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Freitag, 18. August 1837

Um neun Uhr am Abend schliefen die Kinder tief und fest, und Charmaine hatte endlich Zeit für sich selbst. In den Wohnraum mochte sie nicht gehen, weil Agatha und Rose dort regelmäßig ihre Abende verbrachten. Agatha schikanierte sie zwar nicht mehr, aber Charmaine mied die Frau trotzdem, wann immer es möglich war. Kurz entschlossen klingelte sie nach Millie, weil sie ein Bad nehmen wollte.

Eine Stunde später saß sie frisch gebadet an ihrem Frisiertisch und versuchte, die feuchten Haare zu entwirren. »Sie sind einfach zu lockig«, schimpfte sie, legte den Kamm zur Seite und griff nach der Bürste. Aber besser wurde es davon nicht. Irgendwann segelte die Bürste durch die Luft, prallte gegen die Tür und blieb auf dem Fußboden liegen. Stattdessen angelte Charmaine die Schere aus ihrem Nähzeug. In der feuchten Luft würde es Stunden dauern, bis ihre Haare trockneten. Besser, sie schnitt sie einfach ab. Aber auch diesmal rang sie längere Zeit mit sich und konnte sich nicht dazu aufraffen. Schließlich stand sie auf und trat an die offenen Glastüren. Dort stand sie lange Zeit, fuhr sich, in Gedanken versunken, mit den Fingern durchs Haar und spürte, wie der laue Abendwind die Strähnen trocknete.

Unter ihr auf der Veranda waren plötzlich Schritte zu hören. Es war Paul, der zum Stall hinüberging. Sie runzelte die Stirn. Heute lief nichts wie gedacht. Wenn sie gewusst hätte, dass Paul zu Hause war, hätte sie Agathas Missfallen liebend gern in Kauf genommen, nur um in seiner Nähe zu sein.

Sie schüttelte diesen Gedanken schnell wieder ab. Während der letzten beiden Monate hatte sie ein ständiges Wechselbad der Gefühle erlebt. Pauls Anwesenheit verursachte ihr Herzklopfen, aber er hielt immer ein wenig Abstand. Er schäkerte zwar mit ihr und ließ sie spüren, dass er sie bezaubernd fand, aber zu zärtlichem Geflüster ließ er sich nicht hinreißen. Er hatte ihre Welt vollkommen auf den Kopf gestellt, und ihr behagte es ganz und gar nicht, dass ihre Selbstsicherheit verflogen und sie ständig verlegen war und sich unsicher fühlte.

Ein Geräusch jenseits der großen Wiese riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah zur Koppel hinüber. Paul kam aus dem Stall und ging zurück zum Haus. Also hatte er gar nicht ausreiten wollen, sondern nur nach Chastity gesehen, die demnächst ihr Fohlen bekommen sollte.

Sie ließ den Kopf sinken. Sie sollte nicht an ihn denken. Wie so oft kam sie zu dem Schluss, dass sie nur eine nette Abwechslung für Paul war – eine Frau, mit der man gern zusammen war, die man aber genauso schnell vergaß, wenn man sie eine Zeit lang nicht sah. Verbannte er sie nicht jedes Mal aus ihren Gedanken, wenn er nach Espoir aufbrach? Sie nahm jedenfalls nicht so viel Raum in seinen Gedanken ein, wie das umgekehrt der Fall war. Sie war ja nur die Gouvernante. Paul hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihm im Bett gefallen könnte. Aber zu einem Heiratsantrag reichte das nicht. Es war wirklich klüger, ihn zu meiden. Was hatte Colette damals gesagt? Er ist ein Schürzenjäger … Ich möchte nicht, dass Sie Ihr Herz an jemanden verschenken, der Ihre Liebe nicht erwidert. Wenn sie die Warnung nicht befolgte, würde sie mit gebrochenem Herzen enden. Schlag ihn dir aus dem Kopf, dachte sie. Stell dir gar nicht erst vor, wie sich ein Kuss anfühlen würde. Sei lieber froh, dass du in deinem Zimmer bist. Je weniger du von dem Mann siehst, umso besser.

Es klopfte, und Charmaine ließ Millie und Joseph ein, damit sie die Wanne leerten. Als der junge Mann mit zwei randvollen Eimern davonmarschierte, wandte sie sich wie beiläufig an seine Schwester. »Ich habe Master Paul zu den Ställen gehen sehen, aber er ist nicht fortgeritten. Es ist schon ziemlich spät. Ist etwas vorgefallen?«

»Er sorgt sich um die Stute«, sagte Millie, als sie sich aufrichtete und den nächsten Eimer aus der Wanne hob. »Chastity wiehert schon den ganzen Abend, aber für die Geburt ist es noch zu früh. Master Paul hat nach Martin geschickt.«

»Martin?«

»Er ist Hufschmied im Mietstall«, erklärte Millie und schüttelte sich. »Ein abscheulicher Mann. Schrecklich eingebildet, wenn Sie wissen, was ich meine. Wenn man ihn ruft, richtet er sich sogleich häuslich ein. Hoffentlich benimmt er sich nicht wieder so schlecht wie beim letzten Mal. Damals hat er um Mitternacht das ganze Haus aus dem Bett gescheucht, nur weil er etwas essen wollte.«

Charmaine war diesem Martin zwar bisher noch nicht begegnet, aber sie erinnerte sich, dass Yvette ihn einmal erwähnt hatte. »Ich denke, die Sorge ist unbegründet. Wenn Master Paul zu Hause ist, benimmt er sich sicher nicht ganz so schlimm.«

»Glauben Sie? Dieser Martin verschont auch Master Paul nicht. Aber der lässt ihm sein Benehmen meistens durchgehen, weil Dr. Blackford keine Pferde mehr behandelt.«

Joseph kam zurück und füllte zum zweiten Mal die Eimer. Diesmal verließ auch Millie das Zimmer. Noch ein weiterer Gang, dann verschwand auch die Wanne, und Charmaine war wieder allein.

Weit in der Ferne war Donnergrollen zu hören, und die Vorhänge flatterten in der auffrischenden Brise. Charmaine schloss die Balkontüren und schlich auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer. Yvette lag kerzengerade im Bett und hatte ihre dünne blaue Decke unter den Armen festgesteckt. Jeannette dagegen hatte sich freigestrampelt und musste wieder zugedeckt werden. Der kleine Pierre schnarchte leise vor sich hin. Ein Däumchen steckte im Mund, und seine andere Hand umklammerte das ausgestopfte Lämmchen. Charmaine strich Pierre das Haar aus dem Gesicht, küsste ihn auf die Stirn und verharrte einen Augenblick, um ihn voller Liebe zu betrachten. Als sie die ersten Tropfen fallen hörte, verriegelte sie die Glastüren und kehrte in ihr Zimmer zurück.

Der Sturm näherte sich mit großer Geschwindigkeit. Der Donner wurde lauter und lauter und immer beängstigender. Charmaine drehte die Flamme der Öllampe kleiner, kniete nieder, um ihre Gebete zu sprechen, und stieg ins Bett. Wie so oft wurde sie auch heute wieder von den Erinnerungen an den furchtbaren Tag vor Colettes Tod heimgesucht. Sie umklammerte ihr Kissen, schloss die Augen und erwartete das Schlimmste …

Aber das Schlimmste ließ auf sich warten. Als die Uhr in der Halle elfmal schlug, spielte der Sturm noch immer Katz und Maus mit ihnen. Obwohl es auf allen Seiten blitzte und donnerte, war der Lärm noch sehr verhalten. So, als ob sich das Unwetter mit Absicht zurückhielt, sie umkreiste und auf genau den richtigen Moment für den Angriff lauerte.

Schritte auf der Treppe linderten ihre Anspannung. Paul war zu Hause. Vielleicht konnte sie jetzt endlich einschlafen, wenn er in der Nähe war und sie beschützte.

Doch Augenblicke später war der tröstliche Gedanke verflogen. Der Himmel schien sich zu öffnen, und der Sturm prallte mit voller Wucht gegen das Gebäude. Heftige Böen trieben wahre Regenwände gegen die Glastüren, sodass sie vibrierten und klirrten. Grellweiße Blitze erhellten den Raum, ohrenbetäubender Donner antwortete. Charmaine kauerte unter der Decke und wartete zitternd auf den nächsten Schlag. Aber die Stille zwischen dem Donnergrollen machte ihr ebenso zu schaffen, zumal seltsame Geräusche an ihr Ohr drangen …

Am liebsten wollte sie das Rascheln gleich neben dem Bett gar nicht hören … aber die eiskalte, feuchte Hand, die nach ihrem Arm griff, war echt … Sie schrie gellend auf und schleuderte das Bettzeug von sich. Zum Glück wurde ihr Schrei vom Donner übertönt, denn neben ihrem Bett stand zitternd Jeannette. Yvette lehnte an der Tür zum Kinderzimmer und gähnte.

»Du lieber Himmel«, rief Charmaine und schlug sich die Hand aufs Herz. »Es tut mir leid, Jeannette, aber du hast mich zu Tode erschreckt!« Sie lachte ein bisschen laut, aber im nächsten Augenblick streckte sie dem erstarrten Kind die Arme entgegen.

Mit verächtlicher Miene kam Yvette zum Fuß des Betts. »Fürchten Sie sich vor dem Gewitter?«

Charmaine nickte und kam sich plötzlich ziemlich dumm vor. »Noch mehr als Jeannette.«

»Sie hat keine Angst vor dem Gewitter«, widersprach Yvette.

»Nein? Warum seid ihr dann hier?«

»Jemand hat sich über mein Bett gebeugt«, wimmerte Jeannette und zitterte in Charmaines Arm.

»Davon ist sie aufgewacht«, erklärte Yvette. »Sie glaubt mir nicht, dass Sie nach uns geschaut haben.«

Charmaine strich Jeannette die Haare aus dem Gesicht. »Yvette hat recht. Ich habe dich zugedeckt, meine Süße. Tut mir leid, wenn ich dich aufgeweckt habe.«

Verbissen schüttelte die Kleine den Kopf, und in den großen Augen stand noch immer die Angst. »Sie waren es aber nicht. Es war ein Geist. Als ich mich umgedreht habe, ist er weggerannt!«

Charmaine schloss Jeannette fester in die Arme. »Du hast sicher schlecht geträumt. Bei dem Sturm ist das auch kein Wunder. Kommt«, sagte sie und griff nach der Lampe, »marsch ins Bett mit euch beiden!«

»Aber ich habe nicht geträumt«, rief Jeannette. »Ich habe das Gespenst doch gesehen! Sie waren das nicht. Es ist auf den Balkon gerannt. Es ist bestimmt noch auf der Veranda und wartet auf mich!«

»Ich erlaube nicht, dass dir jemand etwas tut. Aber allein bin ich nicht mutig genug. Willst du mir helfen? Wir gehen jetzt zusammen in dein Zimmer. Dann kannst du sehen, dass niemand da ist und dass du keine Angst mehr haben musst. Einverstanden?«

Jeannette nickte und umklammerte Charmaines Hand. Als sie ins Kinderzimmer traten, wehte ihnen kalter Wind entgegen. Die französischen Türen standen weit offen und schwangen an den Angeln vor und zurück.

»Warum habt ihr sie denn nicht zugemacht?« Charmaine stellte die Lampe auf die Kommode. Aber als sie zur Tür lief und sich gegen den Regen duckte, erfasste sie plötzlich ein ungutes Gefühl. Starr vor Entsetzen warf sie die Türen zu und schob den Riegel an seinen Platz. Mit einem Satz sprang sie zurück und war sehr erleichtert, dass ihr kein Geist im Dunkel aufgelauert hatte.

Betroffen betrachtete sie den Schaden. Die Vorhänge und der Teppich waren durchweicht, aber das musste bis morgen warten. Sie nahm lediglich ein Handtuch aus der Kommode und wischte den Boden auf. Als Nächstes sah sie nach Pierre und wunderte sich, dass der Kleine trotz Sturm und offener Türen das Chaos schlicht verschlafen hatte.

»Wie du gesehen hast, war niemand auf dem Balkon«, sagte sie. »Ich vermute, dass dein Geist nichts weiter war als wehende Vorhänge, Jeannette. Außerdem steht dein Bett näher an der Glastür.«

Das Mädchen war nicht überzeugt und jammerte, dass ohne ein Schloss die Türen wieder aufgehen könnten.

»Ich weiß, was beim Einschlafen hilft«, sagte Charmaine, um Jeannette von ihrer Furcht abzulenken. »Wie wäre es mit ein bisschen warmer Milch und ein paar Keksen? Na, los ins Bett mit euch.«

Jeannette nickte zwar, aber dann sprang sie schnell zu Yvette ins Bett. »Ich warte lieber hier«, flüsterte sie. Im nächsten Augenblick kuschelten die beiden Mädchen sich unter die Decke und kicherten leise.

Charmaine zog ihren Morgenmantel über und griff nach der Lampe. Aber Jeannette protestierte augenblicklich und wollte die Lampe behalten. Also zündete Charmaine eine kleine Kerze an. »Ich bin gleich wieder da.«

Im Korridor warf das flackernde Kerzenlicht groteske Schatten an die Wände und bestärkte Charmaine nur noch in ihrer Furcht. An den Wechsel von Donner und Blitz hatte sie sich inzwischen gewöhnt, doch als die Uhr im Foyer plötzlich Mitternacht schlug, zuckte sie zusammen. »Herr im Himmel!«, schalt sie sich und packte das Geländer fester. »Was ist nur los mit mir? Ich komme mir vor wie ein erschrecktes Kaninchen. Dabei gibt es doch gar keine Geister.« Mit diesen Worten ging sie etwas beruhigter nach unten.


Da die Tür zu Pauls Ankleidezimmer nur angelehnt war, hörte er leise Schritte auf der Treppe und dann eine bange Stimme. Er stützte sich an den Türrahmen und betrachtete das hübsche Bild, das sich seinen Augen bot. Miss Ryan war wahrlich ein bezaubernder Anblick. Vor allem in halb entkleidetem Zustand. Ihr Haar fiel lose über ihre Schultern, und ihr Morgenmantel war eng um ihre Gestalt geschlungen und betonte ihre schmale Taille und die runden Hüften. Die Versuchung in Person. Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Abend im Wohnraum, ungefähr zwei Wochen war das jetzt her, als sie sich einfach neben ihn gesetzt hatte. Inzwischen war sie bereit, sich erobern zu lassen. Dessen war er sicher. Aber bisher waren sie nur selten ungestört geblieben … Doch heute Nacht vielleicht? Hatte er nicht immer auf eine Gelegenheit wie diese gehofft? Wenn alle im Bett waren? Eine bessere Zeit gab es nicht!


Obgleich der Sturm ein wenig nachgelassen hatte, war Charmaine nicht beruhigt. Das Haus war in tiefe Dunkelheit gehüllt, nur ihre kleine Kerze erhellte ihren Weg und hin und wieder ein verirrter Blitz. Außerdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass jemand sie beobachtete, obgleich doch alle längst zu Bett gegangen waren. Die Furcht saß wie ein Knoten in ihrem Bauch, als sie, an der Bibliothek vorbei, durchs Speisezimmer in die Küche eilte. »Ich war verrückt, hier herunterzukommen.«

Sie fing an zu summen, um die Geräusche im Dunkel des Raums zu übertönen. Spontan kam ihr nur die Melodie in den Sinn, die sie nicht mehr auf dem Piano spielen durfte. Seltsamerweise fühlte sie sich plötzlich leicht und sicher. Sie erwärmte die Milch und fand auch die Plätzchen, die Mrs. Henderson am Morgen gebacken hatte. Sie räumte alles auf ein Tablett, stellte den Kerzenstummel dazu und machte sich auf den Rückweg.

Als sie aus dem Speisezimmer trat, beleuchtete der Blitzschein die Gestalt eines Mannes, der unter der Tür zum Arbeitszimmer stand. Sekunden später verschluckte die Dunkelheit den Korridor wieder, und die Gestalt war fort. Vor Entsetzen schnappte Charmaine nach Luft, doch der darauffolgende Donner erstickte jeden Laut.

»Wer ist da?«, rief sie laut und betete, dass ihre Augen sie getäuscht hatten.

Aber die Erscheinung war sehr lebendig. Es war Paul, der in den Lichtkreis der Kerze trat. Vor Erleichterung zitterten Charmaine die Knie. »Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte Paul und kam einen Schritt auf sie zu. Sein Haar war zerzaust und sein Morgenmantel nur notdürftig gebunden.

»Ich wusste nicht, dass außer mir noch jemand wach ist«, stotterte sie. Sie erholte sich nur langsam von dem Schrecken.

»Ich habe Ihre Schritte auf der Treppe gehört und dachte, dass Sie vielleicht ein wenig Gesellschaft brauchen. Wie ich sehe, habe ich mich getäuscht.« Er deutete auf das Tablett. »Es war nur der Hunger, der Sie so spät in der Nacht durchs Haus getrieben hat, und nicht die Einsamkeit.«

Charmaine sah auf das Tablett hinunter und lachte leise. »Das ist doch nicht für mich! Die Zwillinge sind vom Sturm aufgewacht, und ich dachte, dass sie mit heißer Milch und Keksen leichter wieder einschlafen.«

»Dann sollte ich Sie eigentlich nicht aufhalten.« Er lächelte. »Aber ich muss es trotzdem tun. Kommen Sie …« Er ging ins dunkle Arbeitszimmer.

Obgleich er das ganz normal gesagt hatte, riet ihr eine innere Stimme, ihm nicht zu folgen. Sie ging nur bis zur Tür. »Ich muss wirklich zu den Kindern. Sie hatten Angst«, fügte sie lahm hinzu. »Und wenn ich nicht bald zurückkomme, regen sie sich nur wieder auf.«

»Bestimmt überleben sie auch noch ein wenig länger«, meinte Paul. »Bis Sie nach oben kommen, sind sie sowieso längst wieder eingeschlafen.« Charmaine konnte nur hoffen, dass er recht hatte. »Möchten Sie denn gar nicht wissen, warum ich Ihnen nach unten gefolgt bin?«

Natürlich war sie neugierig, doch bevor sie etwas sagen konnte, drehte er ihr den Rücken zu und tastete auf dem Tisch nach den Zündhölzern. Der Feuerstein flammte auf. Dann entzündete Paul den Lampendocht und stellte die richtige Höhe ein. Das Licht war hell und verscheuchte auch die letzte Dunkelheit aus den Ecken des Raums.

Der Sturm hatte an Kraft verloren, und Charmaine genoss das Gefühl der Geborgenheit, das ihr den Schritt über die Schwelle erleichterte. Als Paul ganz beiläufig über die Schulter sagte, sie solle das Tablett abstellen, gehorchte sie. Doch ihre Ruhe war augenblicklich dahin, als er sich umdrehte und sie die Leidenschaft in seinen Augen las. Unwillkürlich überlief sie ein Schauer.

»Ist Ihnen kalt?«, fragte er leise.

»Nein«, hauchte sie, da sie sich heftig zu ihm hingezogen fühlte.

»Fürchten Sie sich vor mir?«

Ja, rief ihre innere Stimme, und vor mir selbst. Guter Gott, wir sind ganz allein, und ich fühle mich wie verhext. Aber das behielt sie für sich. Gott bewahre! »Muss ich mich denn fürchten?«, fragte sie zurück.

Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Das hängt ganz davon ab, wovor Sie Angst haben«, erwiderte er geschickt.

Herr im Himmel, sieht er gut aus. Eine Locke hing ihm in die Stirn. Doch Charmaine widerstand der Versuchung, das Haar zurückzustreichen.

Wieder blitzte es, und kurz danach erklang der Donner. Plötzlich erfasste ein Windstoß den Morgenmantel und presste ihn gegen ihre Beine. Eine halbe Ewigkeit sagten sie kein Wort. Pauls Augen glänzten, je länger er ihre schmale Gestalt und ihren unschuldigen Gesichtsausdruck bewunderte, der von den kleinen Locken noch betont wurde. Doch als sein Blick zu ihren Augen zurückkehrte, entdeckte er einen letzten Funken Angst. Reglos schleichend wie ein Panther näherte er sich seiner Beute.

Charmaine zuckte zwar kurz zurück, aber sie flüchtete nicht. Sie verharrte wie angewurzelt, bis sie nur noch einen Atemhauch voneinander entfernt waren. Sie legte den Kopf in den Nacken, um ihm ins Gesicht sehen zu können, und ihr Herz vollführte einen Satz, als seine raue Hand ganz zart über ihre Wange strich.

»So begehrenswert, so begehrenswert«, murmelte er völlig verzaubert, und sein Pulsschlag dröhnte ihm in den Ohren. »Ich kann nicht mehr denken, so sehr wünsche ich mir, diesen Mund zu küssen.«

Pauls Blick verharrte auf Charmaines Lippen, und sie schloss die Lider. Es gab kein Zurück mehr. Sie wollte sich nicht abwenden und sank ihm entgegen, mitten hinein in den wunderbaren Augenblick. Er umfasste ihre Schultern und zog sie behutsam in seine Arme. Sein Mund senkte sich auf ihre Lippen und küsste sie zuerst ganz zart, um ihre Unruhe zu bannen, dann aber fordernder und härter, dass die Schnurrbarthaare auf ihren Wangen prickelten. Schließlich verschlangen seine Lippen ihren Mund, und er presste ihren Körper ungestüm gegen den seinen, während die eine Hand ihren Nacken und die andere ihren Rücken liebkoste.

Der plötzliche Überfall ließ Charmaine schwindeln, doch sie erwiderte den Kuss. Sie reckte sich auf die Zehenspitzen, ihre Hände glitten über seine muskulösen Arme und packten seine Schultern, sie drängte ihren Körper dicht gegen den seinen. Diese ungezügelte Gier strafte ihre Unschuld Lügen und erregte ihn über alle Maßen.

Urplötzlich unterbrach höhnisches Gelächter die Szene.

Mit leisem Fluchen machte Paul sich los.

»So ist es richtig, Paulie. Biete ihr ein Dach über dem Kopf, reiß ihr die Sachen vom Leib und dann ab ins Bett. Und wenn du sie satt hast, muss sie ihren hübschen Hintern bewegen und ohne große Kosten verduften.«

Charmaine schoss herum, um zu sehen, wer solche verletzenden Worte aussprach. Der Mann, der an der Tür zum Korridor lehnte, war von Kopf bis Fuß durchnässt und sichtlich vom Sturm gezeichnet. Er hatte stoppelige Wangen und trug eine lederne Kappe, die verwegen zurückgeschoben war. Aus dem Augenwinkel sah Charmaine, wie Paul seinen Morgenmantel glattzog, um einen würdigeren Eindruck zu machen. Doch was dieser Mann im Haus zu suchen hatte, schien ihn nicht zu interessieren.

Ohne weitere Förmlichkeiten betrat der Fremde die Bibliothek und schämte sich seiner nassen Kleidung nicht im Mindesten. Er umkreiste sie beide, bis Charmaine sich vor Entsetzen nicht mehr rühren konnte. Sie war gekränkt, als er sie mit frechem Blick von Kopf bis Fuß musterte und wie auf einer Auktion ihren Wert schätzte. Als ihre Blicke sich begegneten, senkte sie die Augen und starrte auf seine Stiefel. Sie hatten eine schmutzige Spur auf dem Teppich hinterlassen, als ob er direkt aus den Ställen gekommen wäre. Dann endlich kam ihr die Erleuchtung. Dieser Mann war der Hufschmied, der bei der Geburt des Fohlens helfen sollte. Allerdings verstand sie nicht, weshalb sich Paul solch ungebührliches Verhalten gefallen ließ.

Aber dieser Mann ließ ihr keine Zeit zum Nachdenken. Als sein Blick auf das Tablett fiel, grinste er über das ganze Gesicht und enthüllte leuchtend weiße Zähne, die ein wenig schief waren, aber dafür umso besser zu seinem unverschämten Grinsen passten.

»Wie reizend«, murmelte er. »Ein leidenschaftlicher Kuss und anschließend noch ein kleiner Imbiss.« Er ließ sich in einen der Sessel fallen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Na los, wo bleibt die Fortsetzung? Die romantische Szene hat mir gefallen. Ehrlich! Und erst der Text! Kannst du deine Sätze noch einmal wiederholen, Paul? An deiner Stelle hätte ich nicht so lange gefackelt.« Er lachte.

Charmaines Wut kochte über. »Sie ungehobeltes, verachtenswertes Exemplar! Aus welchem dreckigen Loch sind Sie denn gekrochen? Nein!«, rief sie und hielt sich mit angewidertem Gesicht die Nase zu, »ich will es lieber gar nicht wissen!«

Sein Grinsen wurde immer breiter. Das war nicht zu ertragen! »Zum Glück wohne ich hier«, fauchte sie, »und ich will gar nicht wissen, welcher Name zu so einem arroganten Gesicht gehört!«

Das Grinsen endete in lautem Gelächter und begeistertem Trampeln. Sie reckte ihr Kinn in die Höhe und griff nach dem Tablett, doch seine Stimme folgte ihr bis in den Korridor. »Wie wäre es denn mit einem Kuss von einem solch süßen, schamlosen Frauenzimmer?«

Draußen vor der Bibliothek begann Charmaine zu zittern. Sie konnte ihre Nerven kaum beruhigen. Ein Frauenzimmer. Ein süßes, schamloses Frauenzimmer! Noch nie im Leben hatte jemand sie so genannt! Sie sah auf das Tablett hinunter und merkte, dass die Kerze erloschen war. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie diesem Unhold die Schuld gegeben, der sich noch immer bei Paul im Arbeitszimmer befand. Zum Glück kam der Mensch aus der Stadt, sodass sie ihm nie wieder begegnen musste. Etwas ruhiger machte sie sich auf den Weg nach oben, und nach diesen Ereignissen fürchtete sie sich nicht mehr vor der Dunkelheit.


»Was hast du hier verloren, John?«, fragte Paul, während er zur Bar hinüberging und sich einen großen Brandy eingoss.

»Es wird höchste Zeit, dass ich unsere Geschäfte überprüfe.«

»Ach, wirklich?« Paul schnaubte.

»Genau das. Zum Glück wurde unser Schiff durch den Sturm aufgehalten …« Trotz Pauls gerunzelter Brauen redete er munter weiter. »… sonst hätte ich ja gar nicht erlebt, wie du das Personal zur nächtlichen Unterhaltung nötigst. Du geiler Bastard!« Er grinste. »Sie macht ihren Job richtig gut, nicht wahr?«

»Lass es gut sein, John.«

Stille breitete sich aus, während Paul einen Schluck trank.

»Noch ist ihr gleichgültig, wer ich bin«, stellte John fest. »Aber morgen früh könnte sich das vielleicht ändern.«

»Das bezweifle ich.« Paul war enttäuscht über die Störung. »Sie ist anders.«

»Wirklich? Nach meinem Eindruck würde ich eher das Gegenteil behaupten.«

»Lass sie in Ruhe«, fuhr Paul, der seinen Ärger nicht länger beherrschen konnte, John an.

»Ich soll sie wohl eher wegen dir in Ruhe lassen, was, Paulie? Also … hast du noch nicht bekommen, was du wolltest, oder?«

»Das bespreche ich ganz bestimmt nicht mit dir.«

»Wirklich nicht?« John schnalzte mit der Zunge. »Meine Schlussfolgerung ist also richtig: Dies war dein erstes Stelldichein mit Xanthippe.«

»Das war kein Stelldichein«, zischte Paul.

»Bist du etwa in sie verliebt?« Aber er bekam nur einen finsteren Blick als Antwort. »Nein, ich denke nicht. In diesem Fall ist die Kleine also frei. Mal sehen, wer von uns der Bessere ist.« Er lachte leise. Dann stand er auf, und als er ging, hinterließ er eine feuchte Stelle in dem Sessel, in dem er gesessen hatte.


Als sie das Licht der Blitze gebraucht hätte, gab es keinen Blitz mehr, und Charmaine begriff, dass das Unwetter vorüber war. Das Treppenhaus war dunkel, und sie tastete sich an dem Geländer entlang nach oben. Auf der obersten Stufe starrte sie ins Dunkel und seufzte erleichtert, als ihre Hand den Knauf der Tür zum Kinderzimmer drehte und Lichtschein sie umfing.

Die beiden Mädchen schliefen tief und fest, wie Paul prophezeit hatte. Wie dumm von ihr, um Mitternacht noch durchs Haus zu schleichen! Nicht einmal die Erinnerung an Pauls Kuss machte die Erniedrigung wett, die dieser Mann ihr angetan hatte. Nein! Ich will gar nicht darüber nachdenken!

Sie wandte sich den Kindern zu, trug die schlaftrunkene Jeannette in ihr eigenes Bett und runzelte die Stirn, als sie die Balkontüren leicht angelehnt vorfand. Mit einem kleinen Schauder ging sie zu den Glastüren und verriegelte sie erneut. Ganz wohl war ihr allerdings nicht, denn sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Mädchen oder gar Pierre die Türen geöffnet hatten. Vermutlich war das Schloss defekt. Gleich morgen früh musste sie Travis Thornfield darauf hinweisen.

Sie zündete eine neue Kerze an und drehte den Docht in der Lampe herunter, dann nahm sie das Tablett, damit die Kinder nicht vor dem Frühstück naschten, und kehrte in die Geborgenheit ihres Schlafzimmers zurück.


Von dem missglückten Abend enttäuscht, hatte Paul sich keine Gedanken gemacht, wohin John von der Bibliothek aus gegangen war. Selbst jetzt fiel ihm nicht ein, dass inzwischen Charmaine in Johns bisherigem Zimmer wohnte. Er dachte an Charmaines wunderschöne Lippen, an den weichen Körper in seinen Armen und an ihre leidenschaftliche Reaktion auf seinen Kuss. Wenn er allerdings den Brandy beiseitegestellt und sich Zeit zum Nachdenken genommen hätte, wäre ihm der Tausch der Zimmer vielleicht eingefallen. Aber gefreut hätte es ihn sicher genauso wenig.


John tastete im Dunkel seines Ankleidezimmers herum. »Verdammt, wo sind nur die Zündhölzer?« Trotz allen Suchens fand er sie nicht. Vielleicht hatte er im Schlafzimmer ja mehr Glück. Er fror. Außerdem war er todmüde und von Kopf bis Fuß durchweicht. Ein heißes Bad wäre jetzt genau das Richtige, aber angesichts der späten Stunde musste das bis morgen warten. Doch nach einer Woche an Bord der
Destiny von New York nach Charmantes war ein trockenes Bett auch nicht zu verachten.

Als John die Tür öffnete und sah, wie die Geliebte seines Bruders in sein Bett stieg, war er völlig verblüfft. Damit hatte er nicht gerechnet. Dass sie ihm so schnell verfallen war? Er lächelte schief. Das Mädchen war wirklich hinreißend. Nun ja, vielleicht war er doch noch nicht ganz so müde …

»Ja, was sehe ich denn da! Ist das nicht das kleine Biest von vorhin?« Er lachte zynisch. »Unterhalten Sie die Gäste immer auf diese Weise?«

Charmaine war zu erschrocken, um auch nur einen Laut hervorzubringen. Der Unhold war hinter ihr her! In ihrer Angst fiel ihr nichts anderes sein, als sich gegen die Wand zu drücken.

Er kam immer näher. »Woher wussten Sie, wohin ich mein müdes Haupt betten werde?«

Charmaine begriff schnell, dass sie etwas tun musste, damit nicht alles verloren war. Sie stieß sich von der Wand ab und flüchtete wie ein gehetztes Tier. Gleich darauf hatte sie die Tür zum Kinderzimmer erreicht. Als sie den Türknauf bereits unter den Fingern fühlte, packte er ihren Arm und zerrte sie mit einem energischen Ruck zurück. Die andere Hand presste sich auf ihren Mund, um ihren Schrei zu ersticken. Dann wurde sie herumgerissen und stand dem Unhold Auge in Auge gegenüber. So mies, wie er grinste, wurden ihre Augen immer größer, und ihr Gesicht lief krebsrot an, als sie aus Angst vor seinem faulig stinkenden Atem die Luft anhielt.

John bemerkte ihren Widerwillen und ihr Entsetzen und lockerte seinen Griff. Sie schien wirklich nicht zu wissen, wer er war. Aber wie kam sie dann in sein Zimmer?

Charmaine spürte sein Zögern … und schon begann der Kampf von Neuem. John musste die Hand von ihrem Mund lösen und stattdessen die Füße festhalten, die unablässig gegen seine Schienbeine traten. Die Misshandlung schmerzte zwar nicht übermäßig, aber sie beflügelte seinen Zorn.

»Geben Sie Ruhe, Madame«, zischte er und presste sie gegen die Tür, als sie nicht gehorchte. »Ich verlange nur ein paar Antworten auf meine Fragen. Aber wenn Sie wollen, können wir auch gern an der Stelle weitermachen, wo Paul aufgehört hat.«

Zitternd gab Charmaine nach. Sie fühlte seine Worte an ihrer Wange und krümmte sich vor Ekel davor, gleich den beißenden Whiskygestank riechen zu müssen. Aber sie roch nur feuchte Kleidung und sonst nicht viel.

»Wie kommen Sie hierher?«, herrschte er sie an.

»Dieses Zimmer ist mein Schlafzimmer! Ich arbeite hier, und dies ist mein Zimmer!«

Das klang so überzeugt, als ob es wahr wäre. »Also wissen Sie wirklich nicht, wer ich bin?«

Als er die Hände sinken ließ, fasste sie neuen Mut. »Vermutlich einer von denen, die ihrem stinkenden Gefängnis entronnen sind!« Sie beleidigte ihn genauso, wie er das mit ihr getan hatte. »Sie wären besser dort verrottet!« Doch noch während sie die Worte hervorstieß, dämmerte ihr die Wahrheit: Er war nicht Martin, der Hufschmied aus dem Mietstall.

Sie schnappte nach Luft, als er sie plötzlich an seine Brust zog und den Kopf in ihrem Haar vergrub. »Aha, ein Gefangener, fürwahr«, flüsterten seine Lippen nahe an ihrem Ohr. »Aber erraten Sie auch, wessen man mich beschuldigt?«

»Ich schreie, wenn Sie mich nicht sofort loslassen.« Das Zittern in ihrer Stimme machte die Drohung zunichte. In Wirklichkeit fürchtete sie, dass jeder Widerstand ihn zu neuen Gewalttaten reizen könnte.

Er hob den Kopf aus dem süß duftenden Haar. Als er leise lachte, war klar, dass er nur mit ihr spielte. Gleich darauf wurden seine Augen jedoch ernst, dann ließ er sie zögernd los und trat einen Schritt zurück.

Dieses Mädchen war viel zu verführerisch, als dass ihm das leicht gefallen wäre. Aber er wollte sie nicht einfach in sein Bett zerren wie sein Bruder. Auf keinen Fall wollte er sie zwingen. Sie sollte aus eigenem Antrieb kommen, oder gar nicht. Im Moment war sie dazu nicht bereit, das spürte er. Er trat noch einen Schritt zurück und war froh, dass er unendlich müde war.

Aber einfach aufgeben wollte er das Spielchen trotzdem nicht. Vermutlich war sie die Gouvernante, dachte er, und vermutlich hatte Colette ihr dieses Zimmer gegeben, damit sie in der Nähe der Kinder war. Als er sich umsah, bemerkte er die Veränderungen. Sie hatte zwar weniger Besitztümer, dennoch wärmten diese die Atmosphäre des Raums, wie es ihm nie gelungen war. Als er plötzlich den Atem ausstieß, fuhr sie erschreckt zusammen. Sie hatte sich nicht von der Tür wegbewegt. Irgendetwas in dem Raum war verändert, und das hatte nichts mit dem Wechsel der Bewohner zu tun, aber er wusste nicht genau, was es war.

Sie versuchte, sich vor seinem durchdringenden Blick zu schützen. »Wollen Sie nicht endlich gehen?«

»Immer mit der Ruhe!« Sein Blick fiel auf das Tablett. Er nahm einen Keks, steckte ihn in den Mund und trank von der Milch. »Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten? Es wäre doch eine Schande, die Sachen verkommen zu lassen. Da Paul so schnell nicht auftaucht, jedenfalls nicht hier, könnten wir doch genauso gut …«

»Würden Sie jetzt bitte gehen?« Charmaine nahm sein leises Lachen nicht zur Kenntnis. »Es ist schon spät, und ich habe morgen früh eine Menge zu tun!«

»Oh, machen Sie sich keine Gedanken. Ich sorge schon dafür, dass Sie ausschlafen können … Heute Nacht haben Sie schließlich nicht nur einen, sondern sogar zwei Gentlemen unterhalten! Das nenne ich harte Arbeit!«

Als sie den Mund aufriss, um zu protestieren, zwinkerte er ihr zu, steckte einen weiteren Keks in den Mund und wandte sich zum Gehen. Etwas knackste unter seinem Stiefel. Er bückte sich und hob die Bürste auf, die sie zuvor durchs Zimmer geschleudert hatte. Sie war in zwei Teile zerbrochen. Einen Moment lang betrachtete er die beiden Teile und warf sie dann schulterzuckend aufs Bett. Dann tippte er mit zwei Fingern an seine Kappe und ging hinaus.

Sofort rannte Charmaine zur Tür und drehte den Schlüssel um. Dann lief sie zur Tür des Ankleidezimmers, doch die hatte kein Schloss. Starr vor Angst lauschte sie einige Augenblicke, aber als nebenan alles ruhig blieb, entspannte sie sich langsam. Schließlich sammelte sie die Überreste der Haarbürste vom Bett und legte sich seufzend hinein.


Paul warf sich aufs Bett und fühlte sich mit einem Mal sehr allein … »Verdammt!«, fluchte er und kam wieder auf die Füße. »Verdammt!«

Er riss die Tür zum Korridor auf, aber dann überlegte er es sich anders und wählte stattdessen die französischen Türen. Sekunden später hatte er die südliche Ecke des Balkons umrundet und lief am Zimmer der Kinder vorbei, bis er durch die geschlossenen Türen in Johns altes Zimmer spähen konnte. Als er sah, dass Charmaine allein mitten auf dem Bett saß, drückte er die Türen auf und schaute in jede Ecke, um sicherzustellen, dass sein Bruder nicht doch noch irgendwo im Schatten lauerte.

Charmaine zuckte zusammen und legte die Arme vor die Brust, doch als sie Paul erkannte, ließ sie die Arme wieder sinken.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er besorgt.

»Inzwischen schon«, schimpfte sie.

»War er hier?«

»Natürlich war er hier! Dies ist ja sein Zimmer!«

»Hat er …«

»Nein!«

Pauls Aufatmen verstärkte nur ihren Zorn. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, wer er ist? Mit meinen Beschimpfungen habe ich mich schon gründlich zum Narren gemacht, und als ob das nicht genug wäre, haben Sie ihm nichts von der Änderung der Zimmer gesagt …«

Ihre Worte erstarben, als er um das Fußende des Betts herumging. Sie sprang vom Bett. Heute Nacht haben Sie schließlich nicht nur einen, sondern sogar zwei Gentlemen unterhalten … John Duvoisins Worte verfolgten sie. Außerdem war sie wütend, weil Paul sie in diese erniedrigende Situation gebracht hatte. »Sie haben immer behauptet, dass er nie mehr nach Charmantes kommt! Sie haben es sogar versprochen, bevor ich mit dem Umzug in dieses Zimmer einverstanden war.«

»Etwas anderes hatte ich auch nicht angenommen«, sagte Paul leise. »Ich war mindestens so überrascht wie Sie. Deshalb war ich ja so sprachlos.«

Als sie merkte, dass er ehrlich besorgt war, legte sich ihre Wut.

»Außerdem wollte ich Ihnen eine Vorstellung ersparen, die John nur gnadenlos ausgenutzt hätte. Die Änderung der Zimmer fiel mir erst ein, als ich selbst ins Bett gehen wollte. Es tut mir wirklich leid, Charmaine.«

Er kam immer näher.

»Vergeben Sie mir?«

Ein angedeutetes Lächeln, ein zaghaftes Lächeln … Er beugte sich vor. Der Augenblick war günstig. Aber dann vernahm sie wieder Johns spöttische Stimme. Ist das nicht das kleine Biest? Das süße, schamlose Frauenzimmer?

Charmaine trat einen Schritt zurück. Solch vulgären Bemerkungen wollte sie sich nicht länger aussetzen. »Sie gehen jetzt besser.«

Enttäuscht respektierte Paul ihre Zurückhaltung. Er sah sie noch einmal von oben bis unten an, bevor er den Raum auf demselben Weg verließ, auf dem er gekommen war – und Charmaine verwirrt zurückließ. In diesem Moment war sie sehr verletzlich gewesen, und wieder hatte Paul sich als Gentleman erwiesen.

Als sie sich ins Bett legte, landete sie genau auf der zerbrochenen Bürste. Sie betrachtete die beiden Teile und musste unwillkürlich an John und Paul denken. Zwei Gentlemen in einer Nacht … Nun ja. Diesen John Duvoisin würde sie nicht gerade als Gentleman bezeichnen, doch die Haarbürste war das Einzige, was sie in dieser Nacht eingebüßt hatte.

Samstag, 19. August 1837

In der Morgendämmerung klopfte Paul an Frederic Duvoisins Tür. Vielleicht schlief sein Vater noch. Leise klopfte er noch einmal an, woraufhin Travis Thornfield im Türspalt erschien. »Ihr Vater frühstückt gerade.«

»Ich muss ihn leider unverzüglich sprechen.«

Travis trat zur Seite, und Paul durchquerte das Ankleidezimmer.

Überrascht hob Frederic den Kopf und schlug die Zeitschrift neben seinem Teller zu.

»John ist heute Nacht gekommen.«

Frederic lehnte sich im Sessel zurück und ließ die Nachricht erst einmal auf sich wirken. Freude, Angst und tiefe Enttäuschung stritten in seinem Herzen.

Paul fühlte sich unbehaglich, als sein Vater so nachdenklich war, und setzte zu einer weiteren Erklärung an. »Er ist mit der Destiny gekommen. Sie wurde durch den Sturm aufgehalten und hat erst spät am Abend angelegt.«

»Hast du ihn schon gesehen?«

»Ich war noch im Arbeitszimmer, als er ankam.«

»Hast du auch mit ihm gesprochen?«

»Nur kurz. Es war schon spät, und ich war müde. Außerdem war er völlig durchnässt.« Paul versuchte, den Gesichtsausdruck seines Vaters zu deuten. »Er ist gekommen, um die Geschäfte zu überprüfen. Jedenfalls hat er so etwas gesagt.«

Frederic stand auf. Er stützte sich schwer auf seinen Stock und humpelte zur Fenstertür hinüber. »Vielen Dank, dass du mir Bescheid gesagt hast«, murmelte er.

Als Paul begriff, dass sein Vater nichts weiter sagen wollte, verließ er das Zimmer.

Frederic starrte in den Hof hinunter. John war zu Hause. Er hatte kaum gewagt, auf diesen Tag zu hoffen. Doch nun, da er da war, war er nicht wirklich darauf vorbereitet.


Charmaine hatte lange nicht einschlafen können. Erst als die ersten Streifen der Dämmerung den Himmel in dunkles Organgerot tauchten, hatte die Müdigkeit sie überwältigt. Als sie irgendwann in die Höhe schoss, war der Raum von Tageslicht erfüllt. Sicher war es schon spät. Sie sprang aus dem Bett und wollte ins Spielzimmer laufen. Aber die Kinder hatten einen Zettel unter ihrer Tür hindurchgeschoben.


Mademoiselle Charmaine, wir sind bei Nana Rose.

Jeannette, Yvette und Pierre


Charmaine lächelte erleichtert. Sicher hatten die Mädchen Nana Rose erzählt, dass sie wegen des Gewitters in der letzten Nacht nicht schlafen konnten. Die letzte Nacht … der Sturm … die Kinder … das Gespenst … der mitternächtliche Imbiss … Paul … John!

Sie sank aufs Bett und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Dann fiel ihr Blick auf die Uhr auf ihrer Kommode: acht Uhr dreißig. Sie wollte den Tag gar nicht beginnen, um John Duvoisin nicht begegnen zu müssen. Aber natürlich war dies nicht zu vermeiden, wenn sie ihr Gesicht wahren wollte.

John Duvoisin. Sie hatte den Erben des riesigen Vermögens kennengelernt. Sie hatte zwar viel von ihm gehört, doch meistens nichts Gutes, und nun kannte sie den Grund dafür. Hatte er nicht schon bei diesen beiden Begegnungen bewiesen, dass er alle Bezeichnungen verdiente? Sie krümmte sich, als sie an die Worte dachte, die sie ihm ins Gesicht geschleudert hatte! Sie ungehobeltes, verachtenswertes Exemplar … aus welchem dreckigen Loch sind Sie denn gekrochen?Zum Glück wohne ich hier und muss nicht wissen, welchen Namen ein so arrogantes Gesicht trägt … Vermutlich sind Sie einem stinkenden Gefängnis entronnen … Stöhnend vergrub sie ihr Gesicht in den Händen.

Ein Gefangener! O Gott, wie hatte sie das nur sagen können! Wie hatte sie nur so dumm sein können! Wenn sie im Arbeitszimmer noch nicht begriffen hatte, wer er war, so hätte es ihr doch spätestens dämmern müssen, als er in ihr Schlafzimmer kam! Weder war er der Hufschmied, noch hatte er sie verfolgt! Er hatte nur einfach sein Bett gesucht. Sie errötete. Was hatte er bloß von ihr gedacht, als er sie in seinem Bett sah! Unterhalten Sie die Gäste immer auf diese Weise? Guter Gott! Sie mochte gar nicht daran denken! Ihr Kopf dröhnte, und ihre Augen brannten, weil sie nicht genug geschlafen hatte.

Trotzdem: Im Grunde gab es nichts, dessen sie sich schämen müsste. Sekunden später stöhnte sie. Natürlich gab es etwas! Schließlich hatte John sie in den Armen seines Bruders erwischt. Sie hatte zwar keinen Gast unterhalten, aber an dem Rendezvous mit Paul war sie sehr wohl schuld. Und um die Sache noch schlimmer zu machen: Keiner von ihnen war korrekt gekleidet gewesen, sodass er natürlich die schlimmsten Schlussfolgerungen ziehen musste. Charmaine seufzte. Sie konnte nicht einmal die Erinnerung an ihren ersten Kuss genießen, weil dieser grässliche Mensch alles verdorben hatte.

John Duvoisin. Was sollte sie zu ihm sagen? Auf jeden Fall wollte sie ihm mit erhobenem Kopf gegenübertreten.

Im nächsten Moment wurde die Tür zum Kinderzimmer aufgerissen, und gleich darauf liefen die drei, ohne anzuklopfen, zu Charmaine. Sie waren bereits angezogen und hüpften übermütig auf dem Bett herum.

»Sind Sie jetzt erst aufgewacht?«, fragte Yvette ungläubig. »Es ist schon spät! Ziehen Sie sich endlich an, Mademoiselle Charmaine.«

»Was ist los? Warum habt Ihr es denn so eilig?«

»Nana Rose sagt, dass wir nicht ohne Sie zum Frühstück gehen dürfen. Wir haben aber Hunger.«

Es klopfte, und Charmaine ließ Mrs. Faraday mit einem Stapel Wäsche herein.

»Schnell, Mademoiselle, sonst kommen wir zu spät«, rief Jeannette, und Pierre stimmte ein. »Schnell, Mainie!«

Verwirrt sah Charmaine von einem zum anderen. »Wofür zu spät?«

»Master John ist heute Nacht zurückgekommen«, erklärte Mrs. Faraday, »und die Kinder wollen ihn unbedingt sehen. Er frühstückt gerade, während wir hier reden.«

Charmaine spielte die Unwissende. »Master John?«

»Ihr großer Bruder. Die Mädchen hoffen, dass er sie wieder mit Geschenken überhäuft wie beim letzten Mal, als er überraschend aus Virginia zu Besuch kam. Master Paul war offenbar noch wach, als er ankam, und hat Rose soeben Bescheid gesagt.«

Charmaine fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Die Haushälterin bemerkte es zwar, redete aber weiter, als ob nichts gewesen wäre. »Sie ist die Einzige im Haus, die sich wirklich über seine Heimkehr freut. Obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, warum. Sie ist genauso aufgeregt wie die Kinder und will sich noch schön machen, bevor sie herunterkommt.«

»Wir freuen uns auch, dass John wieder da ist«, rief Yvette dazwischen. »Sicher hat er uns auch wieder Geschenke mitgebracht! Vielleicht sogar größere als das Piano.« Sie reckte sich auf die Zehenspitzen und hob ihre Arme so hoch, wie sie konnte, um die Größe des Wunders zu beschreiben, das sie von ihrem geliebten Bruder erwartete.

»Pierre will ihn auch sehen«, bekräftigte Jeannette. »Das stimmt doch, Pierre?«

Der Kleine nickte. »Ich habe meinen Bruder noch nie gesehen.«

Mrs. Faraday band die Vorhänge zurück. »Master John kann ein echter Schurke sein.« Offenbar redete sie für ihr Leben gern. »Außerdem hat er einen schlechten Einfluss auf die Kinder und bringt ihnen immer allerlei Unarten bei.« Ein Blick auf Yvette sollte diesen Satz unterstreichen. Dann deutete sie auf das Tablett. »Was soll ich damit machen, Miss? Essen Sie das noch auf?«

»Nein, danke. Sie können es gern mitnehmen.«

Yvette erspähte das Tablett. »Also haben Sie uns doch Kekse geholt! Wir haben gewartet und gewartet, aber Sie sind nicht zurückgekommen.«

Charmaine registrierte Mrs. Faradays gerunzelte Brauen sehr genau. »Es hat eine Weile gedauert, bis die Milch warm war. Als ich zurückkam, habt ihr beide fest geschlafen.«

»Und dann haben Sie die Kekse selbst gegessen?«

»Nein. Ich meine … ich habe sie nicht alle gegessen.«

Mrs. Faraday runzelte die Stirn, sagte aber nichts, als sie das Tablett nahm und hinausging.

»Los, Mademoiselle, beeilen Sie sich. Wir wollen Johnny unbedingt sehen, bevor er womöglich das Haus verlässt!«

»Na gut«, sagte Charmaine. Am besten brachte sie es hinter sich.

Die Kinder liefen ins Spielzimmer, während Charmaine sich wusch, ihr Haar kämmte und zu einem festen Knoten aufsteckte. Als sie ein Kleid aus dem Schrank nahm, bemerkte sie, dass ihr Herz klopfte. Sie holte tief Luft. Was würde Mrs. Harrington an ihrer Stelle tun? Vermutlich war die Sache gar nicht so schlimm, wie sie aussah. Wenn sie sich vorstellte, wie es sich gehörte, und ihn mit einem Lächeln begrüßte, konnten sie noch einmal ganz von vorn beginnen. Sie dachte an Joshua Harringtons Meinung über John Duvoisin und schnitt eine Grimasse. Es half alles nichts, sie musste dem Mann gegenübertreten. Im Grunde schuldest du ihm nichts, sagte sie sich und stöhnte. Nichts außer Respekt.

Sie schloss gerade den letzten Knopf, als gegen die Tür gehämmert wurde. »Schon gut, schon gut, ich komme ja«, rief sie, und als sie öffnete, stolperten die drei Kinder fast gleichzeitig herein und stürmten durch die andere Tür hinaus in den Flur.

»Worauf warten Sie noch?«, rief Yvette über die Schulter zurück. »Na los, Mademoiselle! Schneller!«

Charmaine folgte den Kindern, doch als sie die oberste Treppenstufe erreichte, waren die Zwillinge schon weit voraus. Der kleine Pierre hatte Mühe, ihnen auf seinen kurzen Beinchen zu folgen. Trotz aller Aufregung kam Jeannette noch einmal zurück, nahm ihren kleinen Bruder an der Hand und half ihm die letzten Stufen hinunter. Dann waren die Kinder fort, und Charmaine konnte nur am Widerhall ihrer Schritte erahnen, wohin sie rannten. Eilig raffte sie ihre Röcke und lief ihnen nach, weil sie zusammen mit den Kindern das Speisezimmer betreten wollte. Aber sie kam zu spät. Im Korridor vernahm sie bereits den einstimmigen Freudenschrei.

»Johnny!«

Der Klang des Namens erschütterte sie bis ins Mark. Offenbar saß John Duvoisin allein am Tisch. Aber selbst wenn das nicht der Fall war, würde er sich vermutlich einen Spaß daraus machen, sie zu verspotten. Sie war auf das Schlimmste gefasst, doch zu ihrer großen Erleichterung sah sie, dass er der Tür den Rücken zukehrte. Sie konnte sich also in Ruhe mit der Lage vertraut machen, ohne dass er sie bemerkte. Er saß auf Pauls Platz, hatte die Füße auf Georges Stuhl gelegt, und die Kinder belagerten ihn von allen Seiten. Jenanette thronte auf seinem Schoß, Pierre lehnte an seinem linken Bein und grinste zu seinem großen Bruder empor, während Yvette an seinem rechten Arm hing. Ein Blick in die Gesichter der Zwillinge offenbarte Charmaine, dass sie die Liebe der Mädchen zu ihrem großen Bruder unterschätzt hatte. Noch erstaunlicher fand sie allerdings, dass der Mann die Gefühle der Kinder zu erwidern schien, den Zwillingen aufmerksam zuhörte und Pierre zärtlich über den Rücken streichelte.

»Wo sind unsere Geschenke?«, fragte Yvette ohne große Umschweife.

»Geschenke?«, fragte John. »Welche Geschenke? Ich habe keine Geschenke mitgebracht.« Er hatte eine dunkle, angenehm frische Stimme.

»Wirklich? Und warum hast du Jeannette dann zugezwinkert?«

»Ich habe überhaupt nicht gezwinkert. Ich hatte etwas im Auge.«

So leicht ließ Yvette sich nicht täuschen. »Und was ist in dem großen Sack unter dem Tisch?«

»Du hast vielleicht scharfe Augen.« Er lachte. Das leise Glucksen kam Charmaine sehr vertraut vor. »Schau doch selbst nach.«

Blitzschnell kroch Yvette unter den Tisch, und gleich darauf zerrte Pierre an Johns Bein. »Wir haben eine Gubbernante«, erzählte der Junge und lächelte zu seinem Bruder empor.

Der beugte sich zu ihm hinunter. »Ist das wahr?« Charmaine bemerkte, dass John lächelte. »Ist sie denn genauso alt und hässlich wie Nana Rose?«

»Nein!« Der Junge war entrüstet, weil er die Gemeinheit nicht verstand. »Sie ist schön. Ich liebe sie!« Er drückte Johns Bein fester, um seine Worte zu bekräftigen, und entlockte ihm wieder ein kleines Lachen.

»Da ist sie ja!« Yvette kroch unter dem Tisch hervor und deutete zur Tür.

Als John sich umdrehte, stockte Charmaine der Atem. Er hob Jeannette von seinem Schoß herunter und stand auf. Seine Blicke hielten sie gefangen, während er sie im Licht des neuen Tages musterte.

Dies also ist John Duvoisin, dachte sie. Er war groß, vielleicht nicht ganz so groß wie sein Bruder, hatte breite Schultern und schmale Hüften. Im Gegensatz zur vergangenen Nacht war er heute so tadellos gekleidet wie ein Gentleman. Sein gut geschnittenes Gesicht war ihr gestern nicht aufgefallen, doch heute gab es keinen Zweifel an seiner Herkunft. Seine Ähnlichkeit mit Frederic Duvoisin war nicht zu übersehen: die gleichen braunen Augen, die lange gebogene Nase, das energische Kinn und schmale Lippen. Selbst wenn man sein Gesicht nicht sah, würden ihn seine Haltung und seine Statur als einen Duvoisin entlarven, der die ganze Macht der Familie verkörperte.

Als ob John Duvoisin ihre Gedanken gelesen hätte, zogen sich seine Brauen in die Höhe, bis sie die braunen Locken berührten, die ihm in die Stirn fielen. Sie wollte den Blick abwenden, und er amüsierte sich über ihre Angst vor seinen forschenden Augen. Sie schauderte bei dem Gedanken, dass ihre Zukunft in seinen Händen lag. Dieses quälende Feuer, das er mit seinem Eindringen in ihr behütetes Leben entzündet hatte, würde sie nie wieder loswerden. Eine dunkle Ahnung künftiger Probleme ließ sie zurückschrecken.

»Ich glaube, wir haben uns schon getroffen«, sagte er mit schiefem Lächeln. »Wir kennen nur unsere Namen noch nicht.«

»Ich weiß, wer Sie sind«, widersprach Charmaine hitzig und hatte ihre Angst blitzschnell vergessen.

Seine Brauen hoben sich noch etwas mehr. »Für jemanden, der Gott dafür dankt, dass er den Namen eines arrogantes Gesichts nicht wissen will, haben Sie die Einzelheiten aber schnell zusammengefügt.«

Mit offenem Mund starrte Charmaine ihn an und staunte über sein Gedächtnis. Seine vornehme Kleidung war offenbar keine Garantie für eine zivilisierte Unterhaltung.

Er dagegen amüsierte sich nur. Sie spielte die gekränkte Lady, obgleich sie, wie er wusste, keine war. »Kommen Sie – Mademoiselle. Das ist doch richtig, oder?« Nach ihrem schroffen Nicken fuhr er fort: »Sie tun so, als ob ich immer noch die Wasserratte von gestern sei. Eine Ratte in trockenen Kleidern sozusagen.«

»Ich habe Sie nie als Ratte bezeichnet!«

»Wirklich nicht?«, fragte er kalt. »Wer kriecht denn sonst aus stinkenden Löchern? In Anbetracht unserer kurzen Bekanntschaft könnte ich jedoch unrecht haben. Vielleicht konnten Sie sich ja noch keine ehrliche Meinung über mich bilden, weil Sie ständig beeinflusst wurden. Mein Bruder hat Ihnen hoffentlich nicht nur schlimme Geschichten über mich erzählt, oder etwa doch?«

Charmaines Schweigen war ihm Antwort genug. Er lachte leise.

Seine Fröhlichkeit verletzte sie, aber sie konnte ihn nur anstarren, als sie begriff, dass er sie zum Verrat an seinem Bruder verleitet hatte.

»Sehen Sie nicht so betreten drein, Mademoiselle. Sie haben mir nichts gesagt, was ich nicht längst weiß.«

»Ich habe Ihnen gar nichts gesagt!«

»Das ist richtig, Mademoiselle …?« Er kannte ihren Namen nicht und fühlte sich plötzlich im Nachteil. Das passte ihm nicht, denn andere schlecht aussehen zu lassen, das war sein Vorrecht. »Sie haben sicher einen Namen, nicht wahr?«

Durch seine direkte Art war Charmaine verunsichert. Sie dachte an Anne London und fragte sich, was er bezweckte. Laut Stephen Westphal war John Duvoisin mit der Witwe verlobt. Also musste er ihren Namen kennen – und mehr noch! Sie wollte sich keine weitere Blöße geben, indem sie seine Frage beantwortete. Stattdessen sah sie die Kinder an, die eifersüchtig ihrer Unterhaltung folgten. »Ich werde Mrs. Henderson um ein Tablett für uns bitten. Dann können wir oben …«

Aber John fiel ihr ins Wort. »Ich habe Sie nach Ihrem Namen gefragt, Mademoiselle.«

Nun gab es keine Ausrede mehr. »Charmaine Ryan«, rief sie über die Schulter zurück. Womöglich war ihre Vermutung ja falsch, aber vorsichtshalber hastete sie trotzdem in Richtung der Küche davon.

»Nun gut, Charmaine Ryan.« Er dehnte die Silben, als ob er sie zum ersten Mal hörte. »Ich möchte, dass Sie und die Kinder mit mir frühstücken. Kommen Sie, es gibt keinen Grund, sich vor mir zu fürchten.«

Der spöttische Ton ließ sie innehalten, und die Neugier trieb sie dazu, sich umzudrehen. Mit keiner Nuance hatte seine Stimme verraten, dass er ihren Namen kannte.

John sah ihr, den Kopf zur Seite geneigt, nach. Irgendwie kam ihm diese Miss Ryan bekannt vor, obgleich er genau wusste, dass er sie nie zuvor gesehen hatte. »Charmaine Ryan«, wiederholte er. Dann stand er auf und rückte den Stuhl zurecht, auf dem vorher seine Stiefel gelegen hatten, und bedeutete ihr, sich zu ihm zu setzen. »Da Sie für die Kinder verantwortlich sind, würde ich gern mit Ihnen reden … Sie genauer kennenlernen und erfahren, welcher moralische Geist in meinem Haus herrscht.«

Sie war sprachlos. Wie sollte sie unter diesen Umständen nur jemals ihre Würde wahren? Sie dachte daran, den Raum zu verlassen. Aber das würde seine wirren Vorstellungen nur bestätigen. Und wichtiger noch: Sie konnte die Kinder nicht verlassen, weil er das unweigerlich gegen sie verwenden würde.

»Es tut mir leid, John«, sagte Paul, als er den Raum betrat, »aber Miss Ryan und die Kinder frühstücken wie immer mit mir.«

Charmaine seufzte erleichtert.

»Wie rührend!« John lachte leise und lehnte sich mit verschränkten Armen an den Tisch. »Der Ritter in schimmernder Rüstung kommt seiner Lady zu Hilfe!« Die Zwillinge kicherten. »Bin ich nicht eingeladen?«

»Du darfst uns gern Gesellschaft leisten«, erklärte Yvette.

Paul brummte nur. »Kommen Sie, Charmaine. Wir können genauso gut in der Küche frühstücken.«

»Mach dir keine Umstände.« John stieß sich vom Tisch ab. »Ich weiß, wann ich nicht erwünscht bin.«

»Bleib hier, Johnny«, rief Jeannette. »Wir haben noch gar nicht mit dir geredet.«

»Ich komme später zu euch«, versprach John, und dann fragte er: »Warum ist eure Mutter eigentlich nicht da? Frühstückt sie heute in ihrem Zimmer?«

Die Mädchen erstarrten und sahen sich fassungslos an. Verwirrt schaute John zu Paul hinüber, der mühsam nach Worten rang.

»John … ich …«

In diesem Moment brach Jeannette in Tränen aus, sodass John einen Augenblick lang abgelenkt war. »Was ist denn los, Jeannette?«

»Mama ist tot, Johnny«, flüsterte Yvette leise. »Sie ist im April gestorben.«

Ein wahrer Sturm widersprüchlicher Gefühle spiegelte sich auf Johns Gesicht, und mit einem Mal empfand Charmaine großes Mitleid. Offenbar hatte er nichts davon gewusst.

»Wann … wann wolltest du mir das denn mitteilen, Paul?«, stieß John mit gepresster Stimme hervor.

»Ich wusste ja nicht, dass man es dir noch nicht …«

»Verdammt … Du hast es mir nicht gesagt!«

Stille trat ein, während John mit Riesenschritten ins Foyer stürmte. Sein Bruder rannte ihm nach. »Wohin gehst du, John?«

»Zu unserem Vater, um herauszufinden, was er sonst noch vor mir geheim hält!«

Paul packte John am Arm. »Nein, John, lass das sein! Du hast ihm beim letzten Mal schon schlimm genug zugesetzt.«

Mit verzerrtem Gesicht und einem wilden Leuchten in den Augen riss er sich los. »Ich habe ihm zugesetzt? Ich habe ihn verletzt?« Im nächsten Moment fiel er über Paul her, krallte sich in sein Hemd und drückte ihn gegen die Wand.

Charmaine war sich nicht sicher, ob der Lärm oder ihr schriller Schrei Mrs. Henderson alarmiert hatte.

»Was geht hier vor?«, rief die Köchin empört. Ihre Stimme brachte John zur Vernunft. »Was ist nur in Sie gefahren, Master John?«

John lockerte seinen Griff, und Paul stieß ihn zurück. Die beiden starrten einander wütend an, sagten aber nichts. Dann zog Paul seine Jacke zurecht, als ob er gesiegt hätte.

Da Mrs. Henderson keine Antwort erhielt, wandte sie sich an die Gouvernante. »Miss Charmaine, was war hier los? Weshalb gehen sich die beiden an die Gurgel, obwohl Master John noch keinen Tag lang hier ist? Streiten die beiden um Sie?«

»Aber nein, Fatima«, erklärte Paul kühl, ohne seinen Bruder aus den Augen zu lassen. »Wir streiten nicht um Miss Ryan. John will nur die Wahrheit nicht hören.«

Als John das ganze Ausmaß dieser Wahrheit begriff, wurde er leichenblass. Charmaine konnte seinen Schmerz nachfühlen, als er sich abwandte und mit gesenktem Kopf das Foyer verließ.

Sie sah Paul fragend an und wartete auf ein paar erklärende Worte.

»Fatima«, bat Paul, »würden Sie sich bitte um die Kinder kümmern, während ich kurz mit Mademoiselle Charmaine rede?«

Fatima half Pierre beim Essen und tätschelte Jeannettes Schulter. Das Mädchen schluchzte noch immer, und ihre Wangen waren tränenfeucht.

Paul sah zu Yvette. »Wenn du fertig bist, gehst du mit deiner Schwester und deinem Bruder ins Kinderzimmer. Mademoiselle Ryan kommt gleich nach.«

Das Mädchen nickte schweigend, da Pauls Ton keine Widerrede duldete.


Mit gesenktem Kopf stürmte John die Treppe empor, als seine Augen plötzlich den Saum eines Kleides erfassten. Er hob den Kopf und erblickte die gefalteten Hände, ihre Brust und schließlich ihr atemberaubend schönes Gesicht, das vom Gemälde auf ihn herablächelte. Jung und unschuldig … und nun war sie plötzlich tot.
Zu spät, dachte er. Ich bin zu spät gekommen.

Plötzlich hallte sein Name durchs Treppenhaus. Sein Blick löste sich von Colettes wunderschönem Gesicht, und er sah seine Tante die Treppe herunterkommen.

»Also ist es wahr«, rief sie. »Du bist wieder da.«

»So ist es«, murmelte John, »und Sie leider auch, wie ich sehe.«

Triumphierend zog Agatha die Brauen hoch. »Offenbar hast du noch nicht alle Neuigkeiten erfahren. Im Gegensatz zu Colettes betrüblichem Ableben hat dieses Haus auch eine glückliche Hochzeit erlebt. Es freut mich, dir sagen zu können, dass dein Vater und ich im Juli geheiratet haben.«

John hatte das Gefühl, als ob er sich übergeben müsse. Doch das berechnende Lächeln seiner Tante befeuerte seinen Zorn, und er trat drohend einen Schritt auf sie zu.

Agathas Lächeln vertiefte sich. »Es war unvermeidlich, John. Frederic und ich lieben uns nun schon so viele Jahre. Wenn er früher Witwer geworden wäre, wäre ich vermutlich die zweite Mrs. Duvoisin geworden, und nicht erst die dritte. Colette war viel zu jung für deinen Vater. Sie hätte ja seine Tochter sein können. Frederic braucht eine Frau, die ihn wirklich liebt, und nicht ein kleines Mädchen.«

Er hätte ihr am liebsten ins Gesicht geschlagen, wenn nicht in diesem Moment auch noch Rose am obersten Ende der Treppe im Nordflügel aufgetaucht wäre.

»John, da sind Sie ja! Ich wollte gerade herunterkommen, um Sie zu begrüßen!«

John wandte sich ab und verbarg seine wahren Gefühle. »Ich fürchte, das ist im Augenblick denkbar ungünstig, Nan. Mein Vater erwartet mich.«

»John.« Die Stimme der alten Frau klang bekümmert. »Bitte, John, halten Sie sich zurück und seien Sie nett zu ihm.«

»Ganz wie Sie meinen, Nan«, sagte er nur und drängte sich an Agatha vorbei.

Sein Kopf war ein einziger Mahlstrom aus Worten und Bildern. Was hatte George gesagt? Colette fürchtet sich vor Agatha … sie hat Angst, dass Agathas Macht über Paul zunehmen könnte … sie fürchtet um ihre Kinder … Ganz offensichtlich hatte seine Tante eine größere Beute im Auge gehabt und sich diese bereits gesichert.

Agatha sah ihm mit verzerrtem Lächeln nach. Als er verschwunden war, warf sie Rose einen vielsagenden Blick zu, bevor sie sich umwandte und John folgte.

Rose schickte nur schnell ein stilles Gebet gen Himmel. Sie hatte auf ein paar Minuten allein mit John gehofft, doch leider war sie zu spät gekommen. Bedrückt ging sie ins Speisezimmer hinunter.


Paul schloss die Tür zur Bibliothek und lehnte sich dagegen.

»Was ist dort draußen passiert?«, fragte Charmaine.

Paul seufzte abgrundtief. »Machen Sie sich keine Gedanken.«

»Ich soll mir keine Gedanken machen? Ihr Bruder war außer sich vor Wut und hat Sie angegriffen!«

»Mein Bruder ist leicht zu reizen. Er vermutet überall Kränkungen und Ärger, auch wenn nichts vorliegt, und dann gerät er in Wut, wie Sie gerade beobachten konnten.«

»Ihm Colettes Tod zu verschweigen war eine schwere Kränkung. Ich finde ihn zwar nicht gerade sympathisch, aber in diesem Fall kann ich seine Wut verstehen.«

»Er wurde schon vor Monaten über Colettes schlechten Gesundheitszustand informiert«, erklärte Paul kühl. »Ihr Tod dürfte ihn also nicht überrascht haben.«

»Und warum war er dann so wütend?«

»Wie ich bereits sagte: Er hört nicht gern die Wahrheit. Mit seinem Benehmen hat er schon mehrere Mitglieder dieser Familie verletzt. Nicht zuletzt Colette. Obwohl sie ihm gegenüber immer gut und freundlich war, hat sie unter ihm gelitten.«

Ungläubig starrte Charmaine ihn an. Sie schauderte bei der Vorstellung, dass sich hier schon öfter solche Szenen abgespielt hatten. Hatte er etwa, was Gott verhüten möge, auch Colette angegriffen? Sie wagte nicht zu fragen. »Aber warum nur?«

»Seit ich mich erinnern kann, sieht John die Dinge so, wie es ihm passt, und eckt damit regelmäßig bei unserem Vater an. Vater streitet oft und meistens auch aus gutem Grund mit ihm. Entsprechend wütend macht es ihn, dass mein Vater noch immer die Fäden in der Hand hält. Das reizt seinen Zorn ständig aufs Neue.«

Charmaine war sprachlos, so sehr ähnelte das Bild, das Paul da zeichnete, ihrem früheren Leben. Mit einem Mal spürte sie wieder die alte Angst, die sie immer in Gegenwart ihres Vaters empfunden hatte.

»Sie haben schon allerlei Gerüchte über meinen Bruder gehört, Charmaine, und nun haben Sie ihn selbst erlebt. Trotzdem sollten Sie sich keine Sorgen machen und darauf vertrauen, dass ich Sie beschütze.«

»Ich hoffe, dass ich das kann.«

»Sie müssen, Charmaine. Es kommen harte Zeiten auf uns zu, dafür wird John schon sorgen. Darin ist er Meister.«


»Master John?«

Mit sorgenvoller Miene vertrat Travis Thornfield John den Weg.

»Lassen Sie ihn herein, Travis.«

Der Mann gehorchte, woraufhin John in das hell erleuchtete Ankleidezimmer stürmte.

Frederic empfing seinen Sohn im Stehen und wirkte so ruhig wie immer, obwohl sein Puls raste.

»Lassen Sie uns allein, Travis«, forderte John, den die lässige Haltung seines Vaters und seine wiedergewonnene Kraft sichtlich ärgerten.

Der Diener sah zu Frederic Duvoisin hinüber. »Sir?«

Doch der nickte nur, und Travis verließ den Raum.


Der Tag war noch jung, als Charmaine ihr Frühstück auf
dem Tablett nach oben trug. Wegen der kurzen Nacht waren ihre Schritte schwerer als sonst, und die Aussicht auf einen anstrengenden Tag mit drei lebhaften Kindern wirkte nicht gerade belebend.

Doch im Kinderzimmer war niemand. Offensichtlich hatten die Kinder Pauls Anordnungen nicht befolgt. Verärgert biss Charmaine die Zähne zusammen. Ihr Morgen war gründlich verdorben. Ihr Frühstück musste noch einmal warten, weil sie die Kinder finden musste, bevor Agatha dies tat. Ihr Kopf schmerzte, und ihre Augen brannten. Und daran war nur dieser verdammte John Duvoisin schuld! Aber alles Schimpfen brachte die Kinder nicht zurück.

Sie versuchte ihr Glück zuerst im Nordflügel, weil die Kinder ja vielleicht zu Nana Rose gelaufen waren. Geräusche in einem der leerstehenden Räume bestärkten sie in ihrem Verdacht. Sie blieb stehen und lauschte, doch sie hörte keine Stimmen. Aber ein Rascheln. Sie klopfte. Das Rascheln wurde lauter. Dann war alles still. Sie klopfte noch einmal und rief nach den Kindern. »Yvette, Jeannette.« Keine Antwort. Nur das Geräusch von schnellen Schritten. Wieder rief sie: »Yvette, Jeannette, seid ihr da drin?« Nichts. Keine Antwort. Einen Moment überlegte Charmaine, was sie tun sollte. Womöglich waren die Kinder gar nicht in dem Zimmer. Jeannette hätte niemals den Mund halten können. Und jeder andere hätte erst recht etwas gesagt. Beunruhigt öffnete sie die Tür.

Ein Windstoß bauschte ihre Röcke und wirbelte die Papierbogen auf dem Schreibtisch auf. Einige Blätter segelten zu Boden. Rasch schloss Charmaine die Türen, um den Wind auszusperren, und dann machte sie sich ans Aufräumen. Sie sammelte die leeren Bögen ein und legte sie auf ihren Platz zurück. Doch plötzlich hielt sie inne und richtete sich auf. Sie hielt einen Brief in der Hand – ein etwas zerknittertes Exemplar. Auf den ersten Blick erkannte Charmaine die Handschrift, und ihr Herz pochte schneller. Es war Colettes Handschrift. Sie schnappte nach Luft, als ihr Blick auf die erste Seite fiel.


Liebster John,

ich habe keine Vorstellung, wie es dir augenblicklich geht, und ich möchte dir auf gar keinen Fall noch größeren Schmerz zufügen …


Wutschnaubend stand John seinem Vater gegenüber.

»Warum setzt du dich denn nicht?«, fragte Frederic seinen Sohn.

»Ich bleibe nicht lange.«

Frederic stieß den Atem aus. »Willkommen zu Hause.«

Doch John schnaubte nur, weil ihn die falsche Höflichkeit anwiderte. »Wie ich sehe, hängt Colettes Bild noch an seinem Platz, Vater. Wann kommt denn der Maler und porträtiert deine dritte Frau?«

Frederic begegnete Johns Sarkasmus mit Gleichmut. »Demnach hast du schon mit Agatha gesprochen?«

»Unmittelbar, nachdem ich von Colettes Tod erfahren habe!« John war außer sich vor Zorn. »Nicht nur ein Schlag ins Gesicht! Nein, gleich zwei Schläge! Konntest du mit der Hochzeit nicht wenigstens warten, bis Colettes Leichnam kalt geworden ist?«

»Meine Eheschließung mit Agatha hat nichts mit Colette zu tun.«

»Du erstaunst mich immer wieder, Vater. Vor vier Jahren habe ich einen Krüppel verlassen, aber sieh dich jetzt an: kräftig und putzmunter, und obendrein auch noch frisch verheiratet! Armer Paul! Er fürchtet, dass du einem Streit mit mir nicht gewachsen seist. Dabei hast du zwei junge Ehefrauen überlebt, und die letzte hat dir wahrlich einiges abverlangt. Doch was machst du? Vier Monate nach Colettes Tod hast du dir bereits Ehefrau Nummer drei angelacht!« In theatralischer Übertreibung schüttelte er den Kopf. »Doch allzu gut scheint es nicht mehr zu laufen, was? Agatha ist ziemlich alt. Ich hätte einiges darauf gewettet, dass dir die junge Gouvernante besser gefällt. Die hätte doch viel eher zu deiner Vorliebe für jungfräuliches Fleisch gepasst, oder nicht?«

Wenn Frederic jemals gehofft hatte, dass sein Sohn sich geändert hätte und bei seiner Heimkehr nicht da fortfahren würde, wo sie vor drei Jahren aufgehört hatten, so hatte er sich getäuscht. Die Gebete vom heutigen Morgen waren schnell vergessen, als sich sein Herzschlag beschleunigte und sein Blut in Wallung geriet, während Johns ätzende Bemerkungen auf ihn niederprasselten.

»Oder gibst du zu, dass du für eine hübsche Person wie Miss Ryan inzwischen zu alt bist?« Er hielt einen Augenblick lang inne, als ob er nachdenken müsste. »Nein, das kann nicht sein. Du hast immer noch Geld genug, dass dir jedes junge Ding zu Füßen läge, wenn du nur damit winktest. Habe ich recht?« Er stützte sein Kinn auf die geballte Faust, als ob das Problem zu schwer für ihn sei. Aber dann streckte er den Finger in die Höhe. Er hatte die richtige Lösung gefunden. »Jetzt weiß ich, was dich abgehalten hat! Paulie hat seinen Anspruch auf die Gouvernante angemeldet, und du würdest nicht einmal im Traum daran denken, ihm zuvorzukommen. Schließlich ist Paulie ja dein kleiner Liebling.«

Irgendwann hatte Frederic genug gehört. »Bist du nach Hause gekommen, um mich zu beleidigen? Ist es das, was du willst?«

»Aber nein, Vater! Ich bin nur nach Hause gekommen, weil Colette mir geschrieben hat. Das wusstest du doch, oder etwa nicht?«

Genüsslich beobachtete er das Feuer, das in den Augen seines Vaters loderte, und schlug eifrig weiter in dieselbe Kerbe. »Sie hat sich um ihre Kinder geängstigt. Lass mich überlegen, was genau sie geschrieben hat. Ach ja: ›Wenn dein Vater seine Bitterkeit nicht überwinden kann, haben die Kinder nach meinem Tod nur ihre Gouvernante und Nana Rose, die sie lieben.‹ Und genau hier liegt das Problem, Vater. Rose ist alt, und die kleine Närrin von Gouvernante hat sich in Paul verliebt. Und dann gibt es noch dich, den verbitterten Vater, den die Kinder so gut wie nie zu Gesicht bekommen – eine wahrhaft glückliche Familie, findest du nicht auch? Oh, ich vergaß: Inzwischen haben die Kinder ja eine Stiefmutter, die ihnen das Leben nach Kräften verschönt.«

»Es reicht«, stieß Frederic zwischen den Zähnen hervor.

Aber John lächelte nur. Er hatte erreicht, was er wollte. »Was hältst du davon, Vater, dass deine Frau ihrem Stiefsohn schreibt und ihn um Liebe und Zuneigung für ihre Kinder bitten muss, weil sie diese Liebe von ihrem eigenen Vater nicht bekommen?«

»Es überrascht mich nicht, dass Colette dir solch einen Brief geschrieben hat, John«, revanchierte sich Frederic. »Sie hat dich noch mehr zum Narren gehalten als mich!«

»Was willst du damit sagen?«

»Nur so viel: Ich war neun Jahre lang mit Colette verheiratet und habe vieles erfahren, was du dir nicht einmal im Traum vorstellen kannst.«

John widerstand dem Wunsch, seinen Vater ins Gesicht zu schlagen. Stattdessen fluchte er insgeheim und machte voller Wut auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Zimmer. Agatha stand draußen auf dem Korridor und lächelte triumphierend, als er die Tür ins Schloss warf. John geriet in Versuchung, seine Wut an ihr auszulassen, aber dann widerstand er dieser Schwäche und kehrte in sein Zimmer zurück, während ihm das Blut noch immer in den Ohren dröhnte.

»Manche Dinge ändern sich nie.« Frederic seufzte und ließ sich in einen Armsessel fallen. »Wann werde ich das nur endlich lernen?« Er vergrub den Kopf in den Händen und massierte seine schmerzenden Schläfen.


Charmaines Hände zitterten, während sie den Brief über
flogen. Warum hatte Colette ausgerechnet an John geschrieben? Obwohl er ihr das angetan hatte?

Rasch faltete sie den Brief und legte ihn auf den Schreibtisch zurück. Aber die Blätter entfalteten sich wieder, als ob sie zu neuem Leben erwachten. Unwillkürlich fiel Charmaines Blick auf das Datum auf der ersten Seite: Mittwoch, 8. März 1837 – auf den Tag genau einen Monat vor Colettes Tod!

Die liebevolle Anrede sprang ihr förmlich in die Augen. Liebster John. Worte, wie man sie an einen Geliebten richtete. Wenn sie Pauls Worten glauben konnte, so hatte Colette unter John gelitten. Doch Colette hatte immer behauptet, dass John wütend auf sie sei. Guter Gott, murmelte Charmaine, weil nichts zusammenpasste. Ob Colette ihren Zorn überwunden hatte und Frieden stiften und den Dämon durch Verzeihung umstimmen wollte?

Wieder nahm sie den Brief in die Hand. Dabei fiel ihr Blick auf einige Sätze im ersten Abschnitt, die nicht für ihre Augen bestimmt waren.


… Ich bete darum, dass dich der Brief erreicht. Ich setze großes Vertrauen in George, dass er ihn dir persönlich überbringt.


George? Also stimmte es! George war tatsächlich nach
Virginia gefahren. Demnach musste der Brief äußerst wichtig gewesen sein, wenn er dafür monatelang seine Pflichten vernachlässigte. Charmaine las noch ein paar Zeilen. Diesmal mehr in der Mitte.


… Ich will nicht in dem Gefühl sterben, dass er sich in so schlechter Verfassung befindet und mir sofort ins Grab folgen will. Die Heftigkeit seines Zorns täuscht über die Tiefe seiner Liebe hinweg. Er braucht einen Menschen, der ihm den richtigen Weg zeigt. Ich habe es nicht vermocht, aber ich weiß, dass du das kannst. Wenn du jemals wirklich …


Plötzlich wurde die Tür zum Korridor aufgerissen, und John stürmte herein. Er knallte sie so heftig ins Schloss, dass die Wände erbebten. Er hatte schon fast das halbe Zimmer durchquert, als er Charmaine erblickte und ihr Schreckensruf ihn aus seinen Gedanken riss.

Was macht sie hier?

Im nächsten Augenblick war ihm alles klar. Sie drückte einen Brief an ihre Brust – seinen Brief. Das brachte das Fass zum Überlaufen. »Was haben Sie in meinem Zimmer zu suchen?«, schrie er. »Und warum kramen Sie in meinen Schubladen herum?«

Charmaine war viel zu sehr erschrocken, um überhaupt ein Wort herauszubringen. Ihr Unterkiefer zitterte. Sie hatte seine Privatsphäre verletzt. Für solches Benehmen gab es keine Entschuldigung.

»Ich warte auf Ihre Antwort, Mademoiselle!«

»Ich … Es tut mir leid!«, stotterte sie und brach in Tränen aus.

Der Brief fiel zu Boden, und Charmaines Füße setzten sich in Bewegung. Aber sie kam nicht weit. John packte ihren Arm, als sie an ihm vorbeilief, und wirbelte sie herum, sodass sie ihn ansehen musste.

»Nicht so hastig«, zischte er. »Was haben Sie in meinem Zimmer zu suchen?« Er schüttelte sie, wobei seine Finger wie Schlangen in ihren Arm bissen.

»Es tut mir leid«, wiederholte sie. Sie wehrte sich gegen seinen brutalen Griff. »Ich wusste doch nicht, dass es Ihr Zimmer ist!«

Obgleich das überzeugend klang, war es leichter, die Wut und den wilden Schmerz, der noch immer in seinem Herzen tobte, an dieser Frau auszulassen, die seine Zweifel nur jedes Mal weiter vertiefte, sobald sie ihm über den Weg lief. Sie war vielleicht keine eiskalt berechnende Agatha Blackford Ward, aber hinterhältig war sie auf jeden Fall doch.

»Und Sie erwarten wirklich, dass ich Ihnen das glaube?«, herrschte er sie an.

»Ich habe doch nur die Kinder gesucht«, sagte sie schluchzend.

»In meiner Schreibtischschublade?«

Sie riss ihren Arm los, aber dafür packte er den anderen umso heftiger. »Sie tun mir weh!«

»Das ist meine Absicht. Ich warte auf eine Antwort.«

Er stieß sie weg, sodass sie aufs Bett plumpste und ihren schmerzenden Arm rieb. Ihre Wangen waren noch tränennass, aber ihre Augen waren plötzlich trocken und blitzten vor Zorn. Vor Zorn über diesen John, der ihrem Vater so ähnlich war. Damit hatte er sein Schicksal besiegelt. Von nun an war keine anständige Unterhaltung mehr möglich. Er war ein Hund, und das würde er bleiben – ganz gleich, was Colette auch geschrieben hatte, um diese schwärzeste aller Seelen zu erreichen. Charmaine war keine Colette, und deren Selbstlosigkeit war ihr fremd. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass solche Versuche der Versöhnung immer vergeblich waren. Mit entschlossener Miene stand sie auf.

Aber John war nicht leicht zu beeindrucken. Sobald sie sich bewegte, folgte er ihr und vertrat ihr den Weg. »Ich will die Wahrheit wissen«, stieß er eiskalt hervor, »sonst haben Sie bald mehr als nur einen schmerzenden Arm, wenn Sie diesen Raum verlassen.«

Charmaine schauderte, aber gleich darauf siegte die Wut über ihre Furcht. »Ich habe die Wahrheit gesagt. Ich war auf der Suche nach den Kindern, als ich hier in diesem Zimmer Geräusche gehört habe. Als ich rief und keine Antwort bekam, dachte ich, dass mir die Kinder einen Streich spielten. Also habe ich die Tür geöffnet. Der Zugwind hat die Blätter auf den Boden geweht. Ich habe sie nur …«

»Ein Zugwind bei geschlossenen Türen?«, fragte er. »Wollen Sie mich für dumm verkaufen, Mademoiselle? Ich habe den Brief in die Schublade gelegt. Vielleicht erklären Sie mir endlich, wie der Wind den Brief aus der Schublade herausgeblasen hat!«

Für einen Moment war Charmaine sprachlos. Aus der Schublade? Aber Colettes Brief hatte nicht in der Schublade gelegen! Vermutlich wollte er nur seine Wut und seine Enttäuschung loswerden – und ich kam ihm gerade recht.

Als John ihre Verwirrung sah und ahnte, dass sie vielleicht unschuldig war, ließ seine Wut merklich nach.

»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt«, versicherte Charmaine erneut und straffte die Schultern. »Und jetzt lassen Sie mich vorbei!«

»Sie haben gelogen.«

»Ich habe nicht gelogen. Aber ich sehe, dass Leuten wie Ihnen die Wahrheit wenig bedeutet. Na los, schlagen Sie mich doch, wenn Ihnen dann wohler ist. Vielleicht ist das ja der Sieg, nach dem Sie schon den ganzen Vormittag suchen.«

Betroffen trat John wortlos zur Seite.

Charmaine war so geschockt, dass sie gar nicht so schnell reagieren konnte.

»Nun, my Charm …«, spottete er schließlich, »was hält Sie noch hier? Oder erwarten Sie vielleicht, dass ich gehe?«

Charmaine reckte ihr Kinn in die Höhe und lief um John herum. Von der Tür aus warf sie ihm einen vernichtenden Blick zu, doch die Geste verfehlte ihre Wirkung, da er sich gerade mit der respektvollen Verbeugung eines Höflings verabschiedete.

Auf dem Korridor kamen Charmaine erneut die Tränen, sodass sie kaum etwas sehen konnte und vor der Tür zum Kinderzimmer mit George zusammenstieß.

»Charmaine«, rief dieser überrascht, »was ist geschehen?«

Sie versuchte, sich zu befreien, bis sie erkannte, wen sie vor sich hatte. »George! Sie sind wieder da!« Aufschluchzend stürzte sie in seine Arme.

»Aber, aber, es wird alles gut«, sagte er leise und fasste Mut, ihr den Rücken zu tätscheln. »Alles wird gut.« Bisher hatte er sie nur einmal so unglücklich erlebt, und natürlich fragte er sich, was sie dermaßen aus der Fassung gebracht hatte. Gleich darauf war es ihm klar, als ob ihn ein Blitz erleuchtet hätte.

Schüchtern hob Charmaine den Kopf und trocknete ihre Tränen. »Es tut mir leid, George.« Sie lachte ein wenig. »Ich wollte mich nicht an Ihrer Schulter ausweinen.«

»Das ist schon in Ordnung. Dafür sind Schultern schließlich da, oder nicht?« Gleich darauf wurde er ernst. »Würden Sie mir auch verraten, warum Sie geweint haben?«

»Aus keinem besonderen Grund«, log sie, doch sie mied seinen Blick.

»Wegen John vermutlich?«

Erstaunt sah sie ihn an. »Woher wissen Sie das?«

»Ich weiß es eben. Was hat er denn Schreckliches gesagt?«

»Darüber möchte ich nicht sprechen.«

Da sie schon wieder den Tränen nahe war, drang er nicht weiter in sie. »Es ist sicher klug, ihm eine Weile aus dem Weg zu gehen. So viele traurige Neuigkeiten setzen ihm sicher sehr zu.«

»Warum sagen Sie das?«, fragte sie vorsichtig. »Wollen Sie ihn vielleicht verteidigen?«

»John ist für mich wie ein Bruder. Er ist kein schlechter Mensch, doch im Augenblick ist er sehr durcheinander.«

»Es tut mir leid, George, aber ich fürchte, ich habe heute den echten John Duvoisin kennengelernt – und zwar eine Seite, die er sonst niemandem zeigt. Seine teuflische Seite.«

George musste sich mühsam das Grinsen verkneifen, denn er hatte diese und ähnliche Sätze zu oft gehört. »Wie dem auch sei, gehen Sie ihm einfach aus dem Weg. Und zwar so weit wie möglich.«

»Keine Sorge, nichts anderes habe ich vor«, erwiderte Charmaine.

»Nun gut. Bevor ich jetzt gleich mit dem Teufel rede, wollte ich Ihnen nur schnell sagen, dass die Kinder bei meiner Großmutter sind.«

»Und woher wissen Sie das?«

»Nach vier Monaten Abwesenheit hat mich der erste Weg zu meiner Großmutter geführt. Als ich klopfte, waren die Kinder bei ihr.«

»Dann werde ich jetzt schnell zu ihnen gehen«, sagte Charmaine zum Abschied.

George sah ihr nach, schüttelte den Kopf und ging zu dem Gästezimmer, das John bewohnte. Von seiner Großmutter hatte er erfahren, dass man den armen Kerl im Ungewissen gelassen und ihm weder Colettes Tod noch Agathas Regentschaft mitgeteilt hatte. John musste außer sich vor Zorn sein, falls er seinen Vater schon besucht hatte. George scheute sich vor dem Gedanken, ausgerechnet jetzt mit John reden zu müssen. Vielleicht war das nicht unbedingt der beste Moment, dachte er.

Montag, 21. August 1837

Der Sonntag verlief zum Glück ohne besondere Ereignisse. Als es Abend wurde, dankte Charmaine Gott, dass er sie vor John Duvoisin bewahrt hatte. Sie hatte weitere Boshaftigkeiten befürchtet, aber ihre Ängste waren grundlos. Weder war John zur heiligen Messe erschienen, noch hatte er an den drei gemeinsamen Mahlzeiten teilgenommen, sondern sich in seine Räume zurückgezogen. Annas und Felicias Knickse waren der einzige Beweis für seine Anwesenheit, wenn sie wieder eine neue Flasche Brandy an seiner Tür abliefern mussten. Trotz allem hatte sich Charmaine vorsichtshalber fast den ganzen Tag in ihren Räumen aufgehalten. Der Streit wegen Colettes Brief war ihr noch lebhaft im Gedächtnis, und sie hoffte, die nächste Begegnung so lange wie möglich hinausschieben zu können.

Aus diesem Grund war sie auch heute Morgen sehr früh aufgestanden und beizeiten mit den Kindern zum Frühstück nach unten gegangen. Mit etwas Glück würde der schreckliche Mensch entweder gar nicht bei Tisch erscheinen oder länger schlafen, sodass sie noch einen weiteren Tag gewonnen hatte.

Während Fatima die dampfenden Schüsselchen mit Porridge verteilte, machte sich Charmaine klar, dass sie einen Mann ablehnte, den sie seit kaum achtundvierzig Stunden kannte. Ihr Gewissen meldete sich zu Wort, aber gleichzeitig verschanzte sie sich hinter der Ausrede, dass auch andere unter seiner Gegenwart litten. Die Spannung, die über dem Haus lag, war deutlich zu spüren. Alle Familienmitglieder und Dienstboten schienen nur auf den nächsten Zusammenstoß zu warten. Doch beim nächsten Ausbruch wollte Charmaine, so viel war sicher, nicht wieder anwesend sein.

Also musste sie das Frühstück möglichst schnell hinter sich bringen, um wieder in die Sicherheit des Spielzimmers flüchten zu können. Doch Yvette wollte genau das Gegenteil erreichen. Sie wollte das Frühstück in die Länge ziehen. Also trödelte sie beim Essen und lenkte Pierre und Jeannette ständig mit neuen Albernheiten ab. Sobald Charmaine mahnend auf ihren Teller zeigte, protestierte sie lauthals. »Zu viele Klümpchen.« Irgendwann war der Haferbrei kalt und das Druckmittel verspielt.

»Ich hole mir Milch«, verkündete sie irgendwann. »Ich bin furchtbar durstig.«

»Du bleibst sitzen«, befahl Charmaine. »Ich gehe.«

Als Charmaine ins Speisezimmer zurückkehrte, war Yvette verschwunden. »Wo ist eure Schwester?«

»Fort«, erklärte Pierre. Er packte sein Glas und verschüttete etwas Milch auf sein Hemd, bevor er gierig zu trinken begann.

»Sie ist ins Kinderzimmer gegangen«, sagte Jeannette.

Doch Charmaine glaubte ihr kein Wort. Notdürftig trocknete sie Pierres Hemd und ging dann mit den Kindern nach oben. Aber das Kinderzimmer war leer, und sofort kam ihr ein schlimmer Verdacht: Die Mädchen hatten fast das ganze Wochenende über gebettelt, dass sie ihren großen Bruder besuchen wollten. Dorthin war Yvette verschwunden!

Nachdem Jeannette versprochen hatte, ihrem Bruder ein wenig vorzulesen, fasste sich Charmaine ein Herz und machte sich auf die Suche nach dem anderen Zwilling. Geräuschlos schlich sie über die Veranda und blieb kurz vor Johns Zimmer stehen. Vorsichtig schob sie den Kopf vor und lauschte. Doch es war nichts zu hören, obgleich die französischen Türen offen standen. Auf Zehenspitzen schlich sie weiter und spähte ins Zimmer, aber sie konnte nur einen kleinen Ausschnitt sehen … Nichts … Niemand … Sie beugte sich noch ein Stückchen weiter nach vorn, bis sie den Fuß des Betts sehen konnte. Dann noch ein Stückchen, und sie sah die Stiefel. Erschrocken sprang sie zurück, stolperte über ihre eigenen Füße und wäre beinahe gefallen. Starr vor Schreck drückte sie sich mit dem Gesicht an die Hauswand. Auf dem Bett lag jemand … John! Als sie sich wieder beruhigt hatte, musste sie kichern. Sie benahm sich wie eine Närrin. John war allein, und ihre Vermutungen waren falsch gewesen.

Doch wo sollte sie jetzt suchen? Sie durchquerte ihr Schlafzimmer und suchte den nördlichen Flügel ab, dann ging sie über die Personaltreppe hinunter in die Küche – aber nirgendwo eine Spur von Yvette. Leise öffnete sie die Tür zum Speisezimmer, wo Anna und Felicia den Tisch deckten. Ohne auf die fragenden Blicke der Mädchen zu achten, durchquerte sie den Raum, als ob nichts gewesen wäre, und betrat die Bibliothek. Aber auch hier war niemand. Von Minute zu Minute wurde sie unruhiger und befürchtete, dass ihre erste Annahme doch richtig sein könnte: Irgendwie hatte Yvette es geschafft, sich in Johns Zimmer zu schleichen.

Als letzte Hoffnung betrat Charmaine den Wohnraum, umrundete das Piano, die beiden Sofas, die hochlehnigen Sessel und zuletzt den Teetisch. Sie spähte sogar hinter die Vorhänge, aber nirgendwo eine Spur von Yvette. Es blieb noch der Tisch mit der bodenlangen Spitzendecke nahe der französischen Türen. Sie bückte sich gerade, als eine kühle Stimme sie innehalten ließ.

»Suchen Sie etwas, Mademoiselle?«

Blitzartig schoss Charmaine in die Höhe, sodass sie fast den Tisch umgestoßen hätte.

Mit verschränkten Beinen lehnte John Duvoisin in lässiger Haltung am Türrahmen zum Foyer und grinste über das ganze Gesicht. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Wangen von Bartstoppeln bedeckt, und das Gesicht war rötlich verfärbt. Sein unsteter Blick schien ihm nicht bewusst zu sein.

»Sie hätten sich nicht so schnell aufrichten müssen. Ihr Hinterteil ist eine Augenweide, wie man sie nicht alle Tage zu Gesicht bekommt. Ausgenommen neulich Nacht, natürlich.«

Charmaine errötete, aber eher aus Zorn als aus Scham.

Johns Grinsen wurde breiter. »Was suchen Sie denn so verbissen, meine Liebe? Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen? Und wenn nicht, so würde mir auch etwas Besseres einfallen.« Seine Blicke schweiften kurz durch den Raum, dann musterte er ihren Körper so schamlos von Kopf bis Fuß, dass Charmaine sich zutiefst beleidigt fühlte.

Sie ließ sich jedoch nichts anmerken, sondern ging zielstrebig auf die Tür zur Halle zu. Aber John trat nicht zur Seite, sondern stützte die Hand gegen den Türrahmen und versperrte ihr so den Weg.

»Noch einen Augenblick, Mademoiselle«, sagte er in gereiztem Ton. »Sie haben die Frage noch nicht beantwortet. Hat der Wind vielleicht einen Brief unter den Tisch geweht, den Sie unbedingt aufheben und lesen müssen?«

Er rechnete mit einer wütenden Entgegnung und war sichtlich überrascht, als Charmaine einfach den Kopf einzog und unter seinem Arm hindurch ins Foyer schlüpfte. Als er herumfuhr, war sie bereits am Fuß der Treppe, doch sein leises Lachen folgte ihr die Stufen hinauf.

In der Sicherheit ihres Schlafzimmers machte sie sich Vorwürfe, dass sie wie ein erschrockenes Kind davongelaufen war. Schlimmer noch, wie eine Schuldige. Sie hätte ihm die Stirn bieten sollen. Sie stampfte wütend auf. »Oh, dieser elende, dieser fürchterliche Mensch!«

In der Hoffnung auf ein Wunder ging sie nach nebenan ins Kinderzimmer, doch sie wurde enttäuscht.

Jeannette sah vom Buch auf. »Haben Sie Yvette gefunden?«

»Nein«, antwortete Charmaine in leiser Verzweiflung und merkte kaum, dass Pierre zu ihr kam und sie umarmte. »Hast du vielleicht eine Idee, wo sie sein könnte?«

Jeannette schüttelte den Kopf, und Charmaine ging unruhig auf und ab. In kürzester Zeit würde sich ihr Elend im Haus herumgesprochen haben, und sie ahnte schon die Vorwürfe der Hausherrin, sollte man Yvette irgendwo finden, wo sie nichts zu suchen hatte. Als es völlig unerwartet an der Tür klopfte, setzte ihr Herzschlag für eine Sekunde aus. War das vielleicht schon Agatha?

Charmaine krümmte sich vor Sorge, als Yvette ins Zimmer hüpfte, aber vor der Tür stand nicht Agatha, sondern John.

»Ich liefere mein Fundstück dort ab, wohin es um diese Zeit gehört«, sagte er. »Offenbar haben Sie nach ihr gesucht?«

»Richtig«, sagte Charmaine knapp. »Vielen Dank.«

Als sie die Tür ohne weiteren Kommentar ins Schloss werfen wollte, fing er sie mit der Hand ab und grinste. »Bevor Sie mich aussperren, möchte ich noch kurz mit Ihnen sprechen.«

»Das Vergnügen hatten wir doch bereits.«

Sein Ton wurde schärfer. »Dann bestehe ich eben auf einem weiteren.« Er deutete auf den Korridor.

Um ihn nicht zu reizen, gab Charmaine nach, und während er die Tür schloss, mahnte sie sich zur Ruhe.

»Wollen Sie überhaupt nicht wissen, wo ich sie gefunden habe?«

»Nein«, entgegnete sie dickköpfig.

»Wie könnte es auch anders sein.« Er lachte leise. »Unfähig und obendrein dumm.«

Wütend riss Charmaine die Augen auf, aber sie bekam keine Gelegenheit, sich zu rechtfertigen.

»Denken Sie daran, dass die Kinder Ihrer Verantwortung unterstehen, Mademoiselle. Zumindest im Augenblick noch. Yvette hat im Wohnraum nichts verloren, wo sie die Gespräche der Erwachsenen belauschen kann. Ja, richtig. Genau dort habe ich sie gefunden.«

Charmaines Wangen brannten, aber seine herablassende Art und sein Grinsen verleiteten sie zur Unvorsichtigkeit. »Darf ich fragen, ob Sie sich über mich ärgern … oder womöglich über sich selbst?«

Überrascht zog er eine Braue in die Höhe. »Yvette ist Ihnen anvertraut, Mademoiselle.«

»Und ich verstehe nicht, welche Gefahren Yvette im Wohnraum drohen – es sei denn, Sie schämen sich wegen Ihrer ›erwachsenen‹ Bemerkungen über mein Hinterteil. Ohne Ihre Einmischung wäre das Versteck außerdem viel früher entdeckt worden.«

John fand die Entgegnung höchst unterhaltend und ihre großen Augen äußerst entzückend, aber zu einem Sieg reichte das nicht. Nicht einmal zu einem kleinen. Er hatte schon mit ganz anderen Gegnern gefochten und jedes Mal gewonnen. Was kann ich noch sagen, um sie zu reizen und weitere Munition zu sammeln, die ich gegen sie verwenden kann?

»Es ist mir einerlei, was Yvette gehört hat, und von wem erst recht. Aber ich bin in diesem Haus die Ausnahme. Mrs. Duvoisin und selbst mein lieber Bruder wären sicher nicht sehr erbaut, wenn man ihre Gespräche belauschte. Und wenn Ihre Schützlinge dabei erwischt werden, wird man Ihnen unweigerlich die Rechnung präsentieren. Das ist alles, my Charm

Wieder das berühmte letzte Wort. Als er davonging, folgte ihm Charmaine. »Das ist noch längst nicht alles!«, fauchte sie und zerrte ihn herum, als er bereits eine Stufe der Treppe hinuntergegangen war und ihr auf derselben Höhe gegenüberstand. »Es gibt noch etwas, Master John! Erstens müssen Sie mich nicht an meine Pflichten erinnern, und zweitens betrachte ich es als Beleidigung, wenn Sie mich als unfähig bezeichnen! Offenbar ist Ihnen entgangen, dass ich die Kinder seit fast einem Jahr betreue und ihr Wohl kein einziges Mal aufs Spiel gesetzt habe! Was Mrs. Duvoisin angeht, so haben Sie recht. Sie hätte vermutlich genau wie Sie reagiert. Aber Ihr Bruder hat mich stets gegen sie in Schutz genommen.«

Zum ersten Mal schien John sprachlos zu sein. Doch als Charmaine bereits triumphieren wollte, hatte er sich wieder gefasst. »Sie haben sicher das Ihrige dazu getan, dass mein Bruder Sie unterstützt, Miss Ryan, aber Sie unterschätzen mich.«

»Wirklich?« Seine wilden Schlussfolgerungen ärgerten sie. »Vielleicht sollten Sie wissen, dass auch Ihr Vater von meiner Arbeit überzeugt ist.«

Seine Augen wurden hart. »Sie haben keine Vorstellung, wie ich Ihr Leben erschweren kann, wenn es mir Spaß macht, Miss Ryan. Aber noch bin ich nicht so weit. Noch nicht. Doch wenn Sie mir mit meinem Vater drohen, werden Sie das schon noch erleben.«

Charmaine spürte, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich.

Zum Glück trat Agatha in diesem Augenblick aus dem Korridor des Südflügels ins Treppenhaus. »Was geht hier vor?«, fragte sie.

»Miss Ryan hat uns beide soeben miteinander verglichen«, antwortete John.

»Uns beide verglichen?«, stieß Agatha hervor. »Da gibt es doch nichts zu vergleichen!«

»Wie wahr«, murmelte John spöttisch und hob grüßend die Hand.

Damit war er fort und ließ Charmaine mit der sichtlich verwirrten Agatha allein. Mit einem hastigen »Guten Morgen« zog sich Charmaine auf das sichere Terrain des Kinderzimmers zurück.

Dort ärgerte sie sich während der nächsten vier Stunden über ihr loses Mundwerk. Warum war sie nur so hochmütig gewesen? Hochmut kommt vor dem Fall … Sie hatte sich einfach zu viel zugetraut und Johns Macht unterschätzt. Sollte sie den Vorfall mit Paul besprechen und ihm von dem Zwischenfall mit dem Brief erzählen? Sie begrub den Gedanken so schnell, wie er ihr gekommen war. Das würde nur zu weiteren Verwicklungen führen. Nun ja, Paul war vielleicht auf ihrer Seite, aber er stand eindeutig in zweiter Reihe. Und wenn er sich an seinen Vater wandte? Frederic Duvoisin würde ihr respektloses Benehmen niemals gutheißen, ganz gleich, was sie auch sagte. So gesehen lag ihre Zukunft also in John Duvoisins Hand. Seit diesem verhängnisvollen Zwischenfall am Samstagmorgen hielt er alle Karten in der Hand. Und um die Sache noch schlimmer zu machen, hatte sie nun auch noch weiteres Öl in die Flammen gegossen. In diesem Punkt musste sie ihm recht geben – sie war tatsächlich dumm!

Je weiter der Vormittag voranschritt, desto unruhiger wurden die Kinder. Charmaine hatte ihnen mehrmals verwehrt, das Zimmer zu verlassen, doch als es Mittag wurde, konnte sie die Kinder nicht länger einsperren. Als sie sich dem Esszimmer näherten, überkam sie Panik. Was sollte sie tun, wenn John am Tisch saß? Zum Glück war er nicht da – aber offenbar sein Geist, denn Charmaine zuckte schon beim leisesten Geräusch zusammen.

»Wo ist Johnny?«, fragte Yvette.

»Ich weiß es nicht.« Halblaut fügte sie hinzu: »Woher soll ich das wissen?«

Yvette neigte den Kopf zur Seite. »Sie mögen ihn nicht besonders, nicht wahr, Mademoiselle?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Ist ja auch egal. Früher oder später werden Sie Ihre Meinung schon ändern.«

Charmaine wäre beinahe an ihrem Bissen erstickt. So sehr hatte sich die liebe Yvette noch nie geirrt! Eher würde sie ihren Vater als Mann Gottes bezeichnen!

Nach dem Lunch weigerten sich die Mädchen, wieder ins Kinderzimmer zu gehen. »Ich habe keine Lust, immer mit denselben Sachen zu spielen oder wieder Märchenbücher vorzulesen«, maulte Yvette. »Wir haben jetzt tagelang nichts anderes gemacht.«

Womit sie recht hatte. Sie konnten sich nicht ewig verstecken. »Wollen wir vielleicht ein bisschen auf dem Piano spielen?«, schlug Charmaine vor.

Dagegen protestierte Yvette. »Johnny könnte uns hören, und ich will ihn doch überraschen!«

Charmaine seufzte, aber Jeannette hatte die rettende Idee. »Wir verderben die Überraschung ja nicht, wenn Sie spielen, nicht wahr, Mademoiselle?«

Ein paar Minuten später waren alle um das Instrument versammelt. Charmaine spielte die üblichen kleinen Lieder und sang mit den Kindern im Chor. Selbst Pierre fiel immer wieder mit ein, bevor er in haltloses Kichern ausbrach. Die Sorgen waren schnell vergessen, und es wurde ein fröhlicher Nachmittag.


John starrte zu den Spinnweben an der Decke empor, als die Töne eines Kinderlieds bis in sein Schlafzimmer drangen. »Verdammt guter Whisky«, murmelte er und schwang die Beine über den Bettrand. Er war noch längst nicht betrunken genug. Er entkorkte die Flasche, die er aus dem Speisezimmer mitgenommen hatte, und goss sein Glas randvoll. Beim ersten Schluck drangen wieder Töne an sein Ohr. Sein Blick wanderte zu den französischen Türen, wo sich die Vorhänge leicht im Wind bauschten. Diese Töne kamen eindeutig nicht aus der Flasche und entstammten auch nicht seiner Einbildung. Die Melodie wirkte seltsam belebend, sodass er vom Bett aufstand und auf den Balkon hinausging.

Er musste die Lider zusammenkneifen, weil er nicht auf das grelle Licht vorbereitet war. Er tastete nach dem Geländer und klammerte sich daran fest, bis sich die Welt nicht mehr drehte und der Schmerz in seinem Kopf nachließ. Hier draußen waren die Töne deutlicher zu hören, und er stellte sich vor, wie die Kinder sangen. Plötzlich erhob sich ein heller Sopran über ihre Stimmen, der die Melodie trug. Wie hübsch, dachte er bitter, die Gouvernante spielt auch Klavier. Er starrte auf das Glas in seiner Hand. Dann schleuderte er es im hohen Bogen über das Geländer – und genoss das Geräusch, als es auf dem Pflaster der Zufahrt zerschellte.

»Mann, sind wir heute aber fröhlich!«

John beugte sich weit über das Geländer, als George Richards zu ihm emporsah und grinste.

»Du hättest mich fast an einer Stelle getroffen, die ich leider nicht näher beschreiben kann.«

»Womöglich hätte dir das sogar gutgetan, Georgie.« John lachte. »Was hast du denn den lieben Vormittag lang getrieben?«

»Du solltest lieber fragen, was ich nicht getrieben habe. Paul hat mich ganz schön beschäftigt.«

»Armer George«, höhnte John. »Jetzt muss er für seine lange Reise büßen. Hat Paul die ganze Arbeit für dich aufgehoben?«

»Ganz so schlimm war es nicht. Wir haben den Vormittag über alle aktuellen Arbeiten und die Änderungen, die Paul vorgenommen hat, besprochen.«

»Welche Änderungen?«

»Er hat zum Beispiel Wade Remmen als Verantwortlichen in der Sägemühle eingesetzt«, erklärte George.

»Wade Remmen?«

»Den kennst du nicht. Er ist erst vor zwei Jahren nach Charmantes gekommen: ehrgeizig, kräftig und von ausgeprägtem Geschäftssinn. Wade Remmen kümmert sich selbstständig um das Holz, sodass sich Paul auf den Tabakanbau konzentrieren kann. Ich bin froh, dass Espoir inzwischen bestens läuft. Sogar wenn Paul auf Charmantes ist, werden auf Espoir neue Anbauflächen kultiviert.«

John hörte genau zu. Dann schnaubte er. »Wenn Paul öfter hier ist, haben wir umso mehr Zeit, um uns in den Haaren zu liegen.«

»Nur wenn du es darauf anlegst«, erwiderte George kühl, der nichts so sehr hasste wie seine Rolle als Schlichter und Friedensstifter.

»Das ist richtig«, entgegnete John. »Aber er will es nicht minder, wenn er sogar den Bau seines Palasts auf die lange Bank schiebt, um Tabak zu pflanzen und sich mit mir auseinanderzusetzen.«

»Ach, John«, schalt George, »denk lieber an die Zeit, als wir damals zu dritt die Insel von morgens bis abends unsicher gemacht haben. Paul ist schließlich dein Bruder, verdammt noch mal!«

John fuhr sich mit der Hand durch sein zerzaustes Haar und schüttelte den Kopf, weil er nicht erklären konnte, was in ihm gärte. »Ich bin in schlechter Stimmung«, murmelte er und kam sich plötzlich ziemlich kindisch vor. »Das verdammte Piano und dieses Gesinge sind schuld daran.«

»Der Brandy ist schuld daran«, berichtigte George.

»Vermutlich.«

»Du solltest das Trinken aufgeben, John. Es tut dir nicht gut. Außerdem fragen die Zwillinge die ganze Zeit nach dir. Sie wollen dich endlich sehen.«

»Ja, ja«, wehrte John ab.

»Warum kommst du nicht heute Abend einfach zum Dinner nach unten?«, schlug George vor. »Ich komme auch. Meine Großmutter würde dich auch gern sehen. Sie fragt ständig nach dir.«

John überlegte einen Augenblick lang und nickte schließlich. »Mal sehen. Vielleicht.«

»Gut«, sagte George. »Ich muss weiter. Zwischen jetzt und nachher gibt es noch jede Menge zu tun.«

»Lass dich nicht aufhalten, George. Ich will nicht daran schuld sein, wenn Paul dir wegen mangelnder Leistung das Gehalt kürzt.«

George lachte in sich hinein und ging über die Veranda ins Haus. Er war gerade mit Paul vom Hafen zurückgekommen. Am besten, er sagte Bescheid, dass John möglicherweise zum Dinner kam. Nicht dass er bedauerte, den Freund aus seiner Einsamkeit herausgelockt zu haben. Aber dennoch, der Mann war betrunken und verbittert. Eine gefährliche Mischung, aus der leicht ein Feuerwerk entstehen könnte.

Paul saß am Küchentisch und aß ein Hühnerbein und eine dicke Scheibe Brot. »Ich habe John für heute Abend zum Dinner eingeladen«, sagte er und nickte Fatima zu, als sie ein Glas Wasser vor ihn auf den Tisch stellte.

Paul hustete. Dann schluckte er und starrte George feindselig an.

»Ich wollte dir nur Bescheid sagen.«

»Demnach gehe ich davon aus, dass er deine freundliche Einladung auch angenommen hat?«, fragte Paul bissig.

»Ich denke schon.«

»Na wunderbar, vielen Dank, George – im Namen von uns allen. Ich bin sicher, dass dieses Dinner sehr erfreulich wird.« Er fuchtelte George mit der Brotscheibe unter der Nase herum, bevor er hinausging.

Aber George hielt ihn auf. »Sei ganz ruhig, Paul. John ist schließlich dein Bruder. Er leckt nur seine Wunden, und diese Wunden sind tief. Ein bisschen Mitgefühl täte ihm sicher gut.«

»Diese Wunden, wie du sie nennst, hat er sich selbst zugefügt.«

»Das mag sein, aber deswegen schmerzen sie trotzdem.«

Paul sah zu Fatima Henderson hinüber, die sich mit dem Schürzenzipfel die Augen trocknete. Im nächsten Moment machte er auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum.

Er war tief in Gedanken versunken, als plötzlich die Klänge des Pianos an sein Ohr drangen. In seiner Eile hatte er beim Nachhausekommen die Musik gar nicht wahrgenommen. Doch jetzt konnte er sich nichts Schöneres vorstellen.

Charmaine schlug den letzten Akkord der Sonate an, die sie in der Hoffnung ausgewählt hatte, dass es den Kindern langweilig würde und sie freiwillig ins Spielzimmer zurückwollten.

»Wunderbar, Mademoiselle.«

Sie zuckte kurz zusammen, sah dann zu dem hochgewachsenen Bewunderer hinüber, der unter der Tür stand. Als Paul ihr Lächeln erwiderte, machte ihr Herz einen Satz. Sie erhob sich von der Klavierbank, als er auf sie zukam und sie dabei keine Sekunde aus den Augen ließ.

»Kinder«, rief er, »geht ein bisschen nach draußen spielen. Ich will mich kurz mit Miss Ryan unterhalten. Sie kommt in ein paar Minuten nach.«

»Warum müssen wir denn nach draußen gehen?«, fragte Yvette und verdrehte die Augen. »Wir sind doch keine Babys mehr!«

Charmaine erschrak, aber Paul sagte: »Ich habe dir gesagt, was du tun sollst, Yvette, und ich erwarte, dass du meine Wünsche respektierst.«

Ein Blick auf sein ernstes Gesicht – und Yvette gab klein bei. Protestierend marschierte sie nach draußen, und Jeannette und Pierre folgten ihr.

»Genau wie John«, brummte Paul leise.

»Was möchten Sie mit mir besprechen?«, fragte Charmaine.

Er trat einen Schritt näher. Haben wir denn niemals Ruhe vor den Kindern, den Dienstboten und nun auch John? Wann werde ich endlich von dieser quälenden Sehnsucht erlöst?

»Paul?«, fragte Charmaine und riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ich würde Sie gern heute Abend zu Tisch führen«, sagte er, »falls Sie mir das erlauben. Ich vermute, dass uns mein Bruder heute mit seiner Anwesenheit beehrt. Er hat getrunken und wird sein Bestes geben, um uns die Mahlzeit zu verderben. Doch wenn ich an Ihrer Seite bin, wird er sich vielleicht zweimal überlegen, was er sagt.«

»Oh, vielen Dank, Paul. Ich weiß Ihre Fürsorge sehr zu schätzen.«

Er lächelte etwas gequält, weil ihr überschwänglicher Dank ihn leicht ernüchterte. »Ich würde niemals erlauben, dass man Ihnen Schaden zufügt«, murmelte er heiser.

Mit einem Mal war sie verlegen, als ob sie sich seit dem heißen Kuss am Freitagabend zum ersten Mal wiedersähen. Sie trat einen Schritt zurück und sah zu Boden. »Um wie viel Uhr holen Sie mich ab?«

»Ich klopfe um kurz vor sieben.«

»Abgemacht.« Sie fühlte sich unwohl und lief hastig an ihm vorbei in den Garten.

Paul sah ihr nach und lächelte zufrieden. »Dieser Punkt geht an mich, John«, sagte er und prostete seinem Bruder mit einem imaginären Glas zu. Du machst es mir leicht, den edlen Ritter zu spielen, auf den alle jungen Frauen zu warten scheinen.


Rose passte auf die Kinder auf, während sich Charmaine zum Dinner umzog. Nachdem sie sich die Hitze des Tages von der Haut gewaschen hatte, schlüpfte sie in ihr bestes Kleid und drehte sich vor dem Spiegel, um sich von allen Seiten zu bewundern. Das Kleid war schlicht, doch es brachte ihre Figur hervorragend zur Geltung. Zufrieden widmete sie sich anschließend ihrem Haar. Nach ungefähr hundert Strichen mit der Bürste schlang sie es zu einem lockeren Knoten und steckte die seitlichen Strähnen als Krönung mit ihren Kämmen fest.

Kurz vor sieben Uhr ging sie unsicher lächelnd ins Spielzimmer hinüber. Zu ihrer Überraschung war nur Paul anwesend und wandte sich um, als die Tür in seinem Rücken geöffnet wurde.

»Guten Abend«, sagte sie schüchtern.

Ein Leuchten trat in seine Augen. »Guten Abend.«

Als er auf sie zukam, wandte sie den Blick ab. »Wo sind die Kinder?«, fragte sie, um sich von ihrem hämmernden Herzen abzulenken.

»Ich habe sie schon mit Rose nach unten geschickt, weil sie es gar nicht abwarten konnten. Ich dagegen konnte die Begegnung mit Ihnen kaum abwarten.« Er trat einen weiteren Schritt auf sie zu und strich ihr zart über die Wange. »Wie hübsch Sie aussehen. Während der letzten Tage habe ich mich kaum auf meine Arbeit konzentrieren können, weil mich der Gedanke an Sie nicht mehr losgelassen hat.«

Diese verführerischen Sätze ließen alle Möglichkeiten in erreichbare Nähe rücken, sodass Charmaine es willenlos geschehen ließ, dass seine Hand in ihr Haar griff. Bevor sie protestieren konnte, hatte er den Knoten gelöst und fing ihre Lockenmähne mit der Hand auf. Sanft und fordernd zugleich zog er ihren Kopf nach hinten, bis seine Lippen über den ihren schwebten. »Ihr Geist folgt mir in meine Träume«, hauchte er, »und Ihr Bild folgt mir, wohin ich auch gehe … meine zauberhafte … meine wunderschöne Charmaine …« Und dann forderten seine Lippen ihre Belohnung, pressten sich wild auf ihren Mund und drängten ihre Lippen auseinander, um seiner tastenden Zunge Raum zu schaffen …

Zuerst war sie wie vom Donner gerührt, aber dann erwiderte sie jeden seiner flammenden Küsse, schlang die Arme um seine breiten Schultern und genoss die enge Umarmung. Endlich störte sie niemand. Endlich entweihte niemand ihre wilde Umarmung.

Aber plötzlich löste er sich von ihr, schob sie auf Armeslänge von sich weg und wandte sich ab. Zitternd und verwirrt blieb Charmaine stehen, wo sie war, während sich augenblicklich lustvolle Sehnsucht und gleichzeitig ein erstes Gefühl der Enttäuschung meldeten.

»Es tut mir leid, Charmaine«, murmelte Paul fast unhörbar. Was ist nur mit mir los? Ich hätte sie hier, mitten im Spielzimmer der Kinder, ohne Angst vor Entdeckung besitzen können. Verdammt! Sie ist so verführerisch!

»Ist irgendetwas passiert?«, fragte sie mit leiser, fast verschämter Stimme.

Er holte tief Luft und drängte seine Gelüste zurück, bevor er sich wieder zu ihr umdrehte. »Nichts ist passiert«, erklärte er mit einem zaghaften Lächeln. »Überhaupt nichts.«

»Und warum entschuldigen Sie sich dann?«

»Weil dies weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort für Küsse wie diese ist. Aber Sie verleiten mich immer zu wilden Dingen, Charmaine …«

»Zu wilden Dingen?«

»Dass ich jede Nacht von Ihnen träume, zum Beispiel.«

Die poetischen Worte und der weiche Klang seiner Stimme entzückten sie und ließen ihr Herz schneller schlagen. »Es tut mir leid, wenn ich Sie so sehr quäle.«

»Quälen Sie mich nur, Charmaine. Das ist auf jeden Fall weniger schlimm, als wenn Sie mich verließen.«

»Im Ernst?«

»Ganz im Ernst«, sagte er. »Aber jetzt kommen Sie, Charmaine, das Dinner wartet.«

Das Dinner … Sie konnte es kaum glauben, aber ihre Angst war wie weggeblasen. Pauls wachsende Zuneigung hatte den tiefen Hass seines Bruders verdrängt. Mit diesem Mann an ihrer Seite konnte sie es mit allem aufnehmen, was John ihr zumutete. Heute Abend würde sie als Siegerin die Tafel verlassen.

Paul bemerkte ihre Ruhe und Gelassenheit. »Sie scheinen sich nicht vor dem Abend zu fürchten.«

»Mit Ihnen an meiner Seite käme ich nie auf solche Gedanken.«

»Sie überraschen mich immer wieder, Charmaine Ryan.« Er lachte und dachte an die Zeit zurück, als sie seine Gegenwart gemieden hatte. »Aber Sie haben recht. Ich stehe an Ihrer Seite und werde nicht zulassen, dass John Sie verletzt. Denken Sie immer daran.«

»Das werde ich«, murmelte sie leise. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte sie davon geträumt, all ihre Sorgen auf Pauls Schultern zu laden. Konnten solche Träume wirklich wahr werden? Für den Anfang war es allerdings am sichersten, fest auf dem Boden verhaftet zu bleiben, dachte sie und schob diese Gedanken ganz weit von sich.

Paul ergriff ihre Hand und wollte sie zu Tür führen, doch sie hielt ihn zurück. »Einen Augenblick, ich muss noch schnell mein Haar richten.«

»Nein«, widersprach er und hielt sie auf. »Das kommt gar nicht infrage«, fügte er dann sanfter hinzu. »Sie sehen wunderschön aus.«

Sie freute sich über das Kompliment. Außerdem hielten die Kämme noch immer die seitlichen Strähnen zurück. Ihr würde zwar unangenehm heiß werden, aber für Paul nahm sie dieses Opfer gerne auf sich. Nach einem letzten Blick in den Spiegel wandten sie sich zum Gehen.

Trotz aller Tapferkeit bekam sie feuchte Hände, als sie das Esszimmer betraten. Sie waren die Letzten, die zu Tisch kamen. Rose saß zwischen den Kindern und band ihnen die Servietten um. Ganz gegen ihren Schwur wanderte Charmaines Blick unwillkürlich zum Ende der Tafel, wo John am Samstagmorgen auf Pauls Platz gesessen hatte. Sie wusste, dass er dort saß, also warum sah sie überhaupt hin? Erleichtert stellte sie fest, dass er ihr Eintreffen gar nicht bemerkt hatte, weil er in eine Unterhaltung mit George vertieft war.

George bemerkte sie als Erster, und seine Augen leuchteten auf. »Guten Abend, Charmaine.«

Sie lächelte ihm zu und sah erneut zu John. Jetzt hatte auch er sie bemerkt. Obgleich sein Gesicht glatt rasiert und er anständig gekleidet war, hatte der Alkohol seine Spuren hinterlassen. Er schwankte leicht, und seine Augen waren glasig.

Paul trat an den Tisch und zog ihr den Stuhl heraus. Sie saß zwar nahe bei John, aber nicht direkt zu seiner Linken. Sie dankte Paul mit einem Nicken und setzte sich so elegant, wie ihr das möglich war.

Paul griff nach dem nächsten Stuhl, und John schien sich zu amüsieren, dass sein Bruder sozusagen den Puffer zwischen ihnen beiden spielen wollte. Aber der Stuhl rührte sich nicht von der Stelle, als ob er am Boden festgeklebt sei.

»Willst du dich nicht endlich setzen?«, fragte John. »Oder müssen wir ohne dich anfangen? Wenn ich so sagen darf, haben wir schon lange genug auf dich und Miss Ryan warten müssen. Was euch wohl aufgehalten hat?«

Verärgert riss Paul erneut an dem Stuhl, und plötzlich glitt dieser so leicht unter dem Tisch hervor, dass Paul nach hinten stolperte und fast das Gleichgewicht verloren hätte. Die Zwillinge lachten, aber Paul überhörte es und setzte sich.

Ein energischer Blick von Charmaine beendete das Gekicher. Als sie sich fragte, welches Geheimnis dieses Missgeschick verursacht hatte, fiel ihr Verdacht sofort auf den Neuankömmling in ihrer Runde. Schon wegen seiner teuflisch glitzernden Augen.

Als der erste Gang serviert wurde, trat Stille ein. Allerdings nicht für lange.

»Ich habe heute Nachmittag jemanden auf dem Piano spielen hören«, sagte John nach einer Weile.

Alle sahen auf, nur Charmaine starrte auf ihren Teller.

»Es klang ganz gut … wer auch immer gespielt hat.«

Stumm maßen sie einander mit Blicken. »Ja, ganz gut«, sagte er noch einmal und sah sie herausfordernd an. »So gut wie ein paar Kinderlieder und eine bemühte Sonate eben klingen … Sehr … wie soll ich das sagen? Sehr hübsch.«

Besteck klapperte auf Porzellan, und Charmaine verfluchte die Röte, die ihr ins Gesicht schoss und ihren Zorn offenbarte. Johns durchdringender Blick ließ sie nicht los, also schlug sie die Augen nieder.

Da ihm sein Gegner abhanden gekommen war, drehte sich John zu Paul um, der seine Kommentare nicht bemerkt zu haben schien. Offenbar hatte er sich noch nicht von seinem Kampf mit dem Stuhl erholt. Pauls wunder Punkt war seine Reizbarkeit, und John gab keine Ruhe. Wie weit muss ich die Gouvernante reizen, bis sie um sich schlägt und Paul zu ihrer Rettung herbeieilt?

»Ich würde gern erfahren, wer heute Nachmittag so hübsch gespielt hat?«, fragte John betont höflich.

Ein Meister der Verstellung, dachte Charmaine, aber sie schwieg und nahm lediglich die Gabel in die Hand.

»Weiß es wirklich keiner?«, fragte er noch einmal und sah Yvette an. »Womöglich ein Geist?«

»Ich weiß, wer es war«, rief die Kleine.

Charmaine stöhnte insgeheim. Warum beantworte ich diese dämliche Frage nicht einfach und verderbe ihm sein Spiel?

»Nun?«, drängte John.

»Informationen kosten Geld«, sagte Yvette. »Wie viel zahlst du?«

Charmaine war peinlich berührt, aber George lachte nur.

»Hör auf zu lachen, George«, herrschte John ihn an. »Offenbar hat dein Geiz schon auf meine Schwester abgefärbt.«

George sah betreten drein, und John richtete seinen Blick auf Yvette. »Also gut, Yvette, du erwartest doch nicht ernsthaft ein Angebot von mir, oder? Wenn doch, so könnte sich Auntie für die kleine Geschichte interessieren, die wir heute Morgen im Wohnzimmer besprochen haben.«

Agatha beugte sich vor und wollte zu gern hören, was am anderen Ende des Tischs vor sich ging.

»Mademoiselle Charmaine hat gespielt«, sagte Yvette rasch.

Charmaine erbleichte. Nun, da es heraus war, ärgerte sie sich über die Methode, wie John ein achtjähriges Kind für seine Zwecke missbraucht hatte! Leider hatte die Taktik Erfolg gehabt, und er grinste triumphierend. Charmaine musste schlucken, weil Übelkeit in ihr aufstieg. Aber damit war das Thema noch nicht beendet.

»Was war das für eine Sache mit Yvette?«, fragte Agatha streng.

Aber John winkte ab. »Das ist nicht weiter interessant, Auntie.«

Agatha stotterte einen Augenblick, doch so schnell ließ sie sich nicht abwimmeln. »Du … Du solltest dich einer höflicheren Anrede befleißigen, mein lieber Neffe.«

»Auch wenn Sie meinen Vater geheiratet haben, bleiben Sie für mich immer ›Auntie Hagatha‹.«

»Wie du meinst, John. Aber sei sicher, dass dein Vater davon erfährt!«

»Na wunderbar! Wenn Sie jetzt gleich nach oben rennen und sich beschweren, könnten wir anderen wenigstens ungestört essen.«

Wütend starrte Agatha ihn an, blieb aber sitzen. Da es ihr leider an giftigen Entgegnungen mangelte, richtete sie ihren Zorn gegen die Scheibe Fleisch auf ihrem Teller, die sie geräuschvoll mit Messer und Gabel attackierte.

John wandte sich wieder an Charmaine. »Sagen Sie, Miss Ryan, waren das wirklich Sie?« Er bemerkte, wie Paul unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. »Haben Sie heute Nachmittag Piano gespielt?«

»Ja«, antwortete Charmaine schlicht und sah dem Quälgeist ins Gesicht.

»Sie spielen recht gut. Viele sind mit dem modernen Pianoforte noch nicht vertraut und hämmern wie auf einem Cembalo darauf herum. Haben Sie etwa bei einem Maestro Unterricht genommen?«

Der unverhüllte Sarkasmus reizte Charmaine bis aufs Blut.

Rose Richards spürte ihre Verzweiflung. John Duvoisin wollte ebenso wenig über Charmaines Unterricht erfahren, wie er bereit war, dem Alkohol zu entsagen. Es war Zeit, dass jemand sich einmischte. »Sie sollten essen, bevor alles kalt wird, Master John«, schimpfte sie.

Zu Charmaines Verwunderung lehnte John sich zurück und sah kurz zu Yvette hinüber, die offenbar ihren Spaß hatte, wenn er geschimpft wurde, dann ergriff er gehorsam die Gabel. Dankbar wandte sich nun auch Charmaine wieder ihrem Teller zu.

George konnte kaum ertragen, wie John die Gouvernante einzuschüchtern versuchte. Er erinnerte sich an die Tränen, die sie am Samstag an seiner Schulter vergossen hatte, und konnte ihre Not nachfühlen. Im Lauf der Zeit hatte er viele unglückliche Seelen untergehen sehen, sobald sie in Johns Fadenkreuz gerieten. Aber diese Opfer hatten ihr Schicksal verdient. Doch was hatte Charmaine, so süß, wie sie war, getan, um Johns Zorn auf sich zu ziehen? »Ich habe gestern übrigens Gummy Hoffstreicher in der Stadt getroffen, John«, begann er und lächelte schief. »Er wollte wissen, wie es dir geht.«

»Und hast du ihm gesagt, dass es mir in letzter Zeit ziemlich bescheiden geht?«, erwiderte John schroff. »Das hat ihn sicher gefreut.«

»Nach dem, was du ihm angetan hast«, erwiderte George, »würde mich das nicht wundern.«

»Was hat Johnny gemacht?«, fragte Yvette.

Georges Fröhlichkeit wirkte ansteckend. »Als wir noch kleine Jungen waren, vielleicht ein bisschen älter als ihr beide, sind John, Paul und ich oft zum Fischen auf den Kai gegangen. Fatima hat jedem von uns ein Sandwich zum Lunch eingepackt, weil wir den ganzen Tag über fort waren. Gummy war immer dort, wo wir auch waren.«

»Gummy?«, fragte Jeannette. »Warum habt ihr ihn so genannt?«

»John hat den Namen erfunden. Richtig hieß Gummy Gunther, aber wir haben ihn umgetauft, weil ihm mehrere Vorderzähne fehlten.«

Die Zwillinge kicherten, was Charmaine ziemlich grausam fand. Sie stellte fest, dass John zwar zuhörte, aber gleichzeitig aß und in Gedanken weit weg zu sein schien.

»Gummy hat sich immerfort im Hafen herumgetrieben«, erklärte George, »und war ständig auf der Suche nach Haken und Essen. Er war nicht arm, aber zu faul, sich selbst etwas mitzubringen. Wenn wir ihm nichts gegeben haben, hat er uns beklaut, sobald wir einmal nicht aufgepasst haben. Später haben wir ihn dann kauen sehen. Er hat uns jeden Tag ein Sandwich geklaut, bis John eines Tages wütend genug war, um etwas zu unternehmen.«

Felicia brachte einen Krug Wasser herein. Aus dem Augenwinkel sah Charmaine, wie das Mädchen zum Kopf der Tafel ging und sich über den Tisch beugte, um Johns Glas zu füllen. Ihre Brüste pressten sich gegen ihre enge Uniform, deren oberste Knöpfe geöffnet waren, damit es auch etwas zu bewundern gab. Was für ein hübsches Paar, dachte Charmaine. Sie verdienen einander!

George kicherte. »Am nächsten Tag hat John einen Fisch aufgeschnitten und die Innereien herausgekratzt. Als Krönung hat er ihm noch die Augen ausgestochen. Dann nahm er ein Sandwich aus unserer Tasche und bestrich es mit den Augen und den Innereien.«

Charmaines Magen revoltierte. George war weniger empfindlich. Vor Lachen liefen ihm die Tränen über die Wangen. »Ich werde nie Gummys Gesicht vergessen, als er in dieses Sandwich gebissen hat! Er hat es so schnell ausgespuckt, dass wir schon Angst hatten, dass noch sein ganzes Frühstück nachkommt!« Inzwischen hatte er mit seinem Gelächter Paul und John angesteckt, und sogar Rose und die Kinder mussten lachen.

»Erinnert ihr euch noch an die Augen, die uns vom Kai aus angestarrt haben?«, fügte Paul hinzu, woraufhin George noch lauter aufjaulte.

»Jedenfalls war es das Letzte, was Gummy jemals gestohlen hat – zumindest von John!«

Charmaine fand die Geschichte dermaßen abstoßend, dass sie Paul nur ungläubig ansehen konnte. Offenbar hatte er sogar noch mehr Spaß als George.

»Ich kann solche Barbarei nicht komisch finden«, bemerkte die Herrin des Hauses spitz.

Ohne zu überlegen, sah Charmaine zu John hinüber. Sicher wusste er auch darauf eine Antwort. Doch als er ihren Blick bemerkte, richtete er das Wort an sie. »Glauben Sie jetzt, dass meine Tante und ich uns in keinster Weise ähnlich sind, Miss Ryan?«

»Genau das habe ich schon heute Morgen gesagt«, fügte Agatha hinzu.

John hob sein Glas. »Darauf trinken wir, Auntie. Der erste Punkt, in dem wir einer Meinung sind!« Er nahm einen großen Schluck.

Charmaine schnappte nach Luft, als Yvette seine Geste mit ihrem Wasserglas imitierte. Rasch nahm Rose ihr das Glas aus der Hand. »Eine junge Lady macht so etwas nicht«, ermahnte sie das Mädchen leise. Trotzdem sah Yvette voller Bewunderung zu John hinüber, was dieser mit einem kleinen Zwinkern belohnte.

Anschließend wandten sie sich wieder ihren Tellern zu und begannen alle gleichzeitig zu reden. Paul und George tauschten Erinnerungen aus, nur John war ungewöhnlich schweigsam. Wenn er schwieg, wurde Charmaine nervös. Warum hatte sie den kleinen Pierre nur Rose überlassen? Ihm beim Essen zu helfen, das wäre jetzt genau die richtige Ablenkung. Als sie dem Kleinen zulächelte und er ihr Lächeln erwiderte, bemerkte sie, dass auch Johns Blick auf dem Jungen ruhte.

Sie konzentrierte sich auf ihren Teller, doch das Gefühl, dass John sie beobachtete, wollte nicht weichen. Er kann mich doch nicht ständig ansehen! Als sie vorsichtig in seine Richtung blickte, bereute sie es sofort. Offenbar hatte er ihren Blick gespürt. Er zog eine Braue in die Höhe, und seine braunen Augen musterten sie spöttisch. Charmaines Zorn wuchs. Sie hatte nicht die Absicht, sich weiterhin so unter Druck setzen zu lassen.

Als ob John ihre Gedanken erahnt hätte, wandte er sich direkt an sie. »Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich Sie früher schon auf Charmantes gesehen hätte, Miss Ryan. Ich weiß, dass Sie jünger sind als ich, aber Sie sprechen nicht wie eine Insulanerin. Wenn ich mich nicht irre, höre ich sogar einen leichten Südstaatenakzent. Wie haben Sie denn diese Stellung hier gefunden?«

Zu Charmaines Erleichterung meldete sich Paul zu Wort. »Miss Ryan kam direkt aus den Staaten, um sich für diese Stellung zu bewerben. Sie hatte alle nötigen Qualifikationen und wurde als Gouvernante eingestellt.«

John stützte die Ellenbogen auf den Tisch und klopfte mit den Fingern rhythmisch gegen seine Lippen. »Und wer hat entschieden, dass Miss Ryan diese nötigen Qualifikationen besitzt? Du etwa? In diesem Fall bezogen sie sich wohl weniger auf das Interesse der Kinder

Keinem entging, worauf John anspielte. Paul knirschte mit den Zähnen. »Colette hat dieses Gespräch geführt und sich für Miss Ryan entschieden.«

Die Blicke der Kontrahenten hielten stumm Zwiesprache.

»Eine höchst bedenkliche Entscheidung, wenn du mich fragst«, warf Agatha ein. »Miss Ryans Herkunft ist äußerst fragwürdig. In meinen Augen hat sie ihren Vorteil gesucht und sich unter Zuhilfenahme einiger Mitglieder dieser Familie in diesem Haus eingeschlichen.«

Paul öffnete den Mund, um zu protestieren, aber John schlug ihn um Haaresbreite. »Beschreibst du eigentlich Miss Ryan, Auntie, oder dich selbst?«

Agatha stöhnte auf, was John genüsslich auf sich wirken ließ. »Ich glaube nicht, dass Miss Ryan so gerissen ist«, fuhr er fort. »Den Geschickten erwischt man nicht.«

Agatha war wütend, sagte aber nichts.

Charmaine erschrak darüber, wie unverfroren John auf die Sache mit Colettes Brief anspielte und wie er zwei Menschen im selben Atemzug diskreditierte. Wäre sie nicht ebenfalls betroffen, so hätte es ihr gefallen, dass Agatha endlich ihren Meister gefunden hatte.

»Erzählen Sie doch einmal, Miss Ryan«, fuhr John fort, »was Sie dazu gebracht hat, Ihre Familie und sogar Ihre Freunde zu verlassen, um sich so weit entfernt um eine Stelle zu bewerben.«

Paul wollte Charmaine ein zweites Mal zu Hilfe kommen, aber John hob die Hand. »Miss Ryan kann wohl für sich selbst sprechen, oder nicht? Erlaube ihr, die Frage zu beantworten. Wenn du es tust, muss ich wieder endlos graben, bis ich auf die Wahrheit stoße.«

In der darauf folgenden Stille wirbelten die Gedanken durch Charmaines Kopf. Paul zwinkerte ihr aufmunternd zu, was ihm einen Rüffel seines Bruders eintrug, aber sie fühlte sich gestärkt und konnte ebenso ruhig antworten wie zuvor Paul. »Ich wohnte damals in Richmond. Als meine Mutter starb, musste ich selbst für mich sorgen. Die Freunde, für die ich damals in Richmond gearbeitet habe, haben von der vakanten Stelle einer Gouvernante auf Charmantes gehört, weil sie hier auf der Insel Verwandte haben.«

»Ach, wirklich?«

»Ja, wirklich! Als ich davon erfuhr und Interesse zeigte, haben sie mich sogar bis hierher begleitet.«

Die unvermeidliche Frage folgte auf dem Fuß. »Und was war mit Ihrem Vater?«

Na also, dachte Charmaine, da waren sie wieder: Anne Londons miese Indiskretionen. Sie hatte sich nicht getäuscht. John wusste über ihre Vergangenheit Bescheid und hatte auf einen günstigen Augenblick gewartet, um sie bloßzustellen. Und das vor den Kindern! Am liebsten wäre sie davongerannt. Ich habe gelernt, dass man seinem Feind niemals den Rücken zudreht.

»Mein Vater ist eines Tages verschwunden«, erwiderte sie trotz Agathas hinterhältigem Lächeln mit kühler Stimme, »und nicht zurückgekommen.«

»Er ist einfach so verschwunden?«, höhnte John. »Und nie zurückgekommen? Menschen verschwinden nicht so einfach, Miss Ryan. Es gibt sicher einen Grund, warum er Sie verlassen hat. Welcher Mann tut so etwas?«

Teilnahmsvoll sah Rose zu Charmaine hinüber, weil sie solch unsensible Fragen nicht verdiente. »Lassen Sie es gut sein, Master John«, mahnte sie ihn. »Ihre Kartoffeln werden kalt.«

»Die sind längst kalt«, entgegnete er, ohne Charmaine aus den Augen zu lassen. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet, Miss Ryan. Besonders glaubhaft finde ich Ihre Geschichte nicht. Hat Ihr Vater das wirklich getan?«

»Ja«, flüsterte sie.

»Und warum?«

Charmaine biss die Zähne zusammen. John spielte seine Rolle sehr geschickt, indem er vorgab, die Antworten nicht zu kennen, die er längst auswendig gelernt hatte, und sie außerdem als Lügnerin hinstellte. »Mein Vater war für den Tod meiner Mutter verantwortlich«, stieß sie hervor. »Er verschwand, um der gerechten Strafe für sein Verbrechen zu entgehen.«

Zweifelnd sah John sie an. Ihre schauspielerischen Fähigkeiten waren nicht zu leugnen. Allein die Tränen, die in ihren Augen schimmerten! Dafür verdiente sie zweifellos Anerkennung. Aber Mord? Wollte sie etwa andeuten, dass ihr Vater ein Mörder war? Ein Blick auf Pauls ernstes Gesicht bestätigte die makabere Vermutung. »Was für ein Mann«, lautete sein beißender Kommentar.

»Sind Sie jetzt endlich zufrieden?«, fragte Charmaine. »Macht es Ihnen Spaß, mich vor den Kindern herabzusetzen, oder wollen Sie nur beweisen, dass ich nicht in der Lage bin, für sie zu sorgen?«

»Ich mache Sie keineswegs für die Taten Ihres Vaters verantwortlich, Mademoiselle, auch wenn Sie mir das unterstellen, sondern allein für Ihre eigenen. Für eine solch schlimme Tat hätte man diesen Mann auspeitschen und aufhängen sollen. Doch wenn ich Ihnen in Zukunft eine Frage stelle, so sollten Sie schonungslos die Wahrheit sagen. Ich bin ein ehrenhafter Mann und respektiere alle, die mir gegenüber ehrlich sind. Wenn Sie sich an meine Worte halten, können wir vielleicht sogar gut miteinander auskommen.«

Charmaine war verblüfft – und gleichzeitig fühlte sie sich durch die gönnerhafte Art abgestoßen. Ein ehrenhafter Mann! Bah! »Ich fürchte, in diesem Punkt widersprechen Sie sich selbst, Sir. Am Samstagmorgen habe ich die Wahrheit gesagt, aber Sie haben sich geweigert, auch nur ein Wort davon zu glauben.«

Sofort bereute sie, dass sie das Thema angesprochen hatte. Paul warf ihr zwar einen verwunderten Blick zu, aber sie spürte, wie er ihr trotzdem innerlich applaudierte.

John dagegen war nicht so leicht zu beeindrucken und lachte sie einfach aus. Er ging zur Bar und holte sich eine Flasche Wein. »Halten Sie mich doch nicht zum Narren, Miss Ryan«, herrschte er sie an, während er die Flasche entkorkte und sein Glas füllte. »Die arme, unschuldige Charmaine Ryan kommt auf der Suche nach ihren Schützlingen ganz zufällig in mein Zimmer, als ein Windstoß gerade die Schublade aufreißt, die Blätter herausweht und auf den Boden flattern lässt. Woraufhin die gute Seele ihre erste gute Tat des Tages vollbringt und die Blätter vom Boden aufsammelt und liest … In diesem Moment stürmt das grauenhafte Ungeheuer namens John Duvoisin ins Zimmer, und seine rabenschwarze Seele missdeutet ihre ach so große Freundlichkeit …«

Wütend sprang Paul auf und schlug so heftig mit den Fäusten auf den Tisch, dass das Porzellan klirrte. »Du ruhst wohl nicht eher, bis du jeden an diesem Tisch beleidigt hast, nicht wahr?«, rief er.

George sprang ebenfalls auf und sah Paul kopfschüttelnd an, bevor er zu John hinüberging, in dessen Augen Hass glühte. »Los komm, John, setz dich wieder hin und iss weiter«, befahl er und zog ihn zurück an den Tisch.

Zur Überraschung aller wagte John keinen Widerspruch, und auch Paul setzte sich wieder hin. Peinliche Stille breitete sich aus. Charmaine überlegte, was dieser letzte Ausbruch zu bedeuten hatte, und sah von einem zum anderen. Paul schien einen Gegenstand auf dem Tisch zu fixieren, während John verbissen auf das Kristallglas starrte, das er zwischen seinen Fingern drehte.

Die Minuten zogen sich in die Länge, und irgendwann war der Hauptgang vorüber. Zum Dessert brachte Felicia ein großes Tablett voll kleiner Kuchen herein. Charmaine lehnte ab, weil ihr der Appetit vergangen war. Paul bat um einen Kaffee, während John sich an den Wein hielt. Doch George nahm sich gleich drei kleine Küchlein.

»Du Giersack«, bemerkte John.

Sofort flammte Charmaines Zorn wieder auf.

»Warum so gute Sachen verschwenden?« Schulterzuckend biss George ein großes Stück ab. »Außerdem«, fuhr er, mit vollem Mund kauend, fort, »schmecken sie morgen muffig.«

»Pfui!«

Sofort richteten sich aller Augen auf Jeannette, die ihren Teller entsetzt von sich geschoben hatte. »Ich hasse Nüsse!«

Sie sprang auf und streckte die Hand quer über den Tisch, um sich ein neues Küchlein zu angeln. Doch Agatha war schneller. Sie zog das Tablett zu sich und schlug Jeannettes Hand zur Seite. »Du hast dein Dessert bereits ausgesucht, junge Lady.«

»Aber …«

»Kein Aber«, mahnte Agatha. »Man isst, was man sich genommen hat. Ein Mädchen in deinem Alter sollte wissen, dass es ungezogen ist, den Teller wegzuschieben und sich einfach ein anderes Küchlein zu nehmen.« Mit strafendem Blick sah sie Charmaine an. »Wie mir scheint, haben Sie den Kindern noch keine Tischmanieren beigebracht. Du hebst dein Glas wie ein gewöhnlicher Matrose.« Das ging gegen Yvette. »Und du stürzt dich wie ein hungriges Tier auf die Küchlein! Eine anständige kleine Lady würde sich genieren!« Agatha rümpfte die Nase.

Charmaine senkte den Kopf und ergriff stillschweigend Partei für Jeannette.

»Obendrein ist es eine Sünde, Essen zu vergeuden«, schloss Agatha.

John stand auf und ging zum Ende des Tischs. Seine Tante zuckte zusammen, als er das Tablett mit den Küchlein vom Tisch hochhob. »Wenn Auntie den Ausbund an Tugend hervorkehrt, so gnade uns Gott. Ich persönlich halte dich durchaus für eine gut erzogene kleine Lady.«

»Von einem Neffen dulde ich kein solch ungebührliches Benehmen«, schimpfte Agatha empört.

»So wenig wie ich von Ihnen! Sie haben allen hier am Tisch zur Genüge klargemacht, dass Sie Herzogin, Gräfin, Kaiserin und Königin in einer Person sind, Eure Majestät, aber ich lasse nicht so mit mir umspringen!«

»Ich bin die Herrin dieses Hauses und verlange Respekt!«

»Das mag sein, aber eines Tages werde ich hier zu bestimmen haben«, entgegnete John. »Sehen Sie sich vor, Auntie. Stellen Sie sich lieber gut mit mir, denn wenn mein Vater dieser Welt Adieu sagt, werde ich das Haus von allem befreien, was mir zuwider ist – ganz gleich, ob wir verwandt sind oder nicht.«

Mit angehaltenem Atem sah Charmaine zu Paul hinüber und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass er lächelte. Ein weiterer Blick bestätigte, dass Paul mit seiner Freude nicht allein war. Sogar Anna und Felicia waren aus der Küche gekommen, und Charmaine konnte sich lebhaft vorstellen, dass Fatima auf der anderen Seite das Ohr gegen die Tür presste.

»Ich werde deinen Vater über dein beleidigendes Benehmen in Kenntnis setzen«, rief Agatha mit hochrotem Kopf. »Deine Trunkenheit ist keine Entschuldigung.«

»Ich bin nicht auf Entschuldigungen angewiesen«, sagte John drohend. »Ob betrunken oder nicht – ich meine genau das, was ich sage. Laufen Sie nur zu Papa, so schnell Ihre dürren Beinchen Sie tragen, und beschweren Sie sich. Aber meinen Respekt werden Sie so nicht erringen.«

Obgleich Agatha vor Empörung zitterte, wirkte John geradezu unbekümmert, als er Jeannette das Tablett anbot. »Welches Küchlein möchtest du denn gern?«

»Das mit Sahne, bitte«, sagte sie leise. »Aber unsere Stiefmutter hat das letzte genommen.«

»Das mit Sahne also.« John wandte sich zur Küche und rief lauthals: »Cookie!«

Sofort eilte Fatima herein und knickste. »Master John?«

Wie praktisch, die Köchin »Cookie« zu nennen, dachte Charmaine amüsiert.

John bat um ein Sahneküchlein für Jeannette, und Yvette rief dazwischen und erbat noch ein weiteres für sich selbst. »Und was ist mit dir, Pierre?«, fragte er, woraufhin sich der Kleine umdrehte und sich die Füllung seines Küchleins quer über das Gesicht schmierte. »Eher nicht, Fatima. Bringen Sie uns einfach nur noch zwei Küchlein mit Sahne, und beim nächsten Mal lassen Sie die Nüsse lieber weg. Jeannette mag nämlich keine Nüsse.«

»Aber ich mag sie schon«, protestierte George und starrte sehnsüchtig auf das von Jeannette verschmähte Küchlein.

»Du isst wahrscheinlich alles«, bemerkte John trocken. »Sei froh, dass du nicht Gummy heißt, denn dann hätten wir heute nicht über die Geschichte lachen können.«

John nahm das Küchlein, doch statt es George zu geben, legte er es vor Agatha auf den Teller. »Hier bitte, Auntie. Es wäre doch eine Sünde, es wegzuwerfen.«

George prustete los und tauschte das Küchlein nur zu gern gegen die unweigerliche Standpauke ein, die jedoch ausblieb. Die anderen am Tisch hielten den Atem an. Johns Unverfrorenheit war nicht zu bremsen, und Charmaine fragte sich, ob er wohl jemals etwas unkommentiert durchgehen ließ. Agatha schien noch immer erzürnt, sagte aber nichts, als John auf seinen Platz zurückging.

Charmaines Blick wanderte immer wieder zum Kopfende der Tafel. Inzwischen betrachtete sie John auch mit anderen Augen. Mit Leichtigkeit hatte er die Rolle des Hausherrn eingenommen. Wie viel Kraft es Agatha wohl kostete, wenn John jeden ihrer Schachzüge durchkreuzte? Auf jeden Fall braute sich ein Sturm zusammen. So viel stand fest. Am spannendsten dürfte die Sache werden, wenn Agatha, wie angedroht, ihre Beschwerde Frederic Duvoisin vortrug. Zu wem er wohl hielt? Zu dem verlorenen Sohn oder zu seiner Hexe von Frau?

Als das Dessert beendet war, stand Paul auf. »George und meine Ladys, ich bin dafür, dass wir uns für den weiteren Abend in den Wohnraum zurückziehen.« Er war Charmaine beim Aufstehen behilflich.

»Einverstanden«, erklärte Agatha, als ob nichts gewesen wäre, und strich ihr kostbares Gewand glatt. »Ein Glas Portwein würde mir jetzt guttun.«

»Ich bezweifle, dass ihr überhaupt irgendetwas guttut«, raunte John George zu. »Höchstens eine Herde wilder Eber.«

George prustete los und klopfte John auf den Rücken. »Warum leistest du uns nicht noch etwas Gesellschaft? In Bezug auf ein Stück Land in der Nähe von Richmond hätte ich nämlich gern deinen Rat gehört.«

Als John nickte, änderte Charmaine augenblicklich ihre Pläne für den weiteren Abend. Sie ging zu den Kindern, hob Pierre aus seinem Stühlchen und drückte ihm einen zärtlichen Kuss auf die runden Bäckchen.

»Mainie«, rief der Kleine begeistert und legte den Kopf an ihre Schulter.

Mit gerunzelter Stirn beobachtete John die Szene.

»Der Kleine ist reif für die Badewanne und seine Bettgeschichte«, sagte Rose und liebkoste seine strammen Beinchen. »Lassen Sie mich das machen.«

»Aber nein, Rose. Ich bringe die Kinder zu Bett. Sie hatten während des Dinners schon genug zu tun«, entgegnete Charmaine, weil sie unbedingt nach oben ins Kinderzimmer verschwinden wollte.

Yvette stampfte auf. »Ich will aber noch nicht ins Bett! Ich will auch ins Wohnzimmer wie alle anderen.«

»Aber ich habe doch gar nicht gesagt, dass du …«

»Yvette hat recht, my Charm«, fiel John ihr mit liebenswerter Stimme ins Wort. »Für die Mädchen ist es wirklich noch zu früh.«

Charmaines Nerven vibrierten, als sie merkte, dass Paul über die Koseform ihres Namens verärgert war. »Wenn Sie mir gestattet hätten, meinen Satz zu beenden«, entgegnete sie steif, »so hätten Sie gehört, dass Yvette und Jeannette noch aufbleiben dürfen.«

»Wie überaus edel«, spottete John. »Sie nehmen Nana Rose den Dreijährigen ab und bürden ihr dafür die Sorge für zwei Achtjährige auf!«

»Aber, Master John«, protestierte Rose. »Ich liebe die Kinder doch.«

Mit weichem Lächeln sah John den Kleinen an, der sich zufrieden in Charmaines Arm kuschelte. »Das habe ich nie bezweifelt, Rose. Bei Ihnen weiß ich den Kleinen auch in guter Obhut.«

Gekränkt drückte Charmaine das Kind an sich, während Rose bereits die Arme nach ihm ausstreckte.

»Erlauben Sie, dass Rose den Jungen heute Abend ins Bett bringt«, sagte nun auch Paul. »Wir freuen uns außerdem, wenn Sie uns Gesellschaft leisten.«

Darauf wusste Charmaine nichts zu sagen. Sie lächelte Paul zu. Dann sah sie, wie John grinsend auf sie zukam.

»Geben Sie ihn mir«, sagte er und streckte die Arme nach Pierre aus. »Ich trage ihn für Rose nach oben.«

Sofort vergrub Pierre das Köpfchen an Charmaines Schulter und wollte sich nicht anfassen lassen.

»Lass mich das machen«, sagte Paul und kam um den Tisch herum.

Der Kleine hob den Kopf und lächelte. Charmaine reichte ihn an Paul weiter und bemerkte den grimmigen Ausdruck in Johns Augen.

»Mich kennt er eben«, sagte Paul, als er zusammen mit Rose das Speisezimmer verließ.

»Gehen wir?«, unterbrach George die Stille.

Als sie den Wohnraum betraten, eilte Jeannette sofort auf John zu und ergriff seine Hand. »Stimmt das, Johnny, was Auntie Agatha gesagt hat?«

»Was hat sie denn gesagt?«, wollte er wissen.

»Dass du betrunken bist?«

Über die unverblümte Frage war John sichtlich bestürzt. »Bisher noch nicht«, sagte er, »aber noch ein paar Gläser mehr könnten mich so weit bringen.«

»Warum bist du denn nicht ins Spielzimmer gekommen?«, wollte Yvette wissen. »Wir haben das ganze Wochenende über auf dich gewartet.«

»Ich hatte eine Menge zu tun. Außerdem wäre ich keine gute Gesellschaft gewesen, fürchte ich.«

John setzte sich aufs Sofa, und die Zwillinge ließen sich rechts und links von ihm nieder – und in sicherer Entfernung von Agatha, die wie gewöhnlich ihre Stickerei zur Hand nahm. Als Paul zurückkam, besprach er mit George die Arbeiten, die am nächsten Tag erledigt werden mussten. Und wie Charmaine befürchtet hatte, ließ auch der nächste unerfreuliche Zwischenfall nicht lange auf sich warten.

»Na, schwingst du wieder die Peitsche, Paul?«, fragte John, als er sich zu ihnen gesellte.

»Du sagst es. Schließlich müssen wir ja dafür sorgen, dass das Geschäft läuft.«

»Oder George«, gab John zurück. Er zog sich einen Stuhl heran, setzte sich rücklings darauf und verschränkte die Arme auf der Lehne, sodass er seinem Bruder genau gegenübersaß. »Du vergeudest seine Zeit, was?«

»Das tue ich nicht«, widersprach Paul. »Im Gegensatz zu dir.«

»Und dabei dachte ich immer, dass du Charmantes auch bewirtschaften könntest, wenn man dir die Hände auf den Rücken fesselte.«

»Auch in diesem Punkt irrst du.« Pauls Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. »Ich bin der Erste, der Schwierigkeiten einräumt, und die sind nicht gerade geringfügig, wenn George nicht da ist, um mir Arbeit abzunehmen.«

George atmete tief ein.

»Aber du hast es doch auch ohne ihn geschafft«, sagte John.

»Das ist richtig. Schließlich bin ich ja nicht völlig ohne Hilfe.«

George stieß den Atem wieder aus.

John heuchelte Interesse, um die Quälerei weiter fortsetzen zu können. »Du überraschst mich immer wieder, Paulie. Dich sogar auf neue Lieferanten zu stützen, nur um den Bau deines Palasts nicht aufschieben zu müssen.«

Paul war sprachlos. »Woher weißt du das …?« Mit gerunzelter Stirn sah er George an, doch der schüttelte den Kopf. »Egal, John, es ist nur ein Haus und kein Mausoleum.«

John lachte leise in sich hinein. »Nun gut, da es nur ein Haus ist, wundert mich auch nicht, dass du ohne George zurechtgekommen bist. Übrigens: Nein, George hat es mir nicht gesagt. Ich wusste es schon vorher. Also, wie bist du ohne ihn klargekommen?«

»Indem ich andere Hilfe in Anspruch genommen habe«, erwiderte Paul. »Und die einzig wirkliche Komplikation, die ich bewältigen musste, hast du verschuldet, mein lieber Bruder.«

Charmaine schauderte, weil sie genau spürte, dass sich ein Streit anbahnte. Sie beobachtete, wie John die Lippen verzog und ein teuflisches Leuchten in seine Augen trat.

»Eine Komplikation?«, fragte er arglos. »Welcher Art denn?«

Paul widerstand der Versuchung, ihm die Sache mit den fehlenden Rechnungen vorzuhalten.

»Wurde irgendetwas falsch gemacht?«, fragte John besorgt. »Nein? Darf ich dich etwas fragen?«

»Nur zu«, sagte Paul genervt.

»Du hast vorhin neue Lieferanten erwähnt. Ist es vermessen zu fragen, wer mein Erbe in der Zeit verwaltet hat, während du dich in New York und Europa oder auch auf deiner neuen Insel herumgetrieben hast?«

»Unser Vater. Er hat das Geschäft beaufsichtigt.«

»Ist er vielleicht nur dann ein Krüppel, wenn ihm das gerade passt? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er auf seinen Hengst steigt und Tag für Tag über die Pflanzungen reitet. Also, wer war während deiner Abwesenheit für alles verantwortlich? Ist das vielleicht die Erklärung für den jämmerlichen Ertrag der Zuckerernte?«

Pauls Wut steigerte sich von Minute zu Minute. »Du kannst die Dinge einfach nicht ernsthaft betrachten! Ich arbeite mir für Leute wie dich die Hände wund, während du dich zurücklehnst und darauf wartest, dass dir Vaters Vermögen in den Schoß fällt! Und erzähl mir nichts von Herumtreiben – da du die letzten zehn Jahre in Virginia herumgesessen und so wenig wie möglich gearbeitet hast!« Johns Grinsen reizte ihn dazu weiterzusprechen. »Ich glaube, Sokrates hat sinngemäß gesagt, dass der, der die Welt bewegen will, zuerst einmal sich selbst bewegen muss.«

»Ach, wirklich?« John gähnte. »Na gut, Paulie, dann halte ich es doch lieber mit der Weisheit, dass es sehr viel besser ist, wenige Dinge gut als viele Dinge schlecht zu erledigen.«

Diese Art der Diskussion war Paul zu dumm. Er schwieg.

John seufzte. »Nachdem wir das geklärt hätten, können wir vielleicht zum Ausgangspunkt zurückkehren.«

»Und der wäre deiner Meinung nach?«

»Die Männer, denen du Verantwortung übertragen hast – und zwar hier auf Charmantes.« Als Paul etwas sagen wollte, schnitt John ihm das Wort ab. »Ich will nur die Namen, Paul, mehr nicht.«

»Verdammt, John, du kennst sie alle!«

»George hat einen gewissen Wade Remmen erwähnt. Wer, zum Teufel, ist das?«

»Wade Remmen?«, fragte Jeannette interessiert.

John nickte und sah seine Schwester an. »Kennst du ihn, Jeannie?«

»Oh, ja! Der sieht gut aus!«

Charmaine lächelte über ihre Ausdrucksweise.

»Sieht er wirklich gut aus?«, fragte John amüsiert.

»Oh, ja!« Jeannette nickte.

»Und wer hat das gesagt? Etwa Miss Ryan? Hat Mr. Remmen einen Schnurrbart?«

»Nein, hat er nicht. Mama hat zuerst gesagt, dass er gut aussieht. Dann habe ich es auch gesehen.«

Pauls gerunzelte Stirn glättete sich wieder.

John lächelte ihn an. »Hast du das gehört, Paulie? Du hast nichts zu befürchten. Miss Ryan hat nur Augen für dich.«

»Das weiß ich«, fauchte Paul und merkte zu spät, wie lächerlich das klang.

Charmaine stöhnte innerlich und fürchtete, dass nun ihre privaten Gefühle breitgetreten würden. Sie atmete auf, als Paul wieder auf Wade Remmen zu sprechen kam.

»Als George vor vier Monaten von der Bildfläche verschwand, bat ich Wade, die Verantwortung in der Sägemühle zu übernehmen. Er hat seine Sache bestens gemacht und kluge Entscheidungen getroffen. Aus diesem Grund habe ich ihm den Posten auf Dauer übertragen. George hat jetzt mehr Zeit für andere wichtige Dinge.«

»Um tagaus, tagein für deine Wünsche zur Verfügung zu stehen, meinst du wohl. Sag, George, gefällt es dir, wenn man wie bei einer Marionette ständig an den Fäden zieht?«

»Mir ist es egal, solange die Bezahlung stimmt.«

»Manche Dinge ändern sich offenbar nie«, bemerkte John nachdenklich.

»Das halte ich für untertrieben«, brummte Paul.

Aber für John war das Thema noch nicht beendet. »Das hört sich an, als ob dieser Mr. Remmen besonders tüchtig wäre. Wie lange hat er denn gebraucht, um sich einzuarbeiten?«

Paul wusste ganz genau, dass John sich weder für Wade Remmen noch für einen anderen Angestellten interessierte. Der einzige Zweck seiner Fragen war das immer gleiche Spiel, sich als Erbe der Duvoisins und Hüter des Familienvermögens aufzuspielen. Also gab sich Paul betont desinteressiert, um seinem Bruder den Sieg zu verderben.

»Wade stammt aus Virginia. Als seine Eltern starben, blieben er und eine jüngere Schwester mittellos zurück. Da sie in Virginia keine Arbeit fanden, schlichen sie sich auf eines unserer Schiffe, um in der Fremde ein besseres Leben zu beginnen. Der Kapitän entdeckte sie zwei Tage nach dem Auslaufen und übergab sie mir, als das Schiff im Hafen einlief. Das Ganze ist jetzt zwei Jahre her. Wade war damals siebzehn Jahre alt. Außerdem war er kräftig und an die Arbeit im Hafen gewöhnt. Er trug mir seinen Fall vor und versprach, die Passage für sich und seine Schwester zu bezahlen. Da ich nichts zu verlieren hatte, habe ich ihm eine Chance gegeben. Und Wade hat mich nicht enttäuscht. Es war nur natürlich, dass ich auf ihn zurückgegriffen habe, als George uns im Stich gelassen hat.«

»Was für eine Geschichte!« John schüttelte den Kopf.

»Willst du sonst noch etwas wissen?«, fragte Paul, ohne auf Johns dramatisches Gebaren einzugehen.

»Hat Mr. Remmen die Passage bezahlt?«

Charmaine staunte über Johns Kleinlichkeit, aber Paul schien an derartige Fragen gewöhnt zu sein und lachte nur. »Muss ich dir etwa über jeden Penny Rechenschaft ablegen, der deinem Portemonnaie womöglich entgangen ist?«

»Wenn du es nicht tust, wird sich unsere bewährte Krämerseele George darum kümmern. Nicht wahr, George?«

»In Ordnung«, sagte George. »Und, nein, ich glaube nicht, dass Wade die Passagen bezahlt hat.«

John sah Paul an. »Und warum nicht?«

»Weil er seinen Lohn gebraucht hat, um sich hier auf der Insel niederzulassen«, entgegnete Paul mit einem wütenden Seitenblick auf George. »Er hat das alte Haus der Fields gekauft und es wieder hergerichtet.«

»Das kann ich mir denken. Schließlich hat er zwei Passagen gespart! Ganz schön unfair, meine ich.«

»Ich habe ja nicht ausdrücklich auf die Zahlung verzichtet …«

»Miss Ryan hat keine solche Gnadenfrist erhalten, oder? In zwei Jahren kann man immerhin ein kleines Vermögen anhäufen.«

»Es ist einfach unmöglich«, sagte Paul. »Mit dir kann man nicht vernünftig reden.«

»Da du die Großzügigkeit aus meiner Tasche finanzierst, sollte jeder einen gerechten Teil der Beute erhalten, nicht wahr?«

»Miss Ryan war nicht mittellos«, entgegnete Paul mit schneidender Stimme. John wollte nur Charmaine gegen ihn aufbringen. Aber das gelang ihm nicht, denn in ihren Augen zeigte sich keinerlei Empörung. »Sie hatte in Virginia eine gute Stellung und konnte ihre Überfahrt bezahlen.«

»Warum hat sie Richmond dann überhaupt verlassen?«, fragte John.

»Das haben wir bereits erörtert, John. Miss Ryan wollte ein neues Leben beginnen.«

»Nun, daran besteht kein Zweifel.« John grinste, als Paul finster dreinsah. »Ich würde diesen Wade Remmen gern einmal kennenlernen.«

»Er arbeitet in der Sägemühle. Wenn du aus deinem traurigen Zustand irgendwann herauskommst, kannst du ihn ja besuchen.«

Paul trat an den kleinen Tisch und goss drei Gläser Portwein ein. Eines davon reichte er Agatha. Charmaine nahm ihres nur widerstrebend in Empfang und trank einen kleinen Schluck, bevor sie das Glas auf den Tisch stellte. In ihren Augen war der Abend ein weiterer Beweis für die verheerenden Folgen des Alkohols und dafür, welche Wut er in Männern wachrief.

Yvette nutzte die kleine Pause, als die Unterhaltung stockte, und rannte zum Piano. »Johnny«, rief sie aufgeregt, »ich habe eine Überraschung für dich!«

Charmaine zuckte zusammen. Jetzt kommt es, dachte sie. John hatte ihre Fähigkeiten bestritten und würde nun erfahren, dass sie das Wenige obendrein noch an seine Schwestern weitergegeben hatte.

»Was denn?«, fragte er ungewohnt sanft.

»Hör einfach zu«, rief Yvette und begann, ihr Lieblingsstück zu spielen.

Charmaine wollte eigentlich zu ihm hinsehen, doch John schien ihren Blick gar nicht wahrzunehmen, so gebannt lauschte er.

»Na, was sagst du?«, fragte Yvette, sobald der letzte Ton verklungen war.

»Ich bin beeindruckt, Yvette. Das war wunderschön!«

Das Mädchen strahlte, und sofort lief Jeannette zum Piano. »Darf ich jetzt auch spielen?«

John nickte, und sie begann. Aber diesmal wanderte sein Blick zu Charmaine. Sie wusste nicht recht, wie sie seinen Gesichtsausdruck deuten sollte. Auf jeden Fall war mehr als nur Überraschung darin zu lesen, und so wagte sie zum ersten Mal ein schüchternes Lächeln.

»Das war ebenfalls wunderschön, Jeannie«, sagte John, als sie fertig war. »Ich nehme an, dass Miss Ryan euch unterrichtet hat.«

Jeannette nickte. »Aber sie musste versprechen, uns nicht zu verraten, weil wir dich überraschen wollten.«

»Jetzt verstehe ich alles«, sagte er und grinste. »Eure Gouvernante hat überhaupt nicht gespielt, und ihr habt mir Märchen erzählt!«

»Aber nein, Johnny. Mademoiselle hat gespielt. Wir können es doch noch nicht so gut!«

»Sind wir denn schon so gut wie sie?«, fragte Yvette.

»Beinahe, würde ich sagen.« John schien zufrieden, dass er Charmaines Distanz ihm gegenüber überwunden hatte.

Jeannette rannte quer durchs Zimmer zum Schachbrett. »Ich möchte auch gern Schach lernen, Mademoiselle. Sie haben doch versprochen, es mir zu zeigen?«

»Es ist schon so lange her, seit ich zuletzt gespielt habe. Ich fürchte, ich bin keine gute Lehrerin.«

Paul machte das Beste aus der Situation. Er überließ John und George sich selbst und zog sich einen Stuhl ans Spielbrett. »Wir fordern Sie heraus, Miss Ryan«, rief er. Dann beugte er sich zu Jeannette. »Beim Spielen erkläre ich dir die Regeln.«

Charmaine stotterte eine Weile herum. »Ich fürchte, ich … Ich bin kein guter Gegner … Vielleicht möchte ja George an meiner Stelle …«

Doch ihre Versuche trafen auf taube Ohren. Paul stellte die Figuren auf. »Nur Mut, Charmaine. Ich habe auch schon ewig nicht mehr gespielt. Wir dürften also ungefähr gleich stark sein.«

Widerstrebend war Charmaine schließlich einverstanden. Joshua Harrington hatte ihr einst die Anfänge des Spiels beigebracht, aber seitdem hatte sie viel vergessen. Paul würde in kürzester Zeit im Vorteil sein. Ihr war es zwar nicht wichtig, ob sie gewann oder verlor, aber vor seinem Bruder wollte sie sich nicht blamieren. Im Moment sprach John mit George, sodass er ihre Blamage vielleicht gar nicht mitbekam.

»… Aber, George, wenn du Land kaufst, das praktisch nur aus Sumpf besteht, wirst du in kürzester Zeit in einem Morast aus Schulden versinken, und der kleine Teufel von Anwalt namens Edward ›P.‹ Richecourt wird ständig an deiner Hütte klopfen. Ich weiß, du träumst davon, über Nacht steinreich zu werden, aber wenn du preisgünstige Angebote suchst, wird das nicht passieren. Wenn du dich jedoch von dem Geld trennst, das du gehortet hast, dann habe ich vielleicht ein paar Vorschläge, die dich interessieren und sich im Lauf der Zeit als Glücksfall erweisen könnten.«

Paul sah vom Schachbrett auf und zu John hinüber, doch in diesem Augenblick kam Rose herein. »Wie oft muss ich noch sagen, dass man sich nicht falsch herum auf den Stuhl setzt, John Duvoisin!«

Die ganze Zeit über hatte John auf den hinteren Beinen des Stuhls balanciert, doch nun stand er auf. »Ich mache das, seit ich denken kann, und bin noch kein einziges Mal umgekippt«, bemerkte er gut gelaunt.

»Sie sollen nicht mit mir streiten, Master John!« Die alte Kinderfrau drohte ihm mit dem Finger. »Ich bin zwar älter als Sie, aber für einen Klaps immer noch schnell genug.«

Die Mädchen kicherten. Jeannette hatte die Lust am Schachspielen schnell wieder verloren. »Haben Sie ihm wirklich den Popo verhauen?« Yvette musste lachen, als Paul ängstlich das Gesicht verzog.

»Mehr als nur einmal«, bekräftigte John und legte Nana Rose den Arm um die Schultern. Als er merkte, dass aller Augen auf ihn gerichtet waren, fuhr er fort: »An einen Vorfall kann ich mich besonders gut erinnern. Damals war ich neun – nicht immer eine Glückszahl …«

»Bitte, John«, unterbrach ihn Paul, »ich versuche, mich zu konzentrieren …«

Überraschenderweise verzichtete John auf die Geschichte und drückte Rose noch einmal, bevor er sie losließ. »Schläft Pierre?«

»Wie ein Baby«, flüsterte Rose und setzte sich in der Nähe von Charmaine auf einen Stuhl.

»Er ist ein süßer Kerl«, sagte John mit Blick auf das Schachbrett. »Ich bin beeindruckt, wie gut er für einen Jungen seines Alters schon spricht …«

»Bitte, John«, beschwerte sich Paul, »unterhalte dich doch woanders.«

»Soll das vielleicht heißen, dass ich in meinem eigenen Wohnzimmer nicht mehr reden darf?«, fragte John mit gespielter Unschuld.

Paul drehte sich betont langsam um und sah seinen Bruder an. »Du kannst reden, wo immer du willst. Ich bitte dich nur um etwas Rücksicht, bis ich das Spiel mit Miss Ryan beendet habe.«

»Als Gentleman kann ich dir wohl kaum erlauben, mit Miss Ryan ein Spiel zu spielen. Betrachte mich also als ›Anstandsdame‹, als stumme, wohlgemerkt.«

Verärgert fuhr Paul herum und war nervös, weil John über seine Schulter hinweg das Schachbrett sehen konnte. Er rückte mit seinem Läufer fünf Felder diagonal über das Brett vor und bedrohte Charmaines König mit »Schach«.

Nun befand sich Charmaine in einer misslichen Lage – und jedermann sah ihr zu. Nervös tat sie, als ob sie nachdenken müsste, bevor sie ihren König ein Feld weiterrückte. Zu spät merkte sie, dass sie damit die wertvolle Dame geopfert hatte.

Paul verschloss die Augen vor diesem Zug. Wenn er die Dame geschlagen hätte, hätte er damit den König schachmatt gesetzt. Stattdessen griff er nach seinem Läufer. Doch John wischte seine Hand zur Seite. »Was für ein Spielchen spielst du da eigentlich, Paulie?« Mit diesen Worten packte er Pauls Dame und fegte die weiße Dame vom Brett. »Schachmatt.«

Charmaine sah von Johns drohender Miene auf das Brett hinunter. Sie war tatsächlich schachmatt.

»Diesen Zug konntest du unmöglich übersehen! Oder wolltest du Miss Ryan einen kleinen Sieg gönnen, bevor sie daran glauben muss?«

»Es reicht«, schimpfte Paul. Das Gelächter der Zwillinge fachte seinen Zorn nur weiter an. »Du gehst mir schon den ganzen Abend auf die Nerven.«

»Ist es mir gelungen?«

»Das weißt du verdammt gut«, bellte Paul. Er stand auf und baute sich drohend vor seinem Bruder auf.

»Pass auf, was du sagst«, riet John gut gelaunt. »Es sind Ladys im Raum. Wir müssen uns anständig benehmen.«

»Was weißt du schon von Anstand?«

»Keine Ahnung, Paulie, aber vielleicht könntest du als Meister des Anstands mich aufklären? Warum fängst du nicht mit den Geldbeträgen an, die du auf Espoir investiert hast, und erklärst mir, weshalb du die Entwicklung der Insel vor mir geheim gehalten hast? Oder könntest du mir vielleicht verraten, welcher Anteil meines Gewinns auf Charmantes dort verwendet wird?«

»Endlich kommt der wahre Grund für dein Benehmen zum Vorschein! Warum besprichst du das nicht mit Vater?«

»Ich kenne die Zahlen seit langem.« John lächelte sein schiefes Lächeln. Als Paul George ansah, fügte er hinzu: »Von George habe ich es nicht erfahren.«

»Von wem dann?«

»Von deinem und meinem Rechtsanwalt, dem ehrenwerten Edward Richecourt.«

»Zum Teufel – du lügst«, brüllte Paul. »Er hat den ausdrücklichen Befehl erhalten …« Als ob man ihn erwischt hätte, erstarb seine Stimme mitten im Satz.

Doch John interessierte sich nicht für das, was er bereits wusste. »Vor die Wahl gestellt, hat Mr. Richecourt klugerweise den Mund aufgemacht. Mag sein, dass er mich verachtet, aber er weiß auch, wer ihn eines Tages füttern wird.«

»Na wunderbar!« Paul applaudierte. »Und was willst du damit anfangen? Willst du Vater etwa vorschreiben, wie er sein Vermögen ausgibt? Noch ist es nicht dein Geld.«

»Es könnte mir nicht gleichgültiger sein, wie Papa sein Vermögen verwaltet, und die Größe seines Besitzes schert mich ebenfalls nicht. Ich habe persönlich nicht schlecht gewirtschaftet, und im Gegensatz zu dir werde ich das auch weiterhin tun, und zwar ohne einen Penny aus Papas Tasche anzunehmen.«

»Wie kannst du mir unterstellen, dass ich Geld aus Vaters Vermögen annehme?«

»Das habe ich nicht unterstellt, Paul. Ich zähle nur die Tatsachen auf.«

»Nun gut, dann erlaube, dass ich ebenfalls ein paar Tatsachen aufzähle, lieber Bruder«, donnerte Paul los. »Im Gegensatz zu dir verlange ich nicht Monat für Monat ein stattliches Gehalt, was dir diese privaten Investitionen erst ermöglicht hat. Ganz zu schweigen vom Kauf der zusätzlichen Plantagen in Virginia. Ja, John, ich weiß ebenso wie du, was vor sich geht! Sagen wir es vielleicht so: Ich habe den Lohn für zehn Jahre, den ich niemals beansprucht habe, auf einmal erhalten.«

»Jede Entlohnung, die ich beanspruche, wird von meinem zukünftigen Erbe abgezogen«, entgegnete John. »Ich gehe jedenfalls davon aus, dass ich in Vaters Testament noch immer an erster Stelle stehe, oder nicht? Es ist doch verblüffend, dass du in diesem Dokument nicht einmal genannt wirst, obwohl du ihm so treu ergeben bist.« John schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »So gesehen, kostet mich die Entwicklung deiner Insel eine ganze Menge.«

Paul ging auf ihn los, bis sein gerötetes Gesicht nur Inches von dem seines Bruders entfernt war. Seine geballten Fäuste waren schneeweiß. »Diesmal bist du zu weit gegangen!«

Bevor John zuschlagen konnte, fiel ihm George in den Arm. »Du hast entschieden zu viel getrunken«, schimpfte er. Dann machte er Paul Vorwürfe. »Und du hast den Köder auch noch bereitwillig geschluckt! John und ich verabschieden uns hiermit.« Er nickte in die Runde und zog John zur Tür.

Nachdem die beiden gegangen waren, ließ sich Paul auf einen Sessel plumpsen, und Charmaine stieß einen tiefen Seufzer aus.


»Hast du denn völlig den Verstand verloren?«, fragte George empört, als sie Johns Zimmer erreichten. »Warum, zum Teufel, hast du das gesagt? Warum musst du diese Rivalität immer weiter schüren? Es ist doch nicht Pauls Schuld, dass euer Vater ihn vorzieht, oder?«

»Ich kann einfach nicht ertragen, wie er das ausnützt – er ist wahrhaft Daddys Liebling.«

»Mag sein, John, dass er das ist, aber er ist auch derjenige, der in den letzten vier Jahren die Familie zusammengehalten hat. An seiner Schulter konnten sich alle ausweinen, und er hat dafür gesorgt, dass sich die Familie beruhigt und das Leben weitergeht.«

John brummte nur verächtlich, aber George ließ sich nicht beeindrucken. »Es war ein riesiger Fehler, Paul zu unterstellen, dass er Geld unterschlagen hat!«

»Geh mir aus dem Weg, George«, brummte John und schob George zur Seite.

»Ich lasse mich nicht wegschieben«, stellte George fest und trat noch einen Schritt näher. »Du hast den ganzen Abend lang deinen Zorn abreagiert. Und nicht nur an Paul. Warum, um alles in der Welt, hast du ständig auf Charmaine Ryan herumgehackt?«

»Sie ist doch nur eine geschickte Schauspielerin.«

»Charmaine?«, stieß George ungläubig hervor. »Das meinst du doch nicht im Ernst!«

»Hat sie dich etwa auch eingefangen, George?«

George runzelte die Stirn. »Wovon redest du?«

»Ich habe sie vor ein paar Tagen dabei erwischt, wie sie in meinen Papieren herumgekramt hat.«

»Charmaine? Das kann ich nicht glauben. Bist du sicher?«

»Nein«, entgegnete John sarkastisch. »Es war alles nur Einbildung!«

»Das klingt nicht nach Charmaine! Hat sie es erklärt?«

»Eine lahme Entschuldigung – mehr nicht.«

»Charmaine ist keine Lügnerin«, wiederholte George, »sondern eine ehrliche und anständige junge Lady.«

»Und die Sache mit ihrem Vater?«

»Er hat seine Frau geschlagen, und eines Tages ist die Situation eskaliert. Das Ganze hat nichts mit Charmaine zu tun, und es macht sie verlegen, wenn man sie darauf anspricht.«

»Aha …«, giftete John triumphierend. »Das erklärt immerhin einiges.«

»Lass sie in Ruhe, John, oder du bekommst es mit mir zu tun.«

John war überrascht, wie leidenschaftlich George die Gouvernante verteidigte. Womit hatte sie seinen Bruder und offenbar auch seinen Freund bezaubert? »Weißt du, was, George? Du redest zu viel.«

»Na klar, ich rede zu viel!« George packte John am Arm, als er sich an ihm vorbeidrängen wollte, und zog ihn herum, sodass er ihm ins Gesicht sehen musste. »Irgendjemand muss dir ja mal ein oder zwei Dinge sagen!«

»Du kannst mir auch nicht das sagen, was ich hören will!«, entgegnete John heftig. »Warum gehst du nicht einfach und lässt mich in Ruhe?«

Er riss sich los, aber George war schneller und nahm die Brandyflasche an sich, die auf dem Tisch stand. »Ich kann dir vielleicht nicht sagen, was du hören willst, aber der Brandy wird dir dabei auch nicht helfen. Und selbst wenn das möglich wäre – ich bezweifle, dass die Vergangenheit besser war als die Gegenwart. Du warst drei Tage lang praktisch bewusstlos. Wenn du dich nicht aus dieser Betäubung befreien kannst, so wäre es besser, wenn du gehst. Geh zurück nach Virginia, damit Yvette und Jeannette dich wenigstens so in Erinnerung behalten, wie du vor vier Jahren warst. Der kleine Pierre … nun ja …«

»Mach nur so weiter, George«, stichelte John, während sich der Ausdruck seiner Augen deutlich belebte. »Der kleine Kerl wird sich gar nicht an mich erinnern. Das wolltest du doch sagen?«

»Verdammt, John! Soll er denn aufwachsen und dich nur als Trunkenbold kennen – als sturen Ochsen, der alle um sich herum unglücklich macht? Möchtest du das wirklich?«


Es war völlig sinnlos, ins Bett zu gehen, dachte Charmaine. Sie würde ohnehin nicht schlafen können. Stattdessen überflog sie noch einmal den Brief, den sie von Loretta Harrington erhalten hatte. Ihn zu beantworten, das war jetzt genau die richtige Ablenkung. Sie setzte sich an ihr Pult und griff nach Papier und Feder. Doch als der Brief fertig war, war sie nicht müder als zuvor. Sie hatte über eine Menge Dinge berichtet, aber der größte Teil des Briefes betraf John Duvoisin.

Charmaine starrte auf die Seiten. Ihre wirren Gedanken in Worte zu fassen hatte den Dämon keineswegs gebannt. Eher hatte sie erreicht, dass sich ihr sein Gesicht noch mehr eingebrannt hatte. Sie war wacher als je zuvor in ihrem Leben! Wie sollte sie die Atmosphäre dieses Schlafzimmers genießen, wenn ihre Gedanken immer wieder zu dem Moment zurückkehrten, als John hier eingedrungen war? Warum konnte sie diesen ersten Augenblick nicht vergessen? Warum sah sie alles noch so lebendig vor sich, fühlte noch immer seine Hände, seinen harten Körper, der sich gegen ihren presste, und seinen heißen Atem auf ihrer Wange? Nein! Ich will nicht an ihn denken! Ich will nicht! Lieber denke ich an Paul. An seinen Kuss vor dem Dinner oder an seine stürmische Umarmung in der Gewitternacht, als … Es war zwecklos! Sie musste dem entfliehen. Plötzlich lockte die Nachtluft. Sie dachte an den Garten im Hof … Ja, der Garten, wo sich die Meeresbrise mit dem Blütenduft mischte, dort würde sich das verhasste Bild von John Duvoisin verflüchtigen.


Paul stützte die Ellenbogen auf die Knie und legte sein Kinn auf die gefalteten Hände. Aber gegen das Chaos in seinem Kopf konnte auch die kühle Brise, die vom Ozean hereinwehte, nichts ausrichten. George hatte recht. Den ganzen Abend über hatte er den Hanswurst gespielt und nach der Pfeife seines Bruders getanzt, hatte Charmaine seinen Angriffen ausgesetzt und seine Würde für immer eingebüßt. John würde seine illegitime Geburt niemals vergessen und seine Bemühungen stets ins Lächerliche ziehen, wenn er sich des Namens Duvoisin würdig erweisen wollte. Doch warum kümmerte es ihn überhaupt?
Weil ich John ganz tief in meinem Inneren respektiere, musste Paul zugeben. Bastard … dieses Etikett, das ihm ein Leben lang anhaftete und ihn verfolgte. Aber bis zu der Nacht vor vier Jahren hatte John sich nie dafür interessiert. Seitdem jedoch benutzte er den Begriff als Waffe, die er bei jeder Gelegenheit einsetzte. Paul stieß die Luft aus und schloss die Augen. Plötzlich stand ihm ihr Vater vor Augen. Hart und erbarmungslos, wie er war. Trotz all seiner Beteuerungen und trotz seines Lobs für seinen adoptierten Sohn war John der legitime Erbe des Familienvermögens, und Pierre folgte ihm in direkter Linie. Vielleicht hatte er kein Recht auf etwas, das er nicht war, kein Recht auf einen Platz in der Ahnenreihe der männlichen Duvoisins, denn die Umstände seiner Geburt versagten ihm diesen Platz. Und sein Temperament. War der heutige Abend nicht Beweis genug? Ein wahrer Gentleman hätte sich niemals so betragen – und zwar ganz gleich, ob er im Recht war oder nicht.

»Guten Abend …«, drang es sanft an sein Ohr.

»Guten Abend«, erwiderte Paul, während er aufstand und einen Schritt auf die weibliche Gestalt zuging. »Ich dachte, Sie würden längst schlafen.«

»Das war unmöglich«, sagte Charmaine schüchtern. »Und was ist mit Ihnen? Konnten Sie auch nicht schlafen?«

»Ich war so vernünftig, es gar nicht erst zu versuchen. Sollen wir ein Stück gehen?«

Ohne Zögern war Charmaine einverstanden. Sie war lediglich ein wenig enttäuscht, als er die Hände auf dem Rücken verschränkte und nachdenklich neben ihr herging.

»Ich möchte mich für das Benehmen meines Bruders entschuldigen«, sagte Paul nach einer Weile. »Und ebenso für mein eigenes. Ich habe John erlaubt, meine Geduld zu strapazieren, und Sie dadurch verletzt. Es tut mir leid, dass ich mein Versprechen nicht gehalten habe.«

Verwirrt sah Charmaine ihn an.

»Vergeben Sie mir?«, fragte er.

»Vergeben? Was, um Himmels willen, sollte ich Ihnen vergeben? Sie sagten, dass Sie mir zur Seite stünden, und das haben Sie getan. Was konnte ich mehr verlangen? Für Ihren Bruder müssen Sie sich wirklich nicht entschuldigen. Das muss er ganz allein besorgen, auch wenn ich nicht damit rechne. Ich bin überrascht, dass man einen solchen Mann als Gentleman bezeichnet. Ich dachte immer, dass Gentlemen die Dinge wie zivilisierte Menschen lösen, so wie Sie das mehrmals während des Abends versucht haben. Aber wenn man es nicht mit einem Gentleman zu tun hat …«

»Charmaine.« Paul lachte leise. Innerlich jubelnd ergriff er ihre Hand und drückte sie. »Die Götter müssen Sie heute Nacht in den Garten geschickt haben … Mit all Ihrer Klarheit und Ihrer Überzeugungskraft.«

»Wie bitte?«

Obgleich sie ein wenig verwirrt war, ließ sie sich von seiner Hochstimmung mitreißen.

»Sie haben soeben mein Selbstbewusstsein wieder hergestellt, und dafür danke ich Ihnen. John kann sehr ernüchternd auf Menschen wirken. Er zwingt einen, sich selbst ins Gesicht zu sehen, auch wenn man das gar nicht will. Heute Abend war ich sein Opfer.«

»Ernüchternd? Im Zusammenhang mit Ihrem Bruder würde mir dieses Wort nie einfallen.«

»So sieht es leider aus«, stimmte er zu. »Aber warten Sie nur, bis er vollkommen nüchtern ist. Sein beißender Witz war heute Abend eher stumpf. Für gewöhnlich ist er noch viel schlimmer.«

»Noch schlimmer?« Charmaine war entsetzt. »Wie kann ich ihm nur aus dem Weg gehen?«

Pauls Stimmung war unverändert gut. »Gehen Sie mit den Kindern einfach nach draußen. Das Wetter ist im Moment wunderschön. Die Kinder werden den Tag an der frischen Luft sicher genießen. Sie können ja vielleicht ein Picknick veranstalten.«

»Für morgen ist das eine gute Idee«, entgegnete Charmaine, »aber was sollen wir am nächsten Tag machen? Und am übernächsten?«

»John wird dieser kleinen Spielchen bald überdrüssig werden. Außerdem gibt es keinen Grund, dass er länger auf Charmantes bleibt.«

»Warum ist er überhaupt hier?«

Angesichts ihres Interesses wählte Paul seine Antwort mit Bedacht. »Espoir hat ihn neugierig gemacht. Aber wenn er alles überprüft hat und mit der Sache zufrieden ist, fährt er wieder nach Virginia zurück.«

»Glauben Sie das wirklich?«

»Ich weiß es. Die zukünftigen Schachpartien werden jedenfalls anders verlaufen als heute Nacht.«

»Dann darf ich beim nächsten Mal also gewinnen?«, fragte Charmaine.

Er lachte leise. »Sie haben die Behauptung meines Bruders doch nicht für bare Münze genommen, oder, Mademoiselle?«

»Hat er denn die Wahrheit gesagt? Wollten Sie mich gewinnen lassen?«

»Bekomme ich eine Belohnung, wenn ich wahrheitsgemäß antworte?«

Ihre Stimme bebte ein wenig. »Das kommt ganz auf die Forderung an.«

Sein Blick ruhte auf ihren Lippen. »Wie wäre es mit einem Kuss?«

»Also gut«, sagte sie atemlos, als das unbefangene Spiel sie immer weiter auf unbekanntes Terrain entführte.

»Ich würde Sie jedes Spiel gewinnen lassen, solange es mir einen Kuss einträgt.«

Seine Worte gingen im Pochen ihres Herzens und in der Bewegung unter, mit der er sie in seine Arme zog. Sie hob den Kopf und schloss die Augen, überließ sich seinen Lippen und spürte die rauen Haare seines Schnurrbarts auf ihrer Haut. Als sie glaubte, dass er sie nicht noch enger umfassen konnte, packte er sie noch fester. Sein gieriger Mund presste sich schmerzhaft auf ihre Lippen, während seine Zunge sie auseinanderdrängte und ihren Mund eroberte. Dieses Mal wich Charmaine nicht vor ihm zurück, und der wunderbare Augenblick dauerte an. Sie klammerte sich an Paul, damit er sie festhielt, und sie erwiderte seinen Kuss mit ihrer ganzen Leidenschaft. Als seine Lippen über ihren Hals glitten, fühlte sie seinen heißen Atem in ihrem Nacken, sodass ihr ein wohliger Schauer über den Rücken lief. Und nur zu genau hörte sie die zärtlich geflüsterten Worte dicht an ihrem Ohr: »Meine süße Charmaine, meine Sehnsucht bringt mich um den Verstand … ich sehne mich nach dir … ich will dich lieben … komm mit mir in mein Zimmer …«

In diesem Augenblick holte die Wirklichkeit sie ein und vernichtete alle Sehnsucht und alle Erwartung. »Ich kann nicht!«, rief sie und presste ihre Hände gegen seine Brust. »Ich kann es einfach nicht.«

Unter Qualen löste Paul seine Umarmung, und die Frau, die er mehr begehrte als jede andere, verschwand im Schatten der Hecke. Obgleich alles in ihm schmerzte, tröstete er sich mit dem Gedanken, dass die Zeit auf seiner Seite war. Er musste nur warten und noch ein wenig Geduld haben, bis sie sich ihm endgültig ergab.

In der Geborgenheit ihres Zimmers vollzog Charmaine dasselbe Ritual vor dem Zubettgehen wie an jedem Abend, und während ihre Tränen versiegten, erinnerte sie sich an die wunderbare Umarmung. Ja, er hatte es wieder gesagt. Paul begehrte sie so, wie ein Mann eine Frau begehrte, und doch respektierte er sie und zügelte seine Leidenschaft, wenn sie noch nicht bereit für ihn war. Wer weiß – vielleicht würden sie beide im Lauf der Zeit doch noch ein Paar.