Kapitel zwei

Cambridge hatte nicht erwartet, seinen Bischof so bald wiederzusehen. Vor achtzehn Monaten, nach seiner Ernennung zum Bischof von St. Albans, hatte sich die Stadt für ihn herausgeputzt und all den Prunk aufgeboten, der einem Manne zukam, dessen Wort nur unwesentlich weniger zählte als das Gottes, des Papstes und des Erzbischofs von Canterbury.

Mit ebensolchem Prunk hatte sie ihn zu seiner Antrittsrundreise durch die Diözese verabschiedet, für die er, da sein Bistum wie alle Bistümer Englands riesengroß war, zwei Jahre benötigen würde.

Und doch war er jetzt vorzeitig zurück, jedoch ohne den schwerfälligen Tross, der ihn bei seinem Aufbruch begleitet hatte, vielmehr mit schnellen Reitern, die nur wenige Stunden vor ihm eintrafen, um sein Kommen anzukündigen.

Dennoch, die Menschen kamen aus den Häusern geströmt. Massenhaft. Manche fielen auf die Knie oder hielten ihre Kinder in die Höhe, damit sie den Segen des großen Mannes empfingen, andere liefen neben seinen Steigbügeln her und klagten ihm ihr Leid mit der Bitte um Hilfe. Die meisten erfreuten sich einfach nur am Spektakel.

Ein beliebter Mann, Bischof Rowley Picot. Ein Sohn der Stadt. Kreuzfahrer, und noch dazu vom König für das Bischofsamt auserwählt, nicht vom Papst. Was gut war, weil König Henry II. ihnen irgendwie näher und seine Macht unmittelbarer war als die des Vatikans.

Und auch nicht so ein furztrockener Knochen von Bischof. Einer, der gerne jagte und aß und trank und auch Gefallen an den Damen fand, so hieß es, aber allen Genüssen entsagte, seit Gott ihm auf die Schulter geklopft hatte. Und hatte er nicht die Kindermörder, die die Stadt vor einiger Zeit in Angst und Schrecken versetzt hatten, der Gerechtigkeit zugeführt?

Mansur und Adelia, denen der Bote des Bischofs mit hängendem Kopf folgte, hatten darauf bestanden, auf Cambridges Jahrmarkt nach Gyltha zu suchen, und nun, da sie sie gefunden hatten, hob Mansur sie hoch, damit sie über die Menschenmenge hinweg sehen konnte, wie der Bischof vorbeiritt. »Angezogen wie ein Pfingstochse, Gott segne ihn«, meldete Gyltha nach unten zu Adelia. »Willst du das Kleine nich mal gucken lassen?«

»Nein«, sagte Adelia und drückte das Kind noch enger an sich.

»Mit Bischofsstab und allem Drum und Dran«, fuhr Gyltha fort. »Aber ich find, der Hut passt nich zu ihm.«

Vor ihrem geistigen Auge sah Adelia einen beleibten und gewichtigen, mitratragenden Mann, der wie die meisten Bischöfe all die Heuchelei und Engstirnigkeit einer Kirche repräsentierte, die sich nicht nur ihr entgegenstellte, sondern jeglichen Fortschritt ablehnte, der für die geistige und körperliche Gesundheit der Menschen notwendig war.

Eine Hand berührte ihre Schulter. »Wenn Ihr mir folgen würdet, Mistress. Seine Lordschaft wird Euch eine Audienz in seinem Haus gewähren, doch zuvor muss er den Sheriff empfangen und die Messe lesen.«

»Uns eine Audienz gewähren«, äffte Gyltha ihn nach, als Mansur sie wieder auf den Boden stellte. »Nich zu fassen.«

»Äh.« Der Bote des Bischofs – wie sich herausgestellt hatte, hieß er Jacques – war noch immer etwas aus dem Gleichgewicht gebracht. Sarazenen und Fischweiber gehörten nicht zu der Sorte Mensch, mit der er normalerweise dienstlichen Umgang pflegte. Ein wenig hilflos sagte er: »Mistress, ich glaube, mein Herr erwartet, dass dieses Gespräch mit Euch unter vier Augen stattfindet.«

»Diese Lady und dieser Gentleman begleiten mich«, beschied Adelia ihm. »Oder ich komme nicht mit.«

Es machte sie traurig, wieder in Cambridge zu sein. Die schlimmsten Augenblicke ihres Lebens und die schönsten hatten sich in dieser Stadt ereignet. Der Ort wurde von Geistern heimgesucht, deren Gebeine in Frieden ruhten, während andere noch immer einen Gott anriefen, der sie nicht erhört hatte.

»Und der Hund auch«, fügte sie hinzu und sah, wie der arme Bote die Augen verdrehte. Das kümmerte sie nicht. Es war schon ein Zugeständnis gewesen, überhaupt herzukommen. Als sie noch schnell bei ihr zu Hause vorbeigeschaut hatten, damit sie entsprechende Winterkleidung für sie alle einpacken konnte, hatte sie sich sogar die Haare gewaschen und ihr bestes Gewand angezogen, auch wenn es inzwischen nicht mehr das hübscheste war. Weiter würde sie allerdings nicht gehen.

Die bischöfliche Residenz – in jeder größeren Stadt der Diözese gab es eine – war in einem der Gebäude von St. Mary’s untergebracht, und dort wimmelte es von Dienern, die für den unerwarteten Besuch Vorbereitungen trafen.

Gefolgt von Wächter, dem Hund, wurden die drei in einen großen Raum im ersten Stock geführt, wo man dabei war, Staublaken von schweren, kunstvollen Möbeln zu entfernen. Eine offene Tür am hinteren Ende bot Einblick in ein weißgetünchtes und vergoldetes Schlafgemach, in dem Lakaien Brokatvorhänge an den Baldachin eines prächtigen Bettes hängten.

Als einer von ihnen Mansur hineinschauen sah, eilte er zur Tür und schlug sie ihm vor der Nase zu. Wächter hob ein Bein und pinkelte an den mit Schnitzereien verzierten Türbogen.

»Braver Hund«, sagte Gyltha.

Adelia stellte den Binsenkorb mit ihrem schlafenden Kind auf eine messingbeschlagene Truhe, zog einen Hocker heran, öffnete ihr Mieder und begann zu stillen. Was für ein außergewöhnliches Kind, dachte sie, während sie es ruhig betrachtete. Es war an das friedliche Sumpfland gewöhnt und zeigte doch keinerlei Angst in dem hektischen Trubel, der heute in Cambridge geherrscht hatte, nur Interesse.

»Also«, sagte Gyltha zu ihr. Die beiden Frauen hatten noch keine Gelegenheit gehabt, sich ungestört zu unterhalten.

»Ich höre.«

»Was will Seine Lordschaft denn eigentlich von dir?«

Adelia zuckte die Achseln. »Ich soll einen Mordversuch in Oxfordshire untersuchen, hat Prior Geoffrey wenigstens gesagt.«

»Hätte nich gedacht, dass du deswegen herkommst.«

»Wollte ich auch nicht, aber anscheinend ist es ein Befehl des Königs.«

»Mist«, sagte Gyltha.

»Das kannst du laut sagen.« Henry Plantagenet hatte die allerhöchste Gewalt. Man konnte versuchen, ihm auszuweichen, aber wer ihm den Gehorsam verweigerte, tat das auf eigene Gefahr.

Es gab Zeiten, da verübelte Adelia es Henry II. aus tiefstem Herzen, dass er sie auf der Britischen Insel festhielt, nur um sie, nachdem er festgestellt hatte, wie gut sie die Geheimnisse der Toten lesen konnte, gegebenenfalls erneut zu verwenden. Und es gab Zeiten, da tat sie das nicht.

Den Anfang hatte ein Briefwechsel zwischen dem englischen König und seinem königlichen Verwandten William von Sizilien gemacht, in dem er für das Problem in Cambridge um Hilfe bat, die nur Salernos Medizinschule bieten konnte. Alle waren schockiert gewesen, als Salerno der Bitte nachkam und eine Ärztin der Toten, keinen Arzt nach England schickte, doch die Dinge hatten sich gut entwickelt – zumindest für Henry II. Und zwar so gut, dass es zu einem weiteren Briefwechsel zwischen ihm und König William gekommen war, in dem er erfolgreich darum bat, Adelia noch eine Weile behalten zu können.

Das war ohne ihren Wunsch oder ihre Erlaubnis geschehen, praktisch eine Art Menschenraub, typisch für diesen Mann. »Ich bin kein Gegenstand«, hatte sie ihm entgegengeschleudert, »Ihr könnt mich nicht ausborgen, ich bin ein Mensch.«

»Und ich bin ein König«, hatte Henry erwidert. »Wenn ich sage, Ihr bleibt, dann bleibt Ihr.«

Verdammter König, er hatte sie nicht mal bezahlt, nicht für die Gefahr, nicht für den Verlust geliebter Freunde – bis zum Ende ihrer Tage würde sie um Simon aus Neapel trauern, diesen klugen und sanften Mann, der wie ein zweiter Vater für sie gewesen war. Und ihren Hund, ein weit kleinerer Verlust, aber dennoch war auch er ein Opfer.

Andererseits hatte sie ihren guten Mansur behalten, Zuneigung zu England und seinen Menschen gefasst und war mit der Freundschaft von Prior Geoffrey, Gyltha und ihrem Enkel belohnt worden – und, das Schönste von allem, sie hatte ihr Kind bekommen.

Außerdem war der Plantagenet, obwohl ein durchtriebenes, aufbrausendes, geiziges Schwein, dennoch ein großer König, ein sehr großer König, und das nicht nur, weil er über ein Reich herrschte, das sich von der schottischen Grenze bis zu den Pyrenäen erstreckte. Der Streit zwischen ihm und seinem Erzbischof von Canterbury, Thomas à Becket, würde ihm ewig wie ein Fluch anhaften, weil er mit der Ermordung des Erzbischofs geendet hatte. Aber Adelias Ansicht nach war Henry bei dem Streit im Recht gewesen, und es war verhängnisvoll für die Welt gewesen, dass die Weigerung des Juden hassenden, selbstverliebten, rückwärtsgewandten Becket, eine Reform der ebenso rückwärtsgewandten englischen Kirche zuzulassen, den König dazu getrieben hatte, jene schrecklichen Worte zu rufen: »Wer befreit mich von diesem aufsässigen Priester?«, weil ihn nämlich einige seiner Ritter beim Wort nahmen, die ihre eigenen Gründe hatten, Becket den Tod zu wünschen. Sie waren über den Kanal nach Canterbury gereist und hatten eine Tat begangen, die einen tapferen, aber törichten und kurzsichtigen Mann zum heiligen Märtyrer machte und zugleich der Kirche die Entschuldigung dafür lieferte, einen König zu geißeln, der versucht hatte, ihre Macht zu beschneiden und seinem Volk durch die anständigste und menschlichste Gesetzgebung der Welt zu größerer Gerechtigkeit zu verhelfen.

Ja, sie nannten Henry Plantagenet einen Teufel, und mitunter dachte Adelia, dass er wahrscheinlich einer war, aber sie wusste auch, dass seine durchdringenden blauen Augen weiter in die Zukunft blickten als die jedes anderen Menschen. Als er den Thron bestieg, war England vom Bürgerkrieg zerrüttet und verarmt, und er hatte ihm einen sicheren Wohlstand geschenkt, um den andere Länder es beneideten.

Es hieß, seine Frau und seine Söhne hassten ihn und hätten sich gegen ihn verschworen, und selbst das konnte Adelia nachvollziehen. Henry war allen anderen weit voraus, so schnell, dass ihre Beziehung zu ihm sich bildlich gesprochen darauf beschränken musste, sich an seine Steigbügel zu klammern, während er vorwärtspreschte.

Doch als die Kirche Adelia vor Gericht stellen wollte, als sie gerade auf der Suche nach dem Kindermörder von Cambridge war, hatte dieser vielbeschäftigte König die Zeit gefunden, sich einzumischen und sie zu entlasten.

Na ja, das gehörte sich auch so, dachte sie. Schließlich habe ich ihm viel Mühe und Geld gespart. Ich bin nicht seine Untertanin, ich bin Sizilianerin, und er hat kein Recht, mich in seinen Dienst zu zwingen.

Was eine ganz vernünftige Einschätzung gewesen wäre, wenn Adelia nicht manchmal das Gefühl gehabt hätte, dass es eine Ehre war, im Dienste Henry Plantagenets zu stehen.

Dennoch, sie verfluchte ihn noch einmal kräftig und versuchte dann, mit Rücksicht auf die Verdauung ihres Kindes nicht mehr an ihn zu denken. Das Problem war, dass der große Raum um sie herum eine Kirche widerspiegelte, die sie wütender machte, als Henry es je vermocht hätte. Hier gab es nichts, was nicht zutiefst und unübersehbar religiös war – der wuchtige Bischofssessel, ein gepolstertes Betpult mit Goldintarsien, auf dem Seine Lordschaft bequem knien konnte, um Christus anzubeten, der in Armut gestorben war, die Luft weihrauchgeschwängert.

Adelia nährte ihre Verachtung, indem sie an Prior Geoffreys Zimmer in der Priorei dachte, das umso heiliger war, als es das Weltliche mit einschloss – Angelruten in der Ecke, der Duft von gutem Essen, eine herrliche kleine Aphrodite in Bronze, die er aus Rom mitgebracht hatte, der gerahmte Brief eines Schülers, auf den er stolz war.

 

Als sie mit dem Stillen fertig war, nahm Gyltha ihr das Kind ab und wiegte es hin und her, damit es sein Bäuerchen machte, eine Lieblingsbeschäftigung der beiden Frauen – es gab keinen befriedigenderen Klang als diesen kleinen Rülpser. Da das frisch entzündete Kohlenbecken den Raum noch nicht richtig erwärmt hatte, legte Gyltha eine weitere Decke in den Korb, ehe sie ihn in eine dunkle Ecke stellte, damit das Kind schlafen konnte. Dann stellte sie sich neben das Kohlenbecken und sah sich zufrieden um. »Mord, hä? Die alten Freunde wieder vereint, wie in alten Zeiten.«

»Versuchter Mord«, rief Adelia ihr in Erinnerung. »Und, nein, nicht wie in alten Zeiten.«

»Aber eine kleine Reise wär mal was anderes«, sagte Gyltha. »Besser als der eiskalte Winter im Sumpfland.«

»Du liebst den Winter im Sumpfland. Und ich auch.« Adelia hatte eislaufen gelernt.

»Das heißt nich, dass ich ihn nich auch woanders genießen kann.« Selbst in ihrem fortgeschrittenen Alter war Gyltha noch eine abenteuerlustige Frau. Sie rieb sich das Hinterteil und nickte Richtung Korb. »Was wird denn Seine Lordschaft wohl zu unserem kleinen Schatz hier sagen?«

»Ich kann nur hoffen«, sagte Adelia, »dass er nicht fragt, von wem es ist.«

Gyltha blinzelte. »Ooh, das wär gemein. Aber das wird er nich, klar wird er das nich. Wieso bist du denn so krabitzig?«

»Ich will nicht, dass wir hier sind, Gyltha. Bischöfe, Könige, die haben kein Recht, irgendwas von mir zu verlangen. Ich werd’s nicht tun.«

»Hast du denn eine Wahl, Mädchen?«

Auf der Treppe draußen hörte man Schritte. Adelia biss die Zähne zusammen, doch es war nur ein kleiner Priester, der den Raum betrat. Er trug in einer Hand eine brennende Kerze und in der anderen ein Schiefertafelbuch, hob den Kerzenhalter hoch und beschrieb damit einen langsamen Kreis, um mit kurzsichtigen Augen aufmerksam in jedes Gesicht zu spähen.

»Ich bin Pater Paton, der Sekretär Seiner Lordschaft«, sagte er. »Und Ihr seid … ja, ja.« Um sich zu vergewissern, legte er das Buch auf einen Tisch, klappte es auf und hielt die Kerze darüber. »Ein männlicher Araber und zwei Frauen, ja.« Er blickte auf. »Ihr werdet Transportmittel, Diener und Vorräte erhalten, für die Reise nach Oxford und zurück, jeweils einen Wintermantel, Brennmaterial sowie einen Schilling pro Tag, bis Seine Lordschaft mit der geleisteten Arbeit zufrieden ist. Darüber hinaus habt Ihr keinerlei Ansprüche zu stellen.«

Er warf erneut einen Blick auf seine Schiefertafel. »Ach so, ja, Seine Lordschaft hat von einem Säugling erfahren und seine Bereitschaft geäußert, das Kind zu segnen.« Er wartete auf Dankbarkeitsäußerungen. Als keine erfolgten, sagte er: »Es kann ihm überreicht werden. Ist es hier?«

Gyltha trat zwischen ihn und den Korb.

Der Priester sah die drohende Gefahr nicht. Stattdessen schaute er erneut auf seine Tafel, und da er nicht daran gewöhnt war, sich mit Frauen abzugeben, sprach er Mansur an. »Hier steht, Ihr seid eine Art Arzt?«

Wieder bekam er keine Antwort. Abgesehen von dem Priester, war es sehr still im Raum.

»Eure Anweisungen lauten wie folgt: den Schuldigen feststellen, der vor drei Tagen …« Er überprüfte das Datum. »… ja, es war am Festtag von St. Leocadia … vor drei Tagen einen Anschlag auf das Leben der Frau Rosamund Clifford vom Wormhold Tower bei Oxford verübt hat. Ihr werdet dafür die Hilfe der Nonnen von Godstow benötigen.« Er tippte mit einem knochigen Finger auf die Tafel. »Ich weise darauf hin, dass die Zahlungen an Euch entsprechend verringert werden, sollten die erwähnten Nonnen Euch kostenlose Unterkunft im Kloster gewähren.«

Er blickte sie eindringlich an und kam dann wieder zur Sache: »Seine Lordschaft wird über jede Erkenntnis unverzüglich unterrichtet – zu diesem Behufe wird ein Bote zur Verfügung gestellt werden –, und Ihr werdet über Eure Nachforschungen, die mit größter Zurückhaltung zu führen sind, Stillschweigen bewahren.«

Er überflog die Tafel auf der Suche nach weiteren Einzelheiten, fand keine und klappte das Buch zu. »Pferde und Lasttiere stehen in einer Stunde vor der Tür bereit, und bis dahin wird Essen zubereitet, das Euch kostenfrei mitgegeben wird.« Seine Nase zuckte ob der eigenen Großzügigkeit.

War das alles? Nein, eines noch. »Da der Säugling bei der Ermittlung nur stören würde, habe ich eine Amme beauftragt, das Kind während Eurer Abwesenheit zu versorgen.« Er war offenbar stolz, dass er daran gedacht hatte. »Mir wurde gesagt, das übliche Entgelt beträgt einen Penny pro Tag, und es wird von Eurem Lohn … Au, aua, lasst mich runter.«

Er sah aus wie ein überraschtes Kätzchen, wie er da so von Mansurs Hand baumelte, der seinen Chorrock am Rücken gepackt und ihn hochgehoben hatte.

Er ist sehr jung, dachte Adelia, aber er wird auch mit vierzig noch so aussehen. Ich hätte Mitleid mit ihm, wenn er mir nicht so viel Angst machen würde. Er hätte mir bedenkenlos mein Kind weggenommen.

Gyltha erklärte dem strampelnden Kätzchen gerade die Sachlage. »Verstehst du, Junge«, sagte sie und schob ihr Gesicht dicht an seines. »Wir wollen Bischof Rowley sprechen.«

»Nein, nein, das ist unmöglich. Seine Lordschaft begibt sich morgen in die Normandie und hat bis dahin noch allerhand zu erledigen.« Irgendwie schaffte es der kleine Priester, selbst in der Horizontalen noch Würde zu wahren. »Ich kümmere mich um seine Angelegenheiten …«

Aber die Tür hatte sich geöffnet, und im hellen Schein zahlreicher Kerzen zog eine Prozession ein, in deren Mitte eine Gestalt wie aus einer illuminierten Handschrift majestätisch in Purpur und Gold erstrahlte.

Gyltha hat recht, dachte Adelia sogleich, die Mitra passt nicht zu ihm. Dann bemerkte sie die Hängebacken, die glanzlosen Augen – er war so ganz anders als der Mann, den sie in Erinnerung hatte.

Nein, wir irren uns: Sie passt.

Seine Lordschaft erfasste die Lage mit einem Blick. »Lass ihn runter, Mansur«, sagte er auf Arabisch.

Mansur öffnete die Faust.

Die beiden Pagen, die die Schleppe des Bischofs trugen, lehnten sich nach außen, um das Lumpengesindel zu betrachten, das Pater Paton zu Boden befördert hatte. Ein weißhaariger Würdenträger hämmerte mit seinem Amtsstab auf die Fliesen.

Nur der Bischof wirkte gelassen. »Schon gut, Kämmerer«, sagte er. »Guten Abend, Mistress Adelia. Guten Abend, Gyltha, du siehst gut aus.«

»Du auch, Junge.«

»Was macht Ulf?«

»Geht zur Schule. Der Prior sagt, er schlägt sich großartig.«

Der Kämmerer machte große Augen. Das war Majestätsbeleidigung. Er sah, wie sein Bischof sich dem Araber zuwandte: »Doktor Mansur, as-salam alaikum.«

»Wa alaikum as-salaam.«

Das wurde ja immer schlimmer. »Mylord …«

»Das Essen wird so schnell wie möglich hier oben serviert, Kämmerer, wir sind in Zeitnot.«

Wir, dachte Adelia. Das bischöfliche »wir«.

»Euer Messgewand, Mylord … Soll ich Euren Ankleider rufen?«

»Paton wird mir helfen.« Der Bischof sog Luft durch die Nase ein, suchte nach der Quelle eines unangenehmen Geruchs, fand sie und fügte hinzu: »Und bringt einen Knochen für den Hund.«

»Jawohl, Mylord.« Kleinlaut scheuchte der Kämmerer die anderen Diener aus dem Raum.

Der Bischof schritt ins Schlafgemach, der Sekretär folgte ihm und erklärte, was er gemacht hatte, was die gemacht hatten … »Ich verstehe die Feindseligkeit nicht, Mylord, ich habe lediglich die Anweisungen aus Oxford befolgt und entsprechende Vorkehrungen getroffen.«

Bischof Rowleys Stimme: »Die unterwegs offenbar ein wenig durcheinandergeraten sind.«

»Und doch habe ich sie so gut ich konnte befolgt, Wort für Wort, Mylord … Ich verstehe nicht …« Die Seelenergüsse eines missverstandenen Mannes drangen durch die offene Tür zu ihnen, während Pater Paton seinem Herrn dabei half, Chormantel, Dalmatika, Rochett, Pallium, Handschuhe und Mitra abzulegen, bestickte Gewänder, an denen viele Näherinnen viele Jahre lang gearbeitet hatten, wurden Schicht um Schicht mit andächtiger Sorgfalt ausgezogen und zusammengefaltet. Das dauerte.

»Rosamund Clifford?« Mansur blickte Gyltha fragend an.

»Du kennst sie, du Heide. Die Schöne Rosamund, so wird sie besungen – des Königs Liebling. Es gibt viele Lieder über die Schöne Rosamund.«

Diese Rosamund. Adelia erinnerte sich an die fahrenden Sänger an Markttagen und an ihre Lieder – manche waren romantisch, die meisten unflätig.

Wenn er mich hergeschleppt hat, damit ich mich für ein loses Frauenzimmer einsetze … Sie rief sich in Erinnerung, dass auch sie jetzt zu den losen Frauenzimmern dieser Welt gezählt werden musste.

»Und die ist fast umgebracht worden, ja?«, sagte Gyltha fröhlich. »War vielleicht Königin Eleanor, hat versucht, sie loszuwerden. Ist höllisch eifersüchtig auf Rosamund, diese Eleanor.«

»In den Liedern wird das auch erzählt, oder?«, fragte Adelia.

»Und ob.« Gyltha überlegte. »Nee, wenn ich drüber nachdenk, kann die Königin es nich gewesen sein. Der König hält sie doch in Gefangenschaft, hab ich jedenfalls gehört.«

Die Mächtigen und ihr Treiben waren abgehoben und fern, tatsächlich in einem anderen Land. Bis irgendwelche Berichte das Sumpfland erreichten, waren sie bereits so stark ausgeschmückt und unwahrscheinlich wie Märchen geworden, dass sie nichts mehr mit wirklichen Personen zu tun hatten und erst recht nichts mit dem Alltag der Menschen, mit einem Fluss, der über die Ufer trat, mit Kühen, die an Viehseuche starben, oder, wie in Adelias Fall, mit der Geburt eines Kindes.

Früher war das anders gewesen. Während des Krieges zwischen Stephen und Matilda war es lebensnotwendig gewesen, zu wissen, was vor sich ging, damit man im Voraus erfuhr – und hoffentlich rechtzeitig, um noch die Flucht ergreifen zu können –, ob schon wieder ein Heer von König, Königin oder irgendwelchen Baronen die Ernte niedertrampeln würde. Da gerade das Sumpfland viel unter der Trampelei gelitten hatte, war Gyltha politisch ebenso auf dem Laufenden gewesen wie alle anderen.

Doch aus dieser schrecklichen Zeit war ein Plantagenet-Herrscher hervorgegangen, ein König wie aus einem Märchen, der England Frieden, Ordnung und Wohlstand bescherte. Wenn es Kriege gab, dann fanden sie anderswo statt, der Muttergottes sei Dank.

Auch die Ehefrau, die Henry auf den Thron mitbrachte, war einem schillernden Märchen entstiegen. Sie war keine jungfräuliche Prinzessin. Eleanor war die mächtigste Erbin in Europa, eine strahlende Persönlichkeit, die ihr Herzogtum Aquitanien mit eigener Kraft regiert hatte, bis sie den schwächlichen und frommen König Ludwig von Frankreich heiratete – einen Mann, der sie dermaßen langweilte, dass es ihr nur recht war, als die Ehe schließlich geschieden wurde. Im selben Jahr war der neunzehnjährige Henry Plantagenet auf der Bildfläche erschienen, hatte der schönen dreißigjährigen Eleanor den Hof gemacht, sie geheiratet und ihre gewaltigen Ländereien übernommen, womit sein Herrschaftsgebiet in Frankreich größer wurde als das des gekränkten König Ludwig.

Die Geschichten, die sich um Eleanor rankten, waren zahlreich und skandalös. Sie hatte in Begleitung barbusiger Amazonen an Ludwigs Kreuzzug teilgenommen. Sie hatte mit ihrem Onkel Raymond, dem Fürsten von Antiochia, geschlafen. Sie hatte dieses getan, jenes getan …

Doch wenn ihre neuen englischen Untertanen erwartet hatten, mit weiteren Pikanterien unterhalten zu werden, so wurden sie enttäuscht. Während der folgenden zehn Jahre hielt sich Eleanor mehr oder weniger ruhig im Hintergrund und tat ihre Pflicht als Königin und Ehefrau, indem sie Henry fünf Söhne und drei Töchter gebar.

Wie von einem gesunden König nicht anders erwartet wurde, hatte Henry auch noch andere Kinder von anderen Frauen – welcher Herrscher nicht? –, aber Eleanor schien das gelassen hinzunehmen und ließ sogar den jungen Geoffrey, einen Bastard, den ihr Mann mit einer Prostituierten gezeugt hatte, zusammen mit den legitimen Kindern am königlichen Hof erziehen.

Eine einigermaßen glückliche Ehe also, wie die meisten.

Bis …

Was hatte zum Zerwürfnis geführt? Das Erscheinen von Rosamund, jung, hübsch, die höchstgeborene unter Henrys Frauen? Auf jeden Fall wurde seine Affäre mit ihr legendär, lieferte den Stoff für Lieder. Er vergötterte sie, nannte sie Rosa Mundi, Rose der Welt, hatte sie in einem Turm in der Nähe seiner Jagdhütte in Woodstock untergebracht und drum herum ein Labyrinth bauen lassen, durch das kein anderer hindurchfand …

Die arme Eleanor war jetzt über fünfzig und unfähig, weitere Kinder zu bekommen. War klimakterische Eifersucht der Grund für ihre Wut? Denn Wut musste es gewesen sein, die sie dazu trieb, ihren ältesten Sohn, den jungen Henry, zur Rebellion gegen seinen Vater anzustacheln. Königinnen waren schon für weitaus geringere Vergehen gestorben. Tatsächlich war es ein Wunder, dass ihr Mann sie nicht hinrichten ließ, sondern zu einer nicht unbehaglichen Gefangenschaft verurteilte.

Nun, so unterhaltsam es auch war, über derlei Dinge zu spekulieren, sie waren doch sehr weit weg. Welche Sünden auch immer zu Königin Eleanors Gefangenschaft geführt hatten, sie waren in Aquitanien begangen worden oder in Anjou oder im Vexin, jedenfalls an einem jener fernen Orte, über die die königliche Familie Plantagenet ebenfalls herrschte. Die meisten Engländer wussten nicht recht, was die Königin sich hatte zuschulden kommen lassen, Gyltha ganz sicher nicht, aber es war ihr auch egal. Ebenso wie Adelia.

Plötzlich ertönte eine laute Stimme aus dem Schlafgemach: »Das Kind ist hier? Sie hat es mitgebracht?« Jetzt nur noch in seiner Tunika tauchte ein jüngerer und schlankerer, aber noch immer sehr kräftiger Mann an der Tür auf und blickte sich wild um. Dann trabte er zu dem Korb auf dem Tisch. »Mein Gott«, sagte er, »mein Gott.«

Wehe, dachte Adelia, wehe, du fragst, von wem es ist.

Doch der Bischof starrte so ehrfürchtig in den Korb, wie die Tochter des Pharao auf den kleinen Moses im Schilf geblickt hatte. »Ist er das? Mein Gott, er sieht genauso aus wie ich.«

»Sie«, sagte Gyltha. »Sie sieht genauso aus wie du.«

Wie typisch für die kirchlichen Klatschzungen, dachte Adelia gehässig, dass sie nicht einmal das Geschlecht seines Kindes erwähnt hatten, nur dass sie es zur Welt gebracht hatte.

»Eine Tochter.« Rowley nahm das Kind mit beiden Händen auf und hielt es hoch. Die Kleine blinzelte verschlafen und krähte dann fröhlich mit ihm. »Jeder Narr kann einen Sohn haben«, sagte er. »Man muss ein Mann sein, um eine Tochter zu zeugen.«

Deshalb habe ich ihn geliebt.

»Wer ist denn Papas kleiner Fratz«, sagte er jetzt, »wer hat Augen wie Kornblumen, ja, die hat sie, ja, die hat sie, genau wie ihr Papa. Und klitzekleine Zehchen. Killekillekille. Gefällt ihr das? Ja, das mag sie.«

Adelia war sich bewusst, wenn auch hilflos, dass Pater Paton die Szene beobachtete. Sie wollte Rowley sagen, dass er sich verriet, denn seine Freude hatte nichts Bischöfliches mehr. Aber vermutlich wusste der Sekretär um sämtliche Geheimnisse seines Herrn – und jetzt war es ohnehin zu spät.

Der Bischof blickte auf. »Wird sie ein Glatzköpfchen? Oder wächst der Flaum auf ihrem Kopf noch? Wie heißt sie?«

»Allie«, sagte Gyltha.

»Ali?«

»Almeisan.« Adelia sprach zum ersten Mal, wenn auch widerwillig. »Mansur hat ihr den Namen gegeben. Almeisan ist ein Stern.«

»Ein arabischer Name.«

»Wieso nicht?« Sie war streitlustig. »Araber haben die Welt die Astronomie gelehrt. Es ist ein schöner Name, er bedeutet ›die Leuchtende‹.«

»Ich sag ja nicht, dass er nicht schön ist. Nur, ich hätte sie Ariadne genannt.«

»Tja, Ihr wart nicht da«, sagte Adelia böse.

»Ariadne« war sein Kosename für sie gewesen. Sie waren sich auf derselben Straße und zur selben Zeit begegnet, als sie Prior Geoffrey kennenlernte. Sie wussten es zwar damals noch nicht, aber sie hatten auch dieselbe Mission. Rowley Picot war als einer von König Henrys Steuereintreibern aufgetreten, hatte aber insgeheim auf Geheiß seines königlichen Herrn nach der Bestie gesucht, die in Cambridgeshire Kinder tötete und dadurch die königlichen Steuereinnahmen verringerte. Wohl oder übel hatten die beiden schließlich gemeinsam Spuren verfolgt. Und wie Ariadne hatte sie ihn in die Höhle der Bestie geführt. Wie Theseus hatte er sie daraus errettet.

Und sie dann, wie Theseus, verlassen.

Sie wusste, dass sie ungerecht war. Er hatte sie gebeten, ja angefleht, ihn zu heiraten, doch damals hatte er sich die Gunst des Königs verdient und war für eine Position vorgesehen, für die er eine Frau brauchte, die sich nur ihm, ihren Kindern und ihren Besitzungen widmete – eine herkömmliche englische Herrin eben, keine Frau, die ihre Pflicht gegenüber den Lebenden und den Toten weder aufgeben wollte noch konnte.

Und doch konnte sie ihm nicht verzeihen, dass er genau das getan hatte, worum sie ihn gebeten hatte: sie verlassen, fortgehen, das vom König angebotene reiche Bistum annehmen.

Möge Gott ihn strafen, er hätte wenigstens schreiben können.

»Nun denn«, sagte sie, »Ihr habt sie gesehen, und jetzt gehen wir.«

»Ach ja?« Das war Gyltha. »Wollten wir nich zum Essen bleiben?«

»Nein.« Adelia hatte von Anfang an nach einem Vorwand gesucht und ihn jetzt gefunden. »Wenn irgendwer versucht hat, dieser Rosamund Clifford etwas anzutun, tut mir das leid, aber es hat nichts mit mir zu tun.«

Sie ging zu ihm, um ihm die Kleine abzunehmen. Auf einmal war sie ihm so nah, dass sie den Weihrauch von der Messe, die er gefeiert hatte, riechen konnte. Er klebte an ihm, verseuchte ihr gemeinsames Kind. Seine Augen waren nicht mehr Rowleys Augen, sondern die eines Bischofs, sehr müde – er war in einem Gewaltritt von Oxford gekommen – und sehr ernst.

»Nicht einmal, wenn das Bürgerkrieg bedeutet?«, fragte er.

Das Schweinefleisch wurde zurückgeschickt, damit sein Geruch weder Doktor Mansurs Nase noch seine Speisevorschriften beleidigte, aber es gab Neunaugen und Hecht in Aspik, vier verschiedene Sorten Ente, Kalbsfrikassee und knuspriges goldbraunes Brot in Hülle und Fülle. Das Mahl hätte für zwanzig Leute gereicht und – ob es muslimische Nasenflügel erbeben ließ oder nicht – der Wein, der in schön geschliffenen Glasschalen gereicht wurde, für noch einmal zwanzig mehr.

Sobald alles auf dem Tisch stand, wurden die Diener aus dem Raum geschickt. Pater Paton durfte bleiben. Von dem Stroh unter dem Tisch kam das Geräusch eines Hundes, der an seinem Knochen kaute.

»Er musste sie gefangen setzen«, sagte Rowley über seinen König und Königin Eleanor. »Sie hat den jungen König aufgestachelt, gegen seinen Vater zu rebellieren.«

»Hab ich sowieso nie verstanden«, sagt Gyltha, die an einem Entenbein knabberte. »Ich mein, wieso Henry seinen Jungen zum König neben sich gekrönt hat. Ein alter König und ein junger König, die gleichzeitig herrschen. Das muss Ärger geben.«

»Henry war zuvor sehr krank gewesen«, erklärte Rowley ihr. »Er wollte für den Fall seines Todes eine friedliche Thronfolge sichern, damit es nicht noch einmal zu einem Krieg wie Stephen gegen Matilda kommt.«

Gyltha erschauderte. »Da sei Gott vor.«

Es war ein seltsames Abendessen. Bischof Rowley sah sich gezwungen, seinen Fall einer Haushälterin aus Cambridgeshire und einem Araber vorzutragen, weil die Frau, die er für die Lösung des Falles brauchte, ihn keines Blickes würdigte. Adelia saß schweigend und teilnahmslos da und rührte so gut wie keinen Bissen an.

Er ist völlig anders, nicht mehr der Mann, den ich kannte, dachte Adelia. Zum Teufel mit ihm, wieso war es so leicht für ihn, mich nicht mehr zu lieben?

Der Sekretär, der von allen ignoriert wurde, langte kräftig zu, ließ aber dabei seinen Herrn nicht aus den Augen, als fürchtete er eine Fortsetzung des unbischöflichen Benehmens.

Der Bischof erklärte, was ihn veranlasst hatte, aus Oxford, das zu seiner Diözese gehörte, herzueilen, und weshalb er morgen weiter in die Normandie reisen würde: Er musste den König aufsuchen und ihm, ehe er es von anderen erfuhr, mitteilen, dass auf Rosamund Clifford, die dem König von all seinen Mätressen die liebste war, ein Mordanschlag mit giftigen Pilzen verübt worden war.

»Pilze?«, hakte Gyltha nach. »Dann könnt’s auch ein Versehen gewesen sein. Bei Pilzen muss man aufpassen, die sind tückisch.«

»Es war Absicht«, sagte der Bischof. »Glaub mir, Gyltha, es war kein Unglücksfall. Sie wurde sehr krank. Deshalb haben sie mich nach Wormhold gerufen, an ihr Krankenbett. Sie dachten, sie überlebt das nicht. Dank der Gnade Christi hat sie überlebt, aber der König wird wissen wollen, wer dahintersteckt, und ich will, ich muss ihm versichern können, dass sein Lieblingsermittler sich der Sache angenommen hat …« Geistesgegenwärtig verneigte er sich in Mansurs Richtung, der die Verbeugung erwiderte. »… gemeinsam mit seiner Assistentin.« Eine Verneigung in Adelias Richtung.

Sie war erleichtert, dass er vor Pater Paton weiterhin so tat, als wäre Mansur derjenige, der über die notwendigen Fähigkeiten verfügte, eine solche Untersuchung durchzuführen, nicht sie. Er hatte sich selbst dem Vorwurf der Unsittlichkeit preisgegeben, indem er Allie als sein Kind anerkannte, aber er schützte sie damit vor dem wesentlich gefährlicheren Vorwurf der Hexerei.

Gyltha genoss die Gelegenheit, Fragen zu stellen: »Aber es kann ja wohl nich die Königin gewesen sein, die ihr die Pilze geschickt hat, was? Wo sie doch in Ketten liegt und so.«

»Ich wünschte, sie hätte in Ketten gelegen, verdammt.« Einen Moment lang war Rowley wieder Rowley, so wütend, dass sein Sekretär erschrocken blinzelte. »Das vermaledeite Weib ist geflohen. Vor zwei Wochen.«

»Oje«, sagte Gyltha.

»Oje, das kann man wohl sagen. Und als sie zuletzt gesehen wurde, war sie unterwegs nach England, wodurch sie, wie alle außer mir glauben, genug Zeit hatte, ein Dutzend von Henrys Huren zu vergiften.«

Er beugte sich über den Tisch zu Adelia, wobei er den Platz zwischen ihnen freifegte, indem er seine und ihre Weinschale umstieß. »Ihr kennt ihn, Ihr kennt sein Temperament. Ihr habt ihn erlebt, wenn er die Beherrschung verliert. Er liebt Rosamund, er liebt sie wirklich. Was passiert, wenn er lauthals Eleanors Tod verlangt, so wie den von Becket? Er wird es nicht so meinen, aber es gibt immer irgendeinen Hundsfott, der selber Grund hat, der vermeintlichen Aufforderung nachzukommen. Und anschließend wird er behaupten, er habe es auf Befehl des Königs getan, genau wie bei Becket. Und wenn ihre Mutter hingerichtet wird, dann werden sich alle ihre Söhne wie eine riesige beschissene Flutwelle gegen ihren Vater erheben.«

Er lehnte sich zurück. »Bürgerkrieg? Der würde kommen, hierher, überallhin. Im Vergleich dazu wäre Stephen und Matilda gar nichts.«

Mansur legte beruhigend eine Hand auf Gylthas Schulter. Die Stille war aufgewühlt, wie von einer geräuschlosen Schlacht und den stillen Schreien Sterbender. Der Geist eines erschlagenen Erzbischofs erhob sich aus den Gemäuern Canterburys und schlich durch den Raum.

Pater Paton starrte ein Gesicht nach dem anderen an und wunderte sich, dass der Bischof so beschwörend auf die Assistentin des Arztes einredete und nicht auf den Arzt selbst.

»Hat sie es getan?«, fragte Adelia endlich.

»Nein.« Rowley wischte mit einer Serviette etwas Fett von seinem Ärmel und goss sich Wein nach.

»Seid Ihr sicher?«

»Nicht Eleanor, ich kenne sie.«

Kennt er sie wirklich? Zweifellos bestand zwischen Königin und Bischof eine zarte Achtung. Als Eleanors und Henrys erstgeborener Sohn im Alter von drei Jahren gestorben war, hatte Eleanor gewünscht, dass man das Schwert des Kindes nach Jerusalem trug, damit der kleine William noch im Tode zum heiligen Kreuzfahrer wurde. Rowley war es gewesen, der die schreckliche Reise auf sich genommen und das Kinderschwert auf den Hochaltar gelegt hatte. Daher schätzte Eleanor Rowley, natürlich schätzte sie ihn.

Aber wie jede andere königliche Angelegenheit war auch diese von König Henry angeordnet worden. Henry war es gewesen, der Rowley den Befehl erteilt hatte, und Henry hatte sich bei Rowleys Rückkehr darüber in Kenntnis setzen lassen, was im Heiligen Land vor sich ging. O ja, Rowley Picot war eher der Spion des Königs gewesen als der Schwertträger der Königin.

Dennoch, der Bischof nahm für sich in Anspruch, Eleanors Charakter zu kennen, und fügte hinzu: »In der direkten Auseinandersetzung wäre sie Rosamund an die Gurgel gegangen … aber Gift, nein. Das ist nicht ihr Stil.«

Adelia nickte. Auf Arabisch sagte sie: »Ich verstehe noch immer nicht, was Ihr von mir wollt, ich bin eine Ärztin der Toten …«

»Ihr habt einen scharfen Verstand«, sagte der Bischof ebenfalls auf Arabisch. »Ihr seht Dinge, die andere nicht sehen. Wer hat denn letztes Jahr die Juden von dem Vorwurf des Kindermordes entlastet? Wer hat den wahren Mörder aufgespürt?«

»Ich hatte Hilfe.« Die gute zarte Seele, Simon aus Neapel. Er war der eigentliche Ermittler gewesen, der zu diesem Zweck mit ihr aus Salerno gekommen und dafür gestorben war.

Mansur tat etwas für ihn Ungewöhnliches, indem er sich einmischte und auf Adelia deutete. »Sie darf nicht wieder in solche Gefahr gebracht werden. Der Wille Allahs und nur der Wille Allahs hat sie letztes Mal aus der Hölle erlöst.«

Adelia lächelte ihn herzlich an. Soll er es doch ruhig Allah zuschreiben, wenn er möchte. Tatsächlich hatte sie die Höhle des Kindermörders nur deshalb überlebt, weil ein Hund Rowley rechtzeitig dorthin geführt hatte. Wovon jedoch weder er noch Gott oder Allah sie erlöst hatten, waren die Erinnerungen an einen Alptraum, die sie im täglichen Leben noch immer heimsuchten, und zwar so deutlich, als würde alles noch einmal passieren – jetzt oft mit der kleinen Allie als Opfer.

»Natürlich wird sie nicht wieder in Gefahr geraten«, sagte der Bischof mit Nachdruck zu Mansur. »Dieser Fall ist doch ganz anders. Hier hat es keinen Mord gegeben, nur einen gescheiterten Mordversuch. Der Täter, wer auch immer es war, ist längst über alle Berge. Aber eines ist doch klar!« … Eine weitere Schale kippte um, als er mit der Faust krachend auf den Tisch schlug. »Eines ist doch klar! Jeder wird glauben, dass Eleanor sie vergiftet hat. Sie hasst Rosamund, und sie war möglicherweise in der Nähe. Hat Gyltha das nicht auch sofort gedacht? Wird die Welt es nicht denken?« Er richtete den Blick von Mansur auf die Frau ihm gegenüber. »Im Namen Gottes, Adelia, hilf mir.«

Mit einem Nicken Richtung Tür stieß Gyltha Mansur an, der unverzüglich aufstand und den widerstrebenden Pater Paton im Genick packte.

Die beiden, die am Tisch sitzen blieben, bemerkten nicht, dass die anderen gingen. Die Augen des Bischofs ruhten auf Adelia; die ihren auf den eigenen, fest gefalteten Händen.

Ich muss aufhören, ihm Vorwürfe zu machen, dachte sie. Er hat mich nicht verlassen. Ich wollte nicht heiraten, nur ich habe darauf bestanden, dass wir uns nicht wiedersehen. Es ist irrational, ihm zu verübeln, dass er sich an die Vereinbarung gehalten hat.

Aber verdammt, in all den Monaten hätte wenigstens irgendwas von ihm kommen können – zumindest, dass er das Kind anerkennt.

»Wie versteht Ihr Euch mit Gott?«, fragte sie.

»Ich diene ihm, hoffe ich.« Seine Stimme klang amüsiert.

»Mit guten Werken?«

»Wenn ich kann.«

Sie dachte: Und wir wissen beide, dass du Gott und seine Werke, mich und deine Tochter, dass du uns alle opfern würdest, wenn du damit Henry Plantagenet dienen könntest.

Er sagte leise: »Ich bitte dich um Verzeihung, Adelia. Ich hätte unsere Vereinbarung, uns nie wiederzusehen, auf keinen Fall für etwas Geringeres gebrochen.«

Sie sagte: »Falls sich herausstellt, dass Eleanor schuldig ist, werde ich nicht lügen. Dann sage ich es.«

»Ja-haa.« Endlich, das war Rowley, diese Energie, dieser Freudenschrei, der den Wein in der Schale erzittern ließ. Für einen kurzen Augenblick sah sie ihren lebenssprühenden Liebhaber vor sich.

»Kannst doch nicht widerstehen, was? Nimmst du die Kleine mit? Ja, natürlich, du stillst ja noch – verdammt seltsame Vorstellung, du und Milch geben.«

Er war aufgesprungen, hatte die Tür geöffnet und rief nach Paton. »In meinem Gepäck ist ein Korb mit Pilzen, bring ihn her.« Er wandte sich grinsend zu Adelia um. »Ich habe mir gedacht, du willst bestimmt ein paar Beweise sehen.«

»Du Teufel«, sagte sie.

»Mag sein, aber ich Teufel werde meinen König und mein Land retten, und wenn es mich das Leben kostet.«

»Oder mich.« Hör auf, dachte sie, hör auf, dich wie eine sitzengelassene Frau anzuhören. Es war deine Entscheidung.

Er zuckte die Achseln. »Dir wird nichts passieren, schließlich will keiner dich vergiften. Du wirst Gyltha und Mansur dabeihaben – Gott steh demjenigen bei, der dir etwas tun will, wenn die beiden dabei sind –, und ich schicke euch Diener mit. Ich vermute, dieser hündische Schandfleck kommt auch mit?«

»Ja«, sagte sie. »Er heißt Wächter.«

»Wieder eines von diesen Fundstücken vom Prior, um dich zu beschützen? Ich erinnere mich an Aufpasser.«

Ein weiteres Geschöpf, das ihr das Leben gerettet hatte und dabei gestorben war.

Der Raum war voller schmerzlicher Erinnerungen, die noch dazu die gefährliche Eigenschaft hatten, dass sie gemeinsame waren.

»Mein Wachhund ist Paton«, sagte er im Plauderton. »Er hütet meine Tugend wie ein verdammter Keuschheitsgürtel. Übrigens, warte nur, bis du das Labyrinth der schönen Rosamund siehst – das größte der Christenheit. Und vor allem, warte, bis du die schöne Rosamund selbst siehst, sie ist ganz anders, als man erwarten würde. Ehrlich gesagt …«

Sie fiel ihm ins Wort. »Wie steht’s damit?«

»Mit dem Labyrinth?«

»Deiner Tugend?«

Auf einmal wurde er sanft. »Erstaunlicherweise steht es gut um sie. Als du mich abgewiesen hast, dachte ich zuerst … aber Gott war gnädig und erbarmte sich meiner.«

»Und als Henry einen willfährigen Bischof brauchte.« Hör auf, hör auf.

»Und die Welt eine Ärztin brauchte, keine weitere Ehefrau«, sagte er noch immer sanft. »Inzwischen sehe ich das ein. Ich habe um diese Einsicht gebetet. Die Ehe hätte dein Talent verschwendet.«

Ja, ja. Wenn sie eingewilligt hätte, ihn zu heiraten, hätte er das Bischofsamt abgelehnt, das der König ihm aus politischen Gründen aufgedrängt hatte, aber für sie hatte ihre Berufung Vorrang gehabt. Die hätte sie aufgeben müssen – er brauchte eine Frau, keine Ärztin, vor allem keine Ärztin der Toten.

Letzten Endes, dachte sie, wollte keiner von uns dem anderen das höchste Opfer bringen.

Er stand auf, ging zu der kleinen Allie und malte mit dem Daumen das Zeichen des Kreuzes auf ihre Stirn. »Gott segne dich, meine Tochter.« Er wandte sich um. »Und Gott segne auch dich, Mistress«, sagte er. »Möge Gott euch beide behüten und bewahren. Und möge der Friede des Herrn Jesus Christus über die Apokalyptischen Reiter obsiegen.« Er seufzte. »Denn ich höre das Donnern ihrer Hufe nahen.«

Pater Paton kam mit einem Korb herein und reichte ihn Seiner Lordschaft, der ihn gleich wieder hinauswinkte.

Adelia starrte Rowley an. Inmitten all des überflüssigen Pomps des Raumes, in all dem inneren Aufruhr, den sie empfunden hatte, als die Schatten der Vergangenheit kamen und gingen, hatte eines gefehlt, eben das, was hierhergehörte – sein eigentlicher Zweck. Und gerade hatte sie dessen Duft wahrgenommen, klar und kalt: Heiligkeit. Die allerletzte Eigenschaft, die sie bei Rowley erwartet hätte. Ihr Geliebter war ein Mann Gottes geworden.

Er setzte sich neben sie, begann, ihr die genauen Umstände des Anschlags auf Rosamund zu schildern, und stellte den Korb so vor ihr auf den Tisch, dass sie den Inhalt inspizieren konnte. Früher hätte er niemals neben ihr sitzen können, ohne sie zu berühren. Jetzt war es, als säße sie neben einem Eremiten.

Rosamund aß für ihr Leben gern gedünstete Pilze, erklärte er. Das war allgemein bekannt. Eine faule Dienerin, die losgeschickt worden war, um welche für ihre Herrin zu sammeln, hatte einen Korb voll von einem alten unbekannten Weib geschenkt bekommen und ihn in die Küche gebracht, ohne sich noch die Mühe zu machen, weitere zu suchen.

»Rosamund hat sie nicht alle gegessen, sondern einige für später aufgehoben, und als ich bei ihr war, ließ ich mir den Rest bringen, um ihn mitzunehmen. Ich habe mir gedacht, du könntest vielleicht bestimmen, aus welchem Gebiet sie stammen oder so – du kennst dich doch mit Pilzen aus, nicht wahr?«

Ja, sie kannte sich mit Pilzen aus. Während er noch sprach, begann Adelia gehorsam, sie mit ihrem Messer umzuwenden.

Es war eine schöne Sammlung, auch wenn die Pilze inzwischen schrumpelig waren. Butterröhrlinge, im Volksmund auch »Rotzer« genannt, Hallimasch, Ziegenbart, Rötelritterlinge, Semmelstoppelpilze. Eine schmackhafte, aber vor allem vielseitige, extrem vielseitige Mischung. Manche dieser Exemplare wuchsen ausschließlich auf Kalkböden, andere in Nadelwäldern, wieder andere auf freiem Feld oder unter Laubbäumen.

Wer auch immer sie gesammelt hatte, er hatte sein Netz, ob nun mit Absicht oder nicht, weit ausgeworfen und es damit unmöglich gemacht, die Pilze einem bestimmten Herkunftsort zuzuordnen.

»Wie ich schon sagte, es war Absicht, keine Frage«, stellte der Bischof fest. »Das alte Weib hat klipp und klar gesagt, die Pilze sollten ausschließlich für Lady Rosamund sein, und ist seitdem nicht mehr gesehen worden. Verschwunden. Die Hexe hat ein paar Giftpilze druntergemischt, verstehst du, und gehofft, die arme Frau würde daran sterben, und nur durch die Gnade Gottes …«

»Rowley, sie ist tot«, sagte Adelia.

»Was?«

»Wenn Rosamund von diesen Pilzen gegessen hat, dann ist sie tot.«

»Nein, ich hab dir doch gesagt, es ging ihr wieder besser, als ich sie zuletzt gesehen habe. Viel besser.«

»Ich weiß.« Auf einmal tat er Adelia furchtbar leid, und sie wünschte, sie könnte ihm ersparen, was sie ihm nun sagen musste … »Aber das ist leider der normale Verlauf.« Sie spießte den tödlichen Pilz mit dem Messer auf und hob ihn hoch. »Es ist typisch für diese Sorte, dass es denjenigen, die sie gegessen haben, eine Zeitlang vermeintlich bessergeht.«

Unscheinbar, mit weißen Lamellen, der Hut inzwischen zu einem gewöhnlichen Braun vertrocknet, aber noch immer recht angenehm duftend. »Der Grüne Knollenblätterpilz wächst überall, ich habe ihn schon in Italien gesehen, in Sizilien, Frankreich und hier in England, wo man ihn auch Teufelshaube nennt. Ich habe seine Wirkung gesehen, habe Leichen von Menschen seziert, die ihn gegessen hatten – zu viele Leichen. Er ist immer, immer tödlich.«

»Nein«, sagte er, »das kann nicht sein.«

»Es tut mir leid, es tut mir so leid, aber wenn sie einen davon gegessen hat, und selbst wenn es nur ein Stückchen war …« Sie konnte es ihm nicht ersparen. »Zuerst Erbrechen und Durchfall, Unterleibskrämpfe, dann ein oder zwei Tage, in denen sie sich scheinbar erholt hat. Doch die ganze Zeit über hat das Gift Leber und Nieren angegriffen. Es gibt absolut keine Heilung. Rowley, sie ist tot.«