Kapitel dreizehn

Der Mond war ein wenig nach Westen gewandert, so dass die zwei vermummten Söldner, die einen großen Schlitten mit den Dingen beluden, die von den anderen angeschleppt wurden, lange, klare Schatten aufs Eis warfen. Einer von ihnen hob Adelia hoch und schmiss sie oben auf die Ladung. Sie landete schmerzhaft auf den Armen. Ein anderer deckte eine Plane über sie, und sie musste den Kopf hin und her drehen, bis schließlich eine Falte zurückrutschte und sie wieder etwas sehen konnte.

Geht nach Süden, dachte sie. Lass sie nach Süden ziehen, da ist Henry. Herr. Mach, dass sie nach Süden ziehen.

Der Abt, Schwyz und einige von den anderen Männern standen am Schlitten und stützten sich daran ab, während sie konzentriert und schweigend Schlittknochen anzogen.

Sie müssen nach Süden ziehen – sie wissen nicht, dass der König Oxford angreift.

Ach, natürlich wussten sie es. Sie wussten alles – Rowley hatte es ihnen unabsichtlich verraten.

Herr, schick sie nach Süden.

Der Abt drehte probeweise ein paar Pirouetten auf dem Eis und bewunderte seinen Schatten im stählernen Spiegel des Flusses. »Ja, ja«, sagte er, »das verlernt man doch nie.«

Er achtete nicht auf Adelia – sie war jetzt bloß Gepäck. Er nickte Schwyz zu, der seinen Männern zunickte. Zwei Söldner nahmen das Zuggeschirr auf, das vorn am Schlitten befestigt war, und legten sich in die Riemen. Hinter Adelia stieg jemand auf das Trittbrett des Schlittens und packte die Lenkstreben.

Der Abt blickte zu den Abteimauern hoch, die finster auf sie herabstarrten. »Königin Eleanor, anmutig schwankendes Schilfrohr, lebt wohl. Veni, vidi, vada.« Dann hob er die Augen zum sternenklaren Himmel. »Wohlan, auf zu besseren Dingen. Abmarsch.«

»Und schön leise«, sagte Schwyz.

Der Schlitten zischte, als er sich in Bewegung setzte.

Nach Norden.

Adelia würgte in ihren Knebel. Jetzt war es um sie geschehen.

Eine Zeitlang konnte sie vor lauter Angst kaum noch etwas sehen.

Er würde sie töten. Musste sie töten.

Eine schreckliche Traurigkeit überkam sie. Bilder von Allie, die sie vermisste, ohne sie aufwuchs, klein, bedürftig. Dich liebend werde ich sterben. Glaub mir, meine Kleine, ich habe nie aufgehört, dich zu lieben.

Dann das schlechte Gewissen. Meine Schuld, Schätzchen. Eine bessere Mutter hätte einfach weggeschaut, hätte sie einander abschlachten lassen – nur damit du und ich nicht auseinandergerissen werden. Meine Schuld, meine bittere Schuld.

Und immer weiter, Trauer und Angst, Angst und Trauer, während das zerzauste, weißgeränderte Ufer vorbeiglitt und der Schlitten wisperte und schabte und die Männer, die ihn zogen, vor Anstrengung ächzten, mit ihrem Atem kleine Rauchwolken ins Mondlicht pusteten und Adelia immer tiefer in die Hölle trugen.

Körperlicher Schmerz drängte sich in ihr Bewusstsein – das Bündel unter ihr enthielt Speere. Außerdem schmeckte der Knebel entsetzlich, und ihr taten die Arme und Handgelenke weh.

Plötzlich packte sie der Zorn. Sie setzte sich auf und peilte die Lage.

Zwei Söldner zogen den Schlitten. Ein anderer war hinter ihr. Je zwei auf beiden Seiten, Schwyz und der Abt vorneweg. Insgesamt neun. Ihr Freund Cross war nicht dabei – sie hatte die Gesichter der beiden Söldner, die den Schlitten beluden, nicht erkennen können, aber beide waren dünner als Cross.

Sie konnte also keine Hilfe erwarten. Wo immer sie auch hinwollten, Schwyz nahm nur seine verlässlichsten Soldaten mit. Die anderen hatte er zurückgelassen.

Wohin wollten sie? In die Midlands? Dort gärte noch immer alter Hass auf Henry Plantagenet.

Adelia veränderte ihre Position und tastete den Sack unter ihr mit den Handgelenken ab, glitt an den Speerschäften entlang bis zu den scharfkantigen Spitzen. Da.

Sie drückte nach unten und spürte eine Spitze in ihre rechte Handfläche stechen. Sie versuchte, das Seil gegen die Klinge zu reiben, verfehlte sie aber immer wieder und stieß stattdessen gegen die Speerspitze, die wirkungslos zwischen die Fasern des Stricks glitt und wieder heraus, wodurch diese irgendwann vielleicht durchtrennt worden wären, wenn Adelia ein oder zwei Wochen Zeit gehabt hätte …

Aber es lenkte sie ab, half ihr, gegen die Trägheit der Verzweiflung anzukämpfen. Selbstverständlich würde Eynsham sie töten lassen. Als Unterpfand nutzte sie ihm nur so lange, bis er sicher sein konnte, dass Henry ihn nicht verfolgte – und diese Wahrscheinlichkeit verringerte sich mit jeder Meile, die sie weiter nach Norden kamen. Aber vor allem würde er sie töten, weil er wusste, dass sie den erbärmlichen Wurm gesehen hatte, der sich in dieser prächtigen, facettenreichen, leeren Hülle wand.

Ihre Arme wurden schwer …

Mit tränennassem Gesicht döste Adelia ein.

Die Männer, die den Schlitten zogen, kamen nur langsam voran, und selbst den anderen im Tross erging es nicht viel besser. Aus Angst vor Verfolgern waren keine Fackeln entzündet worden, und im hellen Mondlicht glänzte das Eis trügerisch glatt, so dass die Männer häufig über eingefrorene Äste und Ähnliches fielen. Oft mussten sie Hindernisse umgehen und manchmal auch den schweren Schlitten darüberhieven.

Im Schlaf nahm Adelia undeutlich das Schaukeln und gedämpfte Fluchen wahr, wenn der Schlitten getragen wurde, und sie spürte auch, dass die Männer sich abwechselnd auf dem Schlitten ausruhten, zu ihr unter die Plane gekrochen kamen, um wieder zu Kräften zu kommen, ehe sie ihren Platz dem nächsten überließen. Das hatte nichts Sexuelles an sich – sie waren zu erschöpft –, und Adelia weigerte sich aufzuwachen. Der Schlaf war seliges Vergessen …

Ein neuer Passagier kam an Bord und atmete erleichtert auf, weil er endlich vom Eis war. Finger nestelten an ihrem Hinterkopf und lösten den Knebel. »Ist jetzt nicht mehr nötig, Mistress. Und das hier auch nicht.« Sachte schob jemand sie ein wenig nach vorne, und ein Messer durchtrennte den Strick an ihren Handgelenken. »Na bitte. Besser so?«

Ein angenehmer vertrauter Duft drang in ihre Nase. Adelia fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und bewegte Schultern und Hände. Es tat weh. Sie waren noch immer unterwegs, und es war noch immer bitterkalt, aber die Sterne leuchteten etwas matter. Ein leichter Nebelschleier umhüllte den Mond.

»Ihr hättet Bertha nicht töten müssen«, sagte sie.

Kurz trat Stille ein.

»Ich glaube doch«, antwortete Jacques sachlich. »Ihre Nase hätte mich früher oder später verraten. Ich muss leider zugeben, dass die Arme mich ausgeschnüffelt hat.«

Ja. Ja, das hatte sie.

Bertha, die im Kuhstall näher gekrochen kommt, schnuppert, die ihren wachsten Sinn einsetzt, um die Alte im Wald zu beschreiben, die ihr die Pilze für Rosamund geschenkt hatte.

»Hat gut gerochen … wie Ihr.«

Ich war das nicht, Bertha, sondern der Mann, der hinter mir stand.

»Ein Er. Keine Sie.«

Das Mädchen hatte den Geruch des Boten gewittert – das Parfüm, das er immer trug, selbst wenn er sich als altes Weib verkleidete, das Pilze sammelte.

»Macht Euch das was aus?«, fragte er jetzt. Es war fürsorglich gemeint, in der Hoffnung, dass sie nicht böse auf ihn war. »Sie war doch nun wirklich kein großer Verlust, oder?«

Adelia hielt die Augen auf die beiden Söldner gerichtet, die den Schlitten zogen.

Jacques stopfte die Plane fester um sie und setzte sich seitlich hin, damit er ihr ins Gesicht sehen konnte, während er ihr die Dinge ganz sachlich erklärte. Das war nicht mehr der aufgeregte junge Mann mit den großen Ohren, nein, er wirkte viel älter und sehr gelöst. Sie vermutete, dass genau das seine besondere Fähigkeit war; er konnte je nach Bedarf ein anderer werden.

Er hatte Allies Wiege aus dem Zimmer geholt und auf den Treppenabsatz gestellt.

»Ihr müsst wissen, normalerweise besteht keine Notwendigkeit für das, was ich Nachbesserungen nenne, wie das bei Bertha der Fall war«, sagte er. »Üblicherweise erfüllt man seinen Teil des Vertrages und zieht dann weiter. Alles hübsch ordentlich. Aber dieser Auftrag war kompliziert – interessant, keine Frage, aber eben kompliziert.« Er seufzte. »Nicht bloß zusammen mit meinem Auftraggeber, sondern auch mit einer Zeugin in einer Abtei eingeschneit zu sein, das war eine Erfahrung, auf die ich in Zukunft gern verzichte.«

Ein Mörder. Der Mörder.

»Ja, ich verstehe«, sagte Adelia.

Schließlich lebte sie mit ihrem Abscheu, seit ihr klar geworden war, dass er Rosamund vergiftet hatte. Die Angst war ihre ständige Begleiterin gewesen, während sie ihn in das Vorhaben mit eingebunden hatte, Wolvercote und Warin dazu zu bringen, sich in der Kirche selbst zu verraten, aber ihr war keine andere Strategie eingefallen, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Zu dem Zeitpunkt hatte sie nämlich bereits gewittert, wer für die Abtei eine größere Bedrohung darstellte als Wolvercote, weil er hemmungslos war, ein sorgloser Geist. Töte diesen, verschone jenen, frei von jeglichen Schuldgefühlen.

Es war notwendig gewesen, ihn bei Laune zu halten, wie eine zappelnde Maus die Katze fasziniert. Um Zeit zu gewinnen, hatte sie ihn dabei zuschauen lassen, wie sie den einen Mord löste, an dem er unschuldig war. Um die Zähne der Katze vom Nacken einer Maus, die Fragen stellte, fernzuhalten.

Sie fragte: »Hat Eynsham Euch beauftragt, sie zu töten?«

»Bertha? Lieber Himmel, nein.« Er war gekränkt. »Ich kann durchaus selbst die Initiative ergreifen. Aber natürlich …« Ein Ellbogen stieß sanft in Adelias Rippen, »muss er mir das bezahlen. Bertha setze ich ihm mit auf seine Rechnung.«

»Seine Rechnung«, sagte sie und nickte.

»Allerdings. Ich bin kein Vasall des Abtes, Mistress. Auf diese Feststellung lege ich wert. Ich bin unabhängig, ich reise durch die Christenheit und biete meinen Dienst an. Manch einer missbilligt den, ich weiß, aber es ist dennoch ein Dienst am Kunden.«

»Ein gedungener Mörder.«

Er überlegte kurz. »Könnte man so sagen. Für mich ist es eigentlich ein Beruf wie jeder andere. Seien wir ehrlich, Mistress Doktor, Euer eigener Beruf wird von Menschen, die ihn nicht verstehen, als Hexerei bezeichnet, und wir betreiben beide ein Handwerk, zu dem wir uns nicht öffentlich bekennen können. Wir arbeiten beide mit Leben und Tod.« Aber sie hatte ihn in seinem Stolz getroffen. »Wodurch hab ich mich verraten? Immerhin hab ich versucht, Euch vor allzu viel Neugier zu warnen.«

Seine Besuche bei Bertha, seine ständige Nähe, das unbestimmte Gefühl von Gefahr, das im Kuhstall lauerte, wenn er dort war. Der Geruch, den Bertha wiedererkannt hatte. Die Möglichkeit, sich wie kein anderer frei in der Abtei bewegen zu können, ohne Aufsehen zu erregen. Letzten Endes war er der Einzige, der es gewesen sein konnte.

»Die Weihnachtsfeier«, sagte sie.

Von da an war sie ganz sicher gewesen. In dem übermütigen, warzigen Weib in Noahs Arche hatte sie eine groteske Schwester der Alten erkannt, die Bertha im Wald gesehen hatte.

»Aha«, sagte er, »ich sollte mich wohl lieber nicht mehr öffentlich verkleiden, was? Leider hab ich eine Schwäche dafür.«

Sie fragte: »Wann hat Eynsham Euch beauftragt, Rosamund zu töten?«

»Oh, vor langer Zeit«, sagte er. »Da war ich noch nicht lange in England. Na, ich will Euch sagen, wann: Ich war gerade erst der Bote des Bischofs geworden – in meinem Metier ist es stets nützlich, wenn man einen Grund hat, das Land zu bereisen. Nebenbei bemerkt, Mistress, ich hoffe, ich habe dem Bischof gut gedient …« Er meinte das aufrichtig. »Ich bilde mir gern ein, dass ich hervorragende Dienste leiste, ganz gleich, in welchem Bereich.«

Ja, hervorragend. Als Rowley sich in die Abtei geschlichen und seine Männer gewarnt hatte, war ihm der Gedanke, dass sein Bote nicht wie die Übrigen von dem bevorstehenden Angriff erfahren sollte, natürlich nicht gekommen – doch nicht der enervierende, diensteifrige Jacques, einer seiner eigenen Leute.

»Offen gestanden, die Arbeit für St. Albans wird mir fehlen«, sagte er gerade, »doch als Walt mir erzählte, dass der König kommt, musste ich Eynsham davon in Kenntnis setzen. Ich konnte doch nicht zulassen, dass der werte Abt in Gefangenschaft gerät. Er schuldet mir Geld.«

»Wie geht das?«, fragte sie. »Spricht es sich einfach so herum, wenn ein Mörder seine Dienste anbietet?«

»Im Grunde ja. Bislang hatte ich keinen Mangel an Aufträgen. Natürlich möchte sich kein Kunde zu erkennen geben, aber wisst Ihr, wie ich herausgefunden habe, dass es sich bei diesem um unseren Abt handelte?«

Vor lauter Freude wurde seine Stimme so laut, dass eine Eule von ihrem Baum aufflatterte und Schwyz an der Spitze sich umdrehte und ihn beschimpfte. »Wisst Ihr, woran ich ihn erkannt habe? Ratet.«

Sie schüttelte den Kopf.

»An seinen Stiefeln. Der werte Abt trägt außerordentlich schöne Stiefel, wie ich. Ach ja, und er hat seinen Diener als ›mein Sohn‹ angesprochen, und da hab ich mir gesagt: ›Bei allen Heiligen, das ist ein Mann der Kirche, ein reicher Mann der Kirche.‹ Ich musste mich nur ein wenig unter Oxfords besten Stiefelmachern umhören. Das Problem ist jedenfalls, die zweite Hälfte des Honorars zu bekommen.« Ein Plausch über die Misslichkeiten der freien Berufe. »So viel als Anzahlung, so viel nach getaner Arbeit. Bei der zweiten Rate sträuben sie sich immer ein bisschen, findet Ihr nicht auch?«

Sie sagte nichts.

»Na, ich erlebe das jedenfalls oft. Um an mein restliches Geld zu kommen, musste ich mich an Lord Eynsham heften wie Fischleim. Eigentlich ist es in diesem Fall gar nicht seine Schuld. Die Umstände waren schwierig: der Rückzug von Wormhold, der Schnee … doch wie es aussieht, werden wir auf dem Weg nach Norden seiner Abtei einen Besuch abstatten – dort bewahrt er sein Gold auf, in seiner Abtei.«

»Er wird Euch töten«, sagte sie. Die Bemerkung sollte ihn nur am Reden halten; sein Schicksal war ihr gleichgültig. »Er wird Schwyz befehlen, Euch die Kehle durchzuschneiden.«

»Sind die beiden nicht ein interessantes Paar? Schwyz vergöttert ihn förmlich. Sie haben sich in den Alpen kennengelernt, wie ich höre. Ich hab mich schon gefragt, ob sie … na ja, Ihr wisst schon … aber ich glaube nicht, was meint Ihr? Ich würde gern Eure Meinung als Ärztin hören …«

Einer der Söldner im Zuggeschirr wurde langsamer und winkte dem Boten mit wedelnden Armen, er solle seinen Platz einnehmen.

Die Stimme an Adelias Ohr wurde zu einem vertraulichen Flüstern, veränderte sich von der eines Klatschmauls zu der eines Mörders. »Sorgt Euch nicht um mich, Mistress. Unser Abt hat zu viele Feinde, die er still und leise zum Schweigen bringen muss. Schwyz hinterlässt die Spur eines Schlächters. Ich nicht. Nein, nein, meine Dienste werden immer benötigt werden. Sorgt Euch lieber um Euch selbst.«

Er schlug die Plane zurück und wollte vom Schlitten steigen.

»Werdet Ihr es sein, der mich tötet, Jacques?«, fragte sie.

»Ich hoffe nicht, Mistress«, sagte er höflich. »Das täte mir leid.«

Und dann war er weg, weigerte sich jedoch, das Zuggeschirr zu übernehmen. »Mein lieber Freund, ich bin doch kein Ochse.«

Und auch kein Mensch, dachte sie, ein lusus naturae, ein Werkzeug, das für sein Tun nicht verantwortlich zu machen ist, so schuldlos wie eine Waffe, die an der Wand hängt und von ihrem Besitzer für ihre wunderbare Funktionalität bewundert wird.

Der Parfümhauch, den er zurückgelassen hatte, wurde von dem Geruch nach Schweiß und feuchtem Schmutz verdrängt, als der nächste Mann unter die Plane kroch und sogleich zu schnarchen begann.

Inzwischen hatte sich der Abt auf das Trittbrett hinter ihr gestellt, statt den Schlitten anzuschieben, so dass die Männer im Zuggeschirr, die jetzt auch noch sein Gewicht schleppen mussten, kaum noch von der Stelle kamen und das Gleichgewicht zu verlieren drohten. Sie beschwerten sich.

Auf einen Befehl von Schwyz hin schnallten sie die Schlittknochen ab und stapften in ihren Stiefeln weiter, die nicht so leicht wegrutschten.

Und die, wie Adelia jetzt sah, Wasser aufspritzen ließen. Auch von den dahingleitenden Schlittenkufen sprühte es nass auf. Inzwischen waren keine Sterne mehr zu sehen, und der bleiche Mond hatte einen noch bleicheren Hof. Schwyz hatte eine Fackel angezündet und hielt sie hoch, während er übers Eis lief.

Es taute.

Über Adelias Kopf ertönte ein sonores Dröhnen: »Ich will mich ja nicht beklagen, mein lieber Schwyz, aber wenn das so weitergeht, marschieren wir bald auf dem Grund des Flusses. Wie weit noch?«

»Nicht mehr weit.«

Nicht mehr weit bis wohin? Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, deshalb konnte sie auch nicht abschätzen, welche Strecke sie zurückgelegt hatten. Noch immer zeigten beide Ufer das immer gleiche zerzauste Bild von Schilf und Schnee.

Es war irgendwie noch kälter geworden. Das hatte mit der höheren Feuchtigkeit in der Luft zu tun, aber auch mit ihrer Angst. Jetzt, wo Eynsham ohne Störung und offenbar ohne verfolgt zu werden flussaufwärts hatte ziehen können, würde er beruhigt sein. Sobald sie in sicherem Territorium waren, würde er die dann unnötige Last, die er mitgeschleppt hatte, loswerden.

»Da vorne«, rief Schwyz.

Weiter vorne war nichts außer einem schwachen Glimmen am westlichen Himmel, wie ein einsamer Stern, der die Kraft hatte, den Nebel zu durchdringen, hinter dem sich die anderen verbargen. Eine Burg, in der nur ein Licht brannte. Ein Turm?

Und jetzt näherten sie sich einem Landungssteg, weißgesäumt und vertraut.

Und dann wusste sie es.

Rosamund hatte auf sie gewartet.

 

In Adelias Erinnerung war Wormhold ein Ort, wo scheußlich-schrille Farben aufblitzten und Männer und Frauen wie im Wahn sprachen und handelten.

Jetzt wurde der Turm im Morgennebel wieder zu dem, was er war – ein Mausoleum. Jede architektonische Anzüglichkeit war verschwunden. Und der Irrgarten war für diejenigen, die den Schlitten durch den Matsch hineinzogen, bloß ein schnurgerader und öder Gang aus grauen Büschen, der zu einem Monument führte, das sich wie ein gigantischer Grabstein vor einem trüben Himmel erhob.

Die Tür über der Treppe stand offen und hing jetzt schief in den Angeln. Der Scheiterhaufen in der Halle, der nicht hatte brennen wollen, war noch immer da, ein Berg zerbrochener Möbel, der genau wie die Wände im Licht von Schwyz’ Fackel feucht glänzte.

Ein Rascheln von davonhuschenden Ratten betonte die Stille in der Halle ebenso wie der Versuch des Abtes, die Haushälterin herzurufen: »Dakers. Wo seid Ihr, meine Beste? Euer alter Freund ist zu Besuch. Robert von Eynsham.«

Er drehte sich zu Schwyz um, während das Echo verhallte. »Sie weiß doch nicht, dass ich es war, der sie hat einsperren lassen, oder?«

Schwyz schüttelte den Kopf. »Wir haben sie angelogen, Rob.«

»Gut, dann bin ich noch immer ihr Verbündeter. Aber wo steckt die alte Krähe denn? Wir brauchen was zu essen. Dakers.«

Schwyz sagte: »Wir können nicht lange bleiben, Rob. Der Schweinehund ist uns auf den Fersen.«

»Ach, hör doch auf, ihm die Mächte der Finsternis zuzuschreiben, mein Lieber, wir haben den Drecksack ausmanövriert.« Er verzog das Gesicht. »Ich denke, ich geh besser hoch und suche nach meinen Briefen. Wenn unsere Schöne Rosamund einen behalten hat, dann vielleicht auch noch andere. Ich hab der fetten Kuh gesagt, sie soll sie verbrennen, und was macht sie? Frauen sind ja so unzuverlässig.« Er zeigte auf den Scheiterhaufen. »Steck das Zeug an, wenn es so weit ist. Aber zuerst was essen, denke ich, dann ein Schläfchen, und wenn unser liebenswerter König eintrifft, sind wir längst weg und haben ihm zur Begrüßung ein warmes Feuerchen hinterlassen. Dakers.«

Er muss doch wissen, wo sie ist, dachte Adelia. Das einzige Leben hier ist im obersten Zimmer bei der Toten.

»Dann rauf mit dir.« Schwyz wandte sich ab, um seinen Männern Befehle zu geben, dann drehte er sich wieder um. »Was soll mit der Hure geschehen?«

»Der Hure?« Der Abt blickte auf Adelia herab. »Die behalten wir bis zum letzten Moment, denke ich, nur für alle Fälle. Sie soll mit hochkommen und mir helfen, nach den Briefen zu suchen.«

»Warum? Hier unten ist sie besser aufgehoben.« Schwyz war eifersüchtig.

Der Abt hatte Geduld mit ihm. »Weil ich keine Briefe gesehen hab, als wir das letzte Mal hier waren, aber die kleine Mistress Adlerauge hatte einen, nicht wahr, meine Teuerste? Wenn sie einen gefunden hat, kann sie auch die anderen finden. Fessle ihr meinetwegen die Hände, aber diesmal vor dem Körper und nicht zu fest; sie sieht angegriffen aus.«

Wieder wurden Adelia die Hände zusammengebunden, und das nicht gerade sanft.

»Los, rauf mit dir.« Der Abt zeigte auf die Treppe. »Los, los, los.« Zu dem Söldner sagte er: »Sag den Männern, sie sollen sich um mein Essen kümmern. Und Schwyz …« Sein Tonfall hatte sich geändert.

»Was?«

»Lass ja den Fluss gut bewachen.«

Er hat Angst, dachte Adelia plötzlich, er traut Henry übernatürliche Kräfte zu. O Gott, wenn er doch recht hätte.

Es war nicht leicht, die enge, gewundene, rutschige Treppe mit den keilförmigen Stufen hinaufzusteigen, ohne sich mit den Händen abstützen zu können, doch Adelia kam besser voran als der Abt, der vor Anstrengung schnaufte, noch ehe sie zum zweiten Absatz gelangten. Jetzt war der Punkt erreicht, wo der Turm alle Geräusche von unten verschluckte und eine Stille entstand, in der das Echo ihrer Schritte in den Ohren gellte, als verletzten sie ein Gebot der Toten. Zurück! Das hier ist ein Grab.

Licht, das kaum Licht war, fiel schwach durch die Schießscharten und erhellte dasselbe Durcheinander, das schon auf den Treppenabsätzen gelegen hatte, als sie mit Rowley hier heraufgekommen war. Niemand hatte es beseitigt, niemand würde es je tun.

Höher und höher, vorbei an Rosamunds Gemächern, die jetzt ihrer Teppiche und Goldverzierungen beraubt waren. Söldner hatten sie geplündert, vielleicht sogar die Aquitanier, während Eleanor Totenwache bei einer Leiche gehalten hatte. Es hatte ihnen kein Glück gebracht; die Plünderer lagen jetzt mit ihrer Beute auf dem Grund der Themse.

Sie näherten sich ihrem Ziel.

Ich will nicht da rein. Wann ist es endlich vorbei? Es kann doch nicht sein, dass ich hier sterben soll. Warum macht dem niemand ein Ende?

Das oberste Stockwerk. Die Tür einen Spaltbreit offen, aber mit dem eleganten Schlüssel im Schloss.

Adelia trat zurück. »Ich geh da nicht rein.«

Der Abt packte sie an der Schulter und stieß sie weiter. »Dakers, meine Gute. Der Abt von Eynsham ist hier, Euer alter Freund, um Eurer Herrin die Ehre zu erweisen.«

Ein Gestank, der mit der Kraft eines Windstoßes herüberwehte, ließ ihn auf der Türschwelle schwanken.

Das Zimmer war so, wie Adelia es zuletzt gesehen hatte. Hier war nicht geplündert worden – die Zeit hatte nicht gereicht.

Rosamund saß nicht mehr an dem Schreibtisch, doch dafür lag irgendetwas auf dem Bett, umrahmt von durchscheinenden Vorhängen und mit einem Umhang über der oberen Hälfte.

Von Dakers war nichts zu sehen, doch falls sie wieder versucht hatte, ihre Herrin zu konservieren, so war es ein Fehler gewesen, die Fenster zu schließen und Kerzen anzuzünden.

»Allmächtiger.« Mit einem Taschentuch vor der Nase hastete der Abt durch das Zimmer, blies Kerzen aus und öffnete Fenster. »Allmächtiger, die Hure stinkt. Allmächtiger.«

Feuchte, graue Luft brachte ein wenig Frische in den Raum.

Eynsham trat mit einem faszinierten Blick ans Bett.

»Lasst sie in Ruhe«, riet Adelia ihm.

Er riss den Umhang von der Leiche und ließ ihn zu Boden fallen. »Aaah.«

Ihr schönes Haar lag fächerartig um das verwesende Gesicht ausgebreitet auf einem Kissen. Ein weiteres Kissen stützte die Krone über dem Kopf. Die gekreuzten Hände auf der Brust waren Gott sei Dank unter einem Gebetbuch verborgen. Füße quollen nass aus den zierlichen Goldschühchen, die unter den hübschen, sorgsam angeordneten Falten eines Gewandes hervorlugten, das so blau war wie ein Frühlingshimmel. An manchen Stellen sickerte Flüssigkeit durch die Seide.

»Oje, oje«, sagte der Abt leise. »Sic transit Rosa Mundi. Die Rose der Welt verfault also doch wie alle anderen … die Faulige Rosamund …«

»Wagt es nicht«, schrie Adelia ihn an. Wären ihre Hände nicht gefesselt gewesen, sie hätte ihn geschlagen. »Wagt es nicht, sie zu verspotten. Ihr habt sie in diesen Zustand gebracht, und bei Gott, auch Ihr werdet irgendwann so enden – und Eure Seele ebenso.«

»Aber …« Er trat zurück wie ein Kind, das von einer erzürnten Mutter zurechtgewiesen wird. »Nun ja, es ist schauerlich … gebt zu, dass es schauerlich ist.«

»Das ist mir egal. Behandelt sie gefälligst mit Würde.«

Einen Moment lang war er durch seine eigene Geschmacklosigkeit verunsichert. Zögernd trat er zurück, und seine Hand malte einen Segen in Richtung Bett in die Luft. »Requiescat in pace.« Dann fragte er: »Was ist das weiße Zeug, das da aus ihrem Gesicht wächst?«

»Leichenwachs«, erklärte Adelia.

Im Grunde war das sehr interessant. Sie hatte noch nie welches an Menschen gesehen, nur an dem Fleisch einer Sau auf der Todesfarm.

Einen Moment war sie wieder eine Totenleserin, die sich ausschließlich auf das Phänomen vor ihr konzentrierte und leicht verärgert war, dass Zeitmangel und fehlende Mittel sie daran hinderten, es genau zu untersuchen.

Weil Rosamund dick war, dachte sie, deshalb. Die Sau in Salerno war fett gewesen, und Gordinus hatte sie in einer luftdichten Truhe vor den Fliegen geschützt aufbewahrt. »Siehst du, mein Kind? Ohne die Insekten sammelt sich dieses weiße Fett – ich nenne es corpus adipatum – an den fülligeren Bereichen des Körpers, Wangen, Brüste, Gesäß und so weiter, und behindert den Fäulnisprozess, verzögert ihn sogar. Obgleich noch herauszufinden wäre, ob es die Verzögerung verursacht oder durch die Verzögerung verursacht wird.«

Gordinus, Gott segne ihn, hatte es als ein Wunder bezeichnet, was es auch war – eine Schande, dass sie dieses Phänomen erst jetzt an einer menschlichen Leiche sah.

Besonders interessant war, dass die neue Wärme im Raum zugleich die Fäulnis herbeiführte, zumindest den nassen Flecken auf Rosamunds Gewand nach zu urteilen. Die konnte doch nicht durch die Fliegen verursacht sein – oder? –, um diese Zeit des Jahres gab es keine … Herrje, wenn ihre Hände frei wären, könnte sie nachsehen, was da unter dem Stoff gärte …

»Oh, was ist?«, fragte sie barsch.

Der Abt zog an ihr.

»Wo bewahrt sie die Briefe auf?«

»Welche Briefe?« Diese Möglichkeit, die Wissenschaft voranzubringen, bot sich vielleicht nie wieder. Wenn es nicht die Fliegen waren …

Er drehte sie herum, so dass sie ihn ansah. »Ich will Euch meine Situation erklären, werte Mistress. Bei alldem habe ich nur meine Christenpflicht getan, um einen König zu stürzen, der den guten St. Thomas auf den Stufen seiner eigenen Kathedrale ermorden ließ. Ich wollte einen Bürgerkrieg herbeiführen, den unsere huldvolle Königin gewinnen sollte. Da dieser Ausgang nun unwahrscheinlich geworden ist, muss ich mich neu positionieren, denn wenn Henry meine Briefe findet, wird er sie dem Papst zukommen lassen. Und wird der Heilige Vater gutheißen, was ich getan habe, um die Gottlosen zu strafen? Wird er sagen: ›Gut gemacht, du frommer und treuer Robert von Eynsham, du hast unserer großen Sache gedient‹? Nein, das wird er nicht. Er muss Empörung heucheln, weil im Zuge des Ganzen eine wertlose Hure vergiftet wurde. Er wird sich die Hände waschen wie Pilatus. Wird es Lorbeeren geben? Anerkennung? Ha, nein.«

Er hörte auf, den Klang seiner eigenen Stimme zu genießen. »Findet mir diese Briefe, Mistress, sonst wird Henry, wenn er hier ankommt, in der Asche dieses Freudenhauses nicht nur die Gebeine einer seiner Metzen finden, sondern die von zwei.« Ihm kam ein erfreulicher Einfall. »Zusammen, vielleicht engumschlungen. Ja, vielleicht …«

Er durfte nicht sehen, dass sie Angst hatte, unter keinen Umständen. »In dem Fall werden auch die Briefe verbrennen«, sagte sie.

»Nicht, wenn das Miststück sie in einer Metallkiste aufbewahrt hat. Wo sind sie? Ihr hattet einen, Mistress, und Ihr hattet nichts Eiligeres zu tun, als ihn herumzuzeigen. Wo hat sie die Briefe aufbewahrt?«

»Auf dem Tisch, ich hab ihn auf dem Tisch gefunden.«

»Wenn sie einen behalten hat, dann sicher auch mehr.« Er brüllte wieder nach der Haushälterin. »Dakers. Sie wird es wissen. Wo ist die alte Hexe?«

Und auf einmal wusste Adelia, wo Dakers war.

Er war so oft in diesem Zimmer gewesen, ohne zu wissen, dass er von einem Abort aus durch ein Guckloch beobachtet wurde. Er wusste es immer noch nicht.

Eynsham untersuchte jetzt den Tisch, fegte die Schreibgeräte beiseite und stieß die uralte Schale mit Rosamunds Süßigkeiten zu Boden, wo sie zersprang. Er bückte sich, schaute unter den Tisch und stieß ein zufriedenes Grunzen aus. Als er sich aufrichtete, hielt er ein zerknittertes Stück Velin in der Hand. »War das alles?«

»Woher soll ich das wissen?« Es war der Brief an die Königin, den Rosamund noch nicht beendet hatte und der von Eleanor wütend zu Boden geschleudert worden war. Adelia hatte dem armen Pater Paton die vom Abt geschriebene Briefvorlage gegeben, und selbst wenn sie deshalb sterben musste, sie würde diesem Mann nicht sagen, dass noch weitere nur wenige Zoll von seinem rechten Stiefel entfernt in einer Hockerkiste versteckt waren.

Lass ihn im Zweifel; diese Angst soll für den Rest seines Lebens an ihm nagen.

Großer Gott, er liest ihn.

Der Abt war schwerfällig ans offene Fenster getreten und hielt den Brief ins Licht. »Was hatte diese Dirne doch für eine furchtbare Schrift«, sagte er. »Dennoch, schon erstaunlich, dass sie überhaupt schreiben konnte.«

Und lass Dakers an ihm zweifeln. Kein Wunder, dass die Haushälterin gelacht hatte, als sie in jener Nacht zu den Booten gebracht wurden. Sie hatte Eynsham gesehen, der stets Rosamunds Freund gewesen war und somit auch ihr ein Freund sein würde.

Wenn sie jetzt zuhörte, wenn sie dazu bewegt werden konnte, die Seiten zu wechseln …

Adelia hob die Stimme: »Warum habt Ihr Rosamund überredet, solche Briefe an Eleanor zu schreiben?«

Der Abt ließ das Blatt sinken, halb entgeistert, halb amüsiert. »Hör sich einer dieses Weib an. Warum stellt sie eine Frage, wo ihr Hirn die Antwort unmöglich erfassen kann? Was nützt es, wenn ich es Euch erkläre? Wie könnt Ihr auch nur ansatzweise die Notwendigkeiten verstehen, mit denen wir, Gottes Stellvertreter, uns befassen müssen, um seine Welt auf der rechten Bahn zu halten, unsere Abstiege zum Abschaum der Menschheit, die Werkzeuge, deren wir uns bedienen müssen – Dirnen wie diese dort auf dem Bett, Meuchelmörder, aller Abfall des Höllenpfuhls –, um ein heiliges Ziel zu erreichen.«

Er erklärte es ihr trotzdem. Ein geschwätziger Mann. Ein Mann, der die Beruhigung seiner eigenen Stimme brauchte und mehr noch die Rechtfertigung seines Tuns.

Und er hoffte noch immer, wie sie erstaunt erkannte. Dass sein großes Spiel verloren war und er aufgeben musste, Eleanor zu unterstützen, schien ihn zu stimulieren – als wäre er sicher, dass er sich mit Charme, geschicktem Taktieren und gelegentlichem Morden aus der Affäre ziehen könnte, dass ihm seine aufgesetzte Weltgewandtheit dabei helfen würde, und auch seine Inszenierung als einfacher und doch gebildeter Mann, und all die heiße Luft, die ihn in die Hallen von Päpsten und Monarchen getragen hatte …

Ein Scharlatan, mehr nicht, dachte Adelia.

Und eine Jungfrau. Mansur hatte es erkannt und ihr gesagt, doch mit der Arroganz eines Mannes, der eine Erektion haben konnte, hatte Mansur nicht bedacht, dass die Scham über vermeintliches Versagen in Boshaftigkeit umschlagen konnte. Ein anderer Mann der Kirche hätte vielleicht diesen Zustand gesegnet, der seine Keuschheit schützte, doch nicht der Abt von Eynsham. Er sehnte sich, gierte nach der natürlichsten und einfachsten Gabe, die ihm versagt geblieben war.

Vielleicht ließ er die Welt dafür bezahlen, wenn er mit seinem brillanten Verstand in der hohen Politik mitmischte, Männer und Frauen auf seinem Schachbrett hin und her schob, die eine Figur opferte, die andere vorrücken ließ, und sich so für die quälende Neugier entschädigte, die ihn aus ihrem Garten Eden ausschloss, an dessen Mauer er auf und ab sprang, um einen Blick hineinzuwerfen.

»Um Krieg anzuzetteln, meine Liebe«, sagte er gerade. »Könnt Ihr das begreifen? Natürlich könnt Ihr das nicht – Ihr seid der Lehm, aus dem Ihr geformt wurdet, und der Lehm, zu dem Ihr wieder zurückkehren werdet. Einen Krieg, um das Land von einem barbarischen und unreinen König zu säubern. Um den armen Becket zu rächen. Um England wieder in Gottes Hand zu geben.«

»Und das alles hätten Rosamunds Briefe bewirkt?«, fragte sie.

Er blickte auf. »Allerdings, das hätten sie. Eine gekränkte und rachsüchtige Frau, und glaubt mir, niemand ist rachsüchtiger als unsere huldvolle Eleanor, wird allen Ketten entfliehen, jedes Gebirge überwinden und jeden Ozean überqueren, um die Missetäterin in den Staub zu treten. Und genau das hat sie getan.«

»Aber warum musstet Ihr Rosamund dann vergiften?«

»Wer sagt, dass ich das war?« Sehr schneidend.

»Der Mörder, den Ihr gedungen habt.«

»Der lustige Jacques ist ein wenig schwatzhaft, nicht? Schwyz wird sich um den jungen Mann kümmern müssen.«

»Die Leute werden denken, die Königin war es.«

»Der König denkt das, wie beabsichtigt«, sagte er unbestimmt. »Barbaren sind so leicht zu manipulieren, meine Liebe.« Er richtete den Blick wieder auf den Brief und las weiter. »Ausgezeichnet, oh, ausgezeichnet«, sagte er. »Hatte ich schon ganz vergessen … ›An Lady Eleanor, Herzogin von Aquitanien und vermeintliche Königin von England, es grüßt Euch die wahre und einzige Königin dieses Landes, Rosamund, die Schöne.‹ Was hab ich durchgemacht, bis ich diese begriffsstutzige Kuh dazu überreden konnte … Robert, Robert, was bist du doch für ein durchtriebenes Bürschchen …«

Ein Luftzug bewegte Adelias Mantel. Der Wandbehang hinter Rosamunds Bett hatte sich gehoben. Als die Kälte aus dem versteckten Abort in den Raum drang, brachte sie einen anderen, alltäglicheren Gestank mit als den der armen Leiche auf dem Bett. Er wurde unterbunden, als der Behang wieder herabfiel.

Adelia ging zum Fenster. Der Abt hielt noch immer den Brief ins Licht und las. Sie stellte sich so hin, dass er, wenn er aufblickte, sie sehen würde und nicht die Gestalt, die jetzt am Bett entlangschlich. Sie hielt kein Messer in der Hand, aber sie war trotzdem der Tod – diesmal ihr eigener.

Dakers starb. Adelia hatte diese gelbliche Haut und die tiefliegenden Augen schon zu oft gesehen, um nicht zu wissen, was das bedeutete. Die Tatsache, dass die Frau sich überhaupt noch auf den Beinen hielt, war ein Wunder, aber sie tat es. Und sie schlich lautlos.

Hilf mir, flehte Adelia lautlos. Tu was. Ohne sich zu bewegen, legte sie die Bitte in ihre Augen. Hilf mir.

Aber Dakers sah weder sie noch den Abt an. All ihre Energie richtete sich darauf, die Treppe zu erreichen.

Adelia beobachtete, wie die Frau zwischen Tür und Türrahmen hindurchschlüpfte, ohne irgendwo anzustoßen, und dann verschwand. Ein wilder Hass erfasste sie. Du hättest ihn mit irgendwas niederschlagen können.

Noch immer lesend, setzte sich der Abt auf Rosamunds Stuhl und murmelte dabei halblaut vor sich hin. »›… und ich erfreue den König im Bett besser, als Ihr das je vermochtet, wie er mir gesagt hat …‹ Ich wette, das hast du, Mädchen. Gelutscht und geleckt, ich wette, das hast du. ›… er stöhnte vor Lust …‹ Ich wette, das hat er, du dreckige Hure …«

Er erregte sich selbst mit seinen eigenen Worten.

In dem Moment, als Adelia das dachte, sah er auf – genau in ihre Augen. Sein Gesicht rötete sich. »Was starrt Ihr mich so an?«

»Nur so«, sagte sie. »Ich blicke Euch an und sehe nichts.«

Schwyz rief irgendwas von der Treppe, doch seine Stimme wurde von Eynshams Schrei übertönt: »Ihr richtet über mich? Ihr, eine Hure … richtet über mich?«

Er sprang auf, eine Riesenwelle, die sich erhob und sie erfasste. Er hielt sie an die Brust gepresst und schleppte sie mit, so dass ihre Füße zwischen seinen Knien hingen. Sie konnte nichts sehen und dachte, er würde sie aus dem Fenster werfen, doch dann drehte er sich um, packte sie im Nacken und am Gürtel und hob sie hoch.

Einen winzigen Augenblick lang sah sie das Bett, dann hörte sie ein Ächzen und wurde hinuntergeschleudert auf das, was darauf lag.

Als Adelias Körper auf der Leiche landete, stieß der Bauch der Toten mit einem pfeifenden Geräusch seine Gase aus.

Der Abt brüllte noch immer. »Küsst euch. Küsst, küsst, küsst … Lutscht, leckt, ihr Weiber.« Er stieß ihr Gesicht in das von Rosamund. Er drehte ihren Kopf hin und her wie ein Stück Obst, presste ihn in das Fett. »Schnüffelt, lutscht, leckt …«

Sie erstickte in verwesendem Fleisch.

»Rob. Rob. Im Stall steht ein Pferd.«

Es hörte auf. Es war vorbei.

»Kein Reiter«, sagte Schwyz. »Kann keinen Reiter finden, aber irgendwer ist hier.«

»Was für ein Pferd?«

»Streitross. Schönes Tier.«

»Ist es seins? … Er kann nicht hier sein. Jesus steh uns bei, ist er hier?«

Die Tür knallte zu, und ihre Stimmen verschwanden.

Adelia rollte sich vom Bett und tastete sich durchs Zimmer zu einem der Fenster, wo ihre gefesselten Hände auf dem Sims nach übriggebliebenem Schnee suchten. Sie fand welchen und stopfte ihn sich in den Mund. Das nächste Fenster und noch mehr Schnee in den Mund, sie putzte sich damit die Zähne, spuckte ihn aus. Noch mehr für das Gesicht, die Nasenlöcher, für Augen und Haar.

Sie taumelte von Fenster zu Fenster, doch es gab nicht genug Schnee in der Welt, nicht genug sauberes, betäubendes Eis …

Durchnässt, zitternd sank sie auf Rosamunds Stuhl, und während ihre gefesselten Hände noch immer über ihren Hals rieben, legte sie den Kopf auf den Tisch und begann, bebend und keuchend zu schluchzen. Hemmungslos wie ein Säugling weinte sie um sich selbst, um Rosamund, Eleanor, Emma, Allie, alle Frauen überall, sie weinte wegen allem, was ihnen angetan wurde.

»Warum flennt Ihr denn?«, fragte eine gekränkte Männerstimme. »Das findet Ihr schlimm? Dann solltet Ihr mal ein Weilchen mit Dakers versteckt in einem Scheißhaus hocken.«

Ein Messer zertrennte den Strick an ihren Handgelenken. Ein Taschentuch wurde ihr an die Wange gedrückt. Es roch nach Pferdesalbe. Es roch herrlich.

Unendlich vorsichtig drehte sie den Kopf so, dass ihre Wange auf dem Taschentuch ruhte und sie zu ihm hochschielen konnte.

»Wart Ihr die ganze Zeit da drin?«, fragte sie.

»Die ganze Zeit«, antwortete der König.

Den Kopf noch immer auf dem Tisch, sah sie zu, wie er ans Bett trat, den Umhang aufhob und ihn sorgsam wieder über den Leichnam breitete. Dann ging er zur Tür und versuchte, den Riegel zu öffnen. Er ließ sich nicht bewegen. Er bückte sich und spähte durchs Schlüsselloch.

»Abgeschlossen«, sagte er, als wäre das ein Trost.

Der Gebieter über ein Reich, das sich von der Grenze Schottlands bis zu den Pyrenäen erstreckte, trug Jagdkleidung aus verschlissenem Leder – sie hatte ihn nie in irgendwas anderem gesehen; das taten nur wenige. Er hatte den wiegenden säbelbeinigen Gang eines Mannes, der mehr Zeit im Sattel verbrachte als auf dem Boden. Nicht groß, nicht gutaussehend, es gab nichts, was ihn irgendwie auszeichnete, außer einer Energie, die den Blick bannte. Wenn Henry Plantagenet im Raum war, sah niemand irgendwo anders hin.

Die Falten, die von der Nase zu den Mundwinkeln verliefen, waren tiefer geworden, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, in seinen Augen lag weniger Glanz, und das rote Haar war lichter geworden; etwas war ihm unwiederbringlich verlorengegangen.

Vor lauter Erleichterung verspürte Adelia den irrwitzigen Drang, loszukichern. Sie rieb sich die Handgelenke. »Wo sind Eure Männer, Mylord?«

»Tja, also …« Er verzog das Gesicht, wandte sich von der Tür ab und schob sich um den Tisch herum, um vorsichtig nach draußen zu spähen. »Die sind auf dem Weg hierher, nur ein paar wohlgemerkt, aber handverlesene Männer, gute Männer. Ich hab mir die Lage in Oxford angesehen und den jungen Geoffrey dagelassen, um die Stadt zu erobern, ehe er weiter nach Godstow zieht.«

»Aber … hat Rowley Euch gefunden? Wisst Ihr, dass die Königin in Godstow ist?«

»Deshalb nimmt Geoffrey es ja dann als Nächstes ein«, sagte er gereizt. »In beiden Fällen dürfte er keine Probleme haben. Die Rebellen, Gott verfluche sie, ich werde ihnen die Köpfe abreißen, waren sowieso schon kurz davor, in Oxford die weiße Fahne zu hissen, also …«

»Meine Tochter ist in Godstow«, sagte sie, »meine Leute …«

»Ich weiß, Rowley hat’s mir gesagt. Und Geoffrey weiß es, weil ich es ihm gesagt habe. Hört auf zu jammern: Ich hab schon Schneemänner gesehen, die bessere Verteidigungsstrategen waren als dieser Wolvercote. Überlasst das ruhig dem jungen Geoffrey.«

Vermutlich blieb ihr nichts anderes übrig.

Er schaute sich um. »Wie geht’s Rowleys Kleiner denn so? Hat sie schon ihren ersten Zahn? Zeigt sie Talent für die Medizin?«

»Es geht ihr gut.« Irgendwie kriegte er sie immer. Aber es wäre schön, hier rauszukommen. »Diese handverlesenen Männer …«, sagte sie. Das war derselbe Mist wie bei Rowley. Wieso brachte keiner von ihnen einmal ein richtiges Heer mit?

»Sie sind auf dem Weg«, sagte er, »aber ich fürchte, ich habe sie weit hinter mir gelassen.« Er drehte sich wieder zum Fenster um. »Man hatte mir gesagt, dass sie noch immer nicht beerdigt worden ist, versteht Ihr? Meine Leute bringen einen Sarg mit. Die armen Teufel kamen einfach nicht mehr mit.«

Wie auch? Er musste wie der Teufel geritten sein, um Abschied nehmen zu können, um die Schmach wiedergutzumachen, die man seiner Geliebten angetan hatte.

»Ich war noch nicht lange da, als ihr aufgetaucht seid«, sagte er. »Ich habe gehört, wie ihr die Treppe heraufkamt, also haben Dakers und ich uns versteckt. Erste Regel, wenn man in der Unterzahl ist – finde heraus, wie stark der Feind ist.«

Und dann hatte er erfahren, dass Rosamund ihn in ihrer Dummheit und ihrem Ehrgeiz verraten hatte. Wie seine Ehefrau, wie sein ältester Sohn.

Adelia empfand schreckliches Mitleid. »Die Briefe, Mylord … Es tut mir so leid.«

»Schweigt davon.«

Das war nicht höflich gemeint, sie sollte es nie wieder ansprechen. Seit er den Leichnam zugedeckt hatte, hatte er nicht wieder zu ihm hinübergeblickt.

»Da wären wir also«, sagte er. Er lehnte sich vorsichtig ein Stück nach draußen. »Ich muss schon sagen, die haben nicht viele Wachen aufgestellt. Da patrouillieren nur zwei Männer über den Hof – was zum Teufel treibt denn der Rest?«

»Sie wollen den Turm anzünden«, erklärte sie ihm. »Mit uns drin.«

»Wenn sie dazu das Holz unten in der Halle nehmen, müssen sie sich anstrengen. Das brennt ums Verrecken nicht.« Er beugte sich noch weiter aus dem Fenster und schnupperte. »Die sind in der Küche, ja … da wird was gekocht. Heiliger Strohsack, diese dämlichen Hunde nehmen sich tatsächlich die Zeit, was zu essen.«

Er verachtete Unfähigkeit, selbst bei seinen Feinden.

»Ich kann sie verstehen.« Sie war hungrig, ja, sie war völlig ausgehungert. Ein magischer König hatte diese groteske Kammer des Todes in etwas Erträgliches verwandelt. Ohne Mitleid, ohne Rücksicht auf sie als Frau, indem er sie als Kamerad behandelte, hatte er ihr neue Kraft gegeben. »Habt Ihr irgendwas zu essen dabei?«

Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ach herrje, jetzt hab ich doch glatt den Festtagsbraten vergessen. Nein, ich habe nichts. Glaube ich zumindest …« Er hatte eine Tasche in seiner Jacke und leerte den Inhalt mit einer Hand auf den Tisch, den Blick noch immer nach unten in den Hof gerichtet.

Ein Stück Schnur, eine Ahle, ein paar verschrumpelte Eicheln, Nadel und Zwirn in einem erstaunlich weiblichen Nähetui, ein Schiefertafelbuch mit Kreide und ein kleines Stück Käse, und alles voll mit Hafer für sein Pferd.

Adelia nahm den Käse und wischte ihn ab. Es war, als kaute sie auf Harz.

Jetzt, wo sie die Fassung zurückgewonnen hatte, begriff sie allmählich, was geschehen war. Dieser König, dieser aufbrausende König, dieser Mann, der, ob nun mit Absicht oder nicht, die Ritter aufgehetzt hatte, die Erzbischof Becket schließlich in seiner Kathedrale erschlugen, hatte still hinter einem Wandbehang gehockt und schweigend zugehört, ohne sich zu rühren, wie jemand einen Verrat ungeahnten Ausmaßes gestand. Und er war bewaffnet gewesen.

»Warum seid Ihr nicht rausgekommen und habt ihn getötet?«, fragte sie, nicht weil sie sich das gewünscht hätte, sondern weil sie ehrlich wissen wollte, wie er sich dermaßen hatte beherrschen können.

»Wen? Eynsham? Den Freund des Papstes? Legatus maleficus? Danke nein, er wird sterben, aber nicht durch meine Hand. Ich bin aus Schaden klug geworden.«

Er hatte Becket Canterbury gegeben, weil er ihm vertraute, ihn liebte – und von Stund an waren seine Reformen auf Schritt und Tritt behindert worden. Der Mord an dem Juden hassenden, gehässigen und nun heiliggesprochenen Erzbischof hatte die Christenheit gegen ihn aufgebracht. Er hatte überall dafür gebüßt, hatte sich sogar von den Mönchen von Canterbury öffentlich auspeitschen lassen, weil er nur so verhindern konnte, dass das päpstliche Interdikt über das Land verhängt wurde, das Trauungen, Taufen und Bestattung der Toten verbat …

Ja, er konnte jetzt seinen Zorn beherrschen. Eleanor, dem jungen Henry, sogar Eynsham drohte keine Hinrichtung.

Adelia dachte, wie seltsam es doch war, dass sie sich entspannt fühlte, während sie mit einem Mann, der im Augenblick ebenso hilflos war wie sie, oben in einem Turm eingesperrt war, der sich jede Minute in einen lichterloh brennenden Kamin verwandeln konnte.

Er jedoch war nicht entspannt; er trommelte gegen den Fensterpfosten. »Wo bleiben die denn, in Gottes Namen? Verdammt, wenn ich so schnell hier sein kann, wieso können die es dann nicht?«

Weil du sie hinter dir gelassen hast, dachte Adelia. In deiner Ungeduld lässt du alle weit hinter dir, deine Frau, deinen Sohn, Becket, und erwartest dennoch, dass sie dich lieben. Sie sind Menschen unserer Zeit, und du bist es nicht. Du siehst über die Grenzen hinweg, die sie setzen. Du siehst mich als das, was ich bin, und nutzt mich zu deinem Vorteil, du siehst Juden, Frauen, selbst Ketzer als menschliche Wesen und nutzt sie zu deinem Vorteil. Du hast Visionen von Gerechtigkeit, Toleranz, Unerreichbarem. Natürlich kann keiner mit dir mithalten.

Seltsamerweise war der einzige Verstand, den sie mit seinem auf eine Stufe stellte, der von Mutter Edyve. Die Welt glaubte, dass das, was jetzt war, von Dauer wäre, so und nicht anders von Gott gewollt. Folglich konnte es keine Veränderungen geben, ohne ihm zuwiderzuhandeln.

Nur eine sehr alte Frau und dieser ungestüme Mann besaßen die frevlerische Unverschämtheit, den Status quo in Frage zu stellen und zu glauben, die Welt konnte und sollte zum Wohle aller verändert werden.

»Also los«, sagte er. »Wir haben Zeit. Lasst hören. Ihr seid meine Ermittlerin – was habt Ihr herausgefunden?«

»Ihr bezahlt mich aber nicht dafür, Eure Ermittlerin zu sein.« Eine bessere Gelegenheit, das Thema endlich mal anzusprechen, würde sich wohl kaum bieten.

»Ach nein? Ich dachte, doch. Wendet Euch an die Staatskasse. Und nun los, los.« Seine Wurstfinger trommelten auf den Fenstersims. »Lasst hören.«

Also erzählte sie ihm alles von Anfang an.

Der Tod des Talbot aus Kidlington interessierte ihn nicht. »Törichter Junge. Ich schätze, es war der Vetter. Traut nie einem Menschen, der Euer Geld verwaltet … Wolvercote? Bösartige Familie. Alles Rebellen. Meine Mutter hat den Vater an der Brücke von Godstow aufhängen lassen, und ich werde mit dem Sohn ebenso verfahren. Weiter, weiter, nun kommt endlich zum Wesentlichen.«

Er meinte Rosamunds Tod, aber für Adelia war das alles wesentlich, und sie würde ihm nichts davon ersparen. Sie war schlau gewesen, sie war mutig gewesen, und es hatte zu viele Menschenleben gekostet. Er würde alles erfahren. Schließlich bekam er es umsonst.

Sie erzählte unverdrossen weiter, biss dann und wann in den Käse. Der König behielt den Hof im Auge. Der Körper der Frau, die alles in Bewegung gesetzt hatte, lag auf dem Bett und verweste.

Er unterbrach sie. »Wer ist das … Heiliger Strohsack, der klaut mein Pferd. Ich zerreiß ihn in der Luft, ich zerhack ihm die Eingeweide, ich …«

Adelia stand auf und sah nach, wer da das Streitross des Königs stahl.

Aufkommender Nebel verhüllte den Berg und tauchte den Hof unter ihnen in verschwommenes Licht, doch die Gestalt, die das Pferd im Galopp auf den Eingang zum Irrgarten zutrieb, war erkennbar, obwohl sie sich tief über den Pferdehals beugte.

Adelia stieß einen Schrei aus. »Nein, der nicht. Er darf nicht entkommen. Haltet ihn auf, um Gottes willen, haltet ihn auf.«

Aber da war niemand, der ihn hätte aufhalten können. Ein paar von Schwyz’ Männern hatten das Hufgetrappel gehört und rannten Richtung Irrgarten, vergeblich.

»Wer war denn das?«, fragte der König.

»Der Mörder«, antwortete sie. »Warum? Großer Gott, er darf nicht entkommen. Ich will, dass er bestraft wird.« Für Rosamund, für Bertha …

Irgendetwas musste ihn in die Flucht geschlagen haben, wenn er auf die zweite Rate seines heißbegehrten Honorars verzichtete.

Dann zupfte sie den König am Ärmel. »Eure Männer«, sagte sie. »Er muss sie gehört haben. Sie sind hier. Ruft nach ihnen. Sagt ihnen, sie sollen ihn verfolgen. Können sie ihn schnappen?«

»Ich will’s hoffen«, sagte er. »Das ist ein verdammt gutes Pferd.«

Aber wenn Henrys Männer tatsächlich gekommen waren und der Mörder sie gehört und daraufhin beschlossen hatte, sein Geld abzuschreiben, wieso war dann im Hof unten nichts von ihnen zu sehen und zu hören?

Gemeinsam beobachteten Adelia und der König, wie die Verfolger achselzuckend zurückkehrten und in der Küche verschwanden.

»Seid Ihr sicher, dass Eure Männer herkommen?«, fragte sie.

»Wir werden sie erst sehen, wenn sie bereit sind. Sie kommen von hinten durch den Irrgarten.«

»Es gibt noch einen anderen Eingang?«

Der König grinste. »Mach es wie der Maulwurf, sorg immer für einen zweiten Ausgang. Und nun weiter, erzählt mir den Rest.«

Jacques’ Flucht machte ihr zu schaffen. Sie dachte an das kleine namenlose Grab auf dem Friedhof der Nonnen … Das einzig Gute war, dass der Mörder seinem Auftraggeber das einzige Pferd vor der Nase weggeschnappt hatte.

Die Finger des Königs trommelten erneut, also fuhr sie mit ihrem Bericht da fort, wo sie aufgehört hatte.

Und wurde sogleich wieder unterbrochen. »He, wo will Dakers denn hin?«

Adelia war sofort an seiner Seite. Der Nebel hatte angefangen, die Augen zu narren. Er trieb in Schwaden und Wirbeln dahin, dass man meinte, Schneehügel wären geduckte Männer und Tiere, doch die dünne schwarze Gestalt von Rosamunds Haushälterin, die da Richtung Irrgarten kroch, konnte er nicht verbergen.

»Was schleift sie denn da mit?«

»Weiß der Himmel«, sagte der König. »Einen Sägebock?«

Es war jedenfalls etwas großes Eckiges, viel zu schwer für das menschliche Knochenbündel, das nach jedem Zug an der Last zusammenbrach, sich aber immer wieder aufrappelte und erneut zog.

»Sie ist natürlich verrückt«, sagte der König. »War sie schon immer.«

Es war quälend, eine solche Anstrengung mit anzusehen, aber sie schauten dennoch hin und mussten ihre Augen immer wieder neu an das sich ständig verändernde Grau gewöhnen, während Dakers wie eine Ameise ihre Last weiterzerrte.

Lass es doch liegen, was immer es ist, flehte Adelia sie an. Sie haben dich noch nicht gesehen. Geh und stirb eines natürlichen Todes.

Ein weiteres Blinzeln, und da war nur noch Nebel.

»Also …«, sagte der König. »Ihr hattet eines von Eynshams Machwerken aus diesem Zimmer mit nach Godstow genommen und es dem Priester gegeben … Weiter.«

»Er hat eine unverkennbare Handschrift«, erklärte sie ihm. »Ich habe nie eine vergleichbare gesehen, sehr geschwungen, wirklich schön, er verwendet klassisch eckige Kapitalbuchstaben und füllt sie dann mit Schnörkeln aus, und seine Minuskeln …«

Henry seufzte, und Adelia sprach hastig weiter. »Jedenfalls, Schwester Lancelyne, das ist die Bibliothekarin von Godstow, hat einmal an Eynsham geschrieben und angefragt, ob sie seine Ausgabe von Boethius’ Trost der Philosophie haben könnte, um sie zu kopieren, und er hatte in einem Antwortschreiben abgelehnt …«

Sie sah wieder die gelehrte kleine Nonne vor ihren leeren Regalen. »Falls wir je hier rauskommen, möchte ich, dass Schwester Lancelyne sie bekommt.«

»Eine ganze Philosophie? Eynsham hat einen Boethius?« Die Augen des Plantagenet leuchteten. Er gierte nach Büchern, und wenn es um die anderer Leute ging, war ihm nicht zu trauen.

»Ich hätte gerne«, sagte Adelia sehr deutlich, »dass Schwester Lancelyne sie bekommt.«

»Na schön, meinetwegen. Aber sie soll gut auf sie aufpassen. Weiter, erzählt weiter.«

»Und wo wir schon mal dabei sind …« Ein wenig Gutes sollte schon dabei herausspringen. »Falls Emma Bloat Witwe werden sollte …«

»Das wird sie«, versprach der König. »O ja, das wird sie.«

»Dann soll sie nicht wieder in eine andere Ehe gezwungen werden.«

Mit ihrem eigenen Vermögen und Wolvercotes Ländereien wäre Emma heiß begehrt. Und als Witwe eines Barons des Königs wäre es zudem Henrys Vorrecht, sie erneut zu verheiraten, eine kostbare Ware auf dem königlichen Markt.

»Bin ich hier auf dem Pferdemarkt?«, fragte der König. »Feilscht Ihr etwa? Mit mir?«

»Ich verhandele. Betrachtet das als mein Honorar.«

»Ihr werdet mich noch ruinieren«, sagte er. »Also gut. Können wir jetzt bitte fortfahren? Ich brauche Beweise für Eynshams Schandtaten, um sie dem Papst vorzulegen, und ich glaube kaum, dass eine schnörkelige Schrift da genügen wird.«

»Pater Paton hat das geglaubt.« Adelia schloss kurz die Augen. »Der arme Pater Paton.«

»Wie dem auch sei …« Henry sah zu dem Tisch hinüber. »Der Bastard scheint seinen Brief mitgenommen zu haben.«

»Es gibt noch mehr. Aber wir können nicht beweisen, dass er einen Mörder gedungen hat für … diejenige, die er getötet hat.«

»Darum mach ich mir keine Sorgen«, sagte der König. »Er wird es uns wahrscheinlich sagen.«

Ich hab einen Mann zur Folter verdammt, dachte sie. Plötzlich war sie müde und wollte nichts mehr sagen. Falls es Schwyz gelang, den Berg Holz unten in der Halle zum Brennen zu bringen, war es ohnehin sinnlos.

Sie kürzte ab, was noch zu sagen blieb. »Dann kam Rowley. Er hat seinem Reitknecht Walt gesagt, er soll auf mich aufpassen, wenn die Abtei angegriffen wird. Und Walt hat es nichtsahnend dem Mörder erzählt, der es wiederum Eynsham erzählt hat – der Abt hat große Angst vor Euch und beschloss zu fliehen und mich mitzunehmen.« Es hörte sich fast an wie eine Geschichte aus Kindermund. »Das ist alles«, sagte sie und schloss die Augen. »Mehr oder weniger.«

Das Tröpfeln von den Eiszapfen nahm zu, prasselte wie Regen auf die Fenstersimse des stillen Raumes.

»Vesuvia Adelia Rachel Ortese Aguilar«, sagte der König gedankenversunken.

Es war ein Lob.

Sie öffnete die Augen, versuchte zu lächeln und schloss sie wieder.

»Er ist ein guter Kerl, der junge Geoffrey«, sagte Henry. »Sehr anhänglich. Gott segne ihn. Ich hab ihn von einer Dirne, Ykenai – eigenartiger Name, der Himmel allein weiß, zu welcher Rasse ihre Eltern gehörten, denn sie weiß es jedenfalls nicht. Eine üppige Frau, gemütlich. Ich sehe sie noch immer gelegentlich, wenn ich in London bin.«

Adelia war wieder ganz wach. Er erzählte ihr etwas, als Gegenleistung, als Lohn für ihre Mühe. Es ging um Rosamund, ohne dass ihr Name erwähnt wurde.

»Ich habe ihr einen Pastetenladen eingerichtet, den sie sehr erfolgreich betreibt, nur dass sie jetzt noch dicker ist als früher. Wir reden über Pasteten, es ist gar nicht so einfach, Pasteten zu machen.«

Füllige Frauen, gemütliche, gutgefederte Matratzen, wie Rosamund es auch gewesen war. Frauen, die über einfache Dinge sprachen, die ihn nicht forderten. Frauen, die sich von Eleanor so stark unterschieden wie Kreide von Käse – und vielleicht hatte er beides geliebt.

Von der Frau und von der Geliebten verraten. Ob Rosamund vom Ehrgeiz zerfressen war oder durch den gerissenen Abt dazu getrieben wurde, das Ergebnis blieb dasselbe. Sie hätte fast einen Krieg ausgelöst. Die einzige weibliche Zuflucht, die dieser Mann, dieser Herrscher, besaß, lebte in London in einem Pastetenladen, wo sie ihm immerhin einen treuen Sohn geboren hatte.

Henrys Stimme drang gehässig vom Fenster her. »Als der Bischof von St. Albans bei Euch war, hat er Euch da von seinem Eid erzählt?« Er wollte jemanden verletzen, der gleichfalls verraten worden war.

»Ja«, sagte sie.

»Er hat ihn in meiner Anwesenheit geschworen. Mit der Hand auf der Bibel. ›Ich schwöre bei Gott und allen Heiligen im Himmel, dass ich mich ihrer enthalten werde, solange Ihr sie sicher behütet und beschützt.‹«

»Ich weiß«, sagte sie.

»Ha.«

Zum ersten Mal seit Tagen hörte sie Vogelgezwitscher, als würden kleine gefrorene Herzen auftauen und wieder zum Leben erwachen.

Henry beugte sich vor, nahm ihr den restlichen Käse aus der Hand, zerbröselte ihn und streute die Krümel auf den Fenstersims.

Sofort kam ein Rotkehlchen angeflogen, um sie aufzupicken, und seine Flügel streiften fast Henrys Hand, ehe es wieder davonflatterte.

»Ich bringe England den Frühling zurück«, sagte der König. »Sie werden mich nicht besiegen, bei Gott, das werden sie nicht.«

Sie haben dich besiegt, dachte Adelia. Deine Männer kommen nicht. Du wirst von allen verraten.

Henry hatte den Kopf gehoben. »Hört Ihr das?«

»Nein.«

»Ich aber. Sie sind da.« Sein Schwert fuhr rasselnd aus der Scheide. »Jetzt gehen wir runter und schlagen diese Bastarde.«

Sie waren nicht da. Er hatte bloß die Vögel gehört. Sie beide würden für alle Zeit hier oben bleiben und neben Rosamund verfaulen.

Sie schleppte sich zum Fenster.

Aufgeregte Männer kamen aus der Küche gelaufen, schauten durch den Nebel irritiert nach links und rechts und rannten zurück, um ihre Waffen zu holen.

Sie hörte Schwyz rufen: »Um die andere Seite rum. Das kam von hinten.«

Der Abt von Eynsham machte ein paar unentschlossene Schritte auf den Eingang zum Irrgarten zu, trat dann wieder davon weg.

»Ja«, sagte Adelia.

Henrys Dolch, mit dem er ihre Handfesseln durchtrennt hatte, lag auf dem Tisch. Sie griff mit wilder Freude danach. Sie wollte gegen jemanden kämpfen.

Aber sie konnte nicht. Weil nämlich … »Mylord, wir sind eingeschlossen.«

Er stellte sich auf Zehenspitzen und tastete oben auf dem Ring herum, an dem der Vorhang von Rosamunds Bett befestigt war. Als er die Hand wieder senkte, hielt sie einen Schlüssel. Er winkte ihr damit. »Geh nie in ein Loch ohne zweiten Ausgang.«

Dann waren sie durch die Tür und polterten die Treppe hinunter, Henry voran.

Zwei Stockwerke tiefer kam ihnen einer von Schwyz’ Männern mit gezogenem Schwert entgegengelaufen. Ob er nach einem Versteck suchte oder heraufgeschickt worden war, um sie zu erledigen, sollte Adelia nie erfahren. Seine Augen weiteten sich, als er den König sah.

»Falsche Richtung«, stellte Henry fest und stieß ihm sein Schwert in den Mund. Der Mann fiel. Der König durchbohrte ihn noch einmal, hob ihn dann mitsamt Schwert wie auf einem Bratspieß hoch und schüttelte ihn ab, so dass er um die nächste Treppenbiegung fiel. Er stieß den schweren Mann immer weiter, um die nächste Biegung und die nächste, obwohl er längst tot war, als sie unten in der Halle ankamen.

Die Luft draußen wurde von Schreien und metallischem Klirren zerfetzt. Der Nebel war noch dichter geworden, so dass kaum zu sagen war, wer da gegen wen kämpfte.

Der König verschwand, und Adelia hörte einen frohen Aufschrei, »Dieu et Plantagenet«, als er einen Gegner fand.

Es war, als befände sie sich mitten in einer Schlacht von unsichtbaren Geistern. Mit erhobenem Dolch ging sie vorsichtig in die Richtung, wo sie Eynsham zuletzt gesehen hatte. Ein Mörder war geflohen, aber verdammt sollte sie sein, wenn noch ein anderer der Gerechtigkeit entkam. Und das würde er, wenn er konnte. Der Abt war kein mutiger Mann; das Töten überließ er stets anderen.

Zwei schwere Gestalten tauchten links von ihr auf, und ihre Schwerter sprühten Funken, als sie aufeinander einschlugen. Adelia sprang beiseite, und sie verschwanden wieder.

Wenn ich ihn rufe, wird er kommen, dachte sie. Sie war noch immer ein Unterpfand, und er würde sie als Schutzschild benutzen wollen. Sie hatte ein Messer, sie könnte ihn bedrohen und festhalten. »Abt.« Ihre Stimme klang hell und dünn. »Abt.«

Irgendetwas antwortete ihr mit noch hellerer Stimme. Verblüfft. Mit einem Crescendo der Qual, das zu einem nicht mehr menschlichen Falsett anstieg. Mit Schreien, die durch den Nebel pulsierten, den Kampflärm übertönten und zum Schweigen brachten. Es übertönte einfach alles.

Es kam aus Richtung Irrgarten. Adelia lief darauf zu, glitt im Matsch aus, fiel, rappelte sich hoch und rannte weiter. Was immer es war, es brauchte Hilfe. Es zu hören war unerträglich.

Irgendwer platschte an ihr vorbei. Sie konnte nicht sehen, wer.

Eine Mauer aus Büschen ragte vor ihr auf. Hektisch tastete sie sich daran entlang bis zum Eingang des Irrgartens, wo das Schreien herkam. Es wurde jetzt leiser. Vernahm sie Worte darin? Ein Gebet? Flehen?

Sie erreichte den Eingang und stürzte sich hinein.

Seltsamerweise war die Sicht hier besser. Es war bloß dämmrig, als wären die vielen Gänge schon verwirrend genug und hätten dem Nebel in ihren Windungen Einhalt geboten. Die heckenbewachsenen Tore standen offen, boten noch immer freien Durchgang.

Er war weit hineingelaufen, fast bis zu dem Ausgang, der zum Hügel führte. Das Geräusch wurde jetzt zu einem leisen Murmeln, als wäre da jemand unzufrieden. Als Adelia näher kam, hörte es ganz auf.

Beim letzten Todeskrampf hatte sich der Abt rückwärts über die Menschenfalle gereckt, so dass sich sein Bauch nach außen wölbte. Sein Mund war weit aufgerissen. Er sah aus, als wäre er brüllend vor Lachen gestorben.

Sie schob sich um das Gestell herum zur Vorderseite. Schwyz befingerte das zerfetzte Fleisch, wo die Zähne der Falle in Eynshams Leiste gedrungen waren.

»Ist ja gut, Rob«, sagte er. »Ist ja gut.« Er sah Adelia an. »Helft mir.«

Es war sinnlos. Er war tot. Man würde zwei Männer brauchen, um die Falle aufzustemmen. Nur ein Hass so stark wie das Feuer der Hölle hatte Dakers die Kraft verliehen, die Verstrebungen auseinanderzuwuchten, so dass die Zahnreihen flach auf dem Boden lagen und darauf warteten, nach dem Mann zu schnappen, der Rosamund vergiftet hatte.

Die Haushälterin hatte sich wenige Schritte entfernt hingesetzt, um ihm beim Sterben zuzusehen. Und war mit ihm gestorben, ein Lächeln im Gesicht.

 

Es gab viel aufzuräumen.

Sie brachten die Verwundeten zu Adelia auf den Landungssteg, weil sie nicht mehr zum Turm zurückkehren wollte. Es waren nicht viele, und keiner war schwer verletzt. Die meisten mussten nur mit ein paar Stichen genäht werden, was sie mit dem Inhalt von Henrys Nähetui bewerkstelligte.

Alle waren Plantagenets Männer. Henry hatte keine Gefangenen genommen.

Sie fragte nicht, was aus Schwyz geworden war. Es war ihr egal. Und ihm war es vermutlich auch egal gewesen.

Eine Barkasse kam von Godstow den Fluss herauf und brachte Rosamunds vielgereisten Sarg mit. Der Bischof von St. Albans war an Bord einer zweiten. Er war dabei gewesen, als der junge Geoffrey die Abtei erstürmte, und sah zum Umfallen müde aus. Als er Adelia erblickte, blieb er zurückhaltend, aber er dankte Gott für ihre Befreiung. Godstow war ohne Verluste aufseiten Plantagenets erobert worden. Wolvercote, der jetzt in Ketten lag, war der Einzige gewesen, der überhaupt Widerstand geleistet hatte.

»Allie ist sicher und wohlauf«, sagte er. »Ebenso wie Gyltha und Mansur. Die haben uns vom Fenster im Gästehaus aus angefeuert.«

Mehr musste sie nicht wissen. Oder doch, eines noch. »Was ist mit Master Warin?«, fragte sie.

»Diese Heulsuse? Der hat versucht, über die hintere Mauer abzuhauen, also haben wir ihn in Eisen gelegt.«

»Gut.«

Es taute immer stärker. Die ausgezackten Eisplatten, die den Fluss hinabtrieben und gegen den Landungssteg stießen, schrumpften sichtlich. Adelia beobachtete sie. Jede einzelne trug ihre eigene kleine Nebelbank durch die verhangene Luft.

Es war noch immer sehr kalt.

»Komm mit zum Turm«, sagte Rowley. »Wärm dich auf.«

»Nein.«

Er legte seinen Mantel um sie, aber ohne sie dabei zu berühren. »Eleanor ist entkommen«, sagte er. »Sie durchkämmen den Wald nach ihr.«

Adelia nickte. Es spielte ohnehin keine Rolle mehr.

Er trat zurück. »Ich muss jetzt zu ihm. Ich soll die Toten segnen.«

»Ja«, sagte sie.

Er wandte sich ab und ging zum Turm und zu seinem König.

Ein zweiter Sarg, der aus Teilen des Scheiterhaufens zusammengehämmert worden war, wurde zum Landungssteg getragen. Dakers würde ihre Herrin ins Grab begleiten.

Die übrigen Toten wurden im Hof gestapelt. Dort würden sie bleiben, bis die Erde weich genug war, um ein Gemeinschaftsgrab zu schaufeln.

Henry kam, trieb das Beladen der Barkasse voran und brüllte die Ruderer an, er würde ihnen die Eier abreißen, wenn sie nicht ruderten, was das Zeug hielt. Er wollte möglichst schnell nach Godstow und von dort nach Oxford.

Er geleitete Adelia an Bord. Der Bischof von St. Albans würde, wie er erklärte, zurückbleiben und sich um die Beerdigungen kümmern.

Der Nebel war zu dicht, um einen letzten Blick auf den Wormhold Tower zu werfen, selbst wenn Adelia zurückgeschaut hätte, was sie nicht tat.

Der Plantagenet ging nicht in die Kajüte, weil er alle Hände voll damit zu tun hatte, die Ruderer von Flussbänken wegzudirigieren, Notizen in sein Schiefertafelbuch zu kritzeln und das Wetter zu studieren. »Bald kommt Wind auf.«

Er ließ auch Adelia nicht hineingehen. Er sagte, frische Luft täte ihr gut, und bugsierte sie auf eine Ruderbank im Heck.

»Ich geh zurück nach Salerno«, eröffnete sie ihm.

Er seufzte. »Das Gespräch hatten wir doch schon.«

Ja, und zwar nach dem letzten Mal, als er Todesfälle von ihr hatte aufklären lassen. »Ich bin nicht Eure Untertanin, Henry. Ich bin Sizilianerin.«

»Ja, aber wir sind in England, und hier bestimme ich, wer kommt und wer geht.«

Sie schwieg, und er schlug einen schmeichlerischen Ton an. »Ich brauche Euch. Und nach England würde Euch Salerno auch gar nicht mehr gefallen. Viel zu heiß da, Ihr würdet vertrocknen wie eine Dörrpflaume.«

Sie presste die Lippen zusammen und wandte den Kopf ab. Verdammt, bloß nicht lachen.

»Hä?«, sagte er. »Stimmt doch, oder?«

Sie musste die Frage stellen. »Wusstet Ihr, dass Dakers die Falle für Eynsham aufstellen wollte?«

Er war erst erstaunt, dann gekränkt. Wenn er nicht gerade dabei gewesen wäre, sie umzustimmen, wäre er wütend geworden. »Wie zum Teufel hätte ich denn sehen sollen, was die Frau da mitgeschleift hat? Bei dem Nebel.«

Sie würde es nie erfahren. Für den Rest ihres Lebens würde sie das Bild vor sich sehen, wie er und Dakers gemeinsam in dem Abort hockten und Rachepläne schmiedeten. »Er wird sterben, aber nicht durch meine Hand«, hatte er gesagt. Er war seiner Sache so sicher gewesen.

»Üble Dinger, diese Menschenfallen«, sagte er. »Ich setz die nie ein.« Und stockte. »Außer für Wilderer.« Und stockte. »Die sie verdient haben.« Wieder stockte er. »Und dann nur solche, die ins Bein gehen.«

Sie würde es nie erfahren.

»Ich kehre nach Salerno zurück«, sagte sie mit Nachdruck.

»Das würde Rowley das Herz brechen, Eid hin oder her.«

Es würde wahrscheinlich auch das ihre brechen, aber sie würde trotzdem gehen.

»Ihr bleibt.« Der Ruderer, der ihnen am nächsten war, drehte sich bei dem Schrei um. »Ich hab genug von irgendwelchen Rebellionen.«

Er war der König. Der Weg nach Salerno verlief durch weite Teile des Landes, die niemand ohne seine Erlaubnis durchqueren durfte.

»Es ist der Eid, nicht?«, sagte er wieder mit Schmeichelstimme. »Ich selbst hätte ihn ja nicht geschworen, aber ich bin auch nicht zur Keuschheit verpflichtet, den Heiligen sei Dank. Mal sehen, was wir da machen können – meine Hingabe an Gott sucht ihresgleichen, aber er ist nicht gut im Bett.«

 

Die Fahrt dauerte nicht lang. Durch das Tauwetter führte die Themse Hochwasser und trug die Barkasse rasch flussabwärts. Henry verbrachte den Rest der Zeit damit, Notizen in sein Schiefertafelbuch zu machen. Adelia saß da und starrte ins Nichts, das Einzige, was zu sehen war.

Aber der König behielt recht. Als sie sich Godstow näherten, war eine leichte Brise aufgekommen, und ein Stück weiter vor ihnen war die Brücke so eben sichtbar. Irgendwas spielte sich dort ab. Der Mittelbogen war leer, doch an beiden Enden drängten sich Menschen jeweils um eine einzige Gestalt.

Als die Barkasse das Dorf passierte, war zu erkennen, was die Leute auf dieser Seite der Brücke machten.

Jemand wurde aufgehängt. Wolvercote stand in der Mitte der Menge und überragte alle. Er hatte eine Schlinge um den Hals, während ein Mann dabei war, das andere Ende des Stricks an einem Pfosten zu befestigen. Neben ihm bewegte der viel kleinere Pater Egbert die Lippen im leisen Gebet.

Von der Seite der Abtei aus beobachtete eine junge Frau die Szene. Die Menschen, die sich hinter ihr drängten, hielten Abstand, nur eine Gestalt – Adelia erkannte die matronenhafte Figur von Mistress Bloat – zog an der Hand ihrer Tochter, als flehte sie sie an. Emma achtete nicht auf sie. Ihre Augen beobachteten unbeirrt das Geschehen am anderen Ende der Brücke.

Ein junger Mann, der die Barkasse bemerkte, beugte sich übers Geländer. Seine Stimme ertönte klar und heiter. »Seid gegrüßt, Mylord! Ich danke Gott, dass er Euch beschützt hat.« Er grinste. »Ich hab nichts anderes erwartet.«

Die Ruderer begannen, gegen die Strömung zu rudern, um das Boot an Ort und Stelle zu halten und das Gespräch zwischen dem König und seinem Sohn zu ermöglichen. Über ihnen hielt Wolvercote den Blick himmelwärts gerichtet. Die Sonne zeigte sich allmählich. Ein Reiher erhob sich aus dem Schilf und flog schwerfällig flussabwärts.

Henry legte sein Schiefertafelbuch beiseite. »Gut gemacht, Geoffrey. Ist alles gesichert?«

»Alles sicher, Mylord. Und, Mylord, die Männer, die ich losgeschickt habe, die Königin zu verfolgen, haben Nachricht gesandt. Sie ist gefasst und wird zurückgebracht.«

Henry nickte. Er zeigte auf Wolvercote und sagte: »Hat er seine Sünden gebeichtet?«

»Alle außer den Verrat an Euch, Mylord. Er will keine Absolution für seine Rebellion.«

»Ich hätte dem Schwein sowieso keine Absolution erteilt«, sagte Henry zu Adelia. »Selbst der Herr wird sich das zweimal überlegen.« Er rief: »Dann runter mit ihm, Geoffrey, und möge Gott seiner Seele gnädig sein.« Er winkte den Ruderern, die Fahrt fortzusetzen.

Als das Boot vorbeiglitt, hoben zwei Männer Wolvercote hoch und stellten ihn auf das Geländer.

Pater Egbert hob die Stimme, um die Absolution zu sprechen: »Dominus noster Jesus Christus …«

Adelia wandte sich ab. Sie war jetzt nah genug, um Emmas Gesicht sehen zu können. Es war völlig ausdruckslos.

»… Deinde ego te absolvo a peccatis tuis, in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen.«

Das Schnarren eines ruckartig gespannten Stricks war zu hören. Gejohle und Jubel auf beiden Seiten der Brücke.

Adelia konnte nicht hinsehen, aber sie wusste, wann Wolvercotes Todeskampf zu Ende war, denn erst dann drehte Emma sich um und ging.

Eine Menschenmenge, bestehend aus Soldaten, Nonnen und Gesinde, also fast jedermann aus Godstow, hatte sich auf der Wiese unterhalb der Abtei versammelt, um König Henry zuzujubeln.

Adelia sah nur drei: einen großgewachsenen Araber, eine ältere Frau und ein Kind, dessen kleine Hand zur Begrüßung auf und ab geschwenkt wurde.

Schließlich brauche ich nur sie, sonst niemanden.

Allie hatte anscheinend ein neues Wort gelernt, denn Gyltha versuchte, sie dazu zu bringen, es auszusprechen, indem sie erst die Kleine aufmunterte und dann auf Adelia zeigte, die wegen des lauten Jubels nichts hören konnte.

Ein Ruf vom gegenüberliegenden Ufer übertönte den Lärm. »Mylord, Mylord. Wir bringen die Königin, Mylord.«

Auf einen Befehl von Henry hin schwenkte die Barkasse ab und steuerte quer über den Fluss auf eine Reitergruppe zu, die zwischen den Bäumen hervorkam. Ein Mann mit den Zeichen eines Hauptmanns der Plantagenet-Wache stieg ab, während einer seiner Soldaten der Königin von seinem Pferd half, auf dem sie im Damensitz geritten war.

Ein Türchen in der Heckreling der Barkasse wurde geöffnet und eine Planke hinausgeschoben, die bis zum Ufer reichte. Der Hauptmann, ein besorgt dreinblickender Mann, kam an Bord.

»Wie ist sie über den Fluss gekommen?«, fragte Henry.

»Weiter unten lag ein alter Lastkahn, Mylord. Wir glauben, Lord Montignard hat ihn rübergestakt … Mylord, er hat versucht, ihre Gefangennahme zu verhindern, er hat wie ein Wolf gekämpft, Mylord … er …«

»Sie haben ihn getötet«, rief die Königin vom Ufer aus. Sie wischte die Hand des Soldaten, der sie festhielt, vom Arm, als wäre sie ein Staubkorn.

Der König trat vor, um ihr an Bord zu helfen. »Eleanor.«

»Henry.«

»Die Verkleidung gefällt mir. Steht Euch gut.«

Sie war gekleidet wie ein Junge, und sie sah wirklich gut darin aus, obwohl niemand auf diese Verkleidung hereingefallen wäre. Schlank genug dafür war sie, doch der schlammfarbene kurze Umhang, die Stiefel und die keck sitzende Kappe, unter der sie ihr Haar verborgen hatte, das alles wurde mit zu viel Stil getragen.

Der Jubel auf der Seite der Abtei war verstummt. Die Menschen am anderen Ufer beobachteten in gespannter Stille die Begegnung zweier verfeindeter Olympier und warteten auf die Donnerschläge.

Es kamen keine. Adelia kauerte im Heck und sah zwei Menschen, die einander zu gut und zu lange kannten, um einander jetzt noch zu überraschen. Sie hatten acht Kinder und hatten gemeinsam um den Tod eines der Kinder getrauert, sie hatten gemeinsam große Länder beherrscht, gemeinsam Gesetze gemacht, gemeinsam Aufstände niedergeschlagen, sie hatten gemeinsam gestritten, gelacht und geliebt, und wenn all das jetzt in dem metaphorischen Versuch geendet hatte, einander zu zerfleischen, so lag es doch noch in ihren Augen und hing in der Luft zwischen ihnen.

Als ob sie es selbst jetzt nicht ertragen könnte, für ihn unweiblich auszusehen, nahm Eleanor ihre Kappe ab und warf sie im hohen Bogen in den Fluss. Es war ein Fehler. Die jungenhafte Kleidung wurde grotesk, als sich das lange, graumelierte Haar einer Fünfzigjährigen über ihre Schultern ergoss.

Sanft, barmherzig, zog ihr Mann seinen Mantel aus und legte ihn um sie. »Da, meine Liebe.«

»Nun, Henry«, sagte sie. »Wo geht’s diesmal hin? Zurück nach Anjou und Chinon?«

Der König schüttelte den Kopf. »Ich dachte eher an Sarum.«

Sie schnalzte mit der Zunge. »Oh, bitte nicht Sarum, Henry, das ist in England.«

»Ich weiß, Werteste, doch Ihr habt nun mal die leidige Angewohnheit, aus Chinon zu fliehen.«

»Aber Sarum«, beharrte sie. »Wie langweilig.«

»Na ja, mal sehen, wenn Ihr schön brav seid, lass ich Euch zu Ostern und Weihnachten hinaus.« Er winkte den Ruderern, sich in die Riemen zu legen. »Aber jetzt geht es erst einmal nach Oxford. Da warten ein paar Rebellen darauf, von mir gehenkt zu werden.«

Adelia erwachte aus ihrer Verzückung und geriet in Panik. Zwischen ihr und ihrem Kind lag ein Fluss. »Mylord, Mylord, lasst mich vorher aussteigen.«

Er hatte sie vergessen. »Ach so, ja natürlich.« Und zu den Ruderern: »Ans andere Ufer.«

Gegen die reißende Strömung kamen sie nur langsam voran, und der König machte die ganze Zeit seinem Unmut Luft. Als die Barkasse endlich am gegenüberliegenden Ufer eine Stelle zum Anlegen erreichte, war sie längst weit an der Abtei vorbei. Adelia wurde aus dem Boot gehoben und auf einer verlassenen Weide in den Matsch gestellt, in dem sie bis zu den Stiefelrändern versank.

Dem König gefiel das. Er beugte sich mit neugewonnenem Humor über die Reling. »Ihr müsst zurückplatschen«, grinste er.

»Ja, Mylord. Danke, Mylord.«

Das Boot legte wieder ab, und vom Heben und Senken der Ruder regneten glitzernde Tropfen aufs Wasser.

Plötzlich rannte der König in der Barkasse bis zum Heck, um ihr noch etwas zu sagen. »Was den Eid des Bischofs angeht«, rief er. »Macht Euch deswegen keine Sorgen. ›… solange Ihr sie sicher behütet und beschützt …‹ Sehr schön formuliert.«

Sie rief zurück. »Findet Ihr?«

»Ja.« Die rasch größer werdende Entfernung zwischen ihnen zwang ihn zu brüllen. »Adelia, Ihr seid meine Totenleserin, ob es Euch gefällt oder nicht …«

Jetzt sah sie nur noch das Plantagenet-Banner mit den drei Leoparden darauf flattern, weil die Barkasse in einer waldgesäumten Flussbiegung verschwand, doch die Stimme des Königs klang munter über die Bäume hinweg: »Ihr werdet niemals sicher sein«, rief er.