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Sonntag, 9. April 1837

An einem strahlend hellen Frühlingstag bettete man Colette Duvoisin unter einem kristallblauen Himmel zur letzten Ruhe. Als die Sonne im Zenith stand, verließ eine lange Reihe trauernder Menschen die Kapelle und begab sich in nördlicher Richtung zum privaten Friedhof des Besitzes, der nur aus einem wilden Stück Land voller Brombeerranken, wilder Blumen und aufrecht stehender, himmelwärts weisender Grabsteine bestand. Dort hielt die Prozession inne und machte den Sargträgern Platz, die ihre federleichte Last auf dem Gestrüpp aus wilden Rosen absetzten. Anschließend schloss sich der Kreis um den Sarg, sodass die Trauernden aus der Anwesenheit der anderen Trost schöpfen konnten, während sie auf die Grabrede warteten.

Angesichts des überwältigenden Verlusts verspürten die Trauernden den Hauch der Unendlichkeit, die größer war als der Tod. Den gestrigen Tag hatten alle in einem Zustand der Benommenheit verbracht, doch heute führte ihnen der Himmel die unfassbare Wahrheit in strahlend hellem Licht vor Augen: Colette Duvoisin war tot, und nichts und niemand, keine Gebete und keine Träume, würden sie jemals wieder ins Leben zurückbringen. Sie war für immer fortgegangen, und es würden noch viele Wochen ins Land gehen, bevor der Schmerz ein wenig nachließ.

Die Zwillinge waren ungewöhnlich still. Ihre blauen Augen waren trocken. Doch Charmaine wusste genau, dass die stoische Ruhe der Mädchen über die Qualen hinwegtäuschte, die insgeheim an ihren Herzen nagten. Gestern noch waren sie ständig in Tränen ausgebrochen, und der arme Pierre, der viel zu klein war, um die Tragweite des Geschehens zu erfassen, hatte mitgeweint, weil seine Schwestern so traurig waren. Heute war Rose mit ihm zu Hause geblieben, denn ein Friedhof war nicht der richtige Ort für einen Dreijährigen. Aber Colettes Töchter hatte nichts davon abhalten können, ihrer geliebten Mutter das letzte Geleit zu geben. Kerzengerade hatten sie während der Messe auf ihren Plätzen ausgeharrt, und nun folgten sie dem Trauerzug zum Friedhof. Sie sahen weder nach rechts oder links und hielten den Blick starr auf den Sarg ihrer Mutter gerichtet. Angesichts des ungeheuerlichen Verlusts ächzte Charmaines Herz vor Mitgefühl, und das umso mehr, als sie die beiden nicht wirklich trösten konnte.

Sie dachte wieder an Jeannettes unschuldige Frage, als man ihnen die schreckliche Nachricht überbracht hatte. »Was ist bloß aus unserem Wunder geworden, Mademoiselle?«

»Ich weiß, was geschehen ist«, hatte sich Yvette empört. »Gott hat nur so getan, als ob er unsere Gebete erhört hätte. Ich werde nie wieder zu ihm beten. Und zu St. Jude auch nicht.«

»Das meinst du doch nicht wirklich.« Charmaine hatte das Mädchen trösten wollen. »Es ist nur der Schmerz, der dich so sprechen lässt.«

»Nein! Ich meine es ganz genau so!« Voller Wut war Yvette in Tränen ausgebrochen.

Vergeblich hatte Charmaine nach tröstenden Worten gesucht und sogar versucht, sich an Father Michael Andrews Trauerrede bei der Beerdigung ihrer Mutter zu erinnern. Aber umsonst. Entweder war ihr Kummer damals zu groß gewesen, um den Trost zu erfassen, oder aber Father Michael Andrews Gewissensbisse waren zu groß gewesen, um diesen Trost den Anwesenden mitzuteilen. Sie hatte Yvette in die Arme genommen, ihr übers Haar gestreichelt und gewartet, bis sie sich ausgeweint hatte und völlig erschöpft war. Anschließend war Jeannette in Tränen ausgebrochen, und so hatten sie den Tag in wechselnder Verzweiflung hinter sich gebracht.

Und heute nun, am Rand des Grabes, spürte Charmaine wieder die Hoffnungslosigkeit, die sie nach dem Tod ihrer Mutter erfasst hatte. Sie war damals älter gewesen als die Zwillinge. Fast schon erwachsen. Im Vergleich zu ihr waren Yvette und Jeannette noch entsetzlich jung. Wie sollten sie nur mit diesem Verlust zurechtkommen? Und dann dachte Charmaine an Colette, die nun in der Sicherheit des Himmels angekommen war. Von diesem Moment an schloss sie auch die Zwillinge in ihre Gebete ein, damit die kommenden Wochen ihre Herzen heilten. Letzte Nacht hatten sie im Schlaf nach ihr gerufen – das war ein gutes Zeichen. Sie würde immer für die Kinder da sein, so wie sie es Colette versprochen hatte.

Als Father Benito St. Giovanni nach vorn trat, stellte Charmaine fest, dass die Schar der Trauernden inzwischen auf beinahe hundert Personen angewachsen war. Offenbar war die gesamte Stadt gekommen. Zumindest hatten alle Arbeiter der Duvoisins den neun Meilen langen Weg zurückgelegt, um Miss Colette die letzte Ehre zu erweisen. Von denen, die im Herrenhaus beschäftigt waren, fehlten nur George und seine Großmutter.

Als sie an George dachte, fielen ihr wieder Roses Worte ein. »Er muss etwas für Colette erledigen.« Was hatte das zu bedeuten? Charmaine hatte es für klüger erachtet, nicht zu fragen. Doch gestern hatte sie zufällig ein paar geflüsterte Worte zwischen Felicia und Anna mitbekommen. »Er ist nach Virginia gefahren.« Aber warum? Wohl oder übel musste die Antwort bis zu seiner Rückkehr warten.

Charmaines Blick glitt über die Menschenmenge, aber bis auf Harold Browning und Wade Remmen erkannte sie niemanden. Dann wanderte ihr Blick weiter und blieb schließlich einen Moment lang auf den beiden Männern haften, die sich etwas abseits hielten.

Frederic Duvoisin mied den großen Kreis der Trauernden. Er stand da, schwer auf seinen schwarzen Stock gestützt, und verschmähte den starken Arm seines Sohnes zu seiner Linken. Sein Herz schien ebenso verschlossen zu sein wie das seiner Töchter. Seit er sich von Colettes Totenbett erhoben hatte, hatte er seine Räume nicht verlassen, und vermutlich würde er nach der Beerdigung auch sofort wieder in sein Gefängnis zurückkehren. Eigentlich hatte Charmaine erwartet, dass er gestern oder wenigstens heute am Morgen zu seinen Kindern kommen würde, um sie zu trösten. Aber sie hatte sich getäuscht. Er sah nicht einmal in ihre Richtung und hielt die Augen unverwandt auf den Sarg seiner Frau gerichtet. Sie war entsetzt, wie schnell er die Kinder aus seinem Kopf verbannt hatte. Das war nicht nur eine schlimme Erfahrung für die Kinder, sondern es würde eines Tages vielleicht sogar auf ihn selbst zurückfallen. Gemeinsames Leid und gemeinsame Trauer konnten heilend wirken. Doch in diesem Fall würde es vermutlich anders kommen. Warum hatte er sich eigentlich von der Kapelle bis hierher auf den Friedhof gequält, wenn er doch am liebsten allein vor sich hinbrütete, dieser entkräftete Mann, dessen Liebe zu seiner Frau Charmaine mehr als nur einmal bezweifelt hatte. Warum hatte er an diesem Morgen seinen Patz neben Colettes Sarg eingenommen? Weil er sie liebte … so wie Colette ihn geliebt hatte.

Als die Menge nach vorn drängte, um Father Benito besser verstehen zu können, verharrte Frederic mit trockenen Augen weiterhin starr auf seinem Platz. Ganz im Gegensatz zum vergangenen Freitag, als sie Colette besucht und die beiden auf dem Balkon angetroffen hatten. In diesem Moment kam Charmaine ein schrecklicher Gedanke: Colettes Krankheit hatte die beiden wieder zusammengeführt und ihre Entfremdung beendet. Umso tragischer, dass diese Liebe zu spät gekommen war … dass sie in der elften Stunde aufgeflammt war, um schon in der zwölften vernichtet zu werden. Kein Wunder, dass Frederic allein trauern wollte. Vermutlich verfluchte er die ganze Welt, und sich selbst nicht minder. Trotz des warmen Sonnenscheins schauderte Charmaine und fragte sich voll Sorge, wohin dieser Tod den verbitterten Mann noch führen würde. So sehr, wie sie sich vor diesem schweren Tag gefürchtet hatte, so sicher wusste sie, dass ihnen noch viele trostlose Wochen bevorstanden.


Am nächsten Abend klopfte Paul noch spät an die Tür des Kinderzimmers. Charmaine freute sich, ihn einen Augenblick allein für sich zu haben, und schlüpfte auf den Korridor hinaus.

»Wie geht es den Kindern?«, flüsterte er.

»Im Augenblick schlafen sie, aber ich weiß nicht, wie lange.«

Voller Mitgefühl sah er sie an. »Und wie geht es Ihnen?«

»Besser jedenfalls als den Mädchen«, murmelte sie.

»Aber Sie haben geweint.«

»Um die Kinder. Sie sind am Boden zerstört. Ich weiß nicht, wer mehr durcheinander ist – die Mädchen oder Pierre.« Sie schluckte, und ihre Stimme klang rau. »Er versteht nicht, warum er seine Mutter nicht besuchen kann …«

Gegen Tränen war Paul auch nicht immun, doch er verdeckte seine feuchten Augen, indem er sich die Stirn rieb.

»Außerdem wollen sie nichts essen, und ich weiß nicht recht, was ich machen soll.«

»Gar nichts, Charmaine. Lassen Sie ihnen Zeit. Sie müssen einfach eine Weile traurig sein dürfen.«

»Glauben Sie, dass Ihr Vater einen Besuch in seinen Räumen erlauben würde? Für die Kinder wäre es tröstlich, und für ihn vermutlich auch.«

Der Vorschlag verwirrte Paul. »Ich glaube nicht. Seine Trauer ist einfach noch zu groß.«

Charmaine war mit der Antwort nicht zufrieden, aber sie drängte ihn auch nicht weiter. Sie war froh, dass sie überhaupt mit jemandem sprechen konnte. »Wenigstens sind Sie für die Kinder da.«

Er holte Luft. »Im Augenblick muss ich Sie allerdings enttäuschen … ich segle in der Morgendämmerung nach Espoir. Heute habe ich auf Charmantes für Ordnung gesorgt, aber nun werde ich dringend auf der anderen Insel gebraucht. Bis George zurückkommt, stehe ich furchtbar unter Druck. Das verstehen Sie doch, oder?«

»Ich verstehe nur, dass Sie uns wieder allein lassen«, platzte es aus ihr heraus.

»Das ist ein harter Satz«, sagte er und verzog innerlich das Gesicht. »Das Holz wurde geliefert und der Grundstein gelegt, und nun müssen wir das neue Haus noch fertig bekommen, bevor der Regen einsetzt. Ich habe einen Architekten und Zimmerleute engagiert, die nur einen Monat lang in der Karibik bleiben können. Außerdem bin ich dafür verantwortlich, dass die Männer endlich Arbeit bekommen.«

»Sie haben ja recht«, sagte Charmaine. »Es lenkt Sie auch ab, wenn Sie viel um die Ohren haben.«

Die mitfühlenden Worte berührten ihn tiefer als jeder Vorwurf. Er war hin- und hergerissen. »Ich verspreche, zum Wochenende zurückzukommen. Wir könnten dann einen Ausflug mit den Kindern machen und sie ein wenig ablenken.«

Charmaine rang sich ein Lächeln ab. »Das gefällt ihnen bestimmt.«

»Also gut, dann ist das hiermit verabredet.«

Das Wochenende kam, aber wer nicht kam, war Paul. Er schickte eine Nachricht, dass ihn eine »Katastrophe« auf Espoir festhielte und er im Lauf der nächsten Woche käme. Aber in der nächsten Woche war es dasselbe. Die Mädchen trauerten noch immer sehr und wären vermutlich sowieso nirgendwohin gegangen.

Sonntag, 30. April 1837

Inzwischen war Colette bereits drei Wochen tot, und die Stimmung im Haus hatte sich nicht gebessert. Jedenfalls nicht, was die Kinder betraf. Die »Verabredung« mit Paul, die seit Wochen geplant war, kam irgendwann zustande. Aber die Mädchen mochten keinen Ausflug machen und hatten nur verächtliche Bemerkungen dafür übrig.

»Wenn sie nicht wollen, sollten Sie die Mädchen auch nicht zwingen«, bemerkte Paul. Doch war er verärgert, weil er seine Pläne nur deshalb geändert hatte, um Zeit für die Kinder zu haben. Außerdem hatte ihm ein Streit mit seinem Vater schon früh am Morgen die Laune verdorben, sodass er inzwischen wünschte, er wäre nicht gekommen.

Am Ende ihrer Kräfte angekommen, beschloss Charmaine, den Mädchen ihren Willen zu lassen und zusammen mit Pierre Paul auf seiner Fahrt in die Stadt zu begleiten. Bis zur Abfahrt konnten die Mädchen ihren Entschluss noch ändern. Aber sie taten es nicht, und so winkte Rose dem Landauer nach, bevor sie die Mädchen den Nachmittag über unter ihre Fittiche nahm.

Im Gegensatz zu seinen Schwestern war Pierre glücklich. Da er nicht verstand, welches Unglück das Haus heimgesucht hatte, überschüttete er Charmaine mit all seiner Liebe, blies Nana Rose Küsschen zu und lehnte sich viel zu weit aus dem Fenster, um zu winken und lauthals »Bye-bye« zu rufen.

Während der geschlossene Wagen über die Straße rollte, herrschte in seinem Inneren keineswegs eine entspannte Atmosphäre. Mit mürrischem Gesicht starrte Paul aus dem Fenster und grübelte vor sich hin.

»Wie geht es Ihrem Vater?«, fragte Charmaine in die Stille hinein.

Paul schnaubte nur und massierte seinen Nacken. »Nicht gerade gut, fürchte ich. Er ist noch verzagter als meine Schwestern. Und heute habe ich alles vermutlich noch schlimmer gemacht.«

»Ich wüsste nicht, wie das möglich wäre. Die Kinder haben ihn seit der Beerdigung nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sie haben also nicht nur die Mutter verloren, sondern auch noch ihren Vater.«

»Ich fürchte, das ist ein Irrtum, Charmaine. Es kann immer noch schlimmer kommen. Sehr viel schlimmer sogar. Mein Vater hat geschworen, seiner Frau ins Grab zu folgen«, flüsterte er so leise, dass Pierre ihn unmöglich verstehen konnte. »Ich bin im Moment sehr verzweifelt, weil ich nicht weiß, was ich tun soll.«

Charmaine schauderte bei dem Gedanken. »Vielleicht sollte er die Kinder häufiger sehen, damit er begreift, was er aufgibt.«

»Wollen Sie die Kinder dem wirklich aussetzen?«

Der Rest der Fahrt verging in nachdenklichem Schweigen.

Charmaine wusste nicht recht, ob es am allgemeinen Trubel in der Stadt oder an Pierres Übermut lag, dass sich ihre Stimmung hob. Auf jeden Fall verlief der Nachmittag überaus angenehm, während sie über die Holzstege vor den Häusern schlenderten und immer wieder andere Leute begrüßten. Meistens waren es Bekannte von Paul. Zu guter Letzt führte sie ihr Weg auch in den großen Laden, wo Madeline Thompson sie begeistert begrüßte. »Mein Gott, Pierre, wie bist du in nur einem Monat gewachsen!«

Der kleine Junge kicherte und nahm strahlend einen Pfefferminzlutscher in Empfang.

»Und wo sind die Mädchen?«

»Wenn Sie mich fragen, so trauern sie noch immer«, sagte Paul.

Sofort füllten sich Maddys Augen mit Tränen. »Magst du deinen Schwestern vielleicht auch einen Lutscher mitbringen?«, fragte sie und reichte Pierre das Glas, damit er die Süßigkeiten aussuchen konnte.

Anschließend sahen sie sich noch ein bisschen im Laden um. Charmaine schlich mehrmals um einen Stoffballen herum und beschloss irgendwann, genügend Stoff für ein Kleid zu kaufen. »Jeannette zeigt in letzter Zeit großes Interesse am Nähen. Vielleicht bekommt Yvette ja auch Lust, wenn ich sie bitte, ein Kleid zu entwerfen.«

Paul war erleichtert, dass Charmaine sich so aufopfernd um seine Geschwister kümmerte. Er untersagte ihr, den Stoff zu bezahlen, und bat Maddy, die Summe auf die monatliche Rechnung des Herrenhauses zu setzen. Zum Schluss bestand Paul darauf, dass Charmaine noch etwas für sich selbst wählte, aber sie wies das Ansinnen zurück und ermunterte stattdessen Pierre, sich ein Spielzeug auszusuchen. Anschließend verließen sie das Geschäft.

Sie waren erst etwa zwei Stunden von zu Hause fort, doch als Paul »Wohin jetzt?« fragte, ahnte er die Antwort bereits im Voraus.

»Am liebsten möchte ich nach Hause und sehen, was die Mädchen treiben.«

»Für mich sind Sie ein wahres Wunder, Miss Ryan«, sagte er und grinste zum ersten Mal an diesem Tag, dass seine Zähne nur so blitzten. Als sie unschuldig zu ihm aufsah, hätte er nicht übel Lust gehabt, sie mitten im größten Trubel auf den Mund zu küssen. Aber das hätte die zarte Vertrautheit zwischen ihnen gestört, wie er sie in gleichem Maß nur mit Colette geteilt hatte. In der nächsten Sekunde war der leidenschaftliche Augenblick schon wieder verflogen. Paul nahm seinen kleinen Bruder auf den Arm, und zusammen überquerten sie die Straße.

Sie hatten gerade den Mietstall erreicht, als Buck Mathers sie keuchend einholte. »Sie werden dringend im Hafen gebraucht, Mr. Paul. Es gibt ein großes Problem.«

Mürrisch schüttelte Paul den Kopf, doch Charmaine rettete die Situation. »Gehen Sie nur, Paul. Mit Kutscher und Wagen werden wir schon nach Hause finden.«

»Ich bin spätestens zum Abendessen zu Hause«, versprach er und stellte Pierre auf den Boden.

Charmaine nickte nur und ermunterte ihren Schützling, den beiden Männern nachzuwinken, als sie davoneilten.

Donnerstag, 11. Mai 1837

Charmaine rieb sich die schmerzenden Schläfen und ließ sich in den Sessel sinken. Die abendliche Luft war ruhig, kein Geräusch störte die leichte Brise, obgleich die französischen Türen zum benachbarten Raum weit offen standen. Ein Fremder hätte denken können, dass die Mädchen schliefen, doch Charmaine wusste genau, dass zwei Augenpaare in die Dunkelheit starrten.

Sie hatte nicht so hart mit ihnen umspringen und auch den kleinen Pierre nicht erschrecken wollen, aber die trübe Stimmung der Mädchen und ihre langen Gesichter durfte sie ihnen nicht länger durchgehen lassen. Sie nahmen so gut wie überhaupt nichts zu sich, und das Ergebnis war erschreckend. Inzwischen waren sie so mager wie Colette kurz vor ihrem Tod, und nach allem, was Charmaine an Geflüster aufgeschnappt hatte, eiferten sie dem Beispiel ihres Vaters nach. Man sagte, dass die Zeit alle Wunden heilte, doch bisher hatten weder die Zeit noch unendliche Liebe und Geduld allzu viel bewirkt. Selbst Rose war gegen solch tiefen Kummer machtlos.

Auch die Liebe unter den Schwestern war in dieser Zeit eher eine Belastung, und die Trostlosigkeit, die aus den Gesichtern der Mädchen sprach, wirkte sich inzwischen sogar auf Pierre aus, dem die Erinnerung an seine Mutter sehr viel bedeutete. Erst an diesem Abend hatten die Schwestern ihn grausam verspottet, als er aus Versehen »Mama« statt »Manie« gesagt hatte. Mit zitternder Unterlippe war er zu Charmaine gerannt und hatte heulend seinen Kopf in ihren Röcken versteckt.

Dies hatte das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. »Dieses Getue hat jetzt lange genug gedauert«, hatte Charmaine geschimpft. »Seht nur, was ihr angerichtet habt. Ihr habt es geschafft, dass sich der kleine Kerl schuldig fühlt, nur weil er glücklich ist. Warum, um Himmels willen? Wie viel Leid wollt ihr eurer Mutter noch zufügen?«

»Mama leidet nicht mehr«, widersprach Yvette energisch, »aber wir schon.«

»Glaubst du das wirklich?«, fragte Charmaine. »Glaubst du wirklich, dass sie Ruhe und Frieden findet, wenn sie weiß, dass ihre Kinder ohne sie nicht glücklich sind? Wie kann sie überhaupt an den Himmel denken, solange ihr zwei sie hier auf der Erde festhaltet und euch in Selbstmitleid ergeht?«

Prompt begann Jeannette zu weinen. »Dürfen … wir sie denn gar nicht vermissen … und … gar nicht um sie weinen?«

Charmaines Gesicht wurde weich, doch ihre Stimme klang unverändert energisch. »Ihr weint nicht um eure Mutter. Ihr weint nur um euch selbst.«

»Was ist daran falsch?«, fragte Yvette.

»Gar nichts. Vor einem Monat hätte das auch jeder verstanden. Aber ihr heult schon viel zu lange. Und das viele Stunden am Tag. Ihr versucht nicht zu verstehen, dass der liebe Gott eure Mama zu sich ins Paradies geholt hat. Eigentlich sollte sie ihren Frieden finden und sich keine Sorgen mehr machen müssen. Aber ihr denkt nur an euch – nicht einmal an euren Bruder, euren Vater oder alle anderen hier im Haus. Die arme Mrs. Henderson ist so verzweifelt, dass ihr die Leckereien ablehnt, die sie nur für euch gekocht hat. Und erst Nana Rose! Sie kennt eure Mama länger, als ihr beide sie kennt. Habt ihr sie schon jemals in den Arm genommen? Oder euren Bruder Paul? Er hat seine Pläne verschoben, um einen Tag mit euch zu verbringen und euch zu trösten, aber ihr weist ihn zurück. Ich schäme mich für euch! Von mir will ich gar nicht reden. Aber habt ihr euch schon ein einziges Mal überlegt, wie schwer das ist, euch bei diesem Theater zuzuschauen?«

Sie seufzte. »Ich verstehe eure Trauer. Und ich weiß auch, dass ihr in den kommenden Wochen noch manchmal weinen werdet. Aber doch nicht so! Im Augenblick sind eure Tränen eine Last für uns alle. Wenn ihr eure Mutter glücklich machen wollt, dann trocknet eure Tränen und fangt endlich an zu leben! Ich bin sicher, dass sie – ganz gleich, wo ihr seid und wo ihr euch auch herumtreibt – euch vom Himmel aus zusieht, und ich bin überzeugt, dass sie euch lieber lächeln als weinen sieht.«

Stille. Zu Charmaines Überraschung erfolgte auch keine Widerrede.

Sie trat an Pierres Bettchen und freute sich, weil ihre Predigt wenigstens ihn in Schlaf gewiegt hatte. An der Tür blieb sie noch einmal stehen. »Mit Tränen bringt ihr eure Mutter nicht zurück«, sagte sie abschließend. »Ich wünschte, es wäre möglich, aber es geht nicht. Eure Mutter ist jetzt länger als einen Monat tot, und in dieser Zeit habt ihr ihre Seele gequält, wie die Krankheit zuvor ihren Körper gequält hat. Es ist an der Zeit, dass ihr beweist, wie sehr ihr sie wirklich liebt.«

Als sie einen Augenblick später allein in ihrem Zimmer saß, fragte sie sich, ob die beiden ihr überhaupt zugehört hatten. War sie zu hart gewesen? Hatte sie die Mädchen womöglich verletzt? Mit einem Mal bekam sie Gewissensbisse. Doch als sie ins Kinderzimmer schlich, um nachzusehen, war sie überrascht, dass beide bereits eingeschlafen waren. Vielleicht hatten sie ihr ja wirklich zugehört. Vielleicht hatte Gott ihre Gebete erhört.

Mittwoch, 17. Mai 1837

Voller Abscheu ergriff Agatha das unberührte Tablett und verließ Frederics Räume. Seit zwei Wochen weigerte sich ihr Schwager nun schon, etwas zu sich zu nehmen, weil dies für ihn der einfachste Weg war, um seiner Frau in den Tod zu folgen. Seit er den unseligen Entschluss gefasst hatte, hatte er noch keinen Augenblick daran gezweifelt. Und er hatte sich auch nicht aus dem Sessel wegbewegt, als ob Colette noch immer auf der anderen Seite der Verbindungstür im Bett läge.

Verhungern war ein schrecklicher Tod. Doch Agatha hatte nicht die Absicht, Frederic diesen letzten Triumph zu gönnen. Sie war entschlossen, der Sache ein Ende zu machen, bevor es zu spät war. Deshalb war sie auch für Travis Thornfield eingesprungen und hatte zu ihrem Entsetzen entdecken müssen, dass bereits zehn Tage vergeudet worden waren. Der Diener war außer sich vor Sorge und hatte ihr liebend gern die Verantwortung überlassen.

Das Ganze war jetzt drei Tage her. Seitdem waren drei Tage mit Ermutigungen, Lockungen, Erklärungen, Begründungen und letztlich Beschimpfungen ins Land gegangen. Agathas Gedanken rasten, klammerten sich an Paul und wünschten, dass er zu Hause wäre. Doch was konnte er schon ausrichten, was sie nicht bereits versucht hätte? Gar nichts.

Frederic lehnte das Essen ab und nahm ausschließlich Wasser zu sich. Mit seinem vierzehn Tage alten Bart, dem verfilzten Haar, den hohlen Wangen und seinen fiebrigen Augen bot er ein schreckliches Bild. Seine Kleidung schlotterte um seinen ausgemergelten Körper. Aber diese Schwäche war Täuschung: Auf seinem selbstmörderischen Kreuzzug hatte er eine Grenze überschritten, seine Verzweiflung war wie ein Wassertropfen in der dürstenden Wüste verdampft und durch eine blindwütige Wut ersetzt worden, die sogar seine Schwägerin das Fürchten lehrte.

Doch heute wollte sich Agatha weder verjagen noch abschrecken lassen. Heute würde sie diesen unheiligen Krieg gewinnen. Sie sah auf das Tablett hinunter und wieder auf die geschlossene Tür. Wenn Frederic seine Frau betrauern wollte, so musste sie ihn eines Besseren belehren. Es war an der Zeit, dass sie ihm vor Augen führte, was für eine Frau Colette in Wirklichkeit gewesen war – womöglich eine drastische Maßnahme, aber gewisse Umstände erforderten zuweilen gnadenlose Methoden.


In großer Eile begab sich Robert Blackford zum Haus der Duvoisins und wartete geduldig im Wohnraum, während Travis Agatha seinen Besuch ankündigte. Man musste ihm nicht lange erklären, warum man ihn so spät noch hergerufen hatte, denn Agathas kurze Notiz hatte ein schlimmes Bild der Lage gezeichnet. Während der Woche hatten ihm außerdem schon mehrere seiner Patienten von Frederic Duvoisins »Trauer« berichtet. Auf der Insel wurde viel getratscht, und über die Duvoisins natürlich am liebsten. Wie es aussah, kam Frederic Duvoisin nicht über den Tod seiner Frau hinweg.

Wenn sich die Gerüchte bewahrheiteten, so drohten die derzeitigen Zustände die Dramen der Vergangenheit in den Schatten zu stellen. Angesichts der Ironie musste Robert schmunzeln. Sogar die handelnden Personen waren dieselben. Bis auf die Frauen. Vor etwas mehr als acht Jahren hatte seine jüngere Schwester Elizabeth die Rolle der Ehefrau gespielt. Ihr Tod hatte damals den Verstand des großen Frederic Duvoisin ebenso in den Grundfesten erschüttert, wie Colettes Tod das heute tat. Auch damals war ein Kind im Spiel gewesen, ein neugeborener Junge – John. Robert schauderte bei der Erinnerung, und sogar heute fragte er sich noch hin und wieder, wie Frederic dieses Erlebnis überstanden hatte. Er hatte öfter um sein Leben gefürchtet, weil Frederic ihn für Elizabeths Tod verantwortlich gemacht hatte. Dabei hatte er sich selbst die größten Vorwürfe gemacht. Nun gut, das Kind war eine Steißgeburt gewesen, was von vornherein gefährlich war. Aber er hatte alles darangesetzt, damit Elizabeth überlebte. Dennoch war sie irgendwann ohnmächtig geworden und nicht mehr aufgewacht. Frederic hatte ihm das nie verziehen.

Aber in dieser Nacht hieß das Problem nicht Elizabeth, sondern Colette: Eine neue Zeit, eine neue Situation – und trotz ähnlicher Umstände ein neuer Schmerz. Und Frederic war keine dreiunddreißig Jahre alt und stand nicht mehr am Beginn seines Lebens. Inzwischen war er über sechzig und hatte Schlimmes durchgemacht. Er war bereit aufzugeben und tat alles, um damit Erfolg zu haben. Im Grunde hätte sich Robert auf das Ergebnis freuen können, beendete es doch ihre lange und wechselhafte Beziehung. Aber ihm war klar, dass Frederics Tod seine Zwillingsschwester vernichten würde. Nur das trieb ihn zum Handeln. Nur aus Liebe zu Agatha wollte er diesen selbstmörderischen Absichten ein Ende machen.

Als sich die Tür öffnete, fuhr Robert herum und verschloss die Entscheidung, die er soeben getroffen hatte, tief in seinem Herzen. »Miss Ryan.« Er war überrascht, weil er einen der Dienstboten oder seine Schwester erwartet hatte.

»Dr. Blackford.« Charmaine war ebenso überrascht. Seit Colettes Tod hatte sie den Arzt nicht mehr gesehen und fragte sich, was er im Haus zu suchen hatte.

»Ich nehme an, die Kinder sind schon im Bett?«

»Aber natürlich, schon länger als eine Stunde«, antwortete sie. »Es ist ja bereits spät.«

»Stimmt.« Er kramte nach seiner Taschenuhr, warf einen Blick darauf und ließ den Deckel zuschnappen. Dann sah er Charmaine abschätzend an. Agatha hielt die junge Frau für ungeeignet und obendrein für keck, doch Robert fragte sich, was er ihr wohl alles entlocken konnte. »Wie geht es denn den Kindern?«

Charmaine war verblüfft, weil er noch nie zuvor das Wort an sie gerichtet hatte. »Besser«, antwortete sie vorsichtig. »Sie haben den Tod ihrer Mutter akzeptiert, aber sie trauern noch und haben sie nicht vergessen.«

»Das sollen sie auch nicht. Sie verdienen großes Lob dafür, wie gut Sie die Kinder in dieser schweren Zeit betreut haben. Agatha sagte, Sie hätten wahre Wunder bewirkt. Wenn ich doch nur bei ihrem Vater denselben Erfolg hätte.«

Mehr musste Charmaine nicht wissen. Seit Colettes Tod hatte Frederic Duvoisin seine Räume nicht mehr verlassen. Außerdem hatte sich herumgesprochen, dass er sich zu Tode hungerte. Zum Glück fragte Jeannette nicht mehr, wann sie ihren Vater besuchen könne, denn diesem Alptraum wollte Charmaine die Kinder nicht aussetzen.

In diesem Moment erschien Agatha und zog ihren Bruder mit sich fort. Charmaine ging zum Piano und suchte, bis sie das richtige Notenheft gefunden hatte. Das Stück war wie für diese Nacht geschaffen: Ob eine quälende Melodie die Geister vertreiben konnte, die ihre Seele heimsuchten? Sie stellte die Notenblätter auf den Ständer, strich ihre Röcke glatt und begann zu spielen.


Mit geschlossenen Augen hockte Frederic Duvoisin in seinem hochlehnigen Sessel und dachte über den Tod nach und über die Leichtigkeit, mit der das Leben ihm entglitt. Ein Klopfen an der Tür – und sofort verwandelte sich die Apathie in Wut. Verdammt! Wann würden sie seine Entscheidung endlich respektieren? War er denn nicht der Herr dieses Hauses? Warum wollten sie ihn denn unbedingt zurückhalten? Er wollte seiner Frau in die nächste Welt folgen – und die Bewohner dieser Welt sollten allesamt verdammt sein, wenn ihnen das nicht gefiel.

Er überhörte auch das zweite Klopfen, das dritte und das vierte. Aber die Eindringlinge waren hartnäckig. Nach dem fünften Klopfen kamen sie ohne Erlaubnis herein. Und dann betrachteten ihn Bruder und Schwester so abschätzend, als ob er nicht mehr zurechnungsfähig wäre. Robert trat noch einen Schritt näher, beugte sich vor und sah ihm aus nächster Nähe ins Gesicht, damit er endlich seine Lider hob. »Frederic?«, fragte er.

Aber Frederic verharrte bewegungslos und ließ nicht erkennen, dass er seine »Besucher« überhaupt bemerkt hatte.

Blackford richtete sich auf, stemmte die Hände in die Hüften und sah seine Schwester an.

»Habe ich es dir nicht gesagt?«, flüsterte Agatha, aber nicht so leise, dass man es nicht gehört hätte. »So geht das schon seit beinahe zwei Wochen … Seit Paul nach Espoir gesegelt ist.«

»Damit ist jetzt Schluss«, rief Robert. »Frederic, sehen Sie mich an!«

Schwungvoll warf Frederic den Kopf in den Nacken und starrte den Doktor mit nackter Verachtung an.

Robert schrak zurück. »Schon besser«, murmelte er und zerrte unsicher an seiner Jacke. Dann zog er einen Stuhl heran, damit er Frederics Blick auf Augenhöhe begegnete. Mit Agatha als Verstärkung war er mutig genug. »Es wird Zeit, dass wir uns einmal unterhalten. Colette ist tot, und nichts und niemand kann das ändern. Sie dagegen sind noch äußerst lebendig. Dieser Irrsinn muss sofort aufhören!«

Als keine Antwort kam und ihn Frederic nur weiterhin zornig anfunkelte, kamen Robert erste Zweifel an dessen Geisteszustand. »Frederic? Hören Sie mich? Verstehen Sie, was ich sage? So geht das nicht weiter! Sie wollen doch nicht so enden?« Wieder keine Antwort, nur diese starrenden Augen. »Ich sage Ihnen nur so viel: Ich lasse das nicht zu! Und wenn ich Sie festhalten und füttern muss«, drohte er. »Haben Sie mich verstanden

»Der gute Doktor will mein Leben retten«, sagte Frederic. Seine dunkle Stimme klang rau, als ob ihm das Sprechen schwer fiele. Aber der zynische Ton ließ Bruder und Schwester zusammenzucken.

»Ja«, versprach Blackford, während er auf seinem Stuhl herumrutschte, »falls das nötig ist.«

Frederic brummte. »Ich sehne den Tod herbei, und ausgerechnet Sie, mein lieber Freund, wollen mich daran hindern?«

Die Frage war ein Schlag ins Gesicht. »Sie wissen ja nicht, was Sie da sagen!« Verärgert dachte Robert an die vielen Male in den mehr als dreißig Jahren, die er diesem Mann zu Diensten gewesen war. »Sie irren sich, wenn Sie glauben, dass das Jenseits Ihnen Ihre Wünsche erfüllt!«

»Welche Wünsche denn?«, fuhr Frederic den Arzt an. »Ich sage Ihnen, was ich mir wünsche! Ich wünsche mir das, was Sie mir genommen haben! Und das nicht nur einmal, sondern zweimal.«

Blackford nahm eine drohende Haltung an. Dieser Mann beleidigte ihn! »Ich habe Ihnen gar nichts genommen.«

»Ach nein?«, stieß Frederic zwischen seinen aufgesprungenen Lippen hervor. »Elizabeth war wohl nicht genug …«

»Ich diesem Fall war ich machtlos«, erwiderte der Arzt. »John war eine Steißgeburt! Er … nur er ganz allein hat Elizabeth das Leben gekostet! Ich dachte, Sie hätten inzwischen eingesehen, wie schwer diese Geburt war!«

Wütend sah Frederic ihn an. »Lassen Sie mich allein. Ich kann die ewigen Entschuldigungen nicht mehr hören! Ich habe sie einmal akzeptiert, aber das passiert mir nie wieder.« Er ließ den Kopf sinken. »Colettes Tod dagegen können Sie nicht so einfach erklären.«

»Ich lasse mich nicht für eine Situation verantwortlich machen, die ich nicht beeinflussen konnte!«

Frederics Kopf schoss in die Höhe. »Die Sie nicht beeinflussen konnten? Meine Frau war fast ein Jahr lang Ihre Patientin. Wie konnte Ihnen die Situation da entgleiten? Und kommen Sie mir nicht wieder mit dieser ›Lungenentzündung‹! Wenn sie so tödlich war, wie Sie behaupten, so hätten Sie die Krankheit von Beginn an mit allen Mitteln bekämpft! Sie haben viele Wochen an Colettes Bett gesessen, Doktor! Wie können Sie da behaupten, dass Sie die Situation nicht beeinflussen konnten?«

»Weil es genau so war«, zischte Robert. »Colette ist nicht an der Lungenentzündung gestorben. Die Krankheit hat ihre Schwäche nur verstärkt. Sie wussten es seit Jahren: Keine weiteren Kinder. Die Geburt der Zwillinge war zu viel für Colette. Aber haben Sie auf mich gehört? Nein, Sie konnten sich nicht beherrschen. Und kurz darauf hat sie dann Pierre erwartet.«

Frederic presste die Kiefer zusammen, aber Robert sprach ungerührt weiter. »Wieder hatten Sie Glück, und Ihre Frau hat es überlebt. Aber sie hat es nicht unbeschadet überstanden. Im vergangenen Frühjahr haben Sie Ihre Frau beinahe verloren, denn in einem geschwächten Körper breitet sich die geringste Krankheit viel schneller aus. So war es auch mit der Lungenentzündung. Aber es ist noch mehr passiert, Frederic. Keine Woche, nachdem Colette so schwach geworden war, hat sie eine Fehlgeburt erlitten.«

Frederic sog geräuschvoll die Luft ein, und Roberts Mut wuchs angesichts seines Triumphes ins Grenzenlose. »Ja, Sie haben richtig gehört … eine Fehlgeburt. Colettes geschwächter Körper konnte das Kind nicht halten. Es hat Tage gedauert, bis ich die Blutung stillen konnte. Das Bad war das Schlimmste, was sie sich antun konnte. Ich hatte sie gewarnt, und sie wusste um das Risiko.«

In diesem Augenblick war der erste Schreck vorüber. Von Hass getrieben, sprang Frederic wie ein Besessener auf.

Robert zuckte weder zusammen, noch weidete er sich an Frederics Erregung. Er sah ihn nur mitleidig an.

Doch dieser Blick ärgerte Frederic. »Ist Ihnen klar, was Sie damit andeuten?«

»Ich teile Ihnen lediglich mit, was ich Ihnen bisher verschwiegen habe«, antwortete Blackford.

»Guter Gott! Und warum?«, explodierte Frederic. In einem Wutanfall fegte er mit dem Stock alle Gegenstände vom Tisch. Aber dieser kindliche Trotz ärgerte ihn noch mehr. »Warum wurde mir diese Tatsache vorenthalten? Warum?«

Robert stand auf, da er sich diesem tobenden Riesen gegenüber unterlegen fühlte. »Ich wusste, dass das Kind nicht von Ihnen sein konnte«, gestand er freimütig, »also habe ich in Colettes Interesse geschwiegen, worum sie mich übrigens ausdrücklich gebeten hatte.«

Frederic hatte das Gefühl, als ob ihm übel würde. Er schluckte und konzentrierte sich auf die Fragen, die er unbedingt stellen wollte. »Und nach ihrem Tod? Warum haben Sie dann immer noch geschwiegen?«

»Damals fürchtete ich um Ihre Gesundheit. Wem hätte es genützt, Sie in diesen Zwiespalt zu stürzen, in dem Sie jetzt stecken? Das hätte ich Ihnen gern erspart.«

»Und wann … Wann hat sie das Kind empfangen?«

»Irgendwann vor Weihnachten … vermutlich im November«, antwortete Robert ruhig. »Nach der Größe des Kindes zu urteilen …«

Frederic funkelte den Mann an … dann Agatha, doch in ihren Gesichtern war nichts zu entdecken, was diesen Vorwurf widerlegt hätte. »Hinaus!«, schnarrte er.

Besorgt sah Robert Frederic an.

»Sie haben mich gehört, Mann! Alle beide – hinaus! Ich lasse mich doch nicht von einer Lüge ins Bockshorn jagen!«

Mit flehender Miene trat Agatha auf ihn zu. »Frederic, du quälst dich doch nur selbst. Lass das sein. Du hast drei kleine Kinder, auf die du Rücksicht nehmen musst. Sie brauchen dich. Colette …« Sie hielt inne und wog ihre Worte sorgfältig ab. »Colette war nicht Elizabeth. Ich weiß genau, was dir an ihr gefallen hat. Diese Ähnlichkeit. Ich habe sie doch auch gesehen!« Sie holte tief Luft und stellte zu ihrer Freude fest, dass die Worte Frederic nicht verfehlten. »Natürlich hast du dich zu ihr hingezogen gefühlt. Du hast eine zweite Chance für dich gesehen. Aber sie war nicht Elizabeth! Elizabeth war ein guter Mensch, eine anständige und treue Frau. Elizabeth hat dich geliebt. Aber Colette hat dich niemals geliebt …«

»Ich habe genug gehört! Ich habe mich entschieden und gehe den Weg zu Ende.«

Robert schüttelte den Kopf. »Nun gut, Frederic. Tun Sie, was Sie wollen. Halten Sie uns ruhig für verlogene Schurken. Aber wenn Sie in Ihrem Sessel sitzen, dann lassen Sie sich meine Worte durch den Kopf gehen. Und denken Sie daran: Wenn Sie mir nicht glauben, tanzen Sie nach Colettes Pfeife. Wie viele Männer würden wohl um eine Frau trauern, die ihnen in ihrem eigenen Haus einen Kuckuck ins Nest setzt?«

»Hinaus!«, zischte Frederic außer sich vor Empörung. Der Mann war zu weit gegangen. »Hinaus mit Ihnen, oder ich lasse Sie vor die Tür setzen.«

Robert Blackford verließ mit seiner Schwester Frederic, damit er sich in aller Ruhe eine eigene Meinung bilden konnte.

Frederic war ganze fünf Minuten allein, aber diese kurze Zeitspanne dünkte ihm wie eine halbe Ewigkeit. Eine halbe Ewigkeit, die nur ein Wort kannte: Betrug. Er war betrogen worden – und nicht nur einmal, sondern wieder und wieder! Und zuletzt am schlimmsten! Wie hatte sie nur in den beiden letzten Nächten ihres Lebens in seinen Armen liegen, ihrer Liebe Ausdruck geben und Worte murmeln können, die wieder eine Lüge waren? Wie gern würde er sie noch einmal in den Armen halten – und ihr voller Wonne mit den eigenen Händen das Leben herauspressen! Ja, er wollte sie umbringen und das bittersüße Gefühl genießen!

Zwei Wochen lang hatte er um sie getrauert, hatte sich selbst für die Hölle verflucht, die er ihnen bereitet hatte. Doch heute konnte er über diesen Irrsinn nur lachen! Er hatte als Einziger gelitten, während sie mitten in der Nacht in den Armen eines anderen gelegen hatte! Er war ein armseliger Narr gewesen … sogar im letzten Monat, als er außer sich vor Sorge gewesen war. Er dachte an die Nacht, als er nach ihr sehen wollte. Sie hatte sich nicht ausgeruht, wie Dr. Blackford angeordnet hatte, und sie war auch nicht bei den Kindern gewesen! Wieder knallte er den Stock mit voller Wucht auf den Tisch. Wer war dieser Liebhaber?

Wie musste sie gelacht haben! Geschickt hatte sie erreicht, dass er sich schuldig fühlte. Aber damit war jetzt Schluss! Beinahe zehn Jahre lang war sie die Quelle seines Unglücks gewesen – eine Hure seit dem Tag, als er sie kennengelernt hatte! Agatha hatte recht: Er wollte Elizabeth durch ein Mädchen ersetzen, das süße Erinnerungen in ihm geweckt hatte. Aber sie war nicht seine Eli-zabeth! Sie war nichts weiter als eine intrigante, hochwohlgeborene Hure, die fast seine Familie zerstört hätte.

Gallenflüssigkeit stieg in seiner Kehle hoch, und als er die bittere Flüssigkeit in den Nachttopf spuckte, empfand er einen größeren Hass als je zuvor.

Als keiner auf sein Klingeln reagierte, humpelte er zur Tür seines Gefängnisses und riss sie auf. Er hinkte den Korridor entlang und war überrascht, als die Uhr im Foyer zehnmal schlug. Aber die späte Stunde konnte ihn nicht aufhalten. An der Treppe wäre er beinahe über Millie Thornfield gestolpert.

Die Hand des Mädchens flog zum Mund, und sie unterdrückte einen Schrei. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?«

Er stützte sich schwer auf seinen Stock. »Wo ist dein Vater?«

Millie zögerte. Frederics wilder Blick ließ sie zittern, außerdem hatte sie keine Ahnung, wo ihr Vater war, aber das konnte sie nicht sagen. »Ich … ich werde ihn suchen, Sir.«

»Richte ihm aus, dass er Benito St. Giovanni rufen soll. Und zwar sofort!«

»Father Benito?«

»Du hast mich genau verstanden, Mädchen! Fort mit dir! Und dass du mir nicht trödelst!«

Sie knickste hastig und lief die Treppe hinunter. Als sie sich schon in Sicherheit glaubte, hielt seine Stimme sie noch einmal auf. In Erwartung eines weiteren Auftrags sah sie nach oben, doch Frederic Duvoisin stand wie versteinert da und starrte vor sich hin, als eine Melodie aus dem Wohnraum an sein Ohr drang. »Sir?«, fragte sie unvorsichtigerweise. »Gibt es noch etwas?«

»Woher kommt diese Musik?«

»Aus dem Wohnraum, Sir. Miss Ryan übt das Stück schon den ganzen Abend über, Sir.«

»Sag ihr, dass sie aufhören soll! Sie soll die Noten verbrennen!«

Millie war verwirrt. »Sir?«

»Ich verbiete ihr, dieses Stück zu spielen. Wenn ich noch einen einzigen Ton höre, ist sie entlassen! Na los, sag es ihr endlich!«

Er ist verrückt! Millie riskierte noch einen kurzen Blick, bevor sie mit fliegenden Röcken die restlichen Stufen hinunterrannte und ins Foyer flüchtete. Wenige Augenblicke später verstummte die Melodie, und Stille legte sich über das große Haus.


Father Benito St. Giovanni wurde zur Unzeit rüde aus dem Schlaf gerissen. Um elf Uhr nachts ließ ihn unablässiges Hämmern an seiner Tür hochfahren, und kaum eine Stunde später stand der Priester, der sein Dasein John und Paul Duvoisin verdankte, vor deren Vater. Natürlich hatte er von Frederics selbstmörderischem Fasten gehört und erwartet, ihn dem Tode nahe vorzufinden. Aber dem war nicht so. Nun gut, aber wozu dann die Eile? Frederics wilde Blicke verhießen nichts Gutes. Erwartungsvoll neigte er den Kopf und wartete.

»Also gut, Father«, setzte der Herr von Charmantes an und nahm einen großen Schluck Brandy, der allerdings nicht beruhigend wirkte, sondern seinen Zorn und seine Wachsamkeit schärfte. »Ich möchte einen Namen von Ihnen erfahren, und zwar sofort.«

Benito runzelte die Stirn und hielt sich erst einmal zurück, damit sich der gequälte Mann näher erklären konnte.

Frederic lehnte sich zurück und wunderte sich über die vorgetäuschte Unwissenheit. Er hatte die Frage in ruhigem Ton gestellt, und ganz offensichtlich war Father Benito der Meinung, dass er nichts zu befürchten hätte. Er würde allerdings bald genug merken, dass er sich irrte. Falls er weitere Erklärungen brauchte, so sollte er sie haben. »Aber, aber, Father, Sie müssen nicht so tun, als wüssten Sie nicht, weshalb Sie gerufen wurden. Sie wissen doch, dass ich es auf jeden Fall herausfinden werde?« Er schmunzelte spöttisch.

Der Priester starrte zu Boden, und Frederic weidete sich an seiner Verlegenheit. »Nun …« Wegen des Effekts legte er eine kleine Pause ein und trank noch einen Schluck. »Ich weiß, dass Sie meiner Frau die Letzte Ölung gespendet haben. Also wissen Sie genau das, wonach ich suche.« Seine Stimme klang beißend scharf. »Ich fordere den Namen des Mannes, der den Bastard im Leib meiner Frau gezeugt hat!«

Benito schloss die Augen. Woher hatte Frederic Duvoisin diese Information? Was soll ich ihm sagen? Er mühte sich, sein pochendes Herz zu beruhigen und seine panischen Gedanken zu sammeln.

»Nun?«, fragte Frederic. Es wurde Zeit, dem Spiel ein Ende zu machen! »Leugnen Sie nicht, dass Sie den Namen wissen. Dazu kenne ich meine Frau zu gut. Was ihren Ehebruch angeht, so weiß ich, dass sie angesichts des Todes jede Sünde gebeichtet hat. Und sie wusste, dass sie sterben würde. Ich war hier, als Sie an ihr Bett gerufen wurden, und weiß, dass Sie sie von allen Sünden freigesprochen haben – von allen! Noch einmal: Ich verlange den Namen ihres Liebhabers. Wenn Sie wissen, was für Sie gut ist, dann antworten Sie rasch! Er wird wünschen, dass er nie geboren wäre – und weder Sie noch sonst jemand auf dieser verdammten Insel werden mich an meiner Genugtuung hindern!«

Der Priester wurde blass. Ganz gleich, was er sagte – seine Stellung auf Charmantes stand auf jeden Fall auf dem Spiel. Irgendwie musste er diesen Mann beruhigen. Er hob den Kopf und versuchte es mit Mitgefühl. »Es ist wirklich betrüblich, dass Sie das Schlimmste von ihrer verstorbenen Frau glauben müssen. Doch was sie mir unter dem Sakrament der Beichte anvertraut hat oder auch nicht, wird niemals über meine Lippen kommen. Sie wissen, dass ich für immer Stillschweigen geschworen habe und mein Gelübde nicht brechen darf. Das können Sie nicht von mir verlangen.«

»Verdammt, Mann, ich will nur den Namen wissen. Der Kerl soll mir dafür bezahlen!«

»Nein, Frederic«, entgegnete der Priester mit sanfter Stimme, »selbst wenn Ihre Frau eine solche Sünde gebeichtet hätte, so musste sie keine Namen nennen, um die Absolution zu erhalten.«

Frederic Duvoisin war verblüfft. Entweder war dieser Priester klüger als gedacht, oder er sagte die Wahrheit. »Sie lügen. Sie hat ihren Liebhaber genannt. Ich sehe es Ihren Augen an.«

»Gott vergibt ihm, wer auch immer es ist«, sagte Father Benito und bemerkte, dass Frederics Zorn abflaute. »Lassen Sie die Vergangenheit ruhen, Frederic. Mord ist eine sehr viel schwerere Sünde als Ehebruch. Ihre Frau ist tot, und ihre Sünden wurden vergeben. Warum also wollen Sie Ihre Seele mit Rachegedanken belasten?«

»Hinaus mit Ihnen«, befahl Frederic. »Sie sind um kein Haar besser als Robert Blackford und Agatha Ward, die alle Sünde auf Colette schieben. Ja, ich würde sie liebend gern von Angesicht zu Angesicht mit ihrer Untreue konfrontieren und sie dafür bestrafen, aber sie ist tot. Dennoch gibt es hier auf Charmantes jemanden, der noch am Leben ist und dem es gutgeht. Ich sage Ihnen nur so viel: Er wird für seine Fleischeslust büßen. Bevor ich diese Welt verlasse – wird er leiden!«


Sonntag, 21. Mai 1837

Frederic Duvoisin saß auf Pierres Bett und wartete, dass die Kinder mit der Gouvernante von der Messe zurückkehrten. Er sah sehr viel besser aus als noch vor einer Woche, auch wenn er noch extrem dünn war und seinen früheren Appetit noch nicht wiedererlangt hatte.

Charmaine summte leise, als sie hinter Pierre das Kinderzimmer betrat. Sie hatte gehofft, dass Paul auf sie wartete. Doch nun riss sie die Augen auf, als Pierre begeistert »Papa!« rief und Jeannette sie rasch zur Seite drängte. »Wie schön, dass du endlich da bist!« Sie schlang ihrem Vater die Arme um den Hals. »Ich habe dich vermisst!«

»Ich auch!«, echote der Junge und kicherte. »Wo warst du so lange?«

Frederic schluckte und begriff plötzlich, wie dumm er gewesen war. Wie hatte er nur daran denken können, diese Welt zu verlassen, und glauben können, dass sein Sohn alles besser machen würde als er? Er betrachtete Yvette, die kerzengerade vor ihm stand und ihrer Mutter so ähnlich war. »Ich habe sehr um eure Mutter getrauert«, sagte er leise. »Aber jetzt will ich nur noch an die Zukunft denken.«

»Genau das hat Mademoiselle Charmaine auch gesagt«, sagte Yvette und umarmte ihren Vater. »Du hast Mama geliebt, nicht wahr?«

»Ja«, flüsterte Frederic.

Charmaine war nicht bereit, ihm so rasch zu verzeihen. Frederic Duvoisin hatte vielleicht gelitten, aber durch sein selbstsüchtiges Verhalten hatte er den Kindern unnötige Sorgen bereitet. Sie konnte nicht über ihren Schatten springen und wollte sich in ihr Zimmer zurückziehen. »Ich lasse Sie allein.«

Frederic schien ihre Gedanken gelesen zu haben. »Bleiben Sie hier, Miss Ryan«, bat er. »Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen und auch bei meinen Kindern. Es tut mir leid, dass ich während der letzten Wochen nicht für sie da war und Sie die Kinder allein trösten mussten.«

Was konnte sie sagen? Es gab keinen Grund, ihm weiterhin zu zürnen. »Ich bin froh, dass Sie sich wieder erholt haben, Sir. Die Kinder haben sich sehr um Sie gesorgt und ich ebenfalls.«

»Gesorgt? So so.«

Plötzlich stand Agatha unter der Tür, und ihre Frage hing noch in der Luft.

Charmaine zog eine Grimasse. Während der letzten sechs Wochen hatte sich Mrs. Ward einen Spaß daraus gemacht, sie ständig zu schelten. Seit Colettes Tod und Pauls Abreise nach Espoir war niemand da, der sie verteidigte.

»Ich wollte nur die große Freude der Kinder zum Ausdruck bringen«, versuchte Charmaine zu erklären.

»Ach, wirklich? Mir schien, es ging eher um Ihre ganz persönliche Freude.«

»Agatha«, unterbrach Frederic seine Schwägerin, »ich verbringe gerade Zeit mit meinen Kindern. Dagegen hast du wohl nichts einzuwenden, oder?«

»Aber natürlich nicht, Frederic«, erwiderte sie mit strahlendem Lächeln und verschwand so lautlos, wie sie gekommen war.

Später am Abend besuchte sie Frederic in seinen Räumen. Es war an der Zeit, ihren brennenden Traum wahr werden zu lassen – und zwar jetzt, bevor ihr eine junge Frau oder womöglich sogar die Gouvernante in die Quere kam. Nach der schlimmen Zeit war Frederic sehr trostbedürftig, und mit Sicherheit hungerte er nach der Liebe einer Frau. Heute Nacht würde er die beiden anderen vergessen, die ihm Liebe vorspiegelten und es doch nur auf sein Vermögen abgesehen hatten.

Mittwoch, 14. Juni 1837

»Bist du verrückt geworden?«, rief Paul ungläubig. »Du bist verrückt – eine andere Erklärung für diesen Wahnsinn gibt es nicht!«

Der Tag war alles andere als erfreulich verlaufen. Als Erstes hatte man ihn mitten in der Woche nach Charmantes zurückgerufen, weil es Probleme im Hafen gab, die womöglich die weitere Entwicklung auf Espoir gefährdeten. Bei seiner Ankunft waren nacheinander noch andere Probleme aufgetaucht, eines dringender als das andere. In Georges Abwesenheit vervielfältigten sich diese Probleme, sodass er sie kaum abarbeiten konnte. Als er die Wochen zählte, die sein Freund nun schon fort war, kam er auf mehr als zehn, was ihn maßlos ärgerte. Wie lange dauerte denn eine Reise nach Richmond und zurück? Machte George etwa Ferien? Wie dem auch sei, ihm waren leider die Hände gebunden. Das Letzte, was er zum Abschluss eines solch schweren Tages brauchen konnte und auch gar nicht erwartet hatte, war dieses absurde Gespräch mit seinem Vater. Man hätte sein Schweigen für Nachdenklichkeit halten können, wenn er nicht so aggressiv geschaut und nicht mit den Zähnen geknirscht hätte. Verzweifelt lief Paul im Zimmer auf und ab, aber deswegen verstand er die Gedanken seines Vaters und seine völlig Illoyalität nicht besser.

In den Monaten vor Weihnachten hätte Paul geschworen, dass es zwischen Colette und seinem Vater nur Misstrauen und Wut gegeben hätte. Doch später, nach seiner Rückkehr aus Europa, hatte er eine Menge erstaunlicher Gefühle miterlebt: offensichtliche Verzweiflung, als Colette dem Tode nahe war, dann Erleichterung und Glück, als sie auf dem Weg der Besserung zu sein schien, und schließlich der unfassbare Kummer nach dem tragischen Ende. Seit Wochen schon verfolgten ihn Colettes Worte: »Er hat mich einmal geliebt … wusstest du das? Er hat mich einmal geliebt.« War diese Liebe vielleicht nie gestorben? Möglich. Wie dem auch sei, Paul konnte die Vergangenheit nicht vergessen und war nach wie vor unsicher. Und heute hatte er auf den Straßen von Charmantes die neuesten Gerüchte vernommen: Ja, er ist auf dem Weg der Besserung … hat das Fasten aufgegeben … natürlich liebt er sie noch, aber er denkt jetzt an die Kinder …

Paul erinnerte sich, dass das selbstmörderische Fasten seines Vaters Anfang Mai begonnen hatte. Nach seiner Rückkehr von Espoir hatte Rose bestätigt, dass sein Vater den Versuch beendet hatte. Paul war zwar erleichtert, dass die Sache ausgestanden war, und doch hatte er sich geschämt, dass er nicht zu Hause gewesen war und ihm niemand eine Nachricht nach Espoir geschickt hatte. Heute war er überzeugt, dass sein Vater Colette geliebt hatte, sie sogar bis ins Grab geliebt hatte, und zum ersten Mal verstand er Frederics Verbitterung. Das war nicht nur Hass, sondern der Ausdruck eines gebrochenen Herzens.

Von wegen. Vor wenigen Augenblicken hatte sein Vater erneut eine Kehrtwendung vollzogen und alle diese Überlegungen ad absurdum geführt. Jetzt wollte er Colette nur noch »vergessen«. Genau dieses Wort hatte er gebraucht. Außer den Kindern durfte niemand in seiner Gegenwart ihren Namen aussprechen. Keine Erinnerungen an sie in seinen Räumen und auch keine Gegenstände, die ihr viel bedeutet hatten und die seine Umgebung verunreinigt hätten.

Nun gut! Das könnte er sogar verstehen. Er könnte auch seinem Vater zuliebe so tun, als hätte es Colette nie gegeben. Aber diese Sache? Niemals! Diesem Unsinn würde er niemals zustimmen! Statt eine so abstoßende Idee zu fördern, wollte er sie lieber auslöschen, bevor sie außer Kontrolle geriet.

»Ich sage noch einmal, dass du verrückt bist«, stieß Paul hervor. »Ich werde das nicht zulassen.«

»Zulassen?«, entgegnete Frederic. »Ich bin dein Vater, oder hast du das vergessen?«

Paul ließ sich in einen Sessel sinken. »Nein, das habe ich nicht vergessen«, murmelte er.

»Nun gut. Dann kann ich also auf dich zählen, dass du alles Nötige in die Wege leitest?«

»Nein«, antwortete Paul direkt und wirkte mindestens so unsicher wie sein Vater. »Ich spiele dabei nicht mit.«

Frederic neigte den Kopf und versuchte in der Miene seines Sohnes zu lesen. Pauls Reaktion hatte ihn überrascht. »Warum stehst du meinem Plan so ablehnend gegenüber? Was stört dich denn daran?«

»Ich halte das Ganze für einen Fehler, den du eines Tages bereuen wirst. Hast du denn gar keinen Respekt vor Colette? Ja!«, ereiferte er sich, »ich wage es, ihren Namen laut auszusprechen! Sie ist seit zwei Monaten tot. Zwei Monate! Nicht einmal die schrecklichste Frau lässt man so schnell fallen. Aber Colette war ganz und gar nicht schrecklich. Sie war wunderbar, überaus liebevoll und in jeder Beziehung ein fairer Mensch. Wage ja nicht, das zu bestreiten.« Er hob die Hand. »Trotz deiner Schmähungen und deiner Anklagen weißt du genau, dass ich die Wahrheit sage.«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Jetzt ist es aber gut!« Paul explodierte. »Colette hat einen schrecklichen Fehler gemacht. Einen wirklich schrecklichen Fehler, für den du sie wieder und wieder gekreuzigt hast! Kannst du vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen? Wie kannst du Colette nur so hart verurteilen und Agatha nicht als das erkennen, was sie in Wirklichkeit ist? Die beiden Frauen in einem Atemzug zu nennen, ist verabscheuungswürdig!«

»Sprich nicht so von Agatha! Sie wird immerhin meine Frau.«

»Hast du eigentlich nichts von dem verstanden, was ich soeben gesagt habe?«, brüllte Paul. »Du kannst die Frau nicht heiraten! Du kannst das unmöglich tun!«

»Sie wird mich die ganze Sache vergessen lassen«, antwortete Frederic. »Und ich will endlich vergessen.«

»Sie weckt diesen Wunsch in dir. Mehr nicht. Wenn du schon glaubst, dass die Ehe mit Colette die Hölle war und du jetzt weißt, was das bedeutet – dann warte nur ab!«

»Es reicht!«, rief Frederic. Pauls heftiger Ausbruch überraschte ihn. Doch er bekräftigte nur seinen Wunsch, Agatha Blackford Ward zu seiner dritten Frau zu machen. »Ich erwarte ja nicht, dass du die Dinge genauso siehst wie ich. Zumindest jetzt noch nicht. Ich tue es aus gutem Grund, und zumindest den solltest du respektieren.«

»Aus gutem Grund?« Paul erstickte beinahe. »Welchen Grund könntest du denn haben? Du hast nichts gesagt, was man auch nur annähernd als Grund bezeichnen könnte.«

»Reicht es denn nicht, wenn ich sage, dass es einen Grund gibt? Willst du meinen Stolz völlig vernichten, indem du mir unterstellst, dass ich keine eigenen Entscheidungen mehr treffen kann?«

An diesem Punkt gab Paul auf. Er hatte seine Grenzen überschritten. »Wie du ganz richtig sagst – es ist deine Entscheidung. Aber ich warne dich, Vater! Meine Gefühle werden sich nicht ändern, und ich werde Agatha Blackford Ward niemals als Stiefmutter akzeptieren.«

»Das erwarte ich auch gar nicht von dir«, brummte Frederic, der mit einem Mal sehr viel zugänglicher war.

Samstag, 1. Juli 1837

Keine drei Monate nach Colettes Tod wurden Frederic Duvoisin und Agatha Blackford Ward getraut. Am Samstagmorgen begab sich das Paar ohne Familie und Freunde in die Kapelle des Herrenhauses und wurde dort in Anwesenheit von Paul Duvoisin und dem Arzt von Father Benito St. Giovanni miteinander verheiratet. Damit wurde Dr. Robert Blackford zum zweiten Mal Frederics Schwager.

Wenn Frederic gehofft hatte, dass seine jüngeren Kinder die Sache freundlicher aufnehmen würden, so wurde er enttäuscht. Als er ins Kinderzimmer trat, um ihnen die Neuigkeit mitzuteilen, empfing ihn Yvette mit zornigem Gesicht. »Ist das wahr?« Sie drängelte sich an Charmaine vorbei. »Sag, dass es nicht wahr ist.«

Frederic tat überrascht. »Ob was wahr ist?«

»Joseph hat von seinem Vater erfahren, dass du heute Mrs. Ward heiratest. Das ist gelogen, oder nicht?«

Frederic überkam tiefes Bedauern. »Nein, es ist wahr. Agatha und ich haben heute geheiratet.«

Charmaines Magen revoltierte. Erschrocken musste sie sich am Bettpfosten festhalten und merkte kaum, dass Pierre ihre Beine umklammerte.

Yvettes aufgebrachter Aufschrei »Sehen Sie, Mademoiselle!« hallte von den Wänden wider. »Habe ich es Ihnen nicht gesagt! Joseph hat mich noch nie angelogen.«

Jeannette brach in Tränen aus. »Aber warum, Papa? Warum hast du ausgerechnet sie geheiratet?«

Als er nicht antwortete, starrte Yvette ihn wütend an. »Wenn du so schnell wieder heiraten musstest, warum hast du dann nicht Mademoiselle Charmaine genommen?«

Charmaine war sprachlos. An Frederics abschätzendem Blick merkte sie, dass er sie mit dieser Frage in Verbindung brachte. Wie war Yvette nur auf diese Idee verfallen?

Er nahm den Vorschlag mit einem schiefen Lächeln zur Kenntnis. »Bist du deshalb so wütend? Hättest du lieber Mademoiselle Charmaine als Ersatz für deine Mama gehabt?«

»Das habe ich nicht gesagt!« Yvette war wütend, weil ihr Vater sie nicht richtig verstanden hatte. »Niemand kann meine Mama ersetzen. Das weißt du doch, oder? Dabei hast du gesagt, dass du sie liebst. Oder hast du gelogen? Mama war so lieb und so hübsch, aber du hast Mrs. Ward geheiratet, die nur gemein und hässlich ist. Sie ist ja noch schlimmer als alle Stiefmütter in den Märchenbüchern.«

Frederic runzelte die Stirn. »Es reicht, kleine Lady! Von heute an ist Agatha eure Stiefmutter, und als solche werdet ihr sie respektieren.« Er deutete auf Charmaine. »Und eure Gouvernante ist mir dafür verantwortlich.«

Charmaine musste sich auf die Lippen beißen, um dem Mädchen nicht beizupflichten. »Sir«, sagte sie stattdessen, »aus Yvette spricht nur der Kummer. Sie vermist ihre Mutter eben sehr. Das verstehen Sie doch sicher.«

»Aber das gibt ihr nicht das Recht, sich schlecht zu benehmen«, entgegnete Frederic Duvoisin steif. »Ich dulde keine Beleidigung meiner neuen Frau. Ist das klar?«

»Ja, Sir«, antwortete Charmaine beklommen, die ihre Position bereits in Gefahr sah.

Offenbar spürten die Kinder ihren Zwiespalt, denn sie verstummten ebenfalls.

Yvettes Augen schwammen in Tränen, aber sie wischte sie nicht weg. Diese Reaktion erschütterte Frederic mehr als ihr Wutanfall, aber der Rückweg war verbaut. Härte zu zeigen, das war jetzt das Beste, dachte er und verabschiedete sich rasch.

»Ihr solltet euren Vater nicht gegen euch aufbringen«, sagte Charmaine, als sie wieder allein waren. »Ihr könnt die Situation nicht ändern, und eure Stiefmutter zu beleidigen, das macht die Sache nur schlimmer.«

Yvette und Jeannette nickten einträchtig.

»Und denkt daran«, fuhr sie mit einem Lächeln fort, »ich werde euch immer lieben!« Sie umarmte die beiden und war entschlossen, auch diesen Anschlag auf ihre seelische Gesundung abzuwehren.

Später dachte sie, wie Frederic Duvoisin so kurz nach dem Tod seiner zweiten Frau überhaupt wieder hatte heiraten können. Wie hatte er sich Colette so schnell aus dem Herzen reißen können? Warum hatte er den Tod gesucht, wenn seine Liebe gar nicht so allumfassend war? Was hatte das alles zu bedeuten? Womöglich hatte Agatha ihm in seiner tiefsten Trauer schöne Augen gemacht. Selbst wenn sie sonst nichts getan hatte … immerhin hatte sie dazu beigetragen, sein Leben zu retten. Charmaine war überzeugt, dass der Mann Agathas berechnende Seite noch gar nicht entdeckt und keine Ahnung hatte, wie sehr er das Leben seiner Kinder mit dieser Ehe erschwert hatte.


Agatha atmete tief die salzige Meerluft ein, bevor sie mit einem kleinen Seufzer in den Salon zurückkehrte. »Das ist vorläufig alles, Gladys.«

Gladys war gerade mit dem Ausräumen von Colettes Kleiderschrank fertig geworden. Sie knickste folgsam und verließ den Raum.

Agatha ging zum Frisiertisch hinüber und öffnete die Schatulle. Lächelnd sah sie auf die funkelnden Schmuckstücke auf dem Samtbett hinunter. Sie hatte gerade noch verhindern können, dass Gladys auch diese Schatulle weggeräumt hatte, um sie aufzubewahren, bis die Mädchen alt genug waren, um den Schmuck ihrer Mutter zu tragen. Zu ihrer Freude stellte sie fest, dass zwischen Colettes Pretiosen auch noch die Schmuckstücke ihrer Schwester lagen. Wenn sich die zweite Frau mit den Juwelen der ersten schmücken durfte, so stand dieses Recht auch der dritten zu. Dass Frederic Colette gestattet hatte, den Schmuck seiner geliebten Elizabeth zu berühren, konnte nur heißen, dass er die beiden Frauen als eine Person betrachtet hatte. Rasch schob Agatha diesen beunruhigenden Gedanken von sich. Der heutige Tag war einfach zu schön, um an die Vergangenheit zu denken. Ihr Weg war schwer gewesen, doch die Zukunft gehörte ihr. Sie schloss den Deckel und ordnete dann die Gegenstände in den Räumen mehr nach ihrem Geschmack.

Als Frederic den Salon betrat, schaute sie ihm mit hinreißendem Lächeln entgegen. Trotz des Humpelns sah er noch genauso großartig aus wie am Morgen, so großartig wie immer.

Er streichelte ihre Wange. »Glücklich?«, fragte er leise.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Sehr glücklich«, hauchte sie. »Ich liebe dich, Frederic … schon so lange.«

»Ich weiß«, sagte er ernst. »Vielleicht waren wir ja füreinander bestimmt.«

»Vielleicht? Aber nicht doch, Frederic. An einem so herrlichen Tag wie diesem gibt es kein ›Vielleicht‹. Ich werde dich glücklich machen, und die traurigen Erinnerungen gehören der Vergangenheit an.«

»Um meiner Kinder willen hoffe ich, dass du recht behältst. Ich habe es so satt, dass mich alle für einen bösen Patriarchen halten.«

Agatha lachte. »Du und böse? Niemals, Frederic! Aber es sollte dich nicht wundern, denn niemand versteht dich so gut wie ich.« Sie strich über seine Brust, und ihr Blick war von Leidenschaft umwölkt. »Komm«, flüsterte sie und zog ihn in seine Räume hinüber, wo sein Bett auf sie wartete.

Sonntag, 2. Juli 1837

Am Sonntag begleitete Paul die Gouvernante und die Kinder zur Messe. Als Charmaine zu ihm aufsah, wurde sie mit einem Zwinkern belohnt, das ihr Herz heftiger klopfen ließ. Sie überlegte, wie lange er dieses Mal wohl auf Charmantes bleiben konnte, aber sie wagte nicht zu fragen, um den wunderbaren Augenblick nicht zu trüben.

Doch der Augenblick hielt ohnehin nicht lange. Nach der Messe verabschiedete sich Paul eilig, während Agatha die Angestellten an der Tür der Kapelle abfing und zu einer Unterredung in einer Stunde in die große Halle bestellte.

»Ich muss einige Aufgaben neu verteilen«, sagte sie nur, aber die unterschwellige Botschaft war deutlich genug, sodass Charmaine sich augenblicklich sorgte. »Das ist für den Augenblick alles«, bemerkte Agatha abschließend, bevor sie sich Father Benito zuwandte, der sie um eine Minute ihrer Zeit gebeten hatte.

Charmaine rief die Kinder zusammen und musste ein kleines Grinsen unterdrücken, als sie hörte, wie sich Agatha über den Priester entrüstete.

»Ich sehe nicht ein, dass ich überhaupt etwas spenden soll«, schimpfte sie.

»Aber, Mrs. Duvoisin.« Father Benito war pikiert. »Mit Ihrer Hochzeit haben Sie die Bande mit der Church of England gelöst und sind zum Katholizismus übergetreten. Als Herrin dieses Hauses reichen Ihre Pflichten weit über diesen Besitz hinaus. Ganz Charmantes baut auf Sie. Als Ehefrau unseres Wohltäters fallen Ihnen die unterschiedlichsten Pflichten zu, was Ihnen bekannt sein dürfte.« Agatha sah Father Benito finster an, doch der Priester lächelte nur milde. »Miss Colette war unsere größte Gönnerin, bis sie so furchtbar krank wurde.«

Charmaine folgte den Kindern durch den Ballsaal, während Agathas Stimme hinter ihr verklang. Jetzt entdeckt die neue Mrs. Duvoisin, dass ein Leben in Luxus auch seinen Preis hat. Sie konnte nur hoffen, dass die wohltätige Arbeit für Agatha möglichst zeitraubend ausfiel.

Eine Stunde später kehrte Charmaine zusammen mit den anderen Angestellten in den Ballsaal zurück und lauschte Agatha Duvoisins diktatorischer Rede. Es dauerte keine fünf Minuten, bis die neue Herrin auch die kleinste Freizügigkeit widerrufen hatte, derer sich die Dienerschaft bis dahin erfreut hatte. Charmaine sah, wie Mrs. Faraday empört den Raum verließ, gefolgt von der erzürnten Fatima Henderson und der am Boden zerstörten Gladys Thornfield. Als Felicia und Anna schmollend davonschlichen, frohlockte sie jedoch ein wenig, weil die beiden von nun an für ihren Lohn auch etwas tun mussten. Mit einem kleinen Lächeln machte sie sich auf den Rückweg ins Foyer, wo Rose sicher schon auf sie wartete.

»Sie scheinen Ihren Spaß zu haben, Miss Ryan.«

Charmaine erwachte aus ihren Gedanken. »Wie bitte?«

»Ich fragte mich gerade, ob Sie meine Anweisungen wohl amüsant finden?«

Charmaines Lächeln erstarb. »Aber nein, Ma’am.«

»Nun gut. Mit Ihnen möchte ich nachher unter vier Augen im Arbeitszimmer sprechen. Ihre Position in diesem Haus muss ebenfalls verändert werden.«

»Verändert?«, fragte Charmaine mit wachsender Panik.

»Wir reden später darüber. Um vier Uhr. Und bitte, Miss Ryan, seien Sie pünktlich.«

Charmaine war ganz und gar nicht wohl in ihrer Haut. Eine private Unterredung versprach Ärger. Selbst Rose konnte ihr das nicht ausreden. Zu gut erinnerte sie sich noch an Frederic Duvoisins Bemerkung vom Tag zuvor. Wenn sie nicht vorsichtig war, musste sie womöglich ihre Sachen packen. Und das würde ihr mindestens ebenso schwerfallen wie den Kindern. Dazu liebte sie die Kleinen einfach zu sehr.

Um halb vier ließ sie ihre Schutzbefohlenen erneut in der Obhut von Rose zurück. Sie wollte überpünktlich sein, um Mrs. Ward erst gar keine Angriffsfläche zu liefern.


In letzter Zeit lief nichts so, wie Paul es geplant hatte. Eilig überquerte er die große Wiese und stürmte mit großen Schritten über die Veranda und ins Haus. Er presste einen großen braunen Umschlag an sich, der bei jedem Schritt gegen seine linke Hüfte schlug und seine Gedanken antrieb, die sich wie üblich im Kreis drehten: von der verfehlten Hochzeit seines Vaters, über seinen engen Zeitplan, den er auch noch zwischen Charmantes und Espoir aufteilen musste, das endlos lange Fernbleiben von George und den unterbrochenen Bau des neuen Hauses bis hin zum letzten und schlimmsten Punkt – zu seinem Bruder John und den fehlenden Frachtpapieren, die sich eigentlich bei den anderen Unterlagen im Umschlag befinden müssten.

»Warum tut er mir das an?«, schimpfte er lauthals. Wenn John ihn ärgerte, führte er in letzter Zeit mit Vorliebe Selbstgespräche. »Ich weiß, warum«, stieß er hervor, als er ins Arbeitszimmer stürmte und die Tür so heftig ins Schloss warf, dass die Glasfüllungen der Terrassentüren klirrten. »Er weiß genau, dass er damit auf Charmantes ein heilloses Durcheinander anrichtet und ich mich damit herumschlagen muss! Wetten, dass er sich schon seit Monaten amüsiert hat, wenn er daran dachte?«

Mit wenigen Schritten stand er am Schreibtisch und warf den Umschlag so schwungvoll zu den übrigen Papieren, dass die Seiten herausrutschten, was ihm für den Augenblick so etwas wie kindische Erleichterung verschaffte. Dann fuhr er herum und schrak zusammen, als er Charmaine mit großen Augen auf einem der hochlehnigen Stühle sitzen sah. »Wie lange sind Sie schon da?«, herrschte er sie an und wurde immer gereizter, als er überlegte, was sie alles gehört hatte. »Heraus mit der Sprache.«

»Schon eine ganze Weile, Sir«, antwortete Charmaine so verschüchtert, dass ihm sein Zorn mit einem Mal lächerlich vorkam.

Er schloss die Augen und rieb seine Stirn. Sir … sie hat wieder »Sir« gesagt. »Es tut mir leid, Charmaine. Ich wollte Sie nicht so anfahren, aber ich habe eine Menge Sorgen und bin am Ende meines Lateins.«

»Dann befinden wir uns ja beide in derselben Lage«, gab sie zurück.

Er hörte die Sorge, die in ihrer Stimme mitschwang. »Ist etwas geschehen?«

Ist etwas geschehen?, dachte sie. Das soll wohl ein Witz sein! Doch woher sollte er von den Schwierigkeiten wissen, mit denen sich die Angestellten des Herrenhauses konfrontiert sahen? »Im Lauf der nächsten Tage wird es einige Veränderungen im Haus geben«, sagte sie und sah auf die Hände in ihrem Schoß hinunter. »Einige davon machen mir Angst.«

»Welche Veränderungen könnten Ihnen schon Angst machen?«

»In einigen Minuten habe ich eine Unterredung mit Mrs. Duvoisin.«

Agatha … seine Stiefmutter … die neue Mrs. Duvoisin … Ihn ärgerte sehr viel mehr als nur dieser Titel. Er benötigte keine weiteren Erklärungen, um die Absichten dieser Frau zu durchschauen, und erst recht wollte er nichts über ihre verabscheuungswürdigen Taten hören.

Er ließ Travis Thornfield kommen und beauftragte ihn, die neue Herrin des Hauses davon zu unterrichten, dass ihre Unterredung mit der Gouvernante abgesagt sei. »Und falls sie sich beschwert«, fuhr Paul fort, »so verweisen Sie sie an mich. Miss Ryan ist für die Kinder verantwortlich, und es gibt keinen Grund, ihre Pflichten oder ihren Dienstplan zu ändern. Das ist alles, Travis.«

Der Butler entfernte sich mit einem höchst unüblichen Lächeln.

Charmaine war beeindruckt. Erneut hatte sich Paul auf ihre Seite gestellt. Wann glaubte sie denn endlich, dass sie nichts von ihm zu befürchten hatte? Vielleicht heute, flüsterte ihr Herz und ließ ihre Knie weich werden. War es möglich, dass er mit einem Mal noch besser aussah als gewöhnlich? Als er den Raum durchquerte und von oben auf sie heruntersah, klopfte ihr Herz wie wild.

»Wunderbar.« Er grinste, dass die Zähne unter seinem Schnurrbart nur so blitzten. »Das wird ihr ganz und gar nicht passen, aber in Zukunft wird sie es sich vielleicht zweimal überlegen, bevor sie Ihre Position noch einmal in Frage stellt.«

Charmaine war sich dessen zwar nicht so sicher, aber sie war Paul natürlich dankbar. »Ich …«

»Aber, aber, Charmaine …«, tadelte er sie leise und setzte sich zu ihr. Dann beugte er sich vor und ergriff ihre Hand. »Vor Agatha müssen Sie wirklich keine Angst haben. Sie spielt sich gern als Herrin des Hauses auf, aber was Ihre Position angeht, so habe ich die Unterstützung meines Vaters. Ganz gleich, was Agatha sich auch einfallen lässt – er wird Sie niemals entlassen.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Paul«, sagte sie leise. Seine Nähe erschwerte ihr das Atmen. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. »Sie haben mir eine große Last von der Seele genommen. Ich hätte nicht gewusst, was ich den Kindern sagen soll, wenn man mich entlassen hätte. Ich fühle mich so tief mit ihnen verbunden.«

Er erwiderte ihr Lächeln. »Das weiß ich doch, Charmaine. Den Kindern geht es auch nicht anders. Und das weiß mein Vater ebenfalls.«

»Das hoffe ich sehr, aber seit gestern bin ich mir da nicht mehr so sicher.«

Paul runzelte die Stirn. »Seit gestern?«

Sie berichtete ihm von der Reaktion der Mädchen auf die unerwartete Hochzeit, und Paul lächelte. »Yvette hat meine ganze Hochachtung. Ich habe meinem Vater in etwa dasselbe gesagt. Wie gut, dass er es noch von anderer Seite zu hören bekommt! Vermutlich war er beeindruckt?«

»Das schon, aber es macht wohl keinen Unterschied mehr, nicht wahr? Was geschehen ist, ist geschehen.«

»Da haben Sie leider recht. Trotzdem ist dieses Problem nur eines von vielen, die mir in dieser schrecklichen Woche widerfahren sind.«

»Ich wünschte, ich könnte Ihre Probleme genauso schnell lösen wie Sie die meinen. Aber leider kann ich Ihnen nur mein tiefstes Mitgefühl anbieten.«

Sofort war Paul wie verwandelt. Seine Augen blitzten, und er grinste übermütig. »Passen Sie nur auf, ich nehme Sie beim Wort! Wie gern würde ich jetzt in Ihrem Mitgefühl baden und meine Probleme für eine Weile vergessen.«

Sie wusste sehr genau, wohin solche Worte führten. Und erst recht seine Einladung, wenn sie ihr nachgab. Wenn sie seiner Einladung nachgab. Das war der Schlüssel. So ging das nun fast schon ein ganzes Jahr. Zu Beginn hatten ihr seine Annäherungsversuche Angst eingejagt, aber inzwischen war sie eher aufgeregt. Plötzlich wollte sie mehr, wollte wissen, dass er sich ehrlich zu ihr hingezogen fühlte, wollte wissen, wie sich sein Mund auf ihren Lippen anfühlte. Instinktiv ahnte sie, dass das kleine Lustgefühl, das bei ihrer ersten Begegnung im Garten aufgeflammt war, inzwischen zu etwas Neuem erblüht war. Und doch hatte er sie noch nicht geküsst. Und warum nicht? Als er es am Weihnachtstag tun wollte, hatte man sie gestört. Und als er aus Europa zurückgekehrt war, hatte die Unruhe wegen Colettes Siechtum ihr Leben bestimmt. Außerdem gab es da noch Espoir, seine zahllosen Verpflichtungen und seine ständigen Abwesenheiten. Heute waren sie seit ewigen Zeiten zum ersten Mal allein. Sie erwiderte sein betörendes Lächeln. Sollte er doch glauben, was er wollte. Sie wollte, dass er sie küsste, und zwar genau hier und jetzt. Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, wanderte sein Blick zu ihren Lippen.

Paul hatte inzwischen so vielerlei Gefühle auf ihrem hübschen Gesicht gesehen – und doch konnte er nicht darin lesen. Seine Einladung schien sie nicht erschreckt zu haben, aber sie sagte nichts. Sie war so wunderschön, und er sehnte sich danach, sie zu lieben, sie langsam und süß zu lieben. Sein Katz-und-Maus-Spiel missfiel ihm, und er ärgerte sich über sich selbst. »Charmaine? Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«

Ihre Schüchternheit verschwand. »Ja, ich habe es gehört«, antwortete sie ruhig.

»Und?«

Er ließ ihre Hand los und umfasste ihre Wange. Dabei strich sein Daumen zart über ihre Lippen. Sie schloss die Augen. Als ihr der Atem versagte, stand sie auf und wandte ihm den Rücken zu.

»Und?«, stieß er hervor und trat hinter sie.

»Und …« Sie zauderte. »Ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich Ihnen helfen könnte.«

Aha, dachte er, sie spielt nach neuen Regeln: Sei nicht beleidigt, aber gib auch nicht nach. Wieder einmal hatte er zu lange gezögert, und der träumerische Augenblick löste sich in nichts auf. Er fühlte sich getäuscht und lachte bedauernd. Dabei verfing sich sein Atem in ihrem Haar.

Verlegen trat sie einen Schritt von ihm weg. Dann sammelte sie sich und sah ihm ins Gesicht. »Nun gut. Vielleicht könnten Sie mir ja einige Ihrer Probleme schildern …«

»Einige?«, spottete er. »Und womit sollte ich Ihrer Meinung nach beginnen? Mit Agatha? Oder mit George? Oder doch mit John, dem größten Problem von allen? Ich fürchte, diese Kopfschmerzen können auch Sie mir nicht nehmen.«

»Lassen Sie es mich doch zumindest versuchen.«

Er prustete los. Doch als sie weiterhin mit verschränkten Armen vor ihm stand und ihn mit ernstem Blick ansah, trat er tatsächlich an den Schreibtisch und nahm die Papiere. »Nun gut, dies hier sind Rechnungen. Sie …«

»Ich weiß, was Rechnungen sind.«

Er nickte und erklärte dann, was an den Frachtpapieren in seiner Hand so anders war. Offenbar hatte ein Schiff im Hafen von Charmantes festgemacht und lag bereits fünf Tage vor Anker, ohne dass man die Ladung gelöscht hätte. Der Kapitän und Jake Watson hatten sich nicht darüber einigen können, welche Güter für Charmantes bestimmt waren und welche nach Virginia geliefert werden mussten.

»Der Kapitän bestand darauf, dass die Versorgungsgüter für die Inseln achtern im Lagerraum verstaut seien«, erklärte Paul. »Jake hat sich keinen Vers darauf machen können und verlangt, sowohl die europäischen als auch die Rechnungen aus Virginia einzusehen. Er mochte nicht glauben, dass ein Kapitän so dämlich war, die Güter für Charmantes hinter denen zu verstauen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt entladen wurden. Der Kapitän seinerseits war durch Jakes Unterstellungen außer sich vor Wut, weil sie vermutlich korrekt waren. Jake Watson bestand darauf, Johns Rechnungen einzusehen, und teilte dem Kapitän mit, dass bis dahin kein einziges Fass entladen würde. Der Kapitän druckste herum und zierte sich und räumte letztlich ein – und das, obwohl er glaubte, dass John ihm korrekte Papiere ausgehändigt hatte –, dass die Rechnungen womöglich ungültig oder unvollständig wären. Als Jake dann diese Papiere sah, hatte er endgültig genug.«

»Genug wovon?«, fragte Charmaine.

»Genug von Johns Mätzchen! Ich habe im vergangenen Jahr keinen Einspruch erhoben, als er eigenmächtig die Routen unserer Flotte geändert hat. Also musste er sich ein neues Spiel ausdenken, um die Arbeit auf Charmantes zu erschweren. Nachdem die Waren für Charmantes in Richmond geladen waren, hat er vermutlich die regulären Frachtpapiere entfernt und dem Kapitän stattdessen diese ausgehändigt.«

Erregt wedelte Paul mit den Papieren unter Charmaines Nase herum. Als er die Hand endlich einmal ruhig hielt, konnte sie flüchtig einige grobe Zeichnungen und beigefügte Notizen erkennen, bevor er die Papiere schnell wieder in den Umschlag schob.

»Damit der Plan gelang und ich seine Absicht auf jeden Fall erkennen musste, hat er Rechnungsformulare für seine Kunstwerke benutzt.« Wütend schlug Paul die Mappe gegen seinen Schenkel. »Als Jake die Zeichnungen sah, geriet er außer sich vor Zorn, hat den Kapitän beschimpft und gedroht, dass er, sollte die Mannschaft die Ladung löschen, jedes Fass und jede Kiste, auch alle, die für Richmond bestimmt waren, in unseren Lagerhäusern unter Verschluss halten würde, bis ich aus Espoir zurückkäme und darüber entscheiden könne. Seitdem lässt der Kapitän sein Schiff bewachen. Fünf Tage lang geht das nun schon so! Fünf ganze Tage!«, rief er verzweifelt. »Die europäische Ladung hat inzwischen viele hundert Dollar an Wert eingebüßt.«

»Aber warum hat Mr. Watson nicht gleich am Freitag bei Ihrer Rückkehr aus Espoir mit Ihnen gesprochen?«

»Am Freitagabend, Charmaine, oder besser gesagt in der Nacht war es schon spät, und alle saßen bei Dulcie’s. Ich nahm an, dass das Schiff längst entladen sei und mit dem zusätzlich geladenen Zucker auf das Auslaufen nach Richmond wartete. Ich hätte es wissen müssen! Stattdessen durften wir mehr als zwei Stunden lang über die Fässer klettern, um zu prüfen, ob die Ladung im Heck auch wirklich Versorgungsgüter für Charmantes enthielt. Aber ohne Rechnungen konnte ich das nicht entscheiden. Es wird John sicherlich diebisch freuen, wenn er erfährt, dass ich einen geschlagenen Tag lang Fässer hin und her geräumt habe, um letztlich herauszufinden, dass keine der achtern gestapelten Waren für Charmantes bestimmt waren!«

Charmaine merkte, dass Paul sich im Kreis drehte, und hatte Mitleid mit ihm. »Aber weshalb sollte Ihr Bruder denn solche Spielchen mit Ihnen treiben? Er hat doch genauso viel zu verlieren wie Ihr Vater und Sie, oder nicht? Das hat Colette jedenfalls immer gesagt.«

»John zahlt jeden Preis, Charmaine, und zwar wirklich jeden, solange er mich an der Nase herumführen oder, besser noch, meinen ohnehin schweren Tag noch ein wenig schwerer machen kann.«

Charmaine war entsetzt. »Wenn das stimmt, dann müssen Sie den Spieß umdrehen!«

»Und wie soll ich das anstellen?«

»Schicken Sie ihm das Schiff so, wie es ist, zurück. Oder, besser noch, behalten Sie die gesamte Ladung.«

Damit war Paul nicht einverstanden. »Das Schiff zurückzuschicken hieße, uns aller Vorräte zu berauben. Vor allem der Getreidevorräte. Außerdem würde die Aktion meinen Vater ein Vermögen kosten. Auch die Händler in Virginia wären nicht begeistert. All das weiß John ganz genau.«

Charmaine nickte zwar, doch ganz mochte sie ihren Gedanken noch nicht aufgeben. »Sind Sie sicher, dass Charmantes nicht auch ohne das Getreide überleben könnte?«

»Natürlich könnten wir überleben, aber wir hätten keinen Vorteil davon.«

»Bis auf den, dass Ihr Bruder das Problem am Hals hat. Vielleicht könnten Sie ja noch ein paar Zeichnungen beilegen und ihm ein oder zwei Dinge klarmachen!«

Paul lachte leise vor sich hin. Nur zu gern würde er das Gesicht seines Bruders sehen, wenn er das Schiff entlud und merkte, dass sein »Scherz« auf ihn zurückgefallen war – und er nun den arbeitsreichen Tag im Hafen vor sich hatte. Sollte sich der Kapitän nur herausreden – auf jeden Fall musste sich John mit dem Dummkopf herumschlagen, den er angeheuert hatte. Keine schlechte Idee … Aber dann kam Paul plötzlich ein völlig neuer Gedanke. Vielleicht hatte John ja von Espoir erfahren und hoffte, die Sache zum Scheitern zu bringen, indem er auf Charmantes für Chaos sorgte. Aber nein, Stephen Westphal und Edward Richecourt hatten Stillschweigen geschworen, also konnte John nichts wissen – außer George hatte geplaudert. Aber auch das war im Grunde unmöglich, da die Heir Richmond bereits verlassen hatte, bevor George überhaupt dort ankam.

»Paul?«

Als Charmaine zum zweiten Mal seinen Namen sagte, riss er sich zusammen. »Es tut mir leid, Charmaine. Machen Sie sich keine Gedanken. Ich werde schon eine Lösung finden.«

»Nun gut, aber an Ihrer Stelle würde ich diesen Unsinn nicht ernst nehmen.«

Ihre Augen blitzten – und sofort waren die Gedanken an John verschwunden. Verdammt, war sie begehrenswert! Er sehnte sich danach, sie im Arm zu halten, die festgesteckten Locken zu lösen, ihre Haare über den Rücken fallen zu lassen und die vollen Lippen endlich zu besitzen. Er trat einen Schritt auf sie zu, doch ihre Augen blieben unverwandt auf ihn gerichtet, und sie merkte gar nicht, welches Feuer sie entfacht hatten. Er hielt inne. Dies ist nicht der richtige Augenblick, dachte er und unterdrückte seine Lust. Wir würden nur wieder gestört werden. Aber bald, sehr bald würde sich eine bessere Gelegenheit bieten … Vielleicht in der Nacht, wenn alle zu Bett gegangen waren … Ja, dieser Gedanke gefiel ihm sehr. Dann wollte er sie erobern.

»Verzeihen Sie, Sir.«

Paul schmunzelte über die Störung. »Ja, Travis?«

»Ich fürchte, Mrs. Duvoisin will unverzüglich mit Ihnen sprechen, Sir. Ich wollte erklären, dass Sie beschäftigt seien, aber …«

Bevor er noch aussprechen konnte, drängte sich Agatha an ihm vorbei in die Bibliothek. »So so, die Gouvernante ist also zu beschäftigt und hat keine Zeit für ein Gespräch mit mir. Und ich dachte eigentlich, dass eine Gouvernante sich um die Kinder kümmert.«

»Im Augenblick hilft Miss Ryan mir«, entgegnete Paul steif.

Agathas Blicke musterten Charmaine von Kopf bis Fuß, um etwaige Beweise für ihre wilden Spekulationen zu entdecken. »Sie hilft dir? Ich kann mir schon denken, wie sie dir hilft.«

»Sie hilft mir wirklich, Agatha«, widersprach Paul. »Wie Sie sehen, kontrollieren wir gerade die Rechnungen, die die Ladung der Heir betreffen.« Zur Bekräftigung wies er auf die Mappe in seiner Hand. »John macht mir wieder einmal Kopfschmerzen, weil er die wichtigsten Papiere verschlampt hat. Charmaine hat nur …«

Agatha wirkte verärgert. »John, ich höre immer nur John! Wie hältst du das nur aus? Warum zwingt dein Vater dich, ihn zu ertragen?«

»Keine Ahnung«, meinte er. »Aber wollten Sie nicht mit mir über Miss Ryan sprechen?«

»Das ist richtig«, erklärte Agatha widerstrebend. »Als Stiefmutter der Kinder habe ich meiner Ansicht nach ein Recht zu bestimmen, wer sie versorgt und erzieht.«

»Nein, Agatha, dieses Recht haben Sie nicht«, erklärte Paul ungerührt. »Auch Ihre Ehe mit meinem Vater ändert daran nichts. Wenn wir uns allerdings nicht einigen können, so schlage ich vor, dass wir ihm die Sache vortragen und ihn entscheiden lassen.«

Agatha zögerte. »Nun gut.«

»In Ordnung, also gehen wir.«

Charmaine zitterte, als sie vor Paul durch die Tür gehen musste, und war umso besorgter, als er sich vor dem Kinderzimmer von ihr verabschiedete. »Sie müssen uns nicht begleiten, Charmaine. Ich sage Ihnen Bescheid, wie die Sache ausgegangen ist.« Damit nahm er Agathas Arm und führte sie zu den Räumen seines Vaters.

Charmaine betrat das Kinderzimmer. Rose hatte den Kindern vorgelesen, doch nun hob sie den Kopf und zog fragend eine Braue hoch. Charmaine zuckte nur die Schultern. »Nun?«, fragte das mutigere der beiden Mädchen. »Glauben Sie nicht, dass wir es erfahren sollten?«

»Ja, Mademoiselle«, rief Jeannette. »Wir machen uns Sorgen. Wir wollen Sie nicht verlieren.«

»Ich glaube nicht, dass es so weit kommt. Paul ist entschlossen, eurer Stiefmutter Grenzen zu setzen.«

»Und was heißt das?«, fragte Jeannette.

»Das heißt, genau das tut er, was Johnny tun würde, wenn er hier wäre«, erklärte Yvette. »Ich bin sehr stolz auf ihn.«

Charmaine lachte leise und dachte an Pauls anerkennende Worte über seine kleine Schwester. »Paul spricht gerade mit eurem Vater. Er hat sich Agathas Beschwerden gar nicht angehört.«

»Und warum nicht?«, fragte Yvette.

Charmaine wusste nicht recht, ob sie einer Achtjährigen alles erzählen sollte, was sie soeben von Paul erfahren hatte. »Paul hat sich wegen fehlender Rechnungen über deinen Bruder geärgert.«

»Über Johnny? Glauben Sie, dass Paul mit Papa auch über ihn redet?«

»Ich weiß es nicht … Vielleicht … Warum?«

»Aus keinem besonderen Grund«, sagte Yvette. »Ich will nur nicht, dass Johnny noch mehr Schwierigkeiten bekommt.«

Kurz darauf verließ das Mädchen das Kinderzimmer, um zur Toilette zu gehen.


Agatha führte zahlreiche Punkte gegen Charmaine an, aber den schwerwiegendsten sparte sie bis zuletzt auf: Charmaine Ryans Herkunft.

Frederic lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und sah seiner Frau ins Gesicht. Dank Paul war er über die letzten Monate bestens im Bilde. »Charmaine Ryan wurde von Colette ausgewählt, um für ihre Kinder zu sorgen. Es sind und bleiben ihre Kinder und nicht deine, Agatha. Miss Ryan wird also ihre Position in diesem Haus behalten, und sei es auch nur, um Colettes Wunsch zu erfüllen.«

»Aber, Frederic …«

»Kein ›Aber‹. Ende der Diskussion! Ich bin mit Miss Ryan sehr zufrieden. Sie zeigt große Liebe und Zuneigung, was die Kinder angeht, und genau das brauchen sie im Augenblick. Eine Mutter. Ich sehe außerdem nicht, dass du dich in gleicher Weise für sie aufopfern würdest.«

Kleinlaut wandte Agatha sich ab. »Ich werde die Sache nicht wieder erwähnen.«

»Gut.«

Doch als ihr ein neuer Gedanke durch den Kopf schoss, fuhr sie fort: »Im Grunde ist alles ein wenig aus dem Ruder gelaufen. Eigentlich wollte ich mich nur mit Miss Ryan unterhalten. Ich wollte sie nicht entlassen, wie Paul das jetzt darstellt. Aber er war wegen anderer Vorfälle gereizt und hat mich missverstanden.«

»Andere Vorfälle?«, fragte Frederic und sah zu Paul hinüber.

Der hielt noch immer den Umschlag mit den Rechnungen der Heir in der Hand. »Es geht wie immer um John.« Mit diesen Worten warf er seinem Vater die Mappe auf den Schoß.

»Was hat er dieses Mal ausgefressen?«

Während Paul die ärgerliche Sache schilderte, steigerte er sich in seinen Zorn hinein und vergaß, dass Agatha noch immer anwesend war. Sein Vater hörte ihm geduldig zu und schüttelte nur hin und wieder den Kopf. Aber als Frederic die obszönen Zeichnungen und Bemerkungen betrachtete, wurde sein Blick hart. »Es ist ein Elend mit ihm. Als wenn er nichts Besseres mit seiner Zeit anfangen könnte«, stieß er verärgert hervor.

»Darf ich die Zeichnungen sehen?«, fragte Agatha und streckte die Hand aus.

»Nein.« Frederic schob die Papiere wieder in die Mappe und warf sie in den Papierkorb.

»Aus welchem Grund muss sich Paul eigentlich alle diese Schikanen gefallen lassen?«, fragte Agatha widerborstig.

»Sie hat recht, Vater.« Sogleich machte er sich Agathas Vorstoß zunutze. »Warum muss ich ständig seine Streiche ertragen? Wir sind doch keine kleinen Kinder mehr! John will sich einfach nicht wie ein Erwachsener benehmen, und doch kann er über alles Geschäftliche bestimmen.«

Frederic lächelte zynisch. »Vergiss nicht: Du trägst hier in Charmantes die Verantwortung, und John hat in Virginia das Sagen.«

»Das ist nicht ganz richtig. John trifft außerdem alle übergeordneten Entscheidungen, auch wenn sie nichts mit Virginia zu tun haben. Zum Beispiel ändert er eigenmächtig die Schiffsrouten und verursacht damit ein Durcheinander, wie wir es noch nie hatten. Postschiffe müssen die Güter auf die Insel transportieren.«

Frederic nickte nur und schwieg.

Aber so schnell konnte Paul sich nicht beruhigen. »Außerdem wissen wir beide, dass er die finanziellen Mittel kontrolliert, die Auswirkungen auf deinen gesamten Besitz haben.«

»Das liegt allein daran, dass er in Virginia lebt.« Frederic faltete die Hände und legte sie an die Lippen. »Was soll ich deiner Meinung nach tun?«

»Streiche ihn aus deinem Testament«, mischte sich Agatha in das Gespräch. »Damit er erkennt, wohin seine Spielchen führen.«

»Wirklich? Glaubst du wirklich, dass wir Probleme haben?« Frederic legte eine kleine Pause ein, um die Frage wirken zu lassen. »Wir brauchen John in Virginia. Trotz seiner Fehler erledigt niemand die Aufgaben unseres Unternehmens dort so gut, wie John das tut. Und was das Streichen seines Namens aus dem Testament angeht – John hat Spaß an seinen Scherzen und außerdem ein monopolistisches Interesse an den Geschäften der Duvoisins. Kannst du dir vorstellen, welche Spielchen er sich erst ausdenken würde, wenn er auch nur ahnte, dass Paul der Einzige ist, den er damit trifft? Das kann man sich kaum vorstellen. Das wäre ein gefundenes Fressen für ihn.«

So hatte Paul die Sache noch nie betrachtet. Sein Vater war ein kluger Mann. Er sah, wie Agatha nach einer vernünftigen Entgegnung suchte. Zwischen Tante und Neffe gab es keine Liebe. Agatha mochte John nicht, und ihr war sehr recht, dass er in Virginia lebte. Seit ihrer Hochzeit mit Frederic sorgte sie sich vermutlich um ihre Zukunft, wenn John eines Tages das Erbe seines Vaters antreten würde. Insgeheim grinste Paul, als er sich vorstellte, wie John die Gute aus dem Haus oder sogar von der Insel verbannte. Agatha befand sich auf der Suche nach einem Verbündeten, und dazu hatte sie sich Paul erkoren. Aber das Imperium der Duvoisins konnte nicht auf John verzichten, und solange er in Virginia lebte, war er auch der offizielle Erbe.


Da Yvette lange nicht zurückkam, verließ Charmaine das Kinderzimmer, um nach ihr zu sehen. Sie klopfte an der Tür zur Toilette. »Yvette? Geht es dir gut?«

»Ich hatte Magenschmerzen, aber es geht schon besser. Ich komme in einer Minute.«

Kurz darauf kam sie, und Paul folgte ihr auf dem Fuße. Er brachte gute Neuigkeiten: Charmaine hatte die Zustimmung seines Vaters, und Agatha verzichtete darauf, die Position der Gouvernante infrage zu stellen.

Sofort meldete sich Yvette zu Wort. »Mademoiselle hat gesagt, dass ein Schiff angekommen ist. Hat es auch Briefe von Johnny mitgebracht?«

»Nein, von Johnny nicht«, antwortete Paul knapp. »Aber ich habe einen Brief für Miss Ryan. Es tut mir leid, ich habe ihn völlig vergessen.« Er griff in seine Hemdtasche.

Hastig nahm Charmaine den Umschlag in Empfang, der Lorettas Handschrift trug. Sie hatte seit Monaten nichts mehr von den Harringtons gehört und überflog den Inhalt.

»Was schreibt Mrs. Harrington denn?«, fragte Jeannette.

»Oh, sie berichtet von einer Eisenbahn.«

»Einer Eisenbahn?«

»Im letzten Jahr wurde viel darüber geredet. Aber ich habe die Stadt verlassen, bevor der Bahnhof fertig war. Mrs. Harrington ist zusammen mit ihrem Mann und Gwendolyn nach Fredericksburg gefahren, wo ihre beiden Söhne leben. Dabei haben sie direkt hinter der großen Lokomotive gesessen.«

Charmaine blickte von einem Gesicht zum nächsten, sogar Pierre schien sich für die Eisenbahn zu interessieren. In einem der Hefte, die Paul aus Europa mitgebracht hatte, hatten die Mädchen etwas über Dampflokomotiven gelesen. »Die Fahrt hat nur eine Stunde gedauert, obwohl Fredericksburg fünfzig Meilen entfernt liegt, und sie sind ohne Verspätung angekommen.«

»Wurde die Stadt nach Papa benannt?«, fragte Jeannette ganz unschuldig.

»Aber nein, mein Liebling«, antwortete Charmaine und half Pierre, der auf ihren Schoß klettern wollte.

»Ich möchte Johnny besuchen und auch einmal mit der Eisenbahn fahren«, sagte Yvette.

»Ich auch, ich auch«, rief Pierre begeistert.

Charmaine drückte den Jungen an sich. »Vielleicht fahren wir ja wirklich eines Tages hin«, sagte sie, doch als sie lächelnd zu Paul aufsah, bemerkte sie seine gerunzelte Stirn.


Samstag, 16. Juli 1837

Agatha ordnete die Papiere, die auf dem Schreibtisch ihres Mannes verstreut lagen. Frederic war bei den Kindern, sodass ihr ungefähr eine Stunde Zeit blieb, um Ordnung zu schaffen. Sie war überrascht, als sie plötzlich sein Testament in der Hand hielt. Hatte er es aus dem Safe genommen, weil er etwas daran ändern wollte? Hatten ihre Bemerkungen über John ihm etwa zu denken gegeben?

Sie hatte gerade fertig gelesen, als Frederic eintrat. Er überblickte die Situation sofort und war sehr verärgert. »Wie kannst du es wagen, in meinen persönlichen Sachen zu stöbern?«

Sie legte das Dokument mit dramatischer Geste zurück. »Ich habe nicht gestöbert, Frederic, sondern lediglich Ordnung gemacht. Das Testament lag mitten zwischen den Papieren. Als deine Frau hielt ich das nicht für ein Geheimnis. Aber offenbar habe ich mich geirrt.«

Frederics Zorn legte sich rasch. »Wenn du etwas wissen möchtest, dann frag mich einfach.«

In ihren Augen schimmerten Tränen. »Paul wird am Boden zerstört sein, wenn er das erfährt. Das ist dir doch klar, oder?«

»Wenn er was erfährt?«

Frederic verzog das Gesicht, als Paul plötzlich unter der Tür stand. »Agatha hat mein Testament gelesen«, sagte er zögerlich. »Darin ist Pierre als zweiter Erbe aufgeführt – nach John.«

Der Raum versank in beklommenem Schweigen. Ein Hauch von Verrat hing in der Luft, bis Paul sich räusperte und sich leicht stotternd von der Treulosigkeit seines Vaters distanzierte. »Aha … Nun ja, so gesehen macht es Sinn … Schließlich … ist er ein legitimer Sohn.«

»Paul …«, begann Frederic, doch sein bekümmerter Blick verhärtete sich, um Agatha am Reden zu hindern. »Du weißt genau, dass diese Ergänzung nichts mit legitimer oder illegitimer Geburt zu tun hat. Ich will nur euch dreien gerecht werden. Aus demselben Grund habe ich dir Espoir übereignet. Mein Testament ist nur eine Formalität. Ich bin außerdem dabei, ein neues Dokument …«

»Vater, du musst mir wirklich nichts erklären.« Paul ärgerte sich über seine Reaktion … und die Eifersucht, die ihn zu dieser bitteren Bemerkung hingerissen hatte. »Wie du schon gesagt hast, du hast mir Espoir übereignet, und obendrein hast du die ganze Unternehmung samt der Schiffe finanziert. Ich habe wahrlich kein Recht, mehr zu verlangen oder gar auf Pierre oder John eifersüchtig zu sein.«

»Trotzdem hätte ich dir sagen sollen, dass ich Pierre in das Testament aufgenommen habe. Es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren musstest.«

»Nein, Vater«, widersprach Paul, »du musst dich nicht entschuldigen, da du mir doch schon so viel gegeben hast.«

Sonntag, 30. Juli 1837

Frederic studierte die Dokumente, die er in der Hand hielt, und überschlug geübt die Zahlen. Schließlich legte er die Papiere zur Seite und bedachte seinen Sohn, der gespannt auf seine Meinung wartete, mit einem zufriedenen Lächeln. »Wie mir scheint, ist alles in bester Ordnung.«

Dem konnte Paul nur zustimmen. »Ich bin auch sehr zufrieden. Und ich bin überrascht, dass wir trotz der Übernahme der geplatzten Verträge im Januar keine Verzögerungen in Kauf nehmen mussten. Die Schiffsbauer halten sich genau an unseren Zeitplan. Sie waren sehr erleichtert, als ihnen jemand das benötigte Kapital zur Fertigstellung vorstrecken konnte. Damit haben wir ihre Leute in die Lage versetzt, wieder zu arbeiten, und gleichzeitig dafür gesorgt, dass sie solvent bleiben.«

Paul deutete auf die Unterlagen auf dem Schreibtisch. »Sobald du die restlichen Anweisungen unterschrieben hast, werde ich sie Mr. Larabee mit dem nächsten Schiff zukommen lassen. Dann kann er die letzten Anlagen auflösen und Edward Richecourt mit der weiteren Abwicklung beauftragen. Es war klug, mit den New Yorkern zusammenzuarbeiten. Obendrein hat es uns Glück gebracht. Die Angebote aus Newport’s News und Baltimore waren zwar vielversprechend, aber ich bin froh, dass ich doch noch in den Norden gefahren bin. Da der Bau der Schiffe zügig fortschreitet, werden sie in einem Drittel der Zeit fertig. Außerdem bekommen wir unsere drei Schiffe für hundertfünfzigtausend Dollar, obwohl die erste Berechnung auf einhundertachtzigtausend gelautet hat.«

»Und du bist nicht unzufrieden, dass du doch wieder Segelschiffe bestellt hast?«

»Nach dem, was Thomas Harrison berichtet hat, wird es noch Jahre dauern, bis die Vorteile des Dampfantriebs die Windkraft übertreffen. Schiffe mit Schaufelradantrieb sind zwar häufig schneller, aber dafür ist das Problem mit dem Treibstoff noch nicht zufriedenstellend gelöst. Nein, ich bin mit den Dreimastern sehr zufrieden. Der Rumpf sitzt hoch über dem Wasser, sodass sich die Fahrtzeiten auf See durch die ausgereifte Ingenieurskunst deutlich verringern lassen.«

Frederic nickte. »Und wie steht es mit dem diesseitigen Ende unserer Unternehmungen? Werden die Anlagen in Espoir pünktlich fertig werden?«

»Ich habe den Hafen erweitert, sodass zwei Schiffe gleichzeitig anlegen und laden oder löschen können. Außerdem ist das Haus so gut wie fertig. Der Architekt hat sich als fähiger Mann entpuppt. Vor zwei Monaten ist er mit einer Liste nach Europa gereist, um in meinem Auftrag Möbel und andere Einrichtungsgegenstände zu besorgen. Die werden später auf der Jungfernfahrt der Schiffe nach Espoir gebracht. Was die Insel selbst angeht, so ist sie zur Hälfte gerodet, und drei Felder wurden bereits angelegt. Im nächsten Jahr können wir dann im monatlichen Rhythmus ein Feld nach dem anderen bearbeiten.«

»Womöglich müssen wir die Flotte auch noch einmal aufstocken«, meinte Frederic lächelnd.

»Wir sollten erst einmal abwarten, was die ersten Fahrten einbringen«, riet Paul.

Frederics Lächeln wurde immer breiter. Dieser Sohn hatte einen klugen Kopf. »Ich bin stolz auf dich, Paul. Sehr stolz sogar. Trotz der schlimmen Ereignisse der letzten vier Monate hast du ein gewaltiges Arbeitspensum geschafft und neben der Entwicklungsarbeit auf Espoir auch noch auf Charmantes für Ordnung gesorgt. Das war sicher nicht einfach, aber du bist vor keiner Verantwortlichkeit zurückgeschreckt. Und das, obgleich du auf George Richards’ hilfreiche Hand verzichten musstest.«

Paul runzelte die Stirn. Er hatte Georges Abwesenheit mit keinem Wort erwähnt und fragte sich, woher sein Vater davon erfahren hatte. Dass Travis etwas gesagt hatte, bezweifelte er.

»Ich weiß davon«, sagte Frederic nur. »Wann erwartest du ihn zurück?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Weißt du, dass er nach Virginia gefahren ist?«

»Das habe ich gehört.«

»Was glaubst du, was geschehen wird?«

»Ich weiß es nicht.« Sein Vater rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ich weiß es einfach nicht.«

»Wenn bis jetzt nichts passiert ist, kommt George vielleicht doch allein zurück.«

Frederic schwieg und starrte gedankenvoll in die Ferne. Dann nahm er die Papiere noch einmal in die Hand und blickte darauf. »Ich weiß, dass du wegen meines Testaments und der Einsetzung deines kleinen Bruders verletzt warst«, sagte er. »Doch ich möchte, dass du etwas weißt: Mir ist sehr wohl bewusst, welcher Sohn mir hier zur Seite steht und wem ich den enormen Ernteertrag auf Charmantes trotz der brachliegenden Zuckerfelder verdanke. Aus diesem Grund habe ich dir auch Espoir anvertraut und in die Zukunft der Insel investiert. Es ist mir wichtig, dass du, wenn ich eines Tages sterbe, deinen festen Teil an dem Vermögen besitzt, das du mitaufgebaut hast.«

Paul war wegen des Lobs verlegen. »Ich danke dir, Vater.«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihre Unterhaltung. »Komm herein, Agatha«, rief Frederic. »Ich muss ohnehin etwas mit dir besprechen.«

Obwohl Agatha angesichts der fröhlichen Begrüßung nichts Böses vermutete, blieb sie skeptisch. Frederic schmunzelte. »Ich denke schon seit einiger Zeit über einen Plan nach. Doch was die Einzelheiten angeht, so könnte ich etwas Unterstützung gebrauchen. Ich bin sicher, dass mein Plan deine Zustimmung findet.« Er atmete tief ein und setzte sich dann in seinem Sessel zurecht. »Paul hat soeben angekündigt, dass seine Schiffe noch vor Weihnachten ihre Jungfernfahrt absolvieren. Richtig?«

Paul erwiderte: »So ist es.«

»Also, hier ist nun mein Vorschlag: Über die Weihnachtstage plane ich hier auf Charmantes ein großes Fest.«

»Ein Fest?« Paul und Agatha waren erstaunt.

»Genau.« Frederic sah seinen Sohn an. »Deinen Angaben zufolge dauert es noch ungefähr ein Jahr, bis die Produktion auf Espoir voll angelaufen ist. Da wäre es doch dumm, die Schiffe in der Zwischenzeit halb leer über den Atlantik fahren zu lassen. Aus diesem Grund will ich Paul Duvoisin und sein Handelsunternehmen der Öffentlichkeit vorstellen und den Tabak-, Mais- und Kakaofarmern und ihren Agenten in Virginia und in der Karibik unsere Transportmöglichkeiten bekannt machen.«

Er legte eine kleine Pause ein und freute sich an den Reaktionen. Agatha zwinkerte wie immer, wenn sie aufgeregt war, und Paul schien wie vom Donner gerührt.

»Warum unsere finanziellen Mittel auf eine Karte setzen? In den kommenden Jahren wird Espoir sicher gute Ernten einbringen, aber ebenso gut könnten auf Dauer die Schiffe profitabler sein, und bei Bedarf könnten jederzeit neue in Auftrag gegeben werden. Je mehr Bedarf, desto besser.«

Agatha war begeistert. »Das ist eine wunderbare Idee, Frederic. Einfach wunderbar! Wenn Paul in dieses Geschäft einsteigt, sollten alle einflussreichen Leute es erfahren. Und was ist da besser, als sie alle zu einem unvergesslichen Ereignis nach Charmantes einzuladen?«

»Sehr richtig«, bekräftigte Frederic. »Und zwar denke ich an eine ganze Woche, um unsere Aktivitäten auf Espoir zu enthüllen, Pauls Schiffe zu taufen und die ersten Verträge zu unterzeichnen. Wir werden alle bekannten Geschäftsleute, Agenten und erfolgreichen Farmer aus Virginia und den Westindischen Inseln einladen. Sollen sie nur sehen, was die Duvoisins geschaffen haben, und unseren Erfolg bewundern. Wir laden sie ein, sich an unseren Transportgesellschaften zu beteiligen oder, besser noch, gleich in neue Schiffe zu investieren.«

»Sie werden sich die Finger danach lecken«, bemerkte Agatha dramatisch.

Frederic nickte. »Wenn alle Verbindungen geknüpft sind, werden wir die Woche mit einem großen Dinner und einem Ball ausklingen lassen.«

Paul stöhnte. »Was soll ich dazu sagen, Vater?«

»Ich nehme an, du stimmst mir zu?«

»Das tue ich von ganzem Herzen, aber …« Er verstummte, weil er an Frederics Gesundheit gedacht hatte.

»Ja?«, fragte Frederic.

»Fühlst du dich denn stark genug, um alle diese Anstrengungen auf dich zu nehmen?«

»Und wie stark ich mich fühle, mein Sohn«, versicherte Frederic. »Für dich ist mir nichts zu viel. Als Erstes werde ich an Larabee und Richecourt schreiben, dass sie mir die Namen von Leuten nennen. Und wenn die Einladungen verschickt sind und erste Zusagen eintreffen, verlasse ich mich auf dich, liebe Agatha, dass du die weiteren Planungen in die Hand nimmst. Das kannst du doch, nicht wahr?«

»Absolut«, schnurrte sie.

»Dann wäre das also ausgemacht. Ich habe nur Hemmungen, dass ich dir damit noch mehr Arbeit aufbürde, mein Sohn.«

»Ganz im Gegenteil, Vater«, entgegnete Paul. »Auf Espoir hat sich inzwischen eine gewisse Routine eingestellt, und die Aufseher arbeiten gewissenhaft. In ein paar Wochen sollte ich in der Lage sein, die Produktion von Charmantes aus zu überwachen und nur noch einen Tag in der Woche hinzufahren. Was das Fest angeht …« Wieder schüttelte er verwundert den Kopf. »… so werden Agatha und du damit sehr viel mehr Arbeit haben als ich. Ich bin noch immer sprachlos vor Überraschung! Eine wirklich wunderbare Idee!«

Als Frederic später allein war, seufzte er und war seit Monaten zum ersten Mal wieder glücklich.


Charmaine betrat den großen Wohnraum. Pierre war endlich eingeschlafen, und nun wollte sie die Mädchen holen. Doch die beiden bettelten, dass sie noch aufbleiben und ein Duett auf dem Piano spielen wollten. Als Paul lächelte, gab sie nach. An diesem Abend war er zum ersten Mal seit Wochen nach dem Essen nicht sofort wieder an die Arbeit geeilt, und für seine Verhältnisse war er sowohl beim Essen als auch jetzt liebenswürdiger als sonst. Wenn sie darauf bestünde, die Mädchen zu Bett zu bringen, hätte sie nachher keine Ausrede mehr, um noch einmal herunterzukommen. Also wollte sie aus den nächsten Minuten das Beste machen!

Zu ihrem Leidwesen waren sie allerdings nicht allein. Agatha saß über eine Stickerei gebeugt, und Rose strickte. Kurz entschlossen ging Charmaine zum Sofa hinüber und setzte sich neben Paul, der vor Staunen große Augen machte.

Im nächsten Moment lehnte er sich jedoch entspannt zurück und legte seinen Arm auf die Lehne. »Ist das nicht ein netter Abend?«, flüsterte er.

Sie errötete.

»Ich wünschte, ich wäre öfter zu Hause«, sagte er.

»Müssen Sie morgen wieder nach Espoir zurück?«

»Leider ja. Aber die Arbeit geht gut voran, und das Haus ist auch schon fast fertig. Es dauert nicht mehr lange, bis ich mich weitgehend auf meine Aufseher verlassen kann. Dann werden Sie wieder mehr von mir zu sehen bekommen.« Er rutschte ein Stückchen näher. »Würde Ihnen das denn gefallen?«

Sie errötete. Das war Antwort genug. Ihre Unschuld und ihre Verlegenheit weckten lustvolle Gefühle in ihm, und genau das gefiel ihm an ihr.

Wenig später stand Rose auf und wünschte allen eine gute Nacht. Charmaine und die Mädchen folgten ihr. Paul sah ihnen einen Augenblick lang nach, bevor er sich wieder seiner Zeitschrift zuwandte.

Agatha hob den Kopf. Sie waren allein. Eine unerwartete Gelegenheit. Sie legte die Stickerei aus der Hand und sah Paul nachdenklich an. Er sah gut aus und war seinem Vater so ähnlich. »Paul«, begann sie und ertrug sogar das ärgerliche Stirnrunzeln, als er seinen Blick von der Zeitschrift hob. »Ich weiß, dass du mich nicht ausstehen kannst.«

Er wollte widersprechen, aber sie winkte ab. »Bitte, erlaube, dass ich sage, was ich sagen möchte. Danach kannst du dann antworten.«

Paul beugte sich aufmerksam nach vorn.

»Ich habe gemerkt, dass du mit der Hochzeit deines Vaters nicht einverstanden warst. Aber ich möchte ihn glücklich machen. Wirklich glücklich. Ich liebe ihn schon sehr lange.«

»Seit ich ein kleiner Junge war«, sagte er.

»Das stimmt. Aber damals war ich nicht frei, um ihn zu heiraten.« Zerknirscht nagte sie an ihrer Unterlippe. »Verurteile mich nicht zu hart, Paul. Thomas Ward, Gott schenke seiner Seele Frieden, war ein guter Mann, und ich habe ihn geliebt. Aber ich habe ihn nie so sehr geliebt wie deinen Vater.«

»Und?«

»Ich hoffe sehr, dass wir beide zu einer Übereinkunft kommen können.«

»Zu welcher Art von Übereinkunft?«

»Ich mag dich, Paul. Als ich noch jung war und öfter zu Besuch kam, warst du immer höflich, immer respektvoll – so ganz anders als dein Bruder.« Sie rümpfte ein wenig die Nase und schwieg einen Moment. »Ich freue mich, dass dein Vater mich in diese Pläne einbezogen hat, und es würde mich noch mehr freuen, wenn sein Projekt deine kühnsten Träume noch in den Schatten stellte. Doch am allerwichtigsten ist mir, dass du mit meiner Hilfe einverstanden bist.«

»Mir ist jede Anstrengung willkommen, die zum Erfolg der Aktion beiträgt, Agatha. Ich bin froh, dass mein Vater wieder Pläne schmiedet. Und wenn diese Einladung den Anlass dazu bietet, umso besser. Ebenso froh bin ich, wenn Sie ihm aus seiner augenblicklichen Lage heraushelfen.«

»Ich danke dir, Paul.« Ihr Lächeln war geradezu … liebenswert. »Ich bin überzeugt, dass du deinen Weg machst. Ein so gut aussehender junger Mann wie du …« Sie ließ den Satz unvollendet … Schließlich erhob sie sich und wünschte ihm eine gute Nacht.

Zum zweiten Mal an diesem Tag war Paul verblüfft und sprachlos.