und spucken und schwimmen und auf Bäume klettern. Ein Mädchen muss immer ordentlich sein. Das hasse ich! Ich will alles machen, was mein Bruder darf.«

Frederic war sprachlos. »Aber du darfst doch sehr viel mehr machen als Pierre.«

»Doch nicht Pierre, Papa. Ich rede von Johnny. Er macht lauter verrückte Sachen. Als er noch hier war, hatten wir viel Spaß zusammen! Jeden Tag haben wir uns etwas anderes einfallen lassen, und er hat nie gesagt, dass ich das nicht machen darf, weil ich …«

»Es ist genug, Yvette«, mahnte ihre Mutter.

»Es ist überhaupt nicht genug! Ich habe es satt, wenn ich nicht einmal seinen Namen sagen darf! Ich liebe Johnny!« Sie stützte die Hände in die Hüften und sah ihren Vater vorwurfsvoll an. »Wann kommt er denn endlich nach Hause? Wann bist du nicht mehr böse mit ihm? Wann?«

»Das dauert noch lange«, stieß ihr Vater erzürnt hervor und biss die Zähne aufeinander.

Sie stampfte wütend. »Und warum?«

»Für einige in diesem Haus ist er eine Bedrohung. Von jetzt ab wird nicht mehr von ihm gesprochen! Ist das klar, junge Lady?«

Yvettes Augen blitzten trotzig, und sie gab keine Antwort.

»Hast du mich verstanden?«

»Nein!«, schrie sie und warf die Puppe auf den Boden. Der Kopf zersprang in tausend Scherben, und das Mädchen rannte aus dem Zimmer, ohne auf den Befehl ihres Vaters zu hören. »Yvette, komm sofort zurück!«

Colette begegnete seinem vorwurfsvollen Blick mit Sanftheit und Entschiedenheit. »Es war nicht nötig, so mit ihr zu sprechen.«

»Glaubst du?«

»Sie liebt ihren Bruder und versteht es nicht …«

»Verdammt, Frau«, brüllte er, als ob ihr Wagemut ihn verblüffte. »Warum verteidigst du ihn? Du solltest den Kindern mehr Respekt vor ihrem Vater beibringen. Ich werde die Aufsässigkeit einer Achtjährigen nicht dulden! Meine Tochter hat nicht zu entscheiden, ob sie gehorcht. Sie muss gehorchen!«

Colette senkte den Kopf. Zu spät fiel Frederic ein, dass die Gouvernante noch immer im Zimmer war. »Wo ist Pierres Geschenk?«, fragte er mürrisch.

Charmaine reichte ihm das Päckchen, an das sie sich geklammert hatte, und Frederic gab es an seinen Sohn weiter. »Sieh her, Pierre, hier ist ein Geschenk für dich. Komm zu mir, wir wollen es zusammen öffnen.«

Aber der Junge wollte nicht vom Schoß seiner Mutter aufstehen.

»Komm, setz dich auf meine Knie. Deine Mutter bleibt ja bei uns. Sie ist auch neugierig, was in dem Päckchen ist.«

Doch je mehr er drängte, desto weiter wich der Kleine zurück. Mit geballten Fäustchen klammerte er sich an das Kleid seiner Mutter. Er barg sein Gesicht an ihrer Brust, und in dem Durcheinander war sein Protest kaum zu verstehen. Das Päckchen und die hübschen Schleifen interessierten ihn nicht im Geringsten.

Colette versuchte es auf ihre Weise. »Komm, Pierre, ich helfe dir. Voici, mon caillou, dein Vater möchte …« Als Frederics Blick sich mit ihrem kreuzte, brach sie mitten im Satz ab.

In diesem Augenblick riss Frederic Duvoisin die Geduld. »Gib mir meinen Sohn«, herrschte er seine Frau an und packte Pierres Arm. »Und zwar sofort!«

Colette gab nach und ließ zu, dass er den Jungen auf seinen Schoß zog. Dann erhob sie sich und wandte rasch ihr Gesicht ab. Sie straffte ihre Schultern und verließ den Raum.


Die Tür war kaum zu, da rannte Colette los, als ob der Teufel ihr auf den Fersen sei. Sie rannte den Korridor entlang und die Treppe hinunter, rannte, bis ihre Seite stach, und erreichte das Foyer, als die Haustür aufschwang und Paul hereinkam. Sie schrak vor ihm zurück und rannte weiter bis in den hintersten Winkel des Hauses und hinaus in den Garten.

»Colette?«


Jeannette schluchzte noch immer leise, als ihr Vater das Wort an sie richtete. »Komm her, Prinzessin, hilf deinem Bruder, das Päckchen zu öffnen.«

Das Mädchen sah von ihrem Vater zu Charmaine, als ob sie ihn nicht gehört hätte. »Was ist mit Mama?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte Charmaine.

Um ihr Zittern zu bekämpfen, bückte sie sich und begann die Scherben aufzusammeln. Vielleicht konnte man die Puppe ja wieder kleben. Jeannette wollte ihr helfen und kauerte sich neben ihr hin.

»Lassen Sie das«, bellte Frederic.

Gehorsam legte Charmaine die Scherben auf den Boden. »Ich sehe nach Yvette«, erklärte sie, um den Raum endlich verlassen zu können. Doch anders als Colette, die bis zuletzt Haltung bewahrt hatte, floh sie wie ein aufgeschrecktes Kaninchen, die zerbrochene Puppe noch immer in der Hand.

Jeannette folgte ihr auf dem Fuß, bis ihr Vater sie zurückrief. »Jeannette, komm her! Hilf deinem Bruder.« Mit einem Seufzer machte das Mädchen kehrt.


Mit raschem Schritt eilte Paul in den Speisesaal, doch er war leer. Stimmenlärm zog ihn in die Küche, doch zu seiner Überraschung saßen nur Travis, Joseph und George um den roh behauenen Tisch. Fatima servierte den Männern gerade einen verspäteten Lunch, weswegen Paul eigentlich nach Hause gekommen war. »Hast du Colette gesehen?«, fragte er George.

»Nein. Warum?«

»Sie hat sich nicht über die neue Tür geärgert, oder doch?«

»Zu Anfang schon, aber das war schnell vorbei. Was ist los?«

»Sie hat geweint. Gerade eben jetzt – im Foyer.«

George schüttelte den Kopf. »So sehr hat sie sich aber nicht aufgeregt.«

Paul fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Aber Colette war außer sich gewesen. Er musste sie finden. Vielleicht im Garten … Bestimmt war sie in den Garten gelaufen.


Yvette saß auf ihrem Bett und spielte mit dem Briefumschlag auf ihren Knien. Mit geröteten Augen sah sie zu Charmaine auf. »Genauso gut kann ich ihn verbrennen.« Demnach war es ihr Brief an John.

»Nein, Yvette. Der Brief wird an deinen Bruder geschickt, so wie ich es versprochen habe. Heute Morgen hat deine Mutter die Erlaubnis gegeben.«

Skeptisch runzelte Yvette die Stirn, dann wischte sie sich die letzten Tränen ab und lächelte. »Vielen Dank.« Doch gleich darauf war sie wieder ernst. »Ich weiß nicht, warum Papa so wütend auf Johnny ist. Sein Schlaganfall ist drei Jahre her! Johnny ist doch sein Sohn. Warum verzeiht er ihm nicht?«

»Ich glaube nicht, dass es dabei um Verzeihung geht, Yvette. Ich denke, dein Vater kann nicht ertragen, wie er jetzt aussieht. Sein Arm, sein Bein, die Art, wie er geht, der Stock. Er sieht sich als Krüppel, und damit lebt kein Mann leicht. Wenn ein Streit mit deinem Bruder die Ursache war, so kann ich seine Verbitterung verstehen. Der Schmerz und das Gefühl der Erniedrigung haben sich in Zorn verwandelt.«

»Er ist mehr als nur zornig, Mademoiselle Charmaine. Er hasst Johnny.«

Charmaine schüttelte den Kopf. »Aber nein, Yvette, das glaube ich nicht. Kein Mann hasst seinen eigenen Sohn.« Kaum dass sie das gesagt hatte, überlegte sie, ob sie sich nicht irrte. Schließlich hasste sie ihren Vater. Wenn das möglich war, weshalb sollte Frederic John nicht hassen? Sie fror ein wenig, weil in diesen Konflikt so viele Personen verwickelt waren.

»Yvette«, begann sie vorsichtig, »ich möchte, dass du etwas tust, was nicht ganz einfach ist. Und zwar möchte ich, dass du zurück in den Salon gehst und dich bei deinem Vater entschuldigst.«

Yvette lief knallrot an. »Mich entschuldigen? Ich soll mich entschuldigen, obwohl er das gesagt hat? Er sollte sich lieber bei mir und bei Johnny entschuldigen! Das fällt mir nicht ein! Er kann froh sein, wenn ich überhaupt noch mit ihm spreche! Ich dachte, Sie hätten das kapiert!«

Charmaine wartete, bis Yvettes Zorn etwas abgeebbt war, bevor sie noch einmal von vorn anfing. »Möchtest du, dass dein Bruder wieder nach Hause kommt?«

»Aber natürlich will ich das!«

»Dann weiß ich nur einen Weg: Damit dein Vater seine Meinung ändert, solltest du ihm ein Beispiel geben, dem er dann folgen kann.«

Yvette überdachte den Vorschlag ihrer Gouvernante und verzog widerwillig das Gesicht. »Aber entschuldigen? Ich weiß nicht, was das nützen soll?«

»Dein Vater ist voller Groll, Yvette. Und um wie viel stärker wird dieser Groll erst werden, wenn er das Gefühl hat, dass er deine Liebe an John verloren hat?«

»Er wird ihn nur umso mehr hassen.« Sie begriff, dass sie die Lage nur schlimmer machte, wenn sie sich nicht mit ihrem Vater versöhnte. »Ich glaube, ich habe keine andere Wahl«, sagte sie und stöhnte. »Außerdem habe ich die dumme Puppe kaputt gemacht. Aber das kann ich nicht mehr ungeschehen machen.«

»Ich glaube nicht, dass sich dein Vater um die Puppe schert. Aber dich liebt er!«

»Das weiß ich«, räumte sie ein. »Kommen Sie mit?«

»Ich komme in einer Minute nach«, versprach Charmaine, als das Mädchen zur Tür ging. »Aber noch etwas. Den Brief erwähnst du besser nicht.«

Yvette verdrehte die Augen. »Keine Sorge! So dumm bin ich nicht.«

Nachdem sie fort war, machte sich Charmaine auf die Suche nach Colette.


Gab es denn keinen Ort, wohin sie sich wenden konnte? Keinen ruhigen Hafen, wohin die Vergangenheit ihr nicht folgte? Wie lange konnte sie diese schwere Schuld noch tragen? Colette lief durch den Garten, als das Kaleidoskop der ungelösten Fragen in einer einzigen Antwort mündete. In einer Antwort, die sie kaum akzeptieren konnte, so schrecklich war sie.
Bevor ich nicht tot bin, wird es keinen Frieden geben. Weit hinten im Garten sank sie schwer auf eine Bank, barg ihr Gesicht in den Händen und weinte.


Wo steckt sie? Paul rannte über die Wege und hörte sie eher, als er sie sah. Er wusste, wer sie so außer Fassung gebracht hatte. Mit der neuen Tür hatte das nichts zu tun. Oder doch? Er betrachtete sie einige Augenblicke und war unsicher, wie er ihrem Elend begegnen sollte. Es war viele Jahre her, seit sie an seiner Schulter geweint hatte. Seine Brust schmerzte.

»Colette«, rief er mit erstickter Stimme.

Sie hob den Kopf. Ihr Gesicht schimmerte feucht, und ihre Augen waren gerötet. Verlegen sprang sie auf und wollte ihre Wangen trocknen, aber die Tränen quollen schneller aus ihren Augen, als sie sie wegwischen konnte.

»Colette«, hauchte er. Noch einen Schritt. Dann zog er sie in die Arme und bot ihrem Kummer seine starke Schulter. Als sie ihn wegdrängen wollte, hielt er sie nur umso fester und flüsterte tröstend: »Sch … sch … ruhig … weine nur … weine nur, wenn dir dann besser wird.«

Es war unendlich lange her, seit jemand sie zuletzt im Arm gehalten hatte … viel zu lange. Colette gab ihren Widerstand auf, sank gegen seine Schulter und weinte, bis sie eine eigenartige Ruhe überkam.

»C’est fini«, murmelte er in ihr Haar.


Charmaine durchquerte den Ballsaal, um in den Garten zu gelangen, weil sie weder Mrs. Faraday oder, schlimmer noch, Agatha Ward in die Arme laufen wollte. Sie war sicher, dass sie Colette im Garten finden würde, denn nur dort boten sich stille Zufluchtsorte.

Kurz darauf drang französisches Geflüster an ihr Ohr. Colette sprach immer Französisch, wenn sie die Kinder unterrichtete, und Charmaine hatte bereits einige Wörter aufgeschnappt. Nun vernahm sie zum ersten Mal eine Unterhaltung. Sie spähte durch die Äste und sah, wie Paul Colette zu derselben Bank führte, auf der sie am Abend zuvor gesessen hatte. Genau wie gestern zog er auch heute ein Taschentuch hervor und drückte es Colette in die Hand. »Tu vas mieux maintenant?«

»Me pardonnera-t-il jamais?«, fragte sie verzweifelt.

Er schüttelte den Kopf und betrachtete die zarte Hand in der seinen. »J’espère que je pourrais te donner la réponse que tu désires entendre.«

Sie senkte den Blick. »Comment est-ce-que je peux demander pardon quand je sais ce que j’ai fait? Je ne devrais pas te demander d’être compréhensif. Tu devrais me reprocher aussi …«

Seine Stimme wurde energisch, und er ließ ihre Hand los. »Tu sais que cela n’est pas vrai! Je ne t’ai jamais rien reproché.«

Sie knetete das Taschentuch. »Je ne m’attends pas à ce qu’il me pardonne«, flüsterte sie und sah zu ihm empor. »Peut-être pourrais-je supporter sa douleur ainsi que la mienne.«

»Sa douleur?« Er schnaubte.

»Oui. Je lui ai fait plus de peine qu’à moi-même.« Sie holte Luft und schauderte. »Il m’a aimée. Le savais-tu? Il m’a aimée, mais j’étais trop aveugle pour le voir. Je croyais que ma vie était terminée, alors j’ai choisi de mener une nouvelle vie, plus désastreuse que la première … Mon Dieu … je me suis menti à moi-même pendant si long-temps, je ne sais pas où trouver le vrai bonheur.«

»Avec les enfants«, antwortete Paul. »Du hast die Kinder.«

»Ja, ich habe die Kinder.«

Dies sagte sie fast träumerisch, als ob sie daraus Kraft zöge. Als die Unterhaltung ins Englische wechselte, schlich Charmaine auf Zehenspitzen davon, um nicht zu lauschen. Sie wusste Colette in guten Händen.

Sie kehrte in den Salon der Hausherrin zurück und war überrascht, glückliche Stimmen zu hören. Yvette saß dicht neben ihrem Vater, und er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt. Jemand hatte gefegt, denn auf dem Boden war nichts mehr von dem Chaos zu entdecken.

Frederic stand mühsam auf, als er Charmaine bemerkte. Er sah auf die Kinder hinunter. »Ich danke Ihnen«, murmelte er leise. Sie wusste, dass er Yvette meinte, und nickte nur.


Samstag, 1. Oktober 1836

Als Charmaine erwachte, schien ihr die Sonne direkt in die Augen. Sie blinzelte und begriff, dass sie verschlafen hatte. Leise fluchend sprang sie aus dem Bett und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Dann kleidete sie sich an und fuhr sich oberflächlich mit der Bürste durchs Haar. Zum Aufstecken blieb keine Zeit, also fasste sie die Strähnen nur mit einem Band zusammen und scherte sich nicht um die widerspenstigen Löckchen.

Das Schiff der Harringtons legte um sieben Uhr ab, und Paul hatte versprochen, sie mit in die Stadt zu nehmen, damit sie sich von ihnen verabschieden konnte. Eigentlich hatte sie bei Morgendämmerung fertig sein sollen, aber sie hatte schlecht geschlafen. Felicia hatte ihr erneut auf dem Korridor aufgelauert und hämische Bemerkungen über ihr zukünftiges Zimmer gemacht. »Näher bei Paul ging wohl nicht mehr.« Und nun hatte sie sich verspätet. Sie rannte über die Personaltreppe direkt hinunter in die Küche.

Fatima Henderson eilte geschäftig zwischen Tisch und Herd hin und her, und es duftete nach gebratenem Speck und Eiern. Sie summte vor sich hin, doch als sie Charmaine erblickte, schnalzte sie mit der Zunge. »Warum rennen Sie denn so?«

»Ich habe mich verspätet!« Sie war außer Atem. »Haben Sie Master Paul gesehen? Oder ist er etwa ohne mich losgefahren?«

»Immer mit der Ruhe. Master Paul sitzt im Speisezimmer und wartet auf sein Frühstück. Setzen Sie sich hin, ich mache Ihnen auch etwas.«

»Ich kann nichts hinunterbringen. Sind Sie sicher, dass er noch hier ist?«

»Sehen Sie doch selbst nach.«

Paul saß tatsächlich noch am Tisch. Als sie eintrat und er aufstand und sie von Kopf bis Fuß betrachtete, begann ihr Herz zu rasen.

Seit ihrer Begegnung im Garten hatte sie außer einem höflichen Guten Morgen und Guten Abend keine zwei Worte mit ihm gewechselt. Doch am gestrigen Abend hatte sich das geändert, als er ihr mitgeteilt hatte, dass die Destiny mit ihren geliebten Harringtons an Bord die Insel mit der ersten Flut verlassen würde. Es sei ihm eine Freude, hatte er gesagt, sie in aller Frühe zum Hafen mitzunehmen, damit sie ihnen Lebewohl sagen könne. Als sie einwandte, sich nicht aufdrängen zu wollen, und die Unschicklichkeit unerwähnt ließ, die eine Fahrt mit ihm allein bedeutete, hatte er ihren Einwand mit leichter Hand beiseitegewischt. Er müsse ohnehin zum Hafen, um die Ladung vor dem Ablegen zu kontrollieren. Alles sei längst arrangiert, er würde sie lediglich hinbringen.

Und nun starrte er sie an, und ein schiefes Grinsen begleitete den prüfenden Blick. Verwundert sah Charmaine an sich hinunter. »Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte sie.

»Ganz im Gegenteil.« Er kam um den Tisch herum und bestand darauf, dass sie ihm Gesellschaft leistete. »Sie sehen wunderschön aus.«

Charmaine errötete und fühlte sich sofort hübscher.

Er zog den Stuhl zu seiner Linken unter dem Tisch hervor. Als sie zögerte, meinte er: »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, Charmaine. Ich verspreche, dass ich nicht beiße.«

Sie zuckte leicht zusammen und setzte sich. Dabei verfluchte sie ihr irisches Blut, das jedes ihrer Gefühle öffentlich zur Schau stellte. Es schien ihm zu gefallen, wenn sie errötete. Sie musste lernen, ihre Gefühle besser zu verbergen. Bloß wie?

»Es tut mir leid, dass ich Sie warten ließ«, sagte sie, als er sich wieder gesetzt hatte.

»Haben Sie nicht. Ich bin auch gerade erst gekommen.« Er trank einen Schluck Kaffee.

Fatima erschien und servierte ihm sein Frühstück. Als sie um den Tisch herumkam, lehnte Charmaine ab, obwohl es köstlich roch. »Ich habe keinen Hunger. Danke, wirklich nicht.«

Paul zog eine Braue in die Höhe. »Spätestens am Mittag werden Sie vor Hunger sterben.«

»Ich nehme nur Kaffee. Ich möchte das Auslaufen auf keinen Fall verpassen.«

»Der Kapitän setzt erst Segel, wenn ich den Befehl dazu gebe.«

Vor dem Haus wartete bereits der Wagen. »Während Sie geschlafen haben, war ich schon fleißig«, stichelte Paul und half ihr beim Einsteigen. Charmaine bemühte sich um einen gleichmütigen Gesichtsausdruck. Nachdem er ebenfalls eingestiegen war, ergriff er die Zügel und schnalzte mit der Zunge, um die Pferde anzutreiben.

Die Fahrt verlief äußerst harmonisch. Charmaine war überrascht, wie leicht Paul sie in eine Unterhaltung verwickelte, und als sie im Hafen ankamen, fühlte sie sich vertrauter mit ihm als je zuvor.

Die Destiny lag noch am Kai, wie Paul versprochen hatte. Schweren Herzens stieg Charmaine die Gangway empor. Als Loretta und Gwendolyn ihre Kabinen verließen, füllten sich ihre Augen sofort mit Tränen. Sie fiel in Lorettas Arme und drückte die mütterliche Frau fest an sich. Dann löste sie sich wieder und trocknete ihr Gesicht.

»Ich werde Sie sehr vermissen«, flüsterte sie heiser.

»Und ich dich erst, meine liebe Charmaine. Aber du beginnst hier ein neues Leben. Ich werde dir schreiben.« Loretta wandte sich an Paul, der ein Stück beiseitegetreten war, um ihren Abschied nicht zu stören. »Charmaine ist für mich wie eine Tochter, Mr. Duvoisin«, erklärte sie in aller Form. »Nun vertraue ich sie Ihrer Fürsorge an, und ich bete, dass ich das nicht bereue.«

»Ihre Ängste sind völlig unbegründet, Mrs. Harrington«, versicherte Paul in aller Form. »Unter unserem Dach lebt Miss Ryan stets wohlbehütet.«

»Sehr gut«, erwiderte Loretta.

Anschließend machte sich Charmaine auf die Suche nach Mr. Harrington, der sich wie so oft beim Kapitän aufhielt. Zum Glück hatte sie Yvettes Brief gestern Abend noch in ihre Tasche gesteckt. Nachdem sie sich von Jo-shua Harrington verabschiedet hatte, drückte sie ihm den Brief in die Hand und bat, ihn an der richtigen Adresse abzuliefern. Joshua nickte und schloss Charmaine erneut in die Arme. Dabei bemerkte sie, dass Paul die Szene beobachtet hatte.

Irgendwann wurde es Zeit für den endgültigen Abschied. Charmaine zwang sich zu einem Lächeln, als die Gangway eingezogen wurde und die Destiny vom Kai ablegte. Paul blieb an ihrer Seite und sah zu, wie sie den Freunden nachwinkte. Als das Schiff das Ende der Bucht erreichte und Charmaine Lorettas und Gwendolyns Gestalt nicht länger erkennen konnte, wandte sie sich ab.

Stirnrunzelnd sah sie Paul an. »Ich dachte, Sie hätten die Ladung überprüfen müssen.«

Paul rieb sein Kinn. »Es war alles in bester Ordnung, so wie ich das erhofft hatte.«

»Also war Ihre Anwesenheit nicht unbedingt vonnöten?«

»Sehen Sie, Charmaine, wenn Sie das gewusst hätten, wären Sie auf eigene Faust zum Hafen gefahren, und ich hätte die Freude Ihrer Gesellschaft nicht genießen können.«

»Soll das heißen, dass Sie einfach geschwindelt haben?«

»Ein ganz klein wenig.« Das übermütige Lächeln war unwiderstehlich.

»Aber im Ernst, Charmaine. Es gab noch einen anderen Grund, warum ich Sie heute in die Stadt begleitet habe.« Als sie ihn verwirrt ansah, ergriff er ihren Ellenbogen und wandte sich zum Gehen. »Colette hat mich gebeten, Ihnen die Bank zu zeigen und Sie mit Stephen Westphal bekannt zu machen. Er ist unser Finanzmann und wird jeden Monat Ihre Einnahmen direkt verbuchen. Im Vergleich zu den Gepflogenheiten der Banken in Richmond ist unser Verfahren einfach, aber für Charmantes sehr zweckdienlich. Ich möchte mich vergewissern, dass das Konto eingerichtet wurde und Sie jederzeit über Ihren Lohn verfügen können.«

Sie sprachen fast eine ganze Stunde mit Mr. Westphal, der Charmaine etwas eigenartig zu sein schien. Er war ein wenig jünger als Frederic Duvoisin, aber was das gute Aussehen anging, so konnte er mit seiner mittleren Größe und dem lichten Haupthaar nicht wirklich mithalten. Seine Augen waren zu klein, die Brauen zu weiblich und die Lippen viel zu dünn. Er sah eher aus wie ein europäischer Aristokrat, was er auch war, wie Paul gestand. In der entfernteren Verwandtschaft hatte seine Familie einen Herzog zu bieten, doch Mr. Westphal selbst war in Virginia zur Welt gekommen. Er hatte lange, gepflegte Finger und trug teure Kleidung, die seinen Bauch und damit seinen Erfolg und seinen Wohlstand zur Geltung brachte. Er wusste seit längerem, wer Charmaine war, denn die Gerüchte über die Gouvernante der Duvoisins hatten sich in Windeseile auf der Insel herumgesprochen.

»Warum leisten Sie uns nicht heute Abend beim Dinner Gesellschaft, Stephen?«, fragte Paul. »Ich schlage vor, Sie kommen so gegen sechs, dann können mein Vater und ich noch Verschiedenes mit Ihnen besprechen.«

Nur zu gern nahm der Mann Pauls Einladung an und verabschiedete sich mit einem Nicken von Charmaine.

Als sie die Bank verließen, lud Paul Charmaine zu einem kleinen Imbiss ein. Beim Überqueren der Straße hatte sie das Gefühl, als ob sie von allen beobachtet wurden. Dass die jungen Frauen der Insel sie beneideten, beflügelte sie ein wenig. Doch selbst das wunderbare Gefühl, Pauls Arm an ihrem Ellenbogen zu spüren, verpuffte, als ihr Begleiter auf das Dulcie’s zusteuerte. Sie schnappte nach Luft. »Da gehe ich nicht hinein!«

»Aber das ist doch kein Bordell, Charmaine! Das Essen schmeckt sogar wirklich gut.«

»Das … das habe ich auch nicht unterstellt«, stammelte sie. »Außerdem muss ich nach Hause. Die Mädchen wollen mir helfen, meine Sachen in das neue Schlafzimmer zu bringen.«

»Ach ja, das neue Schlafzimmer.« Wieder lachte er, aber diesmal blieb der Kommentar aus.

Die Rückfahrt war aufwühlend. Im Gegensatz zur Hinfahrt verursachte Paul ihr damit heftiges Herzklopfen, dass er Themen anschnitt, die er besser nicht berührt hätte. Hatte er Spaß daran, sie zu verunsichern, jetzt, da die Harringtons die Insel verlassen hatten?

»Ich hoffe, das neue Bett ist nach Ihrem Geschmack«, begann er. »Für Sie allein dürfte es ein bisschen groß sein.«

Charmaines Wangen brannten. »Wenn Pierre nachts wach wird, hat er wenigstens Platz genug«, gab sie mutig zurück.

»Hm … solche Gewohnheiten sollte man gar nicht erst fördern. Er ist schon jetzt viel zu verwöhnt.«

»Das bezweifle ich. Er ist ein einfach nur ein netter kleiner Kerl.«

Zu ihrem Missfallen kam Paul wieder auf das neue Schlafzimmer zurück. »Da Sie nun im selben Stockwerk wie der Rest der Familie schlafen, haben Sie ja jede Menge Terrassentüren zur Auswahl.« Als sie nichts sagte, fuhr er fort: »Im Sommer stehen alle offen, um die angenehme Kühle einzufangen. Außerdem bieten sie noch andere Vorteile.«

Er hatte es darauf abgesehen, dass sie nach den anderen Vorteilen fragte. Aber Charmaine zögerte. Schließlich tat sie es doch: »Und welche?«

»Aus jedem der Zimmer gelangt man auf den Balkon, was außerdem die Möglichkeit bietet, um unauffällig von einem Zimmer ins andere zu gelangen …« Bisher war Pauls Blick auf die Straße gerichtet, doch nun sah er sie an. »Das ist nur einer der Vorteile.«

Diese Anspielungen riefen ihr Colettes Warnung ins Gedächtnis. Paul ist ein Schürzenjäger Ich möchte nicht, dass Ihnen wehgetan wird … Machte Paul ihr etwa hier im Wagen, bei hellem Tageslicht, einen Antrag? »Was wollen Sie mir damit unterstellen, Sir?«, fuhr sie ihn an.

»Sir?«, fragte er. »Wann lassen Sie endlich diese formelle Anrede? Was muss ich denn tun, damit Sie endlich Paul zu mir sagen? Sie sind doch wohl nicht immer noch verärgert wegen der Sache, die Ihrer Meinung nach im Garten geschehen ist, oder etwa doch?«

Er wollte sie verwirren. »Ich sage nie wieder Paul zu Ihnen.«

»Wie wäre es denn mit einem Handel«, meinte er, während er nachdenklich eine Braue hochzog. »Wenn ich schwöre, nichts mehr zu sagen, was Sie in Verlegenheit bringt? Würden Sie den ›Sir‹ dann aufgeben?«

War es ihm ernst? Was soll ich nur sagen? In ihren Augen war es sicherer, nichts zu sagen.

»Nun, Charmaine?«, drängte er. »Wir sind fast zu Hause. Oder möchten Sie darüber nachdenken? Dann denken Sie aber auch an mein Versprechen gegenüber Mrs. Harrington. Ich habe jedes Wort ernst gemeint.«

Charmaine holte tief Luft, bevor sie Paul ansah. Als der Wagen hielt und ihre Blicke einander trafen, versuchte jeder, die Gedanken des anderen zu lesen. Aber die Ankunft eines anderen Wagens verdarb den Augenblick. Dr. Blackford erschien zu seinem wöchentlichen Besuch bei Mrs. Duvoisin. Leise fluchend sprang Paul aus dem Wagen, lief außen herum und half Charmaine herunter. Ein gehauchtes »Dankeschön« kam über ihre Lippen, bevor sie die Stufen hinauf und ins Haus eilte.

Mit breitem Lächeln sah Paul ihr nach, was genau seine Stimmung wiedergab. Er liebte es, sie anzusehen, so reizend war sie in ihrer Unschuld und ihrem Zorn. Ja, sie war unschuldig, dessen war er inzwischen sicher, und schon deswegen durfte er ihr nicht böse sein. Sie war einfach zu entzückend. Auf der Fahrt hatte es ihm Spaß gemacht, sie zu necken, aber ebenso wollte er erreichen, dass sie sich in seiner Gegenwart völlig unbefangen fühlte. Vielleicht war der »Handel«, den er vorgeschlagen hatte, ja der beste Weg. Außerdem musste und wollte er Colettes Wunsch erfüllen, den sie im Garten geäußert hatte. Ich möchte nicht, dass du mit Charmaines Zuneigung spielst. Sie hat auf der Liste deiner Eroberungen nichts zu suchen. Die Kinder werden sie eines Tages brauchen, sollte mir etwas passieren. Versprich mir, dass du ihr nicht wehtust. Aus Respekt vor Colette hatte er bestes Benehmen versprochen, und Charmaine zuliebe wollte er die Abmachung auch einhalten. Eines schönen Tages würde sie sich in seiner Gegenwart wohlfühlen, dessen war er sicher. Dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihre eigenen Wünsche entdeckte, und wenn sie bereit war, sie zu genießen, würde er zur Stelle sein. Ja, Charmaine Ryan, ich kann warten.

In diesem Moment unterbrach Robert Blackford Pauls Grübeleien, und die beiden Männer wechselten einige Worte, bevor sie ins Haus gingen. Der Arzt war ungewöhnlich früh gekommen, es war erst zwölf Uhr.


»Rasch, Jeannette«, flüsterte Yvette drängend. Sie hockte am oberen Ende der Treppe und spähte zwischen den Sprossen des Geländers hindurch ins Spielzimmer. »Wenn du dich nicht beeilst, versäumst du es!«

»Was?«, fragte Charmaine vom Treppenabsatz aus.

Yvette richtete sich kurz auf. »Oh, Mademoiselle«, sagte sie süßlich.

Vielleicht war es ihr Lächeln oder die Antwort, die sie nicht gab … Jedenfalls wusste Charmaine genau, dass etwas im Busch war.

»Was versäumt sie?«, fragte sie noch einmal.

Yvette war sehr geschickt und wusste, wie man ehrlich antwortete, ohne wirklich die Wahrheit zu sagen. Sie stöhnte vernehmlich. »In der Koppel ist ein Pferd, das ich Jeannette zeigen möchte.«

Das klang gut, aber Charmaine war trotzdem nicht zufrieden. »Wozu dann diese Heimlichkeiten?«

»Es gibt keine Heimlichkeiten. Ich wollte nur, dass sie sich beeilt.«

Jeannette kam, lächelte und war so unbefangen wie immer.

»Wo sind eure Mutter und Nana Rose?«, fragte Charmaine misstrauisch.

»Sie essen noch«, antwortete Jeannette.

»Und sie haben euch das erlaubt? Ist das Pferd denn nicht gefährlich?«

»Oh, nein«, versicherte Jeannette. »Chastity ist ziemlich zahm.«

»Chastity?«

»Mamas Pferd.« Yvette stampfte ungeduldig mit dem Fuß.

»Und warum ist das Pferd so interessant?«

»George will uns etwas zeigen«, erklärte Yvette vage.

»Was will ich euch zeigen?«

Yvette zog eine Grimasse. Verdammtes Pech!

Mit einem Keks in der Hand gesellte sich George zu ihnen. »Hat hier gerade jemand von mir gesprochen?«

Charmaine sah ihn misstrauisch an. »Sie haben keine Ahnung, was hier vorgeht?«

»Nein. Worum geht es denn?«

»Um das Pferd in der Koppel, das Sie den Kindern zeigen wollten.«

»Keine Ahnung.«

Jetzt war Yvette mehr als wütend. »Doch, das wolltest du, George«, schimpfte sie. »Letztes Mal hast du gesagt, dass wir beim nächsten Mal zusehen dürfen. Und nun ist nächstes Mal.«

George zuckte die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, wovon ihr redet.«

»Also, heraus mit der Sprache, Yvette. Was ist los?«

Jeannette seufzte. »Sag es ihr, Yvette.«

»Na gut.« Yvette stöhnte ein zweites Mal. »Aber George hat es uns versprochen! Joseph sagt, dass Gerald und die anderen Stalljungen Phantom und Chastity heiraten lassen. Das will ich sehen.«

Charmaine fächelte sich mit den Händen Kühlung zu. Doch Georges Hustenanfall übertraf ihre Verlegenheit bei weitem. Der Keks schien in seiner Kehle festzustecken. »Ich glaube … ich verschwinde lieber … auf der Stelle …«, stotterte er und schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust. »… Wenn Sie mich … entschuldigen wollen.«

Kaum dass er fort war, ließ Charmaine ihrer Empörung freien Lauf. »Welch ein abscheulicher Wunsch. Warum, in Gottes Namen, wollt ihr so etwas sehen?«

»Es interessiert mich eben.« Yvette zuckte die Schultern.

»Ich würde vorschlagen, dass du dich für etwas anderes interessierst. Auch wenn es dir nicht gefällt, Yvette, aber du bist eine junge Lady. Nicht einmal Gentlemen unterhalten sich über solche Sachen.«

»Welche Sachen?«

Charmaine stöhnte.

»Charmaine?«, fragte Paul, als er mit Dr. Blackford die Treppe heraufkam und von einem zum anderen sah. Yvette mied seinen Blick. »Worüber unterhalten sich Gentlemen nicht?«, bohrte er weiter, als ihm langsam der Zusammenhang dämmerte.

»Über Pferdehochzeiten«, klärte seine Schwester ihn ohne Zögern auf.

Charmaine hielt die Luft an, weil sie auf seinen Widerspruch gefasst war. Aber Paul überraschte sie. »Mademoiselle Charmaine hat recht. Gentlemen reden nicht über solche Sachen. Jedenfalls nicht öffentlich. Ich bin jedoch überrascht, dass du deiner Gouvernante Kummer machst. Das ist sicherlich nicht die richtige Art, seine Dankbarkeit auszudrücken. Wenn ich mich nicht irre, so hat sie doch heute einen Brief auf der Destiny abgeliefert, oder etwa nicht?«

Yvettes Augen verengten sich. Die Stille wurde immer unerträglicher. »Ich glaube, ich habe Hunger«, sagte Charmaine schließlich, um die Sache zu beenden.

Colette wischte Pierre gerade den Mund ab, als sie alle zusammen das Speisezimmer betraten. Agathas Augen leuchteten auf, als sie ihren Bruder erblickte. »Oh, Robert, du bist heute ja zeitig hier.« Er erwiderte ihren Gruß mit einem Lächeln, was nur selten vorkam.

Colette richtete sich auf. »Dr. Blackford«, sagte sie leise, »ich benötige Ihre Dienste heute nicht.«

Der Mann straffte die Schultern. »Madame, ich fürchte, diese Entscheidung liegt nicht in Ihrem Ermessen«, erwiderte er sichtlich gekränkt. »Ihr Mann erwartet, dass ich Ihre Gesundheit wiederherstelle, aber das kann ich nur, wenn ich Sie regelmäßig behandle. Ich war der Annahme, Sie hätten das verstanden, als wir uns auf die wöchentlichen Besuche verständigt haben.«

»Und ich sage jetzt, was ich verstanden habe, Robert«, entgegnete Colette heftig. »Bis zu Ihrer Ankunft am vergangenen Samstag habe ich mich wohlgefühlt, doch danach fühlte ich mich den Rest des Tages schrecklich elend. Dieser Zustand hat noch fast den ganzen Sonntag angedauert.«

Dr. Blackford war ehrlich gekränkt. Mit ernster Miene sah er Colette an. »Das muss die neue Dosierung sein. Die ist stark. Aber das muss so sein, da Sie sich ja weigern, das Mittel auch in meiner Abwesenheit zu nehmen.«

Colettes Blick schoss zu Agatha hinüber, und Dr. Blackford nickte bekräftigend. »Ja, es ist mir zu Ohren gekommen, wie widerspenstig Sie sein können. Wenn Sie vernünftig wären und das Elixier wie verschrieben einnehmen würden, könnten wir mit einer geringeren Dosis auskommen. Ich muss meine medizinischen Bücher und Zeitschriften zu Rate ziehen und sehen, was sich machen lässt.«

»Ziehen Sie zu Rate, wen oder was auch immer Sie wollen, lieber Doktor, aber heute werden Sie mich nicht behandeln.«

Agatha schnalzte mit der Zunge. »Die Gouvernante ist schuld daran.« Sie deutete auf Charmaine. »Die hat ihr den Kopf mit allerlei medizinischen Weisheiten vollgestopft.«

Colette runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Agatha. Aber ich weiß sehr genau, wie elend ich mich gefühlt habe.«

»Eben deswegen ist Robert ja hier. Denk an deine Kinder und daran, welche Auswirkungen es hat, sollte sich dein Zustand verschlimmern.«

Colette gab sich geschlagen, und Agatha nutzte das aus, um Charmaine erneut anzugehen. »Falls Miss Ryan der Meinung ist, dass mein Bruder unfähig ist, würde ich gern erfahren, womit sie das begründet.«

Jetzt ruhten aller Augen auf Charmaine. »Eine solche Behauptung habe ich niemals aufgestellt. Ich habe nur die Vermutung geäußert, dass die beste Medizin für Miss Colette vermutlich die Gesellschaft ihrer Kinder sei.«

Paul räusperte sich. »Warum verschieben wir den Besuch nicht einfach auf den kommenden Samstag, Robert? Inzwischen können Sie Ihre Bücher und Fachzeitschriften wälzen und die richtige Dosierung für Colette ermitteln. Und sie kann überprüfen, wie ihr die wöchentliche Pause bekommt.«

Dr. Blackford nickte kurz, packte seine Schwester am Arm und zog sie, bevor sie noch protestieren konnte, mit sich nach draußen.

Als Colette die Haustür ins Schloss fallen hörte, seufzte sie. »Ich danke dir, Paul.«

Er lächelte zuvorkommend und kam dann auf sein Anliegen zu sprechen. »Ich habe Stephen Westphal für heute Abend zum Dinner eingeladen. Vater ist mit dem Treffen einverstanden. Ich denke, du hattest recht. Es tut ihm gut, sich wieder mit den Angelegenheiten der Insel zu befassen.«

Colettes Augen leuchteten auf. »Hat Frederic gesagt, ob er auch mit uns essen wird?«

»Davon war nicht die Rede«, sagte Paul. »Bisher jedenfalls nicht.«


Charmaine und die Mädchen hatten ungefähr eine Stunde lang zu tun, um ihre Habseligkeiten in das neue Zimmer zu räumen. Da Charmaine das Ankleidezimmer nicht benutzen wollte, ließ sie den großen Schrank von George und Travis in ihr Schlafzimmer räumen, damit sie ihre Kleidung jederzeit griffbereit hatte. Nachdem die Mädchen auch das letzte Taschentuch eingeräumt hatten, traten sie einen Schritt zurück und betrachteten ihr Werk.

Den gestrigen Tag über hatte man den Raum gelüftet, und inzwischen waren alle männlichen Attribute verschwunden. Hauchzarte Vorhänge ersetzten die schweren Vorhänge an den französischen Fenstern, und der dunkle Quilt auf dem Bett hatte einer daunenweichen leichten Steppdecke weichen müssen. Außerdem hatte Colette auch Johnnys persönliche Sachen entfernt. Charmaine betete, dass Paul und George recht behielten und John wirklich nicht mehr nach Hause kam. Trotzdem fand sie Colettes Vermutung, dass er entsetzt wäre, wenn man seine Zimmer ausgerechnet an die Gouvernante vergeben hätte, überaus beunruhigend.

Als die Zeit des Dinners näher rückte, erklärte Colette ihren Töchtern, dass sie einen Gast erwarteten, und die Mädchen versprachen, sich gut zu benehmen. Als sie das Speisezimmer betraten, saßen Paul und Stephen bereits am Tisch. Sie hatten eine ganze Stunde in Frederics Räumen verbracht, doch wie Paul vorhergesagt hatte, kam sein Vater nicht zum Dinner herunter. Colette war verärgert, als sie sah, dass Agatha an Pauls linker Seite und gegenüber von Stephen Platz genommen hatte, sagte aber nichts. George war weniger zimperlich, als er verspätet zu Tisch kam. »Sie sitzen auf meinem Platz, Mr. Westphal«, bemerkte er taktlos.

»Aber, Mr. Richards«, entrüstete sich Agatha. »Stephen ist heute Abend Pauls Gast und hat Wichtiges mit ihm zu besprechen. Außerdem gibt es ja noch genügend andere Stühle.«

George errötete, schluckte den Protest aber hinunter. Stattdessen wählte er einen Platz in Charmaines Nähe und strafte das obere Ende der Tafel von da an mit Missachtung. Das aufwändige Mahl wurde aufgetragen, und obgleich George den Gerichten mit Wonne zusprach, brodelte der Hass auf Agatha in ihm.

Agatha Ward – wie sehr er diese Person hasste! Solange er zurückdenken konnte, waren John und er ihr ein Dorn im Auge. Wenn sie zu Besuch auf Charmantes gewesen war, waren sie ihr nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen. Der höfliche Paul jedoch, der Augapfel seines Vaters, war vom ersten Moment an ihr Liebling. Agatha wollte sich bei Frederic einschmeicheln, und da Paul Frederics Favorit war, zog sie ihn ebenfalls den anderen vor. Aber heute schien sich etwas zusammenzubrauen! Heute? Bah! Das ging schon seit Monaten so. Vielleicht wegen Frederics Krankheit? Oder war Pauls gutes Aussehen der Grund? Verlagerte sich Agathas Aufmerksamkeit etwa vom Vater auf den Sohn? George schnaubte voller Abscheu. Sollte er den Freund warnen, bevor die Alte ihre Krallen zu tief in ihn eingrub? Wieder schnaubte er. Heute Abend hat er mich nicht verteidigt, hat die Vogelscheuche nicht in ihre Schranken verwiesen, wie John das getan hätte. Nein, ich werde nicht mit ihm über Agatha Ward sprechen.

Während das Mahl seinen Fortgang nahm, entwickelte sich eine lebhafte Unterhaltung. Die Geschäfte der Duvoisins interessierten nur am Rande, obwohl Agatha die Unterhaltung mehrfach in diese Richtung zu lenken suchte. Doch Paul mochte weder über den Ertrag der Zuckerrohrernten noch über den Schiffshandel sprechen. Irgendwann wurde klar, dass er entweder verhindern wollte, dass Agatha Genaueres über die Vorgänge auf der Insel erfuhr, oder dass er die wichtigen Einzelheiten bereits mit seinem Vater erörtert hatte.

Charmaine sah Colette an. Obwohl sie die perfekte Gastgeberin spielte, schien sie innerlich erregt zu sein. Zuerst dachte Charmaine, dass Pierre schuld sei, weil er nur mit seinem Essen spielte. Doch dann fiel ihr Blick auf George, und sie entdeckte denselben Ausdruck auch bei ihm. George tat ihr leid, weil er Agathas Tadel nicht verdient hatte.

Um ihn ein wenig aufzuheitern, unterhielt sie sich mit ihm und freute sich, als er irgendwann spitzbübisch grinste. Sie lachten gemeinsam über seine geflüsterten Bemerkungen. »Ich denke, dass Agatha und Stephen ein gutes Paar abgäben. Er sieht aus wie ein stolzer Gockel. Vielleicht würde er sich gern von einer Glucke zu Tode picken lassen.«

Die Fröhlichkeit am Ende der Tafel störte Paul. Er warf George einen ärgerlichen Blick zu, aber der neigte sich gerade zu Charmaine und bemerkte es nicht. Charmaine dagegen nahm seinen Blick wahr und richtete sich auf. Auf ihre Reaktion hin drehte auch George sich um und sah Pauls Blick.

Als die stumme Botschaft endlich angekommen war, wandte Paul sich wieder an Stephen Westphal. »Sagen Sie, Stephen, haben Sie Neuigkeiten von Anne?«

Der Mann schluckte, dann tupfte er seine Lippen mit der Serviette ab. »Ja, natürlich. Sie ist guter Stimmung und hat inzwischen die Witwenkleider abgelegt.«

»Anne London ist Stephens Tochter«, erläuterte Paul für alle, die es hören wollten. »Sie lebt in Richmond und ist vor kurzem verwitwet – im vergangenen Jahr, soviel ich weiß?«

Der Bankier blickte in die Runde und wurde zusehends redseliger. »Letztes Jahr im Mai. Anfangs war sie sehr verzweifelt, aber zum Glück hat ihr Charles, Gott schenke seiner Seele Frieden, ein kleines Vermögen hinterlassen, wofür sie ihm sehr dankbar ist. Inzwischen geht sie auch schon wieder unter Menschen. Ich habe ihr natürlich zur Vorsicht geraten, falls ihr jemand den Hof macht. Sie sollte darauf gefasst sein, dass es die meisten nur auf ihr Geld abgesehen haben.

»Wetten, dass«, murmelte George und entlockte Charmaine ein Kichern.

Paul warf ihnen erneut einen finsteren Blick zu.

Charmaine errötete, und Yvette fragte: »Was ist daran so lustig?« Sie war erleichtert, als Agatha sich einmischte.

»Und hat Ihre Tochter inzwischen einen Verehrer, Stephen?«

»Ich sollte es eigentlich nicht verraten.« Er lachte ein wenig, als er von einem zum anderen sah und sein Blick schließlich bei Paul hängenblieb. »Aber in ihrem letzten Brief schreibt sie, dass Ihr Bruder ihr den Hof macht.«

Paul war überrascht. »John? John macht Anne den Hof?«

»So schreibt sie.«

»Johnny?«, fragte Yvette. »Kennt Ihre Tochter meinen großen Bruder?«

Als Stephen antworten wollte, fiel ihm Agatha ins Wort. »Kinder soll man sehen, aber nicht hören. Dies ist eine Unterhaltung der Erwachsenen, junge Lady.«

Colette riss die Geduld. »Agatha, wie du weißt, bin ich Yvettes Mutter – und ich ermahne sie, wenn ich das für nötig halte.« Dann wandte sie sich an Stephen. »Mr. Westphal, bitte beantworten Sie die Frage meiner Tochter.«

»Ja.« Der Mann räusperte sich, da ihm die Situation zu peinlich war. »Meine Tochter kennt deinen großen Bruder. Sie schreibt sehr nett von ihm. Vielleicht wird sie ja eines Tages deine Schwägerin.«

Colettes Lächeln reichte nicht bis in ihre Augen. »Sagen Sie, Mr. Westphal, hatten Ihre Tochter und Ihr verstorbener Schwiegersohn Kinder?«

»Nein, Madame.« Mr. Westphal war überrascht. »Im Grunde wollte Anne keine Kinder, und ich denke, das war letzten Endes gut so. Warum fragen Sie?«

»Das ist mir nur so eingefallen.« Sie trank einen Schluck Wein. Dabei wanderte ihr Blick zu Paul, der sie kurz ansah, bevor er sich wieder seinem Teller zuwandte.

Die restliche Mahlzeit verlief ohne Zwischenfälle. Als Charmaine sich sehr viel später am Abend zurückzog, dachte sie nicht länger an Stephen Westphal, Anne London oder Agatha Ward, sondern an die Harringtons, an George und an Paul. In der ersten Nacht im neuen Bett würde sie wunderbar träumen, denn die Kissen waren weich, die Matratze war breit und die Decke in der kühlen Nachtluft angenehm warm. Sie überwand sich und ließ sogar die französischen Türen offen, bevor sie einschief.

Paul und Agatha begleiteten Stephen noch zu seinem Wagen und stiegen dann die Treppen zu ihren jeweiligen Räumen empor, während Colette und George noch im Wohnraum saßen. »Ich muss mit dir reden«, sagte Colette, als George sich ebenfalls zurückziehen wollte.

Er unterdrückte ein Gähnen. »Und worüber?«

»Hast du bemerkt, dass Agatha Paul schöne Augen macht?«

Er musste lachen. »Ist dir das auch aufgefallen? Ich wollte ihn eigentlich deswegen warnen. Ehrlich, ich habe darüber nachgedacht.« Angeekelt schüttelte er den Kopf. »Heute Abend hätte ich ihr den Hals umdrehen können! Was fällt dieser Frau ein, so mit mir zu reden!«

»Ich weiß, George. Ich war ebenfalls empört. Außerdem gefällt mir nicht, wie sie Paul ansieht. Seit Wochen versuche ich mir einzureden, dass ich mich täusche. Doch als sie heute Abend nebeneinander am Kopf der Tafel saßen und sie sich immer wieder zu ihm gebeugt und jedes seiner Worte förmlich aufgesaugt hat, war mir klar, dass ich mich nicht irre.«

»Mach dir keine Sorgen, Colette. Paul wird sich nicht in Agatha Ward verlieben. Und selbst wenn – was macht das schon?«

»Was das macht? Glaubst du, dass ich sie in alle Ewigkeiten hier im Haus ertrage? Sie ist mindestens zehn Jahre älter als er.«

»Eher zwanzig. Elizabeth war schließlich die jüngere der beiden Schwestern! Wenn ich mich nicht irre, war sie bei Johns Geburt achtzehn Jahre alt. Demnach müsste Agatha um die fünfzig sein.«

»Was man ihr nicht ansieht. Sie ist noch immer eine schöne Frau.«

George schnaubte verächtlich. »Das sind doch nur Äußerlichkeiten, Colette. Paul achtet auf mehr als nur auf Schönheit.«

Colette rieb sich die Stirn. »Bisher hat er sich noch nie für sie interessiert.«

»Quäl dich doch nicht so, Colette«, tröstete er sie, als er merkte, wie durcheinander sie war. »Ich verstehe nicht, wie sich ein Mann überhaupt für sie interessieren kann. Sie ist schlicht grausam. Und Paul gefällt eure Gouvernante sowieso besser. Hast du bemerkt, wie finster er mich heute angesehen hat. Das ist seine Art, mir zu zeigen, dass sie ihm ›gehört‹. Das geht jetzt schon seit zwei Wochen so. Wenn du also etwas Abstand zwischen Paul und Agatha schaffen willst, dann sorge dafür, dass Charmaine bei Tisch neben ihm sitzt. Er wird dann keine andere mehr anschauen. Das garantiere ich.«

Colette zwang sich zu einem Lächeln, und George wusste, dass er sie nicht überzeugt hatte.

»Ich werde mit ihm darüber sprechen. Ist es das, was du möchtest?«

»Ich weiß nicht recht, George … Jedenfalls weiß ich, dass Agatha Ward aus meinem Leben verschwinden soll.«

George nickte verständnisvoll.

Viel später im Bett sann Colette über ihre Zwangslage nach. Wenn sie doch nur noch wie im ersten Jahr ihrer Ehe mit ihrem Mann reden könnte. Damals waren sie glücklich gewesen und gut miteinander ausgekommen, nachdem die ersten stürmischen Monate vorüber waren. Was war geschehen? Die Zwillinge … Ja, die Zwillinge waren zur Welt gekommen, und man hatte ihr verboten, weitere Kinder zu bekommen. Frederic war ein leidenschaftlicher Mann, und das Verbot hatte ihre Beziehung belastet. Wie oft hatte sie damals seinen Blick bemerkt, obwohl er sie kein einziges Mal geliebt hatte. Aber das war nicht alles. Bei weitem nicht. Frederic hatte sich immer nach den drei schlichten Worten aus ihrem Mund gesehnt, die er so oft hervorgestoßen hatte, wenn er in ihren Armen zum Höhepunkt gelangt war. Warum hatte sie ihm die Liebe vorenthalten, nach der er sich so sehr sehnte? Die Liebe, die sie längst für ihn empfand? Warum hatte sie ihm nie gesagt, dass sie ihn liebte? Weil ich Angst hatte, weil ich befürchtete, dass er noch mehr Macht über mich gewinnen könnte! Also hatte sie geschwiegen und ihn das Schlimmste glauben lassen. Dass sie noch immer böse auf ihn sei, dass sie ihn hasse. Und dann war etwas geschehen … Agatha Ward war zu Besuch gekommen, und Agatha Ward hatte den Weg in Frederics Bett gefunden. Und Colette war verzweifelt und allein geblieben.

Und nun waren ihre Sorgen wieder aufgeflammt. Sie hatte angenommen, dass Agatha noch immer Frederics Umarmungen suchte, doch sie hatte sich getäuscht. Offenbar hatte Frederics Behinderung sie gestört. War Paul jetzt ihr neues Ziel? Allein bei dem Gedanken schüttelte sich Colette. Nicht dass Pauls sexuelle Neigungen sie interessierten. Doch sie fürchtete ein längeres Verhältnis zwischen den beiden. Die Frau war verschlagen und durchaus fähig, einen jungen Mann nach ihrer Vorstellung zu manipulieren. Heute war Colette noch stark genug, um Agatha entgegenzutreten. Doch was würde morgen sein? Was sollte aus ihren Kindern werden, wenn sie schwächer wurde oder, noch schlimmer, womöglich nicht mehr da war, um sie zu beschützen? Wenn Agatha eine mächtigere Position im Haus der Duvoisins erreichte, würden ihre Kinder darunter leiden. Colette betete zu Gott, dass sie sich irrte, aber die Antwort wollte sie nicht abwarten. Um Charmaine nicht den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen, hatte sie Paul das Versprechen abgenommen, die junge Gouvernante zu respektieren. Vielleicht würde er ja eines Tages ihr wunderbares Wesen entdecken. Nun gut! Colette seufzte und schloss endlich ihre Augen. Bevor Agatha sich daran gewöhnen konnte, neben Paul zu sitzen, gab es von morgen an eine neue Sitzordnung an Colettes Tisch. Sollte Agatha ruhig wütend werden.