Kapitel sieben

Da Eleanor gegen den Rat ihres Befehlshabers mit ihrer kleinen Truppe zum Wormhold Tower gezogen war, hatten sie ihr Ziel, nämlich zu dem größeren Rebellenheer zu stoßen, das in Oxford auf sie wartete, nicht erreichen können.

Jetzt wurde das Wetter schlechter, und Schwyz wollte die Königin möglichst schnell zum Treffpunkt bringen – Heere lösten sich rasch auf, wenn sie zu lange untätig blieben, vor allem in der kalten Jahreszeit –, und der schnellste Weg war der Fluss. Die Themse floss mehr oder weniger direkt von Norden nach Süden durch die rund sieben Meilen freies Land, das zwischen Wormhold und Oxford lag.

Da die Königin und ihre Dienerschaft vom letzten Lager aus geritten waren und Schwyz und seine Männer sie zu Fuß begleitet hatten, mussten Boote aufgetrieben werden. Und man hatte welche aufgetrieben. Ein paar. Wenn auch nicht die besten. Sie mussten genügen, um die wichtigsten Mitglieder des königlichen Gefolges und ein Kontingent von Schwyz’ Männern zu befördern, aber auch nicht alle.

Die niedrigeren Diener und der größte Teil der Soldaten würden für den Weg nach Oxford den Treidelpfad nehmen, was erheblich länger dauern und beschwerlicher werden würde als die Fahrt mit dem Boot. Außerdem mussten sie dabei die Pferde und Maultiere mitführen, die die Königin und ihr Gefolge mitgebracht hatten.

All das bekam Adelia mit, als sie in den untersten Raum des Turms kam, wo jetzt laute Befehle und Erklärungen das Chaos noch verschlimmerten.

Ein Soldat goss Öl auf einen großen Haufen aus zerschlagenem Mobiliar, während umherhastende Diener ihn anschrien, er solle mit dem Anzünden noch warten, bis sie die Truhen und Reisekisten und Kästen weggebracht hatten, die erst Stunden zuvor in den Wachraum geschleppt worden waren. Eleanor reiste mit großem Gepäck.

Schwyz brüllte sie an, alles zurückzulassen. Weder diejenigen, die in den wenigen Booten Platz finden würden, noch diejenigen, die über Land nach Oxford ziehen mussten, durften viel mitnehmen.

Entweder hörten sie ihn nicht, oder sie nahmen ihn nicht ernst. Er geriet noch mehr in Rage, als Eleanor partout nicht auf diese Dienerin oder jenen Diener verzichten wollte und die Auserwählten, auf die man sich schließlich geeinigt hatte, dann einfach nicht stillstanden, um sich zählen zu lassen. Das Problem schien teilweise darin zu bestehen, dass die Aquitanier kein Vertrauen in die Ehrlichkeit ihrer militärischen Verbündeten hatten. Eleanors Zofe kreischte, die königliche Garderobe könne doch keinen sales mercenaires anvertraut werden, und ein Mann, der anscheinend der Küchenmeister war, weigerte sich, auch nur einen einzigen Topf als mögliche Diebesbeute für die Soldaten zurückzulassen. So kam es, dass die Aquitanier im Gefolge der Königin lautstark streitend hin und her hasteten, um noch mehr Gepäck zu holen, von dem ohnehin nichts mitgenommen werden konnte, während sich Soldaten draußen vor dem Turm mit steif gefrorenem Zuggeschirr abmühten, die Pferde und Maultiere vorzubereiten.

 

In diesem Moment beschloss Adelia, dass sie, komme was da wolle, versuchen würde, zu dem Treidelpfad zu gelangen – und zwar schnell. Bei diesem Tohuwabohu würde niemand merken, wenn sie verschwand, und mit Glück und Gottes Gnade könnte sie es zu Fuß zurück zum Kloster schaffen.

Doch zuerst musste sie Rowley, Jacques und Walt finden.

Sie blieb auf der Treppe stehen und schaute sich das hektische Treiben an. Die drei waren nirgends zu sehen, man hatte sie wohl nach draußen gebracht. Dafür sah sie etwas anderes: eine schwarze Gestalt, die sich im Schatten der Mauer hielt, während sie sich Richtung Treppe bewegte, und zwar seltsam hüpfend, weil ihre Füße gefesselt waren. Der Strick, den man ihr um den Hals gelegt hatte, pendelte hin und her.

Adelia wich in das dunkle Treppenhaus zurück, und als die Gestalt auf den ersten Absatz gehüpft kam, packte sie ihren Arm. »Nein«, sagte sie.

Die Fesseln an Händen und Füßen der Haushälterin waren so straff, dass sie eine normale Frau zurückgehalten hätten, doch wer auch immer sie ihr angelegt hatte, er hatte nicht mit dem Abnormen gerechnet: Dakers war von dort, wo die Wachen sie allein gelassen hatten, weggehüpft, um wieder zu ihrer Herrin oben im Turm zu gelangen. Und dazu war sie nach wie vor fest entschlossen. Dakers sträubte sich mit aller Kraft, um Adelia abzuschütteln, ohne dass irgendwer mitbekam, wie die beiden Frauen miteinander rangen.

»Ihr werdet brennen«, zischte Adelia, »um Gottes willen, wollt Ihr wirklich mit ihr verbrennen?«

»Ja-a-a.«

»Das lasse ich nicht zu.«

Die Haushälterin war die Schwächere von beiden. Sie gab auf und drehte sich zu Adelia um. Sie war grob behandelt worden, ihre Nase blutete, und ein Auge war dick angeschwollen. »Lasst mich gehen, lasst mich gehen. Ich will bei ihr sein. Ich muss bei ihr sein.«

Wie verrückt. Wie traurig. Ein Soldat bereitete das Niederbrennen des Turms vor, die Diener hatten nur ihre eigenen Sorgen im Kopf.

Keinen kümmerte es, ob die verhinderte Mörderin der Königin in den Flammen umkam oder nicht, und die meisten hätten Ersteres vielleicht sogar begrüßt.

Das können sie nicht machen, sie ist wahnsinnig. Einer der Gründe, warum Adelia England liebte, war der, dass kein Gericht des Landes Dakers wegen des Mordanschlags auf die Königin zum Tode verurteilen würde, wenn es sah, wie es um ihre geistige Verfassung bestellt war. Eleanor selbst hatte sich daran gehalten. Nehmt die Frau in Gewahrsam, das ja, aber das vernünftige alte Diktum furiosus furore solum punitur (der Wahnsinn der Verrückten ist Strafe genug) verlangte, dass jeder, der einmal Vernunft besessen und durch Krankheit, Trauer oder sonstige Katastrophen die Fähigkeit zu vernünftigem Handeln verloren hatte, von der Schuld seines Verbrechens freigesprochen werden musste.

Es war eine Regel, die allem entsprach, woran Adelia glaubte, und sie würde nicht zulassen, dass sie umgangen wurde, auch wenn Dakers selbst nur allzu bereit dazu war und neben Rosamunds Leichnam in den Flammen sterben wollte. Das Leben war heilig. Niemand wusste das besser als eine Ärztin, die sich mit dem Tod befasste.

Die Frau wollte sich erneut losreißen. Adelia packte noch fester zu, obwohl sie körperlichen Ekel empfand. Sie, die Leichen nie abstoßend fand, war angewidert von diesem lebenden Körper, den sie jetzt so eng an sich drückte, von seiner Magerkeit – es war, als umarmte sie ein Bündel Stöcke –, von seiner Leidenschaft für den Tod.

»Wollt Ihr sie denn nicht rächen?« Sie sagte das, weil ihr nichts Besseres einfiel, um die Frau zu beruhigen, doch für einen Moment kehrte ein Anflug von Klarheit in die Augen zurück, die sie anfunkelten.

Der Mund hörte auf zu fauchen. »Wer war es?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber eines kann ich Euch sagen, es war nicht die Königin.«

Wieder ein Fauchen. Dakers glaubte ihr nicht. »Sie hat einen Mörder bezahlt.«

»Nein.« Adelia fügte hinzu: »Und Bertha war es auch nicht.«

»Das weiß ich.« Verächtlich.

Plötzlich war eine seltsame Nähe zwischen ihnen. Adelia spürte, wie sie in die Überlegungen der Frau einbezogen wurde, sofern bei ihr überhaupt von Überlegung die Rede sein konnte, sah, wie ihr Wert als Verbündete in Betracht gezogen, verworfen und dann wieder abgewogen wurde. Schließlich war sie ja auch die einzige Verbündete.

»Ich finde Dinge heraus. Das ist meine Arbeit«, sagte Adelia und lockerte ihren Griff ein wenig. Sie kämpfte ihren Abscheu nieder und rang sich zu einem Vorschlag durch. »Kommt mit mir, und wir gehen der Sache gemeinsam auf den Grund.«

Wieder wurde sie abgeschätzt, für unzulänglich befunden, erneut abgeschätzt und dann als möglicherweise nützlich eingestuft.

Dakers nickte.

Adelia tastete in ihrer Tasche nach dem Messer, schnitt den Strick um die Fußknöchel der Haushälterin durch und zog ihr die Schlinge, die sie um den Hals hatte, über den Kopf. Sie stockte, unsicher, ob sie ihr auch die Hände losbinden sollte. »Versprecht Ihr es mir?«

Das eine noch offene Auge blinzelte sie an. »Ihr findet es heraus?«

»Ich werde es versuchen. Deshalb hat mich der Bischof von St. Albans mit hergebracht.« Nicht sehr beruhigend, dachte sie, wenn man bedachte, dass der Bischof von St. Albans diesen Ort jetzt als Gefangener verließ und Armageddon drohte.

Dakers streckte ihr die mageren Handgelenke entgegen.

Schwyz hatte den Wachraum verlassen, um draußen auf dem Hof für Ordnung zu sorgen. Einige der Diener waren mit ihm gegangen. Die wenigen, die noch verweilten, waren nach wie vor damit beschäftigt, ihre Sachen zusammenzusuchen, daher achteten sie nicht auf die beiden Frauen, die sich nach draußen schlichen.

Auf dem Burghof war das Chaos ebenso groß. Adelia zog Dakers die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf und setzte dann ihre eigene auf, damit sie bloß zwei weitere dunkle Gestalten in dem allgemeinen Durcheinander waren.

Ein aufkommender Wind sorgte für eine noch höhere Lautstärke und trieb kleine Wolken von Schneeflocken vor sich her, die nur langsam schmolzen. Das Mondlicht kam und ging wie eine flackernde Kerze.

Unbeachtet, Dakers’ Arm festhaltend und gefolgt von Wächter, bewegte sich Adelia auf der Suche nach Rowley durch das Treiben. Sie entdeckte ihn auf der anderen Hofseite und sah mit Erleichterung, dass Jacques und Walt bei ihm waren, alle drei aneinandergefesselt. In ihrer Nähe debattierte der Abt von Eynsham mit Schwyz darüber, was mit ihnen geschehen sollte, und seine Stimme übertönte den Wind und das Chaos. »… ist mir egal, du Tyrann, ich muss wissen, was sie wissen. Die kommen mit.« Schwyz’ Erwiderung war nicht zu verstehen, doch Eynsham hatte sich durchgesetzt. Die drei Gefangenen wurden grob zu dem Menschengedränge am Tor bugsiert, wo Eleanor gerade Anstalten machte, auf ein Pferd zu steigen.

Verdammt, verdammt. Sie musste mit Rowley sprechen, ehe sie getrennt wurden. Natürlich unbemerkt, was sich mit einer gescheiterten Attentäterin im Schlepptau noch schwieriger gestalten würde … dennoch wagte sie es nicht, Dakers’ Hand loszulassen.

In diesem Moment lachte Dakers, zumindest erklang unter der Kapuze, die ihr Gesicht umhüllte, ein leises, gackerndes Geräusch.

»Was ist?«, fragte Adelia und merkte, dass sie Rowley und die anderen aus den Augen verloren hatte. »Ach, seid still.«

In quälender Unentschlossenheit zog sie die Frau zu dem Torbogen, durch den man in den äußeren Hof und zum Eingang des Irrgartens gelangte. Der Wind ließ die Mäntel der herumhastenden Diener immer wieder aufflattern, so dass der goldene Löwe von Aquitanien auf ihren Wappenröcken im Fackelschein aufglänzte. Soldaten in ihren fest geschlossenen wattierten Jacken versuchten, Befehle zu geben, rissen unnötige oder zu schwere Gegenstände aus widerspenstigen Armen und hinderten ihre Besitzer daran, erneut danach zu greifen. Nur Eleanor war ruhig, hielt ihr Pferd mit einer Hand im Zaum und schirmte mit der anderen die Augen ab, um das Geschehen zu beobachten. Ihr Blick war suchend.

Sie sah Wächter, der sich wie ein kleines schwarzes Schaf gegen den Schnee abhob, und zeigte mit einem behandschuhten Finger auf das Tier, während sie Schwyz einen Befehl gab. Schwyz schaute in die Richtung und deutete dann selbst darauf. »Cross, die da«, rief er einem seiner Männer zu. »Nimm sie mit. Die mit dem Hund.«

Adelia wurde gepackt und auf ein Maultier gehoben. Sie wehrte sich, wollte Dakers’ Hand nicht loslassen.

Der Mann namens Cross entschied sich für den Weg des geringsten Widerstands und hob Dakers ebenfalls auf das Tier, wo sie sich an Adelias Rücken presste. »Und bleibt schön da sitzen«, schrie er sie an. Mit einer Hand am Zaumzeug drückte er den Körper gegen Adelias Bein und führte seine Schützlinge durch den Torbogen in den äußeren Hof, wo er wartete, bis der Rest des Reiterzuges zu ihnen stieß.

Eleanor ritt an die Spitze, Eynsham dicht hinter ihr. Vor ihnen lag das offene Tor des Irrgartens wie ein gähnendes schwarzes Loch.

»Reitet geradewegs hindurch, Königin meines Herzens«, rief der Abt ihr fröhlich zu. »So gerade wie der Pflug meines alten Papas.«

»Geradewegs?«, rief die Königin zurück.

Er breitete die Arme aus. »Habt Ihr mir nicht befohlen, die Geheimnisse der Hure zu erkunden? Und hab ich das nicht prächtig getan?«

»Es gibt einen direkten Weg hindurch?« Eleanor lachte. »Abt, mein lieber Abt. ›Und was krumm ist, soll gerade werden …‹«

»›… und was hügelig ist, werde eben‹«, sprach er für sie zu Ende. »Der alte Jesaja war ein kluges Kerlchen. Ich bin sein ergebener Diener, und der Eure. Wohlan, meine Königin, und der Weg des Herrn wird Euch durch das Dickicht der Hure führen.«

Noch immer lachend, ritt Eleanor hinter einigen ihrer Männer, von denen einer eine Laterne hielt, in den Irrgarten hinein. Der Rest des Zuges folgte.

Hinter ihnen rief Schwyz wieder einen Befehl, und eine brennende Fackel flog im hohen Bogen durch die Luft auf das angehäufte Brennholz im Wachraum …

Der Abt hatte recht. Der Weg durch den Irrgarten verlief jetzt schnurgerade. Schmale Wege öffneten sich direkt in die nächsten. Vermeintlich unüberwindbare Hecken entpuppten sich als getarnte und nun offenstehende Türen.

Alles Geheimnisvolle war verschwunden. Der Wind zerriss die Stille des Irrgartens, und die Hecken um sie herum bogen und schüttelten sich wie ganz alltägliches, windgepeitschtes Strauchwerk. Irgendeine heimtückische Essenz war verflogen, und Adelia war nicht traurig darum. Wenn man diesem seltsamen Abt glauben konnte, der beteuerte, ein glühender Verehrer der Königin zu sein, hatte Rosamund selbst ihm diesen geheimen Weg verraten, und das fand Adelia bemerkenswert.

»Kennt Ihr diesen Mann?«, fragte sie über die Schulter. Sie zuckte zusammen, als sie spürte, wie sich Dakers’ magere Brust an ihrem Rücken auf und ab bewegte, als die Haushälterin wieder kicherte.

»Hält sich für besonders schlau.« Es war weniger eine Antwort als vielmehr eine Art Selbstgespräch. »Bildet sich ein, er hat unsere Schlange besiegt. Soll er ruhig, aber die hat noch immer ihre Giftzähne.« Vielleicht war es Ausdruck ihres Wahns, dachte Adelia, dass in ihrer Stimme kein Hass auf den Mann zu hören war, der, wie er selbst gestanden hatte, Rosamund in ihrem Turm besucht hatte, um sie an die Königin zu verraten.

Nach kurzer Zeit waren sie durch den Irrgarten hindurch. Cross schimpfte fürchterlich auf das Maultier und zwang es in den Trab, so dass Adelia und Dakers unsanft auf dem sattellosen Rückgrat durchgeschüttelt wurden, als das Tier den Hügel hinauflief.

Der Wind nahm an Stärke zu und trieb waagerechte Schneeschauer vor sich her, die immer wieder den Mond verdunkelten, der hoch am Himmel hing. Als sie den Hügelkamm erreichten, peitschte ihnen der Sturm heulend ins Gesicht.

Adelia schaute sich um und sah, wie Rowley, Jacques und Walt von den Speerspitzen der Männer hinter ihnen aus dem Irrgarten gestoßen wurden.

Dakers stieß einen gellenden triumphierenden Schrei aus. Sie hatte das Gesicht dem Turm zugewandt – eine schwarze, aufrechte und gleichgültige Silhouette vor dem Mond.

»So ist’s recht, so ist’s recht«, kreischte Dakers. »Satan, unser dunkler Herr, hat mich erhört, Liebste. Ich komme zu dir zurück, mein Herz. Warte auf mich.«

Der Turm brannte nicht. Inzwischen hätte er ein loderndes Fanal sein müssen, doch trotz der zerschlagenen Möbel, trotz des Öls, des Windes und einer Fackel hatte das Feuer nicht um sich gegriffen. Es war gelöscht worden, aber wie?

Seine Haupttür lag in Windrichtung, sagte Adelia sich. Der Wind hatte Schnee hineingetrieben und die Flammen erstickt.

Was er jedoch nicht ersticken konnte, das war das Bild vor ihrem geistigen Auge, wie die teuflisch konservierte Rosamund in diesem eisigen Turmzimmer auf die Rückkehr ihrer Dienerin wartete …

Die kleine Flotte auf dem Fluss war erbärmlich: Fischerboote, kleinere Kähne und ein alter Lastkahn, allesamt von Schwyz’ Männern vertäut entlang des Ufers gefunden und beschlagnahmt. Das einzige etwas größere Gefährt war die Barkasse, mit der Mansur und Oswald und die Männer aus Godstow den Fluss heraufgekommen waren. Adelia hielt nach Mansur Ausschau, und als sie ihn nirgends entdeckte, bekam sie Angst, dass die Soldaten ihn getötet hatten. Es waren rohe Männer. Sie erinnerten Adelia an so manche Nachhut von Kreuzfahrerheeren, die durch Salerno gezogen waren, allzeit bereit, jeden zu erschlagen, der anders aussah als sie selbst. Im Bug der Barkasse stand eine hohe Gestalt, doch der Mann trug einen Umhang mit Kapuze wie alle anderen auch und war in dem Schneetreiben nicht deutlich zu erkennen. Er könnte Mansur sein, aber auch ein Soldat.

Sie versuchte, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass Schwyz und seine Männer Söldner waren, denen es mehr um Beute ging als darum, einen Sarazenen zu erschlagen. Und gewiss war ihnen klar, dass sie jeden erfahrenen Bootslenker brauchen konnten, um nach Oxford zu kommen.

Das Chaos, das im Hof des Wormhold Tower geherrscht hatte, wurde nun noch verdoppelt, als Eleanors Leute sich darum stritten, ihre Königin auf die Barkasse aus Godstow zu begleiten, denn nur dieses Boot hatte eine Kajüte. Falls irgendwer zuständig war, für die Verteilung der Passagiere auf die Boote zu sorgen, so gelang ihm das nicht.

Der Söldner Cross, der auf Adelia und Dakers aufpassen sollte, wartete noch immer auf Befehle. Als ihm endlich klar wurde, dass es keine geben würde, war die Barkasse mit den Dienern und dem Gepäck der Königin schon bedenklich überladen. Er und die beiden Frauen wurden weggewinkt.

Fluchend hievte er sie auf das nächste Boot in der Reihe und warf sie beinahe ins Heck. Wächter sprang hinterdrein.

Es war ein Ruderboot. Ein offenes Ruderboot, das mit einem Tau ans Heck der Godstow-Barkasse gebunden war. Adelia schrie den Soldaten an: »Du kannst uns nicht hierlassen. Wir werden erfrieren.« Wenn sie in diesem Ding schutzlos dem schneidenden Wind ausgesetzt blieben, wären sie tot, ehe sie Oxford erreichten, und ebenso steif gefroren wie Rosamund.

Das Boot erbebte, als drei weitere Passagiere von einem anderen Wachmann hineingestoßen wurden, der hinter ihnen herstolperte. Eine tiefere Stimme als die Adelias, eine Stimme, die es gewohnt war, Gehör zu finden, übertönte den Wind: »In Gottes Namen, Mann, willst du uns umbringen? Besorg uns einen Windschutz. Frag die Königin, die Lady hier hat ihr das Leben gerettet.« Der Bischof von St. Albans saß mit ihr in einem Boot und unterstützte ihre Bitte. Und obwohl er noch immer an Jacques und Walt gefesselt war und mit vorgehaltenem Spieß bedroht wurde, hatte er dennoch Autorität.

»Ich hol ja schon was«, rief Cross zurück. »Hört auf zu jammern und setzt Euch hin. Vor die Frauen.«

Sobald sich alle zu seiner Zufriedenheit niedergelassen hatten, kam er mit einem großen Bündel an, das sich als ein altes Segel erwies, und er rief seinen Gefährten, den er mit Giorgio ansprach, damit der ihm half, es auszubreiten.

Ihre Manieren ließen zu wünschen übrig, aber er und sein Freund arbeiteten geschickt. Als der Wind drohte, ihnen das Segeltuch zu entreißen, mussten Dakers und Adelia sich an einem Ende darauf setzen, ehe es über ihren Rücken nach vorn gezogen wurde, so dass es sie beide ebenso bedeckte wie die drei Gefangenen und schließlich auch die zwei Soldaten, die vorn im Bug Platz nahmen. Ihre Bemühungen waren also nicht uneigennützig gewesen, sie kamen mit. Mit einer betont vielsagenden Geste legte Giorgio sich ein Stoßschwert über die Knie.

Das Segel war verdreckt, stank und drückte jedem von ihnen schwer auf den Kopf, und es war auch nicht breit genug. Als sie es so zogen, dass sie gegen den heulenden Wind auf der linken Seite geschützt waren, blieb auf der rechten Seite eine Lücke. Binnen kurzem hatte sich Eis darauf gebildet, das es steif machte, aber auch mit einer schützenden Schicht überzog. Es war ein notdürftiger Schutz.

Der Fluss wurde zu einer wütenden Gischt aufgepeitscht, die eisiges Wasser über das Dollbord trieb. Adelia hob Wächter auf ihren Schoß, deckte ihn mit ihrem Umhang zu und stützte die Füße gegen Rowleys Rücken, um sie aus dem Wasser zu halten – er saß auf der Ruderbank direkt vor ihr, auf der Steuerbordseite, wo die Lücke war. Jacques saß zwischen ihm und Walt.

»Geht es Euch gut?« Sie musste gegen das Heulen des Windes anbrüllen.

»Und Euch?«, fragte er.

»Bestens.«

Auch der Bote gab sich tapfer. Adelia hörte ihn sagen: »Bootsfahrt – mal eine nette Abwechslung.«

»Zieh ich dir vom Lohn ab«, entgegnete der Bischof. Walt schnaubte.

Für mehr reichte die Zeit nicht, denn die beiden Soldaten schrien sie an, sie sollten Wasser aus dem Boot schöpfen, »ehe das Scheißding absäuft«, und verteilten zu diesem Zweck Gefäße. Die drei Gefangenen bekamen richtige Schöpfeimer, während man den Frauen zwei Krüge in die Hand drückte. »Und strengt euch verdammt noch mal an.«

Adelia begann, Wasser zu schöpfen – wenn das Boot mit ihnen unterging, wären sie tot, ehe sie sich ans Ufer retten könnten. So schnell wie möglich kippte sie eisiges Wasser raus in den Fluss – und der Fluss kippte es zurück ins Boot.

Wenn sie durch die Lücke im Segel spähte, wurde der dahinjagende Schnee schwach von einer Lampe im Heck der Barkasse und einer im Bug des nachfolgenden Bootes erhellt. Das bisschen Licht genügte Adelia, um zu erkennen, mit was für einem jammervoll unpraktischen Krug sie gegen das Wasser kämpfte. Er war aus Silber und hatte kürzlich noch auf dem Tablett gestanden, auf dem ein Diener Essen für Eleanor in Rosamunds Zimmer getragen hatte. Die Aquitanier hatten recht gehabt: Die Söldner, zumindest die beiden bei ihr im Boot, waren Diebe.

Plötzlich packte Adelia eine unbändige Wut, die um den gestohlenen Krug kreiste, aber in Wahrheit mehr damit zu tun hatte, dass sie fror, müde und nass war, körperlich litt und um ihr Leben fürchtete. Sie herrschte Dakers an, die untätig war. »Nun schöpft schon, zum Donnerwetter.«

Die Frau rührte sich nicht, und ihr Kopf hing herab. Wahrscheinlich tot, dachte Adelia.

Auch Rowley wurde von Zorn übermannt. Er brüllte die zwei Soldaten an, sie sollten ihnen die Hände losschneiden, damit er und Jacques und Walt schneller schöpfen könnten – sie wurden dadurch behindert, dass sie das Wasser stets mit einer unbeholfenen Bewegung gleichzeitig aufschöpfen und über Bord gießen mussten.

Man sagte ihm, er solle aufhören zu jammern, doch kurz darauf spürte Adelia, wie das Boot noch stärker wackelte, und dann hörte sie die Männer vor ihr fluchen. Sie schloss aus ihren Schimpfereien, dass sie jetzt zwar voneinander losgeschnitten worden waren, aber jeder einzelne noch immer die Hände gefesselt hatte.

Dennoch, nun konnten die drei schneller schöpfen – und taten es auch. Adelia verlagerte ihre Wut auf Dakers, die einfach so gestorben war, nach allem, was sie, Adelia Aguilar, für sie getan hatte. »Undank ist der Welt Lohn«, knurrte sie und packte das Handgelenk der Frau. Zum zweiten Mal in dieser Nacht spürte sie einen schwachen Puls.

Sie beugte sich so weit vor, dass sie fast den Hund auf ihrem Schoß zerquetschte, und riss Dakers’ Füße aus dem Bilgewasser. Um sie zu wärmen, schob sie einen zwischen die Körper von Rowley und Jacques und den anderen zwischen Jacques und Walt.

»Wie lange sollen wir denn hier noch sitzen?«, schrie sie über deren Köpfe hinweg die Soldaten an. »Herrje, wann bewegen wir uns endlich?«

Aber der Wind brüllte lauter, als sie das vermochte. Die Männer hörten sie nicht. Rowley jedoch deutete mit einem Nicken auf die Lücke.

Sie spähte hinaus in den wirbelnden Schneevorhang. Sie bewegten sich, bewegten sich schon seit einer ganzen Weile und hatten gerade eine Biegung erreicht, wo ihnen offenbar ein Steilufer oder hohe Bäume etwas Schutz boten.

Sie wusste nicht, ob die Barkasse vor ihnen, an der sie angebunden waren, von Männern gestakt oder von einem Pferd gezogen wurde – es war jedenfalls für Mensch oder Tier eine grässliche Aufgabe. Wahrscheinlich wurde sie gestakt; sie schienen schneller voranzukommen als nur mit Schrittgeschwindigkeit. Der Wind in ihrem Rücken und die Strömung des Flusses trugen sie zusätzlich weiter, mitunter auch zu schnell – der Bug ihres Bootes stieß gegen das Heck der Barkasse, und die Soldaten wechselten sich darin ab, unter dem Schutz des Segels hervorzukriechen und mit einem Ruder Abstand zu halten.

Sie wusste auch nicht, wie weit es noch bis Oxford war, aber wenn sie weiter so gut vorankamen, konnte es bis Godstow nicht mehr allzu lange dauern – und dort musste sie irgendwie ans Ufer gelangen.

Nachdem dieser Entschluss gefasst war, fühlte Adelia sich ruhiger und wurde wieder zur Ärztin – zu einer Ärztin, die eine kranke Patientin zu versorgen hatte. Ihre extreme Wut war zum Teil darauf zurückzuführen gewesen, dass sie Hunger hatte. Ihr kam der Gedanke, dass Dakers wahrscheinlich noch hungriger war als sie, schon fast verhungert – in der Küche in Wormhold war nichts Essbares mehr gewesen, als sie sie erkundet hatten.

Adelia mochte ja die diebischen Söldner verurteilen, doch auch sie hatte Rosamunds Zimmer nicht mit leeren Händen verlassen; auf dem Tablett der Königin war noch Essen übrig gewesen, und sie hatte in harten Zeiten gelernt, sich immer dann mit Nahrung zu versorgen, wenn sich die Gelegenheit bot.

Und überhaupt, Rosamund würde es nicht vermissen.

Sie griff in ihre Tasche, holte den in einer Serviette eingeschlagenen Rest von Eleanors Kalbfleischpastete hervor und brach ein großes Stück ab, das sie Dakers unter die Nase hielt. Schon allein der Duft wirkte wie ein Stärkungsmittel; die Pastete wurde ihr aus den Fingern gerissen.

Sie passte auf, dass die Soldaten, die sie unter dem Segel kaum sehen konnte, nichts davon mitbekamen, als sie sich erneut vorbeugte und den Käse, den sie ebenfalls hatte mitgehen lassen, zwischen Jacques und Rowley schob, bis sie spürte, dass die gefesselten Hände von einem der beiden ihn ertasteten, ergriffen und ihr kurz zum Dank die Hand drückten. Als die Männer daraufhin kurz das Wasserschöpfen unterbrachen, wohl um heimlich den Käse aufzuteilen, wie Adelia vermutete, wurden sie prompt wieder von den Soldaten angeschnauzt.

Die restliche Kalbfleischpastete teilte sie zwischen sich und Wächter auf.

Danach blieb nur wenig zu tun, außer auszuharren und Wasser zu schöpfen. Mitunter hing das Segel so tief zwischen ihnen herab, dass einer der Männer von unten dagegenschlagen musste, um den Schnee abzuschütteln, der es immer schwerer werden ließ.

Der Pegel des Wassers, das unter ihren erhobenen Beinen schwappte, wollte einfach nicht sinken, ganz gleich, wie viel sie über Bord kippte. Jedes Ausatmen benetzte ihren Mantel, den sie bis unter die Nase gezogen hatte, und die Feuchtigkeit gefror augenblicklich, so dass ihre Lippen wund wurden. Das Segeltuch schabte über ihren Kopf, wenn sie sich bückte und wieder hochkam. Aber wenn sie aufhörte, würde die Kälte das Blut in ihren Adern erstarren lassen.

Schöpfe weiter, bleib am Leben, lebe, um Allie wiederzusehen.

Rowleys Ellbogen stieß gegen ihre Knie. Sie schöpfte weiter, vorbeugen, eintauchen, ausschütten, vorbeugen, eintauchen, ausschütten; sie tat es seit einer Ewigkeit und würde es weiter bis in alle Ewigkeit tun. Rowley musste sie noch einmal anstoßen, ehe sie merkte, dass sie aufhören konnte. Es kam kein Wasser mehr ins Boot.

Der Wind hatte nachgelassen. Eine gedämpfte Stille umgab sie, und ein schwaches Licht – war es Tag? – drang durch den Spalt im Segel, vor dem der Schnee so dicht fiel, dass das Auge den trügerischen Eindruck hatte, das Boot gleite durch von Schwanendaunen erfüllte Luft.

Von der Kälte, die gleichfalls durch die Lücke drang, waren Adelias rechte Seite und Schulter gefühllos geworden. Sie presste sich gegen Rowleys Rücken, um sich und ihm ein wenig Wärme zu verschaffen, und zog Dakers mit nach vorne, so dass die Haushälterin gegen Jacques lehnte.

Rowley wandte leicht den Kopf, und sie spürte seinen Atem an der Stirn. »Und?«

Adelia schob sich etwas höher, um über seine Schulter zu spähen. Obwohl der Wind sich etwas gelegt hatte, war die Strömung schneller denn je und drohte, das Ruderboot gegen die Barkasse zu schieben oder Richtung Ufer zu drehen.

Einer der Soldaten – sie glaubte, es war Cross, der Jüngere der beiden – war damit beschäftigt, den Zusammenstoß zu verhindern, und hatte den Schutz des Segels verlassen, das nun tief über seinem Gefährten hing, der schlaff auf der vorderen Ruderbank saß, entkräftet oder eingeschlafen oder beides.

Auch Walt oder Jacques bewegten sich nicht mehr. Dakers lehnte noch immer an Jacques’ Rücken.

Adelia schob Rowleys Kapuze mit der Nase von seinem Ohr weg und legte die Lippen daran: »Sie wollen Eleanors Banner in Oxford hissen. Sie glauben, die Midlands werden sich erheben und sich auf ihre Seite schlagen.«

»Wie viele Männer? In Oxford, wie viele Männer?«

»Eintausend, glaube ich.«

»Hab ich da vorhin am Turm Eynsham gesehen?«

»Ja. Wer ist das?«

»Hundsfott. Gerissen. Hat Einfluss beim Papst. Trau ihm nicht.«

»Schwyz?«, fragte sie.

»Hundsfott von Söldner. Erstklassiger Soldat.«

»Einer namens Wolvercote ist der Heerführer in Oxford.«

»Hundsfott.«

Damit waren also die Hauptakteure hinlänglich abgehandelt. In einer momentanen Aufwallung schmiegte sie ihr Gesicht an seine Wange.

»Hast du dein Messer dabei?«, fragte er.

»Ja.«

»Schneid diesen verdammten Strick durch.« Er schüttelte seine gefesselten Hände.

Sie schaute erneut zu dem Soldaten hinüber, der im Bug hockte. Er hatte die Augen geschlossen.

»Nun mach schon.« Rowleys Lippen bewegten sich kaum. »Ich steig nämlich gleich aus.« Als ob sie beide eine Vergnügungsfahrt machten und ihm gerade eingefallen wäre, dass die nächste Anlegestelle für ihn günstiger war.

»Nein.« Sie schlang die Arme um ihn.

»Lass mich«, sagte er, »ich muss Henry finden. Ihn warnen.«

»Nein.« In diesem Schneesturm würde keiner keinen finden. Er würde sterben. Im Sumpfland erzählte man sich Geschichten über diese Art von Sturm, von arglosen Kleinbauern, die sich hinausgewagt hatten, um ihre Hühner einzusperren oder eine Kuh hereinzuholen, und dann nicht mehr zurückfanden durch ein eisig wirbelndes Weiß, das ihnen die Sicht und den Orientierungssinn raubte, so dass sie nur wenige Schritte vor ihrer eigenen Haustür steif und tot endeten. »Nein«, wiederholte sie.

»Schneid den verdammten Strick durch.«

Der Soldat im Bug bewegte sich und murmelte: »Was macht ihr da?«

Sie warteten, bis er sich wieder beruhigt hatte.

»Willst du, dass ich mit gefesselten Händen verschwinde?«, hauchte Rowley.

Herrgott, wie sie ihn hasste. Und Henry Plantagenet hasste. Der König, immerzu der König, und wenn es mein Leben kostet, deines, das unseres Kindes, alles Glück.

Sie griff in ihre Tasche, umklammerte das Messer und erwog einen Moment lang ernsthaft, es ihm ins Bein zu stoßen. Dann könnte er nicht im Kreis herumirren und als Eishaufen auf irgendeinem Feld enden.

»Ich hasse dich«, sagte sie zu ihm. Tränen gefroren an ihren Wimpern.

»Ich weiß. Schneid den verdammten Strick durch.«

Sie schob die rechte Hand mit dem Messer weiter um ihn herum, beobachtete dabei den Mann im Bug, fragte sich, warum sie ihn nicht warnte, damit er Rowley festhielt …

Sie konnte nicht; sie wusste nicht, welches Schicksal Eleanor ihrem Gefangenen zugedacht hatte oder was, selbst wenn sie nichts Arges im Schilde führte, Eynsham oder Schwyz mit ihm machen würden.

Ihre Finger fanden seine Hände und tasteten sich zu dem Strick an den Handgelenken. Sie begann zu schneiden, vorsichtig – das Messer war so scharf, dass sie ihm mit einer falschen Bewegung die Schlagader öffnen könnte.

Ein Strang war durchtrennt, und wieder einer. Während sie arbeitete, zischte sie gehässig. »Deine Buhlin bin ich, ja? Für die du keine Verwendung hast, ja? Ich hoffe, du schmorst in der Hölle – und Henry gleich mit.«

Der letzte Strang fiel, und sie fühlte, wie er die Hände bewegte, um das Blut wieder in Gang zu bringen.

Er wandte den Kopf, damit er sie küssen konnte. Sein Kinn strich über ihre Wange.

»Überhaupt keine Verwendung«, sagte er. »Außer dass du die Sonne aufgehen lässt.«

Und dann war er fort.

Jacques übernahm die Führung. Adelia hörte, wie er ein Schluchzen in seine Stimme legte, als er dem wütenden Cross erklärte, der Bischof sei bei dem Zusammenstoß mit dem Ufer über Bord gefallen.

Sie hörte den Söldner erwidern. »Dann ist er hin.«

Jacques brach in lautes Gejammer aus, nahm aber gleichzeitig Wächter von Adelias Schoß, zog sie herüber, so dass sie nun zwischen ihm und Walt saß und die schlafende Dakers an ihrem Rücken lehnte, und schob dann den Hund wieder unter ihren Umhang.

Sie nahm die Veränderung kaum wahr. Außer dass du die Sonne aufgehen lässt.

Dem werd ich die Sonne aufgehen lassen, wenn ich ihn wiedersehe.

Ich bring ihn um. Gütiger Gott, beschütze ihn.

Es hörte auf zu schneien, und die tiefen Schneewolken trieben gen Westen davon. Als die Sonne hervorkam, rollte Cross in der Hoffnung, ein wenig Wärme abzubekommen, das Segel zurück.

Auch das registrierte Adelia kaum, bis Walt sie anstieß. »Was is ’n mit dem los, Mistress?«

Sie hob den Kopf. Die beiden Söldner saßen ihr gegenüber auf der vorderen Ruderbank. Derjenige, der Cross genannt wurde, versuchte seinen Gefährten zu wecken. »Komm schon, Giorgio, hoch mit dir. War doch nicht deine Schuld, dass wir diesen dämlichen Bischof verloren haben. Nun komm schon.«

»Er ist tot«, erklärte Adelia. Die Stiefel des Mannes steckten fest im gefrorenen Bilgewasser. Ein weiterer Erfrorener unter den vielen anderen dieser Nacht.

»Das kann nicht sein. Das kann nicht sein. Ich hab ihn doch warm gehalten, na ja, so gut ich konnte.« Cross’ übellauniges Gesicht war schmerzverzerrt.

O Gott, der Tod dieses Mannes geht ihm nahe. Und er sollte mir auch nahegehen, dachte Adelia.

Um den Schein zu wahren, streckte sie die Hand aus und legte sie an den Hals des Mannes, wo sein Puls sein müsste. Er war totenstarr. Sie schüttelte den Kopf. Der Mann war erheblich älter gewesen als sein Freund.

Jacques und Walt fielen auf die Knie. Sie ergriff die Hand des lebenden Soldaten. »Es tut mir leid, Master Cross.« Sie sprach die Schlussworte. »Möge Gott seiner Seele gnädig sein.«

»Er hat doch bloß hier gesessen und sich warm gehalten, hab ich gedacht.«

»Ich weiß. Ihr habt für ihn getan, was Ihr konntet.«

»Wieso seid ihr dann nicht alle tot?« Sein Zorn kehrte zurück. »Ihr habt doch genauso dagesessen wie er.«

Es war unnötig, ihm zu erklären, dass sie Wasser geschöpft und sich daher bewegt hatten, genau wie Cross selbst, der zwar dem Wind ausgesetzt gewesen war, aber doch immer in Bewegung, um Zusammenstöße zu verhindern. Und der arme Giorgio hatte allein gesessen, ohne menschliche Wärme neben sich.

»Es tut mir leid«, sagte sie erneut. »Er war alt und hat die Kälte nicht verkraftet.«

Cross sagte: »Von ihm hab ich das Soldatenhandwerk gelernt, er hat’s mir beigebracht. Wir haben drei Feldzüge gemeinsam überstanden. Er war Sizilianer.«

»Ich bin auch aus Sizilien.«

»Oh.«

»Bewegt ihn nicht«, sagte sie beschwörend.

Cross versuchte, den Toten anzuheben, um ihn ausgestreckt neben die Ruderbank zu legen. Doch wie bei Rosamund würde auch hier die Starre anhalten, bis der Körper ins Warme kam – wofür diese Sonne nicht ausreichte –, und der Anblick, wie er auf dem Rücken lag und Hände und Füße in die Luft ragten wie bei einem Hund, wäre für seinen Freund bestimmt schwer erträglich.

Walt sagte: »Gott sei Dank, ich glaub, da vorn is Godstow.«

Allie.

Sie bemerkte die diamantharte Landschaft, die sie umgab und so grell glitzerte, dass sie die Augen abschirmen musste, um sich umzuschauen. Bäume waren umgestürzt, die Wurzeln wie gespenstische, verzweifelte, dürre Finger, die flehend erstarrt waren. Ansonsten schien alles von dem monströsen Gewicht des Schnees abgeflacht worden zu sein, denn Bodensenken waren nur noch flache Mulden zwischen sanften Erhöhungen. Schnurgerade Rauchfäden, die in einen kornblumenblauen Himmel hinaufstiegen, verrieten ihnen, dass die vereinzelten Buckel am Hang über dem Ufer halb eingeschneite Häuser waren.

In der Ferne war eine kleine geduckte Brücke zu sehen, weiß wie Marmor.

In einem anderen Jahrhundert hatte sie einmal mit Rowley nachts dort gestanden. Dahinter – sie musste die Augen zu kleinen Schlitzen zusammenpressen, um es zu sehen – waren viele Rauchfäden, und dort, wo die Brücke endete, ein Wald und etwas, das aussah, wie ein Tor.

Sie waren gegenüber dem Dorf Wolvercote. Dort hinten lag, obwohl sie sie nicht sehen konnte, die Abtei Godstow. Wo Allie war.

Adelia stand auf, rutschte aus und brachte das Boot ins Schwanken, als sie hastig versuchte, wieder hochzukommen. »Bringt uns ans Land«, sagte sie zu Cross, doch er schien sie gar nicht zu hören.

Walt und Jacques zogen sie runter.

Der Bote sagte: »Nicht gut, Mistress, selbst wenn …«

»Seht Euch das Ufer an, Mistress«, forderte Walt sie auf.

Sie schaute hinüber – eine kleine Klippe, wo flache Weiden sein sollten. Dahinter ragten Gebilde auf, die aussahen wie riesige gefrorene Büsche, doch in Wahrheit handelte es sich um das Geäst hoher Eichen, die verloren in – wie Adelia schätzte – mindestens fünfzehn Fuß hohen Schneewehen standen.

»Da kämen wir niemals durch«, sagte Jacques jetzt.

Sie flehte, bettelte und wusste doch, dass er recht hatte. Vielleicht würden die Dorfbewohner, wenn sie sich ausgegraben hatten, Tunnel durch den Schnee schaufeln, um den Fluss zu erreichen, doch bis dahin, oder bis Tauwetter einsetzte, war sie vom Kloster ebenso abgeschnitten, als läge ein ganzes Gebirge davor. Sie würde in diesem Boot sitzen bleiben müssen und an Allie vorbeifahren, und nur Gott allein wusste, wann oder ob sie je wieder zu ihr zurückkehren konnte.

Inzwischen hatten sie das Dorf passiert und schon fast die Brücke über den Nebenfluss erreicht, der die Mühle antrieb. Die Themse verbreiterte sich hier und würde in einem langgestreckten Bogen um die Weiden der Abtei herumführen.

Und plötzlich geschah irgendwas mit ihr …

Die Barkasse war langsamer geworden. Wegen ihrer hohen Seitenwände war nicht zu sehen, was da an Bord geschah, doch es war spürbar Hektik ausgebrochen, und heftiges Fluchen war zu vernehmen.

»Was ist denn los?«

Walt nahm einen Schöpfeimer, tauchte ihn in den Fluss, hielt ihn hoch und rührte mit einem Finger darin. »Seht euch das an.«

Sie sahen es sich an. Das Wasser in dem Eimer war grau und körnig, als hätte jemand Salz hineingeschüttet. »Was ist das?«

»Eis«, sagte Walt leise. »Das is Eis.« Er schaute sich um. »Muss ziemlich flach hier sein. Das is Eis, jawohl. Der Fluss friert zu.«

Adelia starrte darauf, dann auf Walt, dann auf den Fluss. Sie setzte sich unvermittelt auf und dankte für ein beinahe biblisches Wunder; Flüssiges wurde fest, ein Element verwandelte sich in ein anderes. Jetzt würden sie anhalten müssen. Sie könnten ans Ufer gehen, und da sie so viele waren, könnten sie sich ihren Weg bis zum Kloster freischaufeln.

Sie blickte nach hinten zu den anderen Booten.

Es waren keine zu sehen. Soweit das Auge reichte, war der Fluss leer, und seine graue Färbung wurde immer blauer, je weiter er sich in einer gleißenden, stillen Ferne verlor.

Sie blinzelte und hielt nach dem Kontingent Ausschau, das sie über den Treidelpfad hätte begleiten sollen.

Aber da war kein Treidelpfad, natürlich nicht. Dort, wo er mal gewesen war, erhob sich jetzt eine wellige ununterbrochene Schneewand, an manchen Stellen doppelt mannshoch, der Rand von Wind und Wasser glattgeschliffen, als hätte ein riesenhafter Konditor mit einem Messer alle vorstehenden Zuckergussränder von einer Torte abgeschnitten.

Adelia wollte nur noch zu ihrer Tochter, und einen kurzen Moment lang dachte sie: Egal, wir sind immer noch genug, um einen Weg zu graben …

Und dann: »Allmächtiger, wo sind sie?«, sagte sie. »Wo sind all die Menschen?«

Die Sonne schien weiter herrlich, ungerecht, erbarmungslos auf einen leeren Fluss, auf dem vielleicht weiter oben Männer und Frauen so reglos in ihren Booten saßen wie Giorgio in diesem, wo vielleicht Leichen in glitzerndem Wasser trieben.

Und was war mit den Reitern? Wo waren sie, Gott helfe ihnen? Wo war Rowley?

Die Stille, die ihre Fragen beantwortete, war fürchterlich, weil sie die einzige Antwort war. Sie fing das Fluchen und angestrengte Ächzen, das von der Barkasse herüberdrang, wie unter einer Glasglocke ein und ließ es in einer lautlosen Luft widerhallen.

Die Männer auf der Barkasse mühten sich ab, stießen Stakstangen in das flache, immer dicker werdende Wasser, bis sie auf dem Grund auf Widerstand trafen und das Boot ein Stück weiterschieben konnten, und noch ein Stück …

Nach einer Weile füllte sich die Glasglocke mit Geräuschen wie von einer knallenden Peitsche – sie stießen gegen Eisplatten und mussten hindurchbrechen.

Sie schoben sich unendlich langsam an der Stelle vorbei, wo der Fluss sich teilte und ein Arm Richtung Mühle und Brücke abzweigte. Vom Mühlgraben drang kein Laut herüber, und ein kleiner Wasserfall hing da in glänzender Reglosigkeit.

Und, Allmächtiger, steh uns bei, in dieser verwandelten Welt hatte irgendwer die Brücke als Galgen benutzt. Zwei schimmernde verrenkte Gestalten hingen dort mit einem Strick um den Hals. Als Adelia aufschaute, blickte sie in zwei tote Gesichter, die verwundert schräg zu ihr herabstarrten, sah zwei Paar gestreckte Füße, als wären ihre Besitzer mitten in einem anmutigen kleinen Tanzsprung gefroren.

Niemand sonst schien davon Notiz zu nehmen oder sich dafür zu interessieren. Walt und Jacques benutzten die Ruder, um das Boot weiterzustaken, damit es die Barkasse nicht noch zusätzlich verlangsamte. Dakers saß jetzt neben ihr, die Kapuze übers Gesicht gezogen. Irgendwer hatte das Segel um sie beide gelegt, um sie warm zu halten.

Sie schoben sich an der Brücke vorbei und kamen zu einer breiteren Flussbiegung, wo die Themse an einer der Weiden von Godstow entlangfloss – und die war erstaunlicherweise noch als Weide zu erkennen. Ein launischer Wind hatte sie von Schnee freigefegt, so dass eine weite Fläche aus überfrorenem Gras und Erde die einzige Farbe in eine weiße Welt brachte.

Und hier blieb die Barkasse stehen, weil das Eis zu dick geworden war, um noch weiter voranzukommen. Egal, egal – denn vom Kloster aus führte eine Narbe den Hang hinunter zum Ufer, wo mit Schaufeln bewaffnete Männer riefen und winkten, und in den beiden Booten riefen und winkten alle zurück, als wären die anderen diejenigen, die von der Außenwelt abgeschnitten waren und nun ein rettendes Segel erspäht hatten, das sich ihnen näherte …

Erst jetzt merkte Adelia, dass sie die Nacht nur mit geborgter Kraft überstanden hatte, die ihrem Körper jetzt so rasch entzogen wurde, dass sie plötzlich der schläfrigen Mattigkeit nahe war, die mit dem Tod kommt. Es war verdammt knapp gewesen.

Sie mussten aus den Booten aufs Eis steigen und darüberlaufen, um festen Boden zu erreichen. Wächters Pfoten rutschten weg, er fiel hin und schlitterte ein Stück, ehe er knurrend wieder auf die Beine kam. Ein Arm legte sich stützend um Adelias Taille, und als sie aufsah, blickte sie in Mansurs Gesicht. »Allah ist barmherzig«, sagte er.

»Irgendjemand ganz bestimmt«, sagte sie. »Ich hatte solche Angst um dich. Mansur, wir haben Rowley verloren.«

Er trug sie halb, während sie neben ihm über das Eis und dann über das platt gedrückte Gras der Weide stolperte.

In der kleinen Menschenmenge weiter vorn erblickte sie Eleanors kerzengerade Gestalt, ehe sie in dem Tunnel verschwand, der zur Klostertür führte, ein steiler schmaler Pfad, mit doppelt mannshohen Schneewänden auf beiden Seiten. Er war für Rosamunds Sarg gegraben worden; stattdessen wurde jetzt eine Art Sänfte hindurchgetragen, die aus Rudern und Segeltuch bestand, unter der die gekrümmte Leiche eines Söldners lag.

Aber trotzdem ein wunderschöner Tunnel. Denn an seinem Ende stand eine ältere Frau, deren bemühte Gelassenheit ihre Erleichterung verriet. »Ihr habt euch aber Zeit gelassen.«

Als Adelia ihr stammelnd in die Arme fiel, sagte Gyltha: »Natürlich geht’s ihr gut. Gesund und munter wie eine Hummel. Meinst du, ich kann nich auf sie aufpassen? Menschenskind, Mädchen, du warst doch bloß einen Tag weg.«