Kapitel acht

Falls die Vorstellung, die rund vierzig erschöpften, durchnässten, halb erfrorenen Männer, Frauen und Hunde, die da durch ihr Tor getaumelt kamen, zu verpflegen und unterzubringen, bei ihr Missmut auslöste, so ließ sie es sich nicht anmerken, obgleich sie bestimmt noch missmutiger wurde, als sie unter den Ankömmlingen die Königin von England und den Abt von Eynsham entdeckte, beide keine Freunde von Godstow, von der Söldnertruppe ganz zu schweigen.

Sie kam gar nicht auf den Gedanken, dass sie eine Besatzungsmacht begrüßte.

Sie ließ ihren Gästen heiße Milch mit Rum bringen. Sie räumte ihr Haus für Königin Eleanor und deren Zofen, brachte den Abt und Montignard samt Dienern und den Dienern der Königin im Gästehaus der Männer unter und quartierte Schwyz beim Torwächter ein. Sie ließ die Hunde und Falken der Königin in die Zwinger und Käfige der Abtei bringen, verteilte die restlichen Söldner möglichst weit auseinander, indem der eine beim Schmied, der andere in der Bäckerei und die übrigen bei alleinstehenden – und alten – Laienbrüdern Quartier erhielten, deren Häuser im Innern der Klostermauern ein eigenes kleines Dorf bildeten.

»So sind sie alle hübsch aufgeteilt, und keiner von denen in der Nähe von irgendwelchen Frauen«, sagte Gyltha anerkennend. »Ganz schön durchtrieben, diese Ma Edyve.«

Gyltha war es gewesen, die der Äbtissin von den Ereignissen in Wormhold berichtet hatte. Adelia war zu müde dazu und fühlte sich außerdem nicht in der Verfassung, ihr von Rowleys Tod zu erzählen.

»Sie glaubt nich dran«, sagte Gyltha bei ihrer Rückkehr. »Genauso wenig wie ich. So, und jetzt kümmer ich mich erst mal um euch beide.«

Mansur mochte es nicht, wenn er umsorgt wurde, und beteuerte immerzu, dass es ihm gutgehe, doch anders als Adelia, Jacques und Walt war er, als er die Barkasse stakte, der Kälte im Freien ausgesetzt gewesen, und sie und Gyltha waren beunruhigt.

»Sieh dir an, was du mit deinen Händen gemacht hast, du großer Tölpel«, sagte Gyltha, deren Sorge sich stets in Form von Ärger äußerte. Mansurs Hände bluteten an den Stellen, wo das Holz der Stakstange erst seine Handschuhe und dann seine Haut durchgescheuert hatte.

Adelia hatte eher Angst um seine Finger, die da, wo sie aus den kaputten Handschuhen geragt hatten, weiß und glänzend waren. »Erfrierung.«

»Sie bereiten mir keine Schmerzen«, sagte Mansur stoisch.

»Werden sie aber bald«, versprach Adelia.

Gyltha lief zu Mansurs Unterkunft, um ihm trockene Kleidung zu holen, und brachte einen Eimer warmes Wasser aus der Küche mit, in das sie die Hände ihres Geliebten tauchen wollte, doch Adelia bremste sie. »Warte, bis es etwas abgekühlt ist.«

Sie hielt Gyltha auch davon ab, das Kohlenbecken näher an ihn heranzuziehen. Ihr Vater hatte Frostbeulen und Erfrierungen genauer untersucht, nachdem er diese Erscheinung in den Alpen beobachtet hatte, wo sie jedes Jahr einige Wochen verbrachten – einmal hatte er sogar allein wegen seiner Studien einen ganzen Winter dort überstanden –, und er war zu dem Schluss gelangt, dass das Erwärmen der befallenen Körperpartien ganz allmählich zu erfolgen hatte.

Die kleine Allie, der das Vergnügen, sich am Kohlenbecken zu verbrennen, stets versagt blieb – es stand in einem Schutzgitter –, unternahm den Versuch, sich den Eimer über den Kopf zu stülpen. Adelia hätte das daraus resultierende Gerangel zwischen Gyltha und diesem ungewöhnlichen Kind sicherlich genossen, wenn ihr selbst die Zehen nicht schrecklich wehgetan hätten, da das Blut anfing, in steif gefrorene Muskeln zurückzuströmen.

Sie dachte darüber nach, ob sie sich und Mansur mit einem schmerzlindernden Sud aus Weidenrinde behandeln sollte, und verwarf den Gedanken dann wieder. Sie waren beide Stoiker, und da ihre Zehen und Finger rot wurden, ohne Blasen zu werfen, konnten die Erfrierungen nicht allzu schlimm sein. Sie sollte die Arznei besser für diejenigen aufheben, die es schlimmer erwischt hatte.

Sie kroch ins Bett, um behaglicher zu leiden. Wächter folgte ihr mit einem Satz, und sie hatte weder die Kraft noch den Willen, ihn wegzuscheuchen. Der Hund hatte auf dem Boot seine Körperwärme mit ihr geteilt; was waren da schon ein paar Flöhe, wenn sie jetzt ihre mit ihm teilte?

»Was habt ihr mit Dakers gemacht?«, fragte sie.

»Ach die.« Gyltha war nicht angetan gewesen von diesem Skelett auf zwei Beinen, das Adelia durch das Klostertor gezerrt hatte, ohne überhaupt zu merken, dass sie es zerrte, doch sie hatte erkannt, eben weil Adelia sich mit diesem Geschöpf abplagte, dass es möglichst am Leben erhalten werden sollte. »Ich hab sie Schwester Havis übergeben, und die hat sie an Schwester Jennet im Klosterspital übergeben. Sie wird versorgt, das hässliche Ding.«

»Gut gemacht.« Adelia schloss die Augen.

»Willst du denn nich wissen, wer hier alles aufgetaucht is, als ihr weg wart?«

»Nein.«

Als sie aufwachte, war es Nachmittag. Mansur war ins Gästehaus der Männer gegangen, um sich auszuruhen. Gyltha saß neben dem Bett und strickte – eine Fertigkeit, die sie während ihrer Zeit als Aalhändlerin bei ihren skandinavischen Kundinnen abgeguckt hatte.

Adelias Augen ruhten auf Allies rundlicher kleiner Gestalt, die sich auf dem Allerwertesten über den Boden schob, den Hund jagte und Grimassen schnitt, um den einsamen kleinen Zahn zu zeigen, der in ihrem Unterkiefer zum Vorschein gekommen war, nachdem ihre Mutter sie das letzte Mal gesehen hatte. »Ich schwöre, ich lass dich nie wieder allein«, versprach sie ihr.

Gyltha schnaubte. »Wie oft soll ich dir noch sagen, es war bloß ein Tag und eine Nacht.«

Doch Adelia wusste, dass die Trennung länger gewesen war. »Fast wäre es für immer gewesen«, sagte sie und fügte schmerzerfüllt hinzu: »Für Rowley ist es das.«

Gyltha war da anderer Meinung. »Der kommt wieder, putzmunter und quicklebendig. Von so ein bisschen Schnee lässt sich dieser Bursche nich unterkriegen.« Für Gyltha würde der Hochwürdige Bischof von St. Albans immer nur »dieser Bursche« sein.

»Von mir aus kann er wegbleiben«, sagte Adelia. Sie klammerte sich an ihren Groll auf ihn wie an ein Rettungsfloß, um nicht in Trauer unterzugehen. »Ihm war alles egal, Gyltha, sein Leben, Allies, meines.«

Außer dass du die Sonne aufgehen lässt.

»Ist ja auch kein Wunder. Er will einen Krieg verhindern, der mehr Leben kosten würde als bloß deins. Das ist Gottes Werk, jawohl, und deshalb wird der Herr auch auf ihn aufpassen.«

Auch Adelia klammerte sich an diese Hoffnung, aber sie war zutiefst verängstigt. »Ist mir egal. Wenn es Gottes Werk ist, dann soll er es gefälligst selbst erledigen. Wir verschwinden hier. Sobald das Wetter es zulässt, verdrücken wir uns ins Sumpfland.«

»Ach ja?«, sagte Gyltha.

»Komm mir nicht so. Ich mein’s ernst.« In den Sümpfen war ihr Leben angenehm, geregelt, nützlich gewesen. Sie war dort weggeholt worden, war körperlichen und seelischen Qualen ausgesetzt und dann damit allein gelassen worden, und zwar durch den Mann, auf dessen Bitte hin sie sich überhaupt erst auf das alles eingelassen hatte. Und zu allem Übel hatte er in ihr wieder ein Gefühl geweckt, das sie längst tot geglaubt hatte, tot gewünscht hatte.

Außer dass du die Sonne aufgehen lässt.

Verflucht soll er sein, denk nicht dran.

Mit wachsendem Zorn sagte sie: »Es geht sowieso nur um hohe Politik. Das steckt hinter Rosamunds Tod, wie ich das sehe – ein Mord, der mit Königinnen und Königen und politischem Kalkül zu tun hat. Das übersteigt meine Fähigkeiten. Waren es die Pilze? Ja, vermutlich. Weiß ich, wer sie geschickt hat? Nein, tu ich nicht, Schluss, Ende, aus. Ich bin Ärztin, ich lass mich nicht in ihre Kriege mit hineinziehen. Meine Güte, Gyltha, Eleanor hat mich entführt, mich entführt – um ein Haar wäre ich bei ihrem verdammten Heer gelandet.«

»Hättest ihr vielleicht nich das Leben retten sollen.«

»Was hätte ich denn tun sollen? Dakers wollte mit einem Messer auf sie los.«

»Willst du wirklich nich wissen, wer sonst noch alles hier aufgetaucht is?«

»Nein. Ich will nur wissen, ob uns irgendwer am Aufbruch hindern wird.«

Doch allem Anschein nach waren alle Reisenden, selbst Eleanor, bei ihrer Ankunft im Kloster praktisch zusammengebrochen, und so hatte niemand einen Gedanken an die Frau verschwendet, die der Königin das Leben gerettet hatte – und auch nicht an die Frau, die es ihr fast genommen hätte.

Vielleicht, so dachte Adelia, hatte die Königin Dakers und sie ja völlig vergessen und würde, sobald die Straßen wieder passierbar waren, ihren Weg nach Oxford fortsetzen, ohne sich weiter um sie beide zu kümmern. Sie selbst würde sich dann schleunigst mit Gyltha, Mansur und Allie davonmachen und sich auch nicht mehr um Dakers und deren böse Pläne scheren.

Gyltha ging das Essen aus der Küche holen.

Adelia beugte sich vom Bett herab, hob ihre Tochter hoch, drückte die Nase gegen den weichen Samt ihrer Wange und setzte sie sich auf die Knie, so dass sie einander ansahen.

»Wir gehen nach Hause, nicht, Mistress? Jawohl, das tun wir. Wir lassen uns nicht in ihre blöden Kriege verwickeln, nicht? Nein, auf keinen Fall. Wir gehen weit weg, wir fahren zurück nach Salerno, uns ist egal, was der fiese alte König Henry sagt, nicht wahr? Irgendwie kriegen wir das Geld schon zusammen. Zieh nicht so ein Gesicht …« Denn Allie hatte die Unterlippe vorgeschoben und zeigte ihren neuen Zahn mit einer Miene, die irgendwie an das Kamel in der Menagerie von Salerno erinnerte. »Salerno wird dir gefallen, da ist es warm. Wir werden mit Mansur und Gyltha und Ulf reden, jawohl, das machen wir. Dir fehlt Ulf, nicht? Mir auch.«

Bei einer Ermittlung wie dieser – wenn sie sie weiterverfolgt hätte – wäre Gylthas Enkel ihr Auge und Ohr gewesen, weil er sich unbemerkt überall herumtreiben konnte, wie das nur einem elfjährigen Bengel möglich war, und weil sich hinter seinem nicht gerade ansehnlichen Gesicht ein ungemein gescheiter Verstand verbarg.

Dennoch, Adelia dankte Gott, dass zumindest Ulf außer Gefahr war. Aber sie ertappte sich bei der Frage, was der Junge wohl zur Lage gesagt hätte …

Allie fing an zu zappeln, wollte weiter Jagd auf Wächter machen, also setzte Adelia sie geistesabwesend wieder auf den Boden und lauschte auf die unnachgiebige kleine Stimme in ihrem Kopf, die wie eine hartnäckige Krähe Fragen stellte.

Zwei Morde, nicht? Rosamund und der Kerl auf der Brücke. Hängen die nicht vielleicht zusammen?

»Ich weiß nicht. Ist auch egal«, sagte sie laut zu sich selbst.

Würde davon abhängen, wer hier auftaucht, würd ich sagen. Irgendwer muss doch herkommen und rausfinden wollen, wieso es kein großes Hallo um den Toten auf der Brücke gegeben hat, was? Wer das gemacht hat, wollte, dass er tot ist und dass es ein Mordsgeschrei drum gibt, stimmt doch, oder?

»Davon bin ich ausgegangen. Aber es war keine Zeit, der Schnee wird den- oder diejenigen aufgehalten haben.«

Es ist aber wer gekommen.

»Interessiert mich nicht. Ich will nach Hause, ich hab Angst.«

Und den armen Kerl willste einfach im Eishaus lassen, ja? Sehr gottesfürchtig, muss ich schon sagen.

»Ach, sei still.«

Adelia legte Wert auf Ordnung. In gewisser Weise ging es auch in ihrem Beruf darum – denn eines konnte man den Toten zumindest zugute halten: Sie trafen keine unvorhergesehenen Entscheidungen und bedrohten dich auch nicht mit dem Messer. Machtlos zu sein und anderen ausgeliefert – vor allem wenn diese Böses im Schilde führten –, wie Adelia es in Wormhold und auf dem Fluss gewesen war, hatte sie zutiefst verunsichert.

Das Kloster umschloss sie. Der lange, niedrige, schlichte Raum kündete von wohltuender Harmonie. Es war jetzt dunkel draußen, und die Glut im Kohlenbecken erzeugte bei jedem Deckenbalken einen Schatten, malte ein angenehm gleichmäßiges Muster aus dunklen und weniger dunklen Bahnen auf den weißen Putz. Obgleich gedämpft durch die Wolle, die Gyltha zum Schutz gegen die Kälte in die Ritzen der Fensterläden gestopft hatte, vermittelten die fernen Stimmen der Nonnen, die die Vesper sangen, die Beruhigung von tausend Jahren disziplinierter Gleichförmigkeit.

Und all das war trügerisch, weil hier im Eishaus eine Leiche lag und sieben Meilen entfernt eine tote Frau an einem Schreibtisch saß. Beide warteten sie auf … ja, auf was?

Aufklärung.

Adelia flehte die Toten an: Ich kann sie euch nicht geben, ich fürchte mich, ich will nach Hause.

Aber bruchstückhafte, beinah vergessene Bilder drängten sich ihr unaufhörlich in den Sinn: Fußspuren im Schnee auf der Brücke, ein zerknitterter Brief in einer Sattelrolle, andere Briefe, abgeschriebene Briefe, Berthas schweinsähnliche Nase, die einen Geruch erschnüffelt …

Gyltha kam zurück und brachte eine große Schüssel Eintopf mit Hammelfleisch und ein paar Löffel mit; sie hatte ein Brot unter einem Arm und unter dem anderen eine Lederflasche Ale. Sie goss etwas Eintopf in Allies Schälchen und begann, ihn zu einem Brei zu zermatschen. Die Fleischstücke zerkaute sie mit ihren großen, starken Zähnen, bis auch sie nur noch Matsch waren, und gab sie dann zurück ins Schälchen. »Weiße Rüben und Gerste«, sagte sie. »Eins muss ich den Schwestern lassen, die machen ein anständiges Abendessen. Und heute Morgen gab’s gute warme Milch von der Kuh mit ein bisschen Porridge für die Kleine.«

Da die Erwähnung eines der Probleme des Klosters der Situation irgendwie mehr Realität gab, fragte Adelia widerwillig: »Ist Bertha noch immer im Kuhstall?«

»Kommt einfach nich raus, das arme Ding. Will die alte Dakers sie immer noch abmurksen?«

»Nein, ich glaub nicht.«

Allie zu füttern, die beherzte Anstrengungen unternahm, sich selbst zu füttern, bedurfte einer Konzentration, die keinen anderen Gedanken mehr zuließ.

Als sie die letzten Essensreste aus Allies und ihren eigenen Haaren geklaubt hatten, wurde das Kind ins Bett gelegt, und die beiden Frauen aßen ihr Nachtmahl schweigend, die Füße nah zum Kohlenbecken gestreckt, während die Flasche Ale zwischen ihnen hin und her wanderte.

Wohlig warm und mit abklingenden Schmerzen dachte Adelia, dass die hagere alte Frau auf dem Hocker ihr gegenüber die einzige Sicherheit war, die es derzeit in ihrer Welt gab. Es verging kein Tag ohne den Gedanken daran, wie viel Dankbarkeit sie Prior Geoffrey dafür schuldete, dass er sie miteinander bekannt gemacht hatte, doch auch kein Tag ohne die jähe Angst, Gyltha könnte sie verlassen, oder ohne dass sie sich verwundert die Frage stellte, warum sie blieb.

Adelia sagte: »Gyltha, macht es dir was aus, hier zu sein?«

»Geht nich anders, Mädchen. Wir sind eingeschneit. Schneit schon wieder, wenn du’s gemerkt hast. Der Weg runter zum Fluss is schon wieder dicht.«

»Ich meine, quer durchs Land zu reiten, um hierherzukommen, weit weg von daheim, Mord … das alles. Du beklagst dich nie.«

Gyltha pulte eine Faser Hammelfleisch zwischen den Zähnen hervor, betrachtete sie und schob sie sich wieder in den Mund. »So krieg ich auch mal was zu sehen, denk ich«, sagte sie.

Vielleicht war es das. Frauen mussten meist da bleiben, wo sie waren, in Gylthas Fall das Sumpfland von Cambridgeshire, eine Gegend, die Adelia zwar ungemein exotisch fand, die aber ohne jeden Zweifel flach wie ein Brett war. Wieso sollte Gylthas Herz nicht wie das eines Kreuzfahrers für Abenteuer in der Fremde entflammen? Oder sich ebenso sehr – wie es Rowley ergangen war – danach sehnen, den Frieden Gottes in ihrem Land bewahrt zu sehen? Oder trotz aller Gefahren dafür sorgen wollen, dass Gottes Gerechtigkeit denjenigen widerfuhr, die ein Menschenleben genommen hatten?

Adelia sah sie kopfschüttelnd an. »Was würde ich nur ohne dich tun?«

Gyltha goss den Rest Eintopf aus Adelias Schale in ihre eigene und stellte sie für Wächter auf den Boden. »Vor allem hättste keine Zeit, rauszufinden, wer den armen jungen Burschen erledigt hat oder warum Rosamund dran glauben musste.«

»Oh«, seufzte Adelia, »na schön, lass hören.«

»Was willst du hören?« Aber Gyltha grinste zufrieden.

»Das weißt du ganz genau. Wer ist hier aufgetaucht? Wer hat Fragen nach dem Jungen im Eishaus gestellt? Jemand wollte, dass er gefunden wird, und ich wette, dieser Jemand wird sich umhören, warum das nicht geschehen ist. Wer ist es?«

Es war mehr als einer. In Adelias Abwesenheit waren vier Menschen in Godstow eingetroffen, als hätte der Schnee sie vor sich hergeweht, um sie hier einzusperren.

»Master und Mistress Bloat aus Abingdon. Das sind die Ma und der Pa von dieser jungen Emma, die du so magst. Wollen bei ihrer Hochzeit dabei sein.«

»Wie sind sie?«

»Dick.« Gyltha hob die Arme, als wollte sie einen mächtigen Baumstamm umfassen. »Dicke Bäuche, große Worte, laute Stimmen. Er hat hier rumgetönt, dass er mehr Wein von irgendwo im Ausland mit Schiffen herbringen lässt als sonst wer und auch mehr verkauft als sonst wer – noch dazu günstiger als sonst wer, glaub ich. Ein Fettwanst auf hohem Ross, so einer is das.«

Adelia schloss daraus, dass Master Bloat sich einer gesellschaftlichen Stellung erfreute, in die er nicht hineingeboren worden war. »Und seine Frau?«

Statt einer Antwort verzog Gyltha den Mund zu einem völlig affektierten Lächeln, griff nach der Aleflasche und spreizte demonstrativ den kleinen Finger ab, während sie so tat, als nähme sie einen Schluck. Die Bloats hatten Gyltha missfallen.

»Als mörderisches Ehepaar aber ziemlich unwahrscheinlich«, sagte Adelia. »Wer noch?«

»Ihr zukünftiger Schwiegersohn.«

Auch er hatte einen triftigen Grund, nach Godstow zu kommen. »Aaaah.«

Der schöne, galante Gedichteschreiber war also erschienen, um seine Braut zum Altar zu führen. Wie schön für dieses fröhliche bezaubernde Mädchen, wie schön, dass die winterliche Dunkelheit zumindest für eine Weile durch Liebe erhellt werden würde.

»Wie ist er hergekommen?«

Gyltha zuckte die Achseln. »Direkt aus Oxford, kurz bevor der Schneesturm losging, genau wie die anderen. Anscheinend is er der Grundherr da drüben auf der anderen Seite von der Brücke, obwohl er nich oft da is. Runtergekommene alte Ruine is das, meint Polly.« Gyltha hatte in der Küche Freundschaften geschlossen. »Sein Pa stand im Krieg auf der Seite von Stephen und hatte flussaufwärts eine Burg, die hat dann aber König Henry abreißen lassen.«

»Sieht er wirklich so edel aus, wie Emma ihn beschreibt?«

Doch Adelia sah, dass auch er einer war, der Gyltha missfiel, aber gründlich. »Edel is, wer edel handelt«, sagte Gyltha. »Älter, als ich gedacht hätte, und er kommandiert die Leute rum wie ein richtiger Lord. War schon mal verheiratet, aber sie is gestorben. Die Bloats lecken ihm die Stiefel dafür, dass er ihr Mädchen zur Adeligen macht …«, Gyltha beugte sich leicht vor, »… und er die Güte hat, als Mitgift zweihundert Mark in Gold anzunehmen.«

»Zweihundert Mark?« Eine gewaltige Summe.

»Hat Polly gesagt. In Gold.« Gyltha nickte. »Unser Master Bloat is nich gerade knapp bei Kasse.«

»Offensichtlich. Aber immerhin, wenn er gewillt ist, das Glück seiner Tochter zu erkaufen …« Sie stockte. »Ist sie denn glücklich?«

Gyltha zuckte die Achseln. »Hab sie nich gesehen. Sie bleibt bei den Nonnen. Ich hätte ja gedacht, sie kommt angerannt, um diesen Lord Wolvercote zu begrüßen …«

»Wolvercote?«

»So heißt Seine Lordschaft. Passt auch gut, weil er wirklich richtig was von ’nem Wolf an sich hat.«

»Gyltha … Wolvercote, das ist der Mann … der hat ein Heer für die Königin aufgestellt. Er sollte in Oxford sein und da warten, bis Eleanor zu ihm stößt.«

»Tja, is er aber nich, er is hier.«

»Tatsächlich? Aber …« Adelia war fest entschlossen, an den Glanz einer romantischen Liebe zu glauben. »Er scheint mir als Mörder auch nicht wahrscheinlich. Es spricht schließlich für ihn, dass er bereit ist, einen Krieg zu verschieben, weil er es nicht abwarten kann, seine Emma zu heiraten.«

»Er verschiebt ihn«, stellte Gyltha klar, »für seine Emma plus zweihundert Mark. In Gold.« Sie beugte sich vor und gestikulierte mit ihrer Stricknadel. »Weißt du, was er als Erstes gemacht hat, als er ins Dorf kam? Er hat ein paar Spitzbuben geschnappt, die sein Gut ausgeraubt haben, und sie im Handumdrehen aufgeknüpft.«

»Die beiden an der Brücke? Ich hab mich schon gefragt, warum sie da hängen.«

»Schwester Havis is sauer. Die hat sich richtig aufgeregt, sagt Polly. Die Brücke gehört nämlich der Abtei, und die Schwestern wollen nich, dass sie mit Leichen vollgehängt wird. ›Ihr nehmt sie sofort wieder ab‹, hat sie Seiner Lordschaft gesagt. Aber der Kerl sagt, es wär seine Brücke, und er würd’s nich tun. Und er tut’s nich.«

»Oje.« So viel zum Traum von romantischer Liebe. »Und wer ist nun der vierte Ankömmling?«

»Advokat. Heißt Warin. Und der hat Fragen gestellt. Macht sich große Sorgen um seinen jungen Vetter, wie’s scheint. Der wurde zuletzt gesehen, als er flussaufwärts geritten is.«

»Warin, Warin. Er hat den Brief geschrieben, den der Junge bei sich hatte.« Es war, als würde eine Eisbarriere schmelzen, so dass alle Erinnerungen ungehindert auf sie einströmen konnten. Euer liebnd. Vetter Wlm Warin, Diener des Rechts, der Euch hiermit 2 Mark in Silber als Anzahlung auf Euer Erbe übersendet, dessen Rest Ihr beanspruchen mögt, wenn wir uns sehen.

Briefe, immer wieder Briefe. Ein Brief in der Sattelrolle. Ein Brief auf Rosamunds Tisch. Verbanden sie die beiden Morde miteinander? Nicht unbedingt. Menschen, die des Schreibens mächtig waren, schrieben nun mal Briefe. Andererseits …

»Wann ist Master Warin hier aufgetaucht und hat nach seinem Vetter gefragt?«

»Gestern am späten Abend, vor dem Schneesturm. Und er is ’ne Heulsuse. Hatte ’nen Heulkrampf vor Angst, sein Vetter könnte vom Schnee überrascht oder wegen seiner Geldbörse überfallen worden sein. Wollte über die Brücke und sich im Dorf erkundigen, aber das ging dann nich mehr, weil alles zugeschneit war.«

Adelia überlegte. »Dann war ihm aber schnell klar, dass der Junge vermisst wird. Schließlich ist Talbot aus Kidlington – er muss der im Eishaus sein – erst in der Nacht davor getötet worden.«

»Ist das ein Beweis?« In Gylthas Augen lag ein angriffslustiges Glimmen.

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nicht. Ach gütiger Gott, was ist denn nun wieder?«

In der Nähe hatte die Kirchenglocke begonnen zu läuten, ließ den Krug in seiner Schüssel erbeben und das Bett vibrieren. Allie öffnete den Mund, um zu schreien, und Adelia sprang aus dem Bett, um sie hochzuheben und ihr die Ohren zuzuhalten. »Was ist denn los? Was ist los?« Die Glocke rief nicht zum Gottesdienst.

Gyltha hatte das Ohr an den Fensterladen gedrückt und versuchte, die Rufe von unten zu verstehen. »Alle in die Kirche.«

»Brennt es?«

»Weiß nich. Klingt eher wie ein Ruf, sich zu versammeln.« Gyltha lief zu den Haken, an denen ihre Mäntel hingen. Adelia begann, Allie in ihren Pelz zu wickeln.

Draußen hasteten Menschen von allen Seiten herbei und gesellten sich zu dem lauten Gedränge vor dem Kirchenportal, wo manche stehenblieben, um andere vorzulassen, einander verstört Fragen stellten und keine Antworten erhielten. Sie nahmen den Lärm mit hinein … und verstummten.

Die Kirche war voller Menschen, aber still und größtenteils dunkel. Alles Licht bündelte sich im Altarraum, wo Männer im Chorgestühl saßen, Männer, manche von ihnen in Rüstung. Der Bischofsthron war vor den Altar gestellt worden, und Königin Eleanor saß darauf. Sie trug ihre Krone, wirkte aber zwergenhaft in dem riesigen Sessel.

Neben ihr stand ein behelmter Ritter, den Mantel zurückgeworfen, damit das rot-schwarze Wappen mit einem Wolfskopf vorn auf seinem Rock zu sehen war. Eine Hand im Panzerhandschuh ruhte auf dem Schwertheft. Er stand so reglos da, dass er auch eine bemalte Skulptur hätte sein können, doch er zog alle Blicke auf sich.

Das leise Raunen, das von den Neuankömmlingen hereingetragen wurde, erstarb. Inzwischen waren sämtliche Bewohner von Godstow eingetroffen, zumindest alle, die gehen konnten. Adelia, die allmählich fürchtete, das Kind in ihren Armen könnte zerquetscht werden, schaute sich nach einer Stelle um, wo mehr Platz war, und jemand, der schon zu einigen anderen auf ein Grabmal geklettert war, zog sie mit herauf. Gyltha und Wächter folgten ihr.

Die Glocke hörte auf zu läuten. Sie hatte lediglich den Hintergrund des Geschehens gebildet und war erst aufgefallen, als ihr Klang verstummte.

Der Ritter nickte, woraufhin sich ein livrierter Mann hinter dem Chorgestühl umwandte und die Tür zur Sakristei öffnete, der Eingang, der den Ordensschwestern vorbehalten war.

Mutter Edyve kam, auf ihren Stock gestützt, herein, gefolgt von den Godstower Nonnen. Sie blieb stehen, als sie den Altarraum erreichte, und betrachtete die Männer, die auf den Plätzen saßen, die sonst für sie und ihre Schwestern reserviert waren.

Ein erschrockenes Zischen durchlief die Versammlung, doch Mutter Edyve neigte nur leicht den Kopf, humpelte dann an ihnen vorbei und winkte ihrer Herde mit einem Finger, ihr zu folgen, als sie die Stufen hinunterging und sich mit zu der Gemeinde stellte.

Adelia schaute sich im Kirchenschiff um, suchte nach Mansur. Sie sah ihn nirgends; stattdessen fiel ihr Blick auf Männer in Rüstungen, die sich mit gezogenen Schwertern entlang der Mauern aufgebaut hatten, als wären den alten Steinen Bolzen aus Stahl und Eisen gewachsen.

Wachen.

Sie drehte sich um. Der Ritter im Chorraum hatte zu reden begonnen. »Ihr alle kennt mich. Ich bin Lord Wolvercote, und von nun an bestimme ich im Namen unseres Erlösers und meiner huldvollen Lehnsherrin, Königin Eleanor von England, über den geweihten Bezirk Godstow, damit er gegen die Feinde der Königin verteidigt und gehalten wird, bis zu dem Augenblick, da sie im ganzen Land den Sieg errungen hat.«

Für einen so großen Mann war seine Stimme verblüffend hell und schwach, doch in der Stille benötigte sie keine Kraft.

Ein fassungsloses Raunen ertönte. Hinter Adelia sagte jemand: »Was meint der denn?«

Jemand anderer murmelte. »Menschenskind, heißt das, wir haben Krieg?«

Aus dem Mittelschiff drang ein Ruf: »Welche Feinde denn? Wir haben keine Feinde, wir sind doch eingeschneit.« Adelia meinte die Stimme des Müllers zu erkennen, der schon Bischof Rowley hinterfragt hatte. Allgemeines nervöses Kichern war die Folge.

Augenblicklich drängten sich zwei der Waffenknechte, die an der Südmauer gestanden hatten, vor, und stießen Menschen mit der Flachseite ihrer Schwerter beiseite, bis sie den Störenfried erreicht hatten. Sie packten ihn und zerrten ihn durch die Menge zum Hauptportal.

Es war der Müller. Adelia sah kurz sein rundes Gesicht, den vor Schreck offenen Mund. Die Männer, die ihn rausschafften, trugen das Wolfskopfwappen. Ein Junge rannte hinterdrein. »Pa. Lasst meinen Pa los.« Sie konnte nicht sehen, was danach geschah, doch die Tür knallte zu, und es trat wieder Stille ein.

»Ich dulde keine Aufsässigkeiten«, sagte die helle Stimme. »Die Abtei steht ab jetzt unter militärischer Herrschaft, und all ihre Bewohner unterstehen dem Kriegsrecht. Es wird ein Ausgangsverbot verhängt werden …«

Adelia wollte ihren Ohren nicht trauen. Das Schockierende an der Sache war ihre Dummheit. Wolvercote brachte just die Leute gegen sich auf, deren Freundschaft er brauchte, solange der Schnee liegenblieb. Und das unnötigerweise. Wie der Müller schon gesagt hatte, es gab keinen Feind. Soweit sie wusste, lag die nächste Streitmacht bei Oxford – und das war die von Wolvercote.

O Gott, ein dummer Mensch, das gefährlichste Tier überhaupt.

Im Chorgestühl lächelte Montignard der Königin zu. Die meisten anderen dort beobachteten die Menge im Kirchenschiff, doch der Abt von Eynsham studierte seine Fingernägel, während Schwyz’ finstere Miene sich ausnahm wie die eines Mannes, der gezwungen war, einen als Menschen verkleideten Affen zu betrachten.

Er hätte das nicht getan, dachte Adelia, er ist Berufssoldat. Ich hätte es nicht getan, ich verstehe nichts vom Kriegshandwerk.

»… die frommen Frauen werden sich in ihren Klosterbereich zurückziehen; solange wir eingeschneit sind, wird das Essen rationiert werden und eine Mahlzeit am Tag gemeinsam eingenommen werden – Adelige im Refektorium, Gemeine in der Scheune. Abgesehen von den Gottesdiensten, sind keinerlei Versammlungen erlaubt. Jede Ansammlung von mehr als fünf Personen ist verboten.«

»Dann kann er sich seine blöden gemeinsamen Mahlzeiten ja wohl auch abschminken«, flüsterte Gyltha.

Adelia grinste. Das hier war Dummheit par excellence. Schon allein in der Küche arbeiteten zwanzig Leute zusammen, und wenn die sich nicht versammeln konnten, würde nicht gekocht werden.

Was auch immer der Mann vorhat, dachte sie, auf diesem Weg wird er es nicht erreichen.

Und dann dachte sie: Aber er kennt keinen anderen. Für ihn sind nur verängstigte Leute gehorsame Leute.

Und wir sind verängstigt. Sie spürte es, die kollektive Erinnerung, die sich wie ein kalter Luftzug durch die Körperwärme in der Kirche bohrte. Eine altvertraute Hilflosigkeit. Die Apokalyptischen Reiter waren unter ihnen, hatten sich durch ein dummes, dummes Schwein Einlass in ihre friedliche Welt verschafft.

Wozu?

Adelia schaute zu Schwyz und Abt Eynsham hinüber, die Beunruhigung ausströmten. Wenn das der Krieg der Königin ist, dann stehen sie alle auf einer Seite. Will Wolvercote sich jetzt über seine Verbündeten erheben, ehe sie seine Autorität anfechten können? Falls Ruhm zu gewinnen war, dann sollte ihn nicht der Abt von Eynsham, nicht Schwyz noch irgendein anderer gewinnen. Die Königin von England war Wolvercote förmlich in den Schoß gefallen, und er musste sich als ihr Erretter beweisen, ehe das ein anderer tat. Falls sie mit ihm als Feldherrn den Sieg errang, konnte Wolvercote sogar zum wahren Herrscher Englands aufsteigen.

Ich sehe einen Mann, der einen hohen Einsatz wagt.

Er war mit seinen Anweisungen fertig. Jetzt wandte er sich um, kniete vor Eleanor nieder und streckte ihr das Heft seines Schwertes entgegen, damit sie es berührte. »Auf immer Euer Diener, Lady. Euch und Gott dem Allmächtigen schwöre ich Treue.«

Und Eleanor berührte das Schwert. Stand auf. Ging um ihn herum zu den Stufen des Altarraums. Hob ihre zierliche Faust. Ein wunderschöner Anblick.

»Ich, Eleanor, Königin von England, Herzogin von Aquitanien, schwöre, dass ich Euch, mein Volk, lieben und ehren werde, so wie ich meinen gütigen Herrn Jesus Christus liebe und ehre.«

Falls sie Applaus erwartet hatte, so wurde sie enttäuscht. Doch sie lächelte, war sich ihres Charmes sicher. »Mein guter und treuer Vasall Lord Wolvercote ist ein Mann des Krieges, aber auch ein Mann der Liebe, wie durch seine Hochzeit mit einer der Euren bezeugt werden wird, die in wenigen Tagen stattfindet. Ich lade alle hier Anwesenden zu dieser Feier ein.«

Auch das wurde nicht mit Applaus belohnt, doch irgendwo tief in der Menschenmenge furzte jemand. Laut.

Die Waffenknechte wandten die Köpfe hin und her, suchten nach dem Übeltäter, doch abgesehen von einem leichten Beben, das durch die Menge lief, rührte sich niemand oder verzog auch nur die Miene.

Ich liebe die Engländer, dachte Adelia.

Der Abt von Eynsham war aufgestanden und rettete die Situation, indem er einen Segen sprach. Beim Gehet-hin-in-Frieden wurden die Türen geöffnet, und alle durften durch eine Phalanx von Bewaffneten, die ihnen befahlen, schweigend nach Hause zu gehen, nach draußen schlurfen.

Zurück in ihrem Zimmer, riss Gyltha sich den Mantel von den Schultern. »Sind die alle bekloppt geworden oder ich?«

»Nein, die.« Sie legte Allie aufs Bett. Das Kind hatte sich in der Kirche gelangweilt und war eingeschlafen.

»Was hat er davon?«

»Innerer Machtkampf«, erklärte Adelia. »Er will dafür sorgen, dass er der wichtigste Streiter der Königin ist, ehe sie sich einen anderen aussuchen kann. Hast du Schwyz’ Gesicht gesehen? Die arme Emma.«

»Der Streiter der Königin?«, höhnte Gyltha. »Wenn Godstow bisher nich für Henry Plantagenet war, dann auf jeden Fall jetzt – das hat der Streiter der Königin für sie erreicht.«

Es klopfte an der Tür.

Es war Cross, der Söldner, mürrisch wie immer. Er sprach Gyltha an, deutete aber mit dem Kinn auf Adelia. »Die muss mitkommen.«

»Und wer bist du? Ha, du bist einer von denen.« Wütend bugsierte Gyltha den Mann raus auf den Flur. »Sie geht nirgendwo mit dir hin, du Pirat, das kannst du deinem dämlichen Wolvercote von mir bestellen.«

Der Söldner wehrte sich taumelnd gegen ihre Attacke. »Ich bin keiner von Wolvercotes Leuten, ich gehör zu Schwyz.« Er wandte sich Adelia zu. »Sagt ihr das.«

Gyltha schob ihn immer noch weg. »Du bist so ein verfluchter Flame, egal, zu wem du gehörst. Hau ab.«

»Schwester Jennet schickt mich.« Wieder richtete er sich an Adelia. Schwester Jennet war Godstows Infirmarin, die Leiterin des Klosterspitals. »Der Doktor braucht Euch für irgendwas. Dringend.«

Gyltha wurde friedlicher. »Welcher Doktor?«

»Der Braunkopf. Ich dachte, der wär Kahnführer, aber nun hat sich rausgestellt, dass er Arzt is.«

»Ein Patient«, sagte Adelia erleichtert. Damit zumindest konnte sie umgehen. Sie bückte sich, gab Allie einen Kuss und holte ihre Tasche. »Wo müssen wir hin? Worum geht’s?«

Cross sagte: »Na, um Poyns«, als müsste sie das doch wissen. »Er hat ’nen schlimmen Arm.«

»Was heißt schlimm?«

»Is irgendwie grün geworden.«

»Hmm.« Adelia packte ihr Bündel Messer mit in die Tasche.

Als sie schon in Begleitung von Wächter zur Tür hinausgingen, versetzte Gyltha dem Söldner kleine Stöße. »Und du bringst sie mir gesund wieder, du widerlicher Schmarotzer, sonst kriegst du’s mit mir zu tun. Und was is mit dem verdammten Ausgangsverbot?«

»Is nich meins«, schrie Cross zurück. »Is das von Wolvercote.«

Es war schon in Kraft. Wächter knurrte einmal, als ein Fuchs irgendwo draußen auf den Feldern bellte, doch ansonsten war die Abtei totenstill. Sie gingen um die Kirche herum, und als sie die Scheune passierten, trat eine Wache aus dem Eingang des kleinen kreisrunden Häuschens, das als Arrestzelle des Klosters diente.

Die Fackel über der Tür beschien seinen Helm. Er hielt eine Pike in der Hand. »Wer da?«

»Zum Spital, Kumpel«, erklärte Cross. »Das hier is eine Pflegerin. ’nem Freund von mir geht’s schlecht.«

»Losung?«

»Was für ’ne Losung, Mann? Ich bin Soldat der Königin, genau wie du.«

»Im Namen von Lord Wolvercote, sag die Losung, oder ich spieß dich auf.«

»Hör mal, mein Freund …« Cross trottete an der Pike vorbei auf den Wachmann zu, als wollte er mit ihm reden, und verpasste ihm einen Kinnhaken.

Cross war ein kleiner Kerl, aber der größere Mann kippte um, wie von einer Axt getroffen. Cross würdigte ihn keines Blickes mehr. Er winkte Adelia. »Nun komm endlich.«

Ehe sie gehorchte, vergewisserte sie sich rasch, dass der Wachmann atmete. Er tat es und begann schon zu stöhnen.

Na ja, dachte sie, immerhin eine Lösung ohne Losung.

»Ich komme.«

 

Schwester Jennet brachte ihre unsterbliche Seele in Gefahr, als sie wegen einem ihrer Patienten einen Mann um Hilfe bat, den sie für einen heidnischen Arzt hielt. Und sie tat ihr auch nichts Gutes damit, dass sie der Anwesenheit seiner »Assistentin« zustimmte, einer Frau, deren Beziehung zum Bischof den Schwestern Anlass für allerlei Spekulationen geliefert hatte.

Aber derselbe Bischof hatte bei seinem Besuch von den Möglichkeiten und Erfolgen der arabischen Medizin im Allgemeinen und dieses Arztes im Besonderen geschwärmt, und wenn Schwester Jennet auch Nonne war, so war sie doch auch eine verhinderte Ärztin. Es widersprach all ihren Instinkten, einen Mann an einem Leiden sterben zu lassen, gegen das sie nichts tun konnte, der Sarazene aber doch.

Die innere Schlacht, die in ihr tobte, äußerte sich in der Wut, mit der sie Adelia begrüßte: »Ihr habt Euch Zeit gelassen, Mistress. Und lasst diesen Hund draußen, ist schon schlimm genug, dass ich im Krankensaal Söldner dulden muss.« Die Infirmarin blickte Cross erbost an, der sich duckte.

Adelia hatte schon Krankensäle gesehen, in denen Wächters Erscheinen den Geruch verbessert hätte. Dieser war anders. Sie schaute sich um. Der lange Raum war makellos sauber. Frisches Stroh auf den Dielen, der Duft von brennenden Kräutern in den Kohlenbecken, weiße Laken, der Kopf jedes Patienten zum Schutz gegen Läuse kahlgeschoren, die ruhige Geschäftigkeit der helfenden Nonnen, all das zeigte, dass die Kranken hier gut versorgt wurden.

Sie sperrte Wächter aus. »Vielleicht könntet Ihr mir sagen, was ich tun kann.«

Schwester Jennet war verblüfft. Adelias Auftreten und die Schlichtheit ihrer Kleidung passten nicht zur Hure eines Bischofs. Ein wenig besänftigt, erklärte die Infirmarin, was sie von Dr. Mansur wollte. »… aber wir sind beide Gefangene des verfluchten Turmes zu Babel.«

»Aha«, sagte Adelia, »Ihr könnt ihn nicht verstehen.« Mansur verstand sie wahrscheinlich recht gut, konnte aber ohne Adelia nichts tun.

»Und er mich nicht. Deshalb hab ich nach Euch gesandt. Ihr sprecht seine Sprache, wie ich hörte.« Sie stockte. »Ist er so erfahren, wie Bischof Rowley gesagt hat?« Bei der Erwähnung seines Namens huschte ihr Blick ganz kurz über Adelias Gesicht.

»Ihr werdet nicht enttäuscht werden«, versprach Adelia ihr.

»Nun ja, alles ist besser als der Bader aus dem Dorf. Steht hier nicht rum. Kommt mit.« Wieder funkelte sie den Söldner an. »Und Ihr auch, wenn’s sein muss.«

Der Patient lag am hinteren Ende des Saales. Man hatte einen Sichtschutz aus Weidengeflecht um das Bett aufgestellt, doch der Geruch, der dahinter hervordrang, verriet den Grund für Schwester Jennets Bedarf nach unchristlichem Beistand.

Er war ein junger Mann, und seine Panik angesichts der Umstände wurde noch verstärkt durch die hohe, weißgewandete, dunkelhäutige Gestalt, die neben ihm aufragte. »Tut gar nich weh«, sagte er immer wieder. »Tut gar nich weh.«

Mansur fragte auf Arabisch: »Wo bist du gewesen?«

Adelia antwortete ebenfalls auf Arabisch: »Musste in die Kirche. Wir stehen unter Kriegsrecht.«

»Gegen wen kämpfen wir?«

»Weiß der Himmel. Schneemänner. Was haben wir hier?«

Mansur beugte sich vor und hob behutsam das dünne Baumwolltuch an, das den linken Arm des Jungen bedeckte.

»Höchste Zeit, denke ich.«

Allerhöchste Zeit. Der zerfetzte Unterarm war schwarz und sonderte übelriechenden gelben Eiter ab.

»Wie ist das passiert?«, fragte Adelia auf Englisch – und fügte dann, wie sie das so oft musste, hinzu: »Der Doktor will das wissen.«

Cross meldete sich zu Wort. »Is unter ein Wagenrad geraten, als wir zum Turm marschiert sind, der ungeschickte Junge. Da muss irgend ’ne Salbe drauf, nich?«

»Kannst du ihm den Ellbogen lassen?«, fragte Mansur.

»Nein.« Die verräterischen Anzeichen der Nekrose wanderten schon über das Gelenk weiter aufwärts.

»Wir können von Glück sagen, wenn wir sein Leben retten.«

»Wieso hat die kleine Frau das nicht schon längst getan?«

»Sie kann nicht, sie darf kein Blut vergießen.«

Das kirchliche Verbot von Amputation war rigoros, Schwester Jennet durfte es nicht missachten.

Mansur rümpfte die Hakennase. »Und da lassen sie ihn lieber sterben?«

»Sie wollten den Bader aus Wolvercote kommen lassen.« Die Vorstellung war einfach zu schrecklich. »Einen Bader, großer Gott.«

»Ein Bader, der Blut vergießt? Dann soll er mich bitte schön nicht rasieren, inschallah.«

Selbst wenn der Bader gerufen worden wäre, hätte er seine Arbeit in der Küche verrichten müssen, weil es eine Beleidigung für Gottes Nase gewesen wäre, Blut im heiligen Klosterbereich zu vergießen. Jetzt stand Adelia vor demselben Problem. Dieser zusätzliche Konflikt zwischen Medizin und ihrem Glauben wühlte Schwester Jennet dermaßen auf, dass sie wütend die erforderlichen Befehle blaffte, um die Operation vorzubereiten, und mit einem so finsteren Blick zusah, wie Mansur ihren Patienten aus dem Saal trug, als hasste sie sie beide. »Und Ihr«, schnauzte sie den vielgeschmähten Cross an, »kriecht zurück in Euren Zwinger. Die brauchen Euch nicht.«

»Aber«, widersprach Adelia. »Er … äh, er kennt das Losungswort.«

Doch die Prozession – bestehend aus Doktor, Patient, Assistentin des Doktors, Hund, Söldner, zwei Nonnen mit frischen Tüchern und Strohsack – blieb unbehelligt, als sie sich von der Tür der Spitalskapelle nach links Richtung Küche bewegte.

Adelia ließ die anderen zuerst reingehen und packte Cross vorn am Wams, bevor er ihnen folgen konnte. Sie würde ihn brauchen; der Patient würde weniger Angst haben, wenn er, sein Freund, bei ihm wäre. Sie konnte Cross nicht besonders leiden – und er sie auch nicht –, aber sie vertraute darauf, dass er den Mund halten würde. »Hört zu, der Arm des Jungen muss ab …«

»Was heißt das, muss ab?«

Sie erklärte es kurz und bündig. »Das Gift wandert durch den Arm Eures Freundes, und wenn es sein Herz erreicht, wird er sterben.«

»Kann der Braunkopf denn nich ein paar Zauberworte sprechen oder so?«

»Nein, er wird den Arm amputieren … abschneiden. Oder genauer gesagt, ich werde das für ihn tun, aber …«

»Geht nich. Ihr seid ’ne Frau.«

Adelia schüttelte ihn; sie hatten keine Zeit für so was. »Habt Ihr gesehen, wie die Hände des Doktors aussehen? Die sind verbunden. Ihr werdet ihn reden und mich arbeiten sehen, aber …«

»Der sagt Euch, was Ihr zu tun habt, nich?« Cross war leicht beruhigt. »Aber was soll mein Kumpel denn eigentlich ohne seinen Scheißarm machen?«

»Was soll er ohne sein Scheißleben machen?« Adelia schüttelte den Mann erneut. »Die Sache ist die … Ihr müsst schwören, niemandem, niemandem zu erzählen, was Ihr heute Abend seht. Habt Ihr verstanden?«

Cross’ unschönes, bedrücktes Gesicht hellte sich auf. »Dann is es also doch Zauberei, was? Der Braunkopf tut irgendein Hexenwerk, und deshalb dürfen die Nonnen nich dabei zusehen.«

»Wer ist Euer Schutzheiliger?«

»St. Acacias natürlich. Hat immer gut auf mich aufgepasst.«

»Schwört bei St. Acacias, dass Ihr nichts verraten werdet.«

Cross schwor.

So spät abends war niemand mehr in der Küche. Die Nonnen bereiteten den riesigen Hauklotz mit Strohsack und sauberen Tüchern als Lager für den Patienten vor, dann verbeugten sie sich und gingen.

Die Augen des jungen Poyns traten fast aus den Höhlen, und er atmete schnell. Er hatte Fieber und große Angst. »Tut gar nich weh. Tut überhaupt nich weh.«

Adelia lächelte ihn an. »Nein, tut es nicht. Und wird es auch nicht, weil Ihr schlafen werdet.« Sie holte das Opiumfläschchen und einen sauberen Lappen aus der Tasche. Mansur legte bereits ihr Netz mit Messern in einen Topf mit brodelndem Wasser, der an einem Haken über der Feuerstelle hing; warmer Stahl schnitt besser als kalter.

Allerdings reichte das Licht in der Küche nicht aus. »Ihr da«, sagte sie zu Cross. »Zwei Kerzen. In jeder Hand eine. Haltet sie so, wie ich es Euch sage, aber passt auf, dass sie nicht tropfen.«

Cross beobachtete, wie Mansur die Messer aus dem Topf hob und sie mit seinen verbundenen Händen aus dem Netz löste. »Seid Ihr sicher, dass er was davon versteht?«

»Kerzen«, fauchte Adelia ihn an. »Helft uns oder verschwindet.«

Er half. Zumindest hielt er die Kerzen, aber als sie dem Patienten den opiumgetränkten Lappen aufs Gesicht drückte, wollte er einschreiten. »Du Hexe erstickst ihn ja.« Mansur hielt ihn zurück.

Sie hatte nur wenig Zeit, weil der Junge nicht zu lange Opium einatmen durfte. »Sein Arm muss ab. Das wisst Ihr doch schon. Vielleicht stirbt er trotzdem, aber wenn wir nicht sofort operieren, kann er nicht überleben.«

»Aber er da sagt Euch doch, was Ihr machen müsst?« Cross war inzwischen schwer von Mansur beeindruckt, seiner Kraft, seinem langen Gewand und seiner Keffiyeh. »Er is ein Zauberer, nich? Deshalb redet der auch so komisch.«

»Du musst so tun, als würdest du mir Anweisungen geben«, sagte Adelia.

Mansur begann auf Arabisch zu plappern.

Sie musste schnell arbeiten. Gott sei Dank wuchs reichlich Schlafmohn in den Sümpfen von Cambridgeshire, und sie hatte einen ordentlichen Vorrat Opium dabei, aber sie musste dessen segensreiche Wirkung gegen die Gefahren abwägen.

Die Welt schrumpfte auf die Größe einer Tischplatte.

Da er unentwegt reden musste, entschied Mansur sich für das Thema Kit b’Alf Laila wa-Laila, auch bekannt als Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. So kam es, dass die helle Stimme eines Kastraten in einer Klosterküche in Oxfordshire die arabischen Geschichten erzählte, die die Perserin Scheherazade dreihundert Jahre zuvor für ihren Mann, den Sultan, ersann, um ihre Hinrichtung hinauszuzögern. Er hatte sie früher der kleinen Adelia erzählt, und sie hatte sie geliebt. Jetzt hörte sie sie ebenso wenig wie das Knistern und Prasseln des Feuers.

Wäre Rowley aus dem eisigen Wasser errettet in die Küche getreten, Adelia hätte nicht mal aufgeblickt, oder wenn doch, so hätte sie ihn nicht erkannt. Wäre der Name ihres Kindes gefallen, sie hätte nur gefragt: »Wer?« Es gab bloß den Patienten, nein, eigentlich nicht mal ihn, nur seinen Arm. Nun die Hautlappen zurückfalten, dachte sie.

»Suturae.«

Mansur klatschte eine Nadel mit Faden in ihre ausgestreckte Hand und begann, Blut aufzutupfen.

Arterien, Venen.

Den Knochen durchsägen oder abhacken? Wie der Patient sein Leben mit einem kurzen Stumpf meistern würde, ging sie nichts an. Sie konnte nur jeweils bis zum nächsten Schritt der Operation denken.

Ein schweres Etwas plumpste in den Eimer für Küchenabfälle.

Nähen. Salbe, Gaze, Verband.

Schließlich wischte sie sich mit dem Unterarm über die Stirn. Allmählich weitete sich ihr Gesichtsfeld wieder, und sie nahm Balken und Töpfe und ein loderndes Feuer wahr.

Eine lästige Stimme drang in ihr Bewusstsein. »Was hat der Doktor gesagt? Wird er’s überleben?«

»Ich weiß nicht.«

»Das war prächtig, nich?« Cross schüttelte Mansur begeistert die Hand. »Sagt ihm, er is ein Prachtkerl.«

»Du bist ein Prachtkerl«, sagte Adelia auf Arabisch.

»Ich weiß.«

»Wie geht’s deinen Händen, mein Lieber?«, fragte sie. »Kannst du ihn zurück ins Spital tragen?«

»Ich kann.«

»Dann wickle ihn warm ein und beeil dich, ehe das Schlafmittel nachlässt. Vorsicht mit der Schulter. Sag Schwester Jennet, dass er wahrscheinlich erbrechen muss, wenn er wach wird. Ich komm gleich nach.«

»Er bleibt am Leben, nich? Jetzt kommt der Junge doch wieder in Ordnung, oder?«

Sie wandte sich der Nervensäge zu. An diesem Punkt war sie immer reizbar; es war ein Wettrennen gewesen, und wie eine Läuferin brauchte sie hinterher eine Erholungsphase, und … Cross, so hieß der Mann wohl … ließ ihr keine.

»Der Doktor weiß es nicht«, sagte sie – zum Teufel mit irgendwelchen Nettigkeiten. Schließlich war dieser Mann auf dem Boot auch nicht nett zu ihr gewesen. »Die Jugend Eures Freundes spricht für ihn, aber seine Verletzung war zu lange vergiftet und …«, sie beugte sich vor und sagte betont, »… hätte früher behandelt werden müssen. Nun geht und lasst mich in Ruhe.«

Sie sah ihm nach, wie er dem schwer schleppenden Mansur mit hängendem Kopf folgte, dann setzte sie sich ans Feuer und begann im Geist, Listen aufzustellen. An Weidenrinde bestand kein Mangel, zum Glück. Der Patient würde viel davon gegen die Schmerzen brauchen. Falls er überlebte.

Der Verwesungsgestank, der aus dem Kücheneimer drang, beunruhigte sie. Schließlich wurde hier in der Küche ihr Essen zubereitet. Eine Ratte tauchte hinter einem Schrank auf und schnupperte mit zuckenden Schnurrhaaren Richtung Eimer. Adelia griff nach dem Haufen Brennholz und warf ein Scheit nach ihr.

Wohin mit amputierten Gliedern? In Salerno hatte sie Leute gehabt, die sie entsorgten. Adelia hatte immer den Verdacht gehegt, dass sie sie unters Schweinefutter mischten, und das war einer der Gründe gewesen, warum sie bei Schweinefleisch immer ein ungutes Gefühl hatte.

Sie hüllte sich in ihren Mantel und trug den Eimer nach draußen auf die Gasse, um eine Stelle zu suchen, wo sie den Arm entsorgen konnte. Nach der Wärme in der Küche war es draußen unerhört kalt und sehr dunkel.

Ein Stück weiter die Gasse hinunter begann jemand zu schreien. Unaufhörlich.

»Ich kann nicht«, sagte Adelia laut. »Ich kann einfach nicht.« Aber dann lief sie doch schwerfällig in die Richtung, aus der das Geschrei kam, obwohl sie hoffte, irgendjemand anderer würde vor ihr dort sein und die Dinge in die Hand nehmen.

Eine Laterne tauchte schwankend in der Dunkelheit auf, begleitet von raschen Schritten. »Wer ist da?« Es war Jacques, der Bote. »Ach, Ihr seid es, Mistress.«

»Ja. Was ist da los?«

»Ich weiß es nicht.«

Sie trabten auf das Geräusch zu, und nach und nach kamen weitere Laternen hinzu, die immer mal wieder besorgte Gesichter und Füße in Pantoffeln sehen ließen.

Vorbei am Waschhaus, vorbei an der Schmiede, vorbei am Pferdestall – alles bekannt und schrecklich, weil Adelia jetzt wusste, woher die Schreie kamen.

Die Doppeltür zum Kuhstall stand weit offen, und davor drängten sich Menschen, von denen einige versuchten, eine hysterische Melkerin zu beruhigen, die meisten starrten jedoch wie gebannt nach oben und hielten ihre Laternen so, dass das Licht auf die baumelnde Gestalt von Bertha fiel.

Sie hatte einen Riemen um den Hals, der an einem Haken im Deckenbalken befestigt war. Ihre nackten Zehen zeigten nach unten auf einen Melkschemel, der umgekippt im Stroh lag.

 

Die Nonnen beklagten das tote Mädchen. Was, so fragten sie, konnte nur in sie gefahren sein, dass sie Selbstmord begangen hatte, eine so überaus schlimme Sünde? Hatte sie denn nicht gewusst, dass ihr Leben Gott gehörte und dass ihre Tat daher ein gesetzloser Akt wider die göttliche Ordnung war, den die Heilige Schrift und die Kirche verboten?

Nein, dachte Adelia zornig, das hatte Bertha nicht gewusst. Weil sie das niemand gelehrt hatte.

Schuld, sagten die Schwestern. Ihre Hand hatte Rosamund die giftigen Pilze gegeben; sie war von Reue übermannt worden.

Aber sie waren gute und barmherzige Frauen, und obwohl Bertha in ungeweihter Erde außerhalb der Klostermauern bestattet werden musste, brachten sie den Leichnam bis dahin in ihre eigene Kapelle, um die Totenwache zu halten. Während sie ihn wegtrugen, sangen sie Gebete für die Tote. Die Menschenmenge vor dem Kuhstall folgte ihnen.

Im Leben hatte Bertha nie so viel Aufmerksamkeit erfahren. In einer so kleinen Gemeinschaft war der Tod immer ein Ereignis, und Selbsttötung war etwas Unerhörtes und erregte beträchtliches Aufsehen.

Während Adelia der Prozession durch die dunklen Gassen folgte, dachte sie voller Zorn, wie falsch es doch war, einem Geschöpf, dem in seinem kurzen Leben so viel versagt geblieben war, nun auch noch ein christliches Begräbnis zu versagen.

Jacques ging kopfschüttelnd neben ihr her. »Schrecklich ist das, Mistress. Das arme Kind. Hat sich bestimmt die Schuld an Lady Rosamunds Tod gegeben.«

»Nein, hat sie nicht, Jacques. Ihr wart doch dabei. Sie hat immer wieder gesagt, dass es nicht ihre Schuld war.« Da war Bertha sich ganz sicher gewesen.

»Dann hatte sie eben Todesangst vor der Haushälterin Dakers. Konnte ihr nicht gegenübertreten, schätze ich.«

Ja, sie hatte sich vor Dakers gefürchtet. Darauf würde es hinauslaufen. Entweder hatte Bertha unerträglich unter der Schuld am Tod ihrer Herrin gelitten, oder sie hatte sich aus Panik davor, was Dakers ihr antun würde, lieber selbst das Leben genommen.

»Es ist falsch«, sagte Adelia.

»Eine Sünde«, pflichtete Jacques ihr bei, »möge Gott sich dennoch ihrer Seele erbarmen.«

Aber es war falsch, alles war falsch. Das Bild, wie Bertha da am Haken hing, war falsch gewesen.

Sie näherten sich der Kapelle. Außer den Nonnen blieben alle, die den Leichnam begleitet hatten, stehen, hier durften sie nicht weiter. Selbst wenn Adelia nicht diesem Gebot unterstanden hätte, sie konnte es nicht mehr ertragen, weder Jacques und sein makabres Geplauder noch die Spekulationen der Männer und Frauen noch den Gesang der Nonnen. »Wie komme ich von hier zum Gästehaus?«

Jacques brachte sie zurück. »Eine gute Nachtruhe, Mistress. Das wird Euch jetzt guttun.«

»Ja.« Aber sie litt nicht unter der Erschöpfung, obwohl sie wahrhaftig müde war, sondern darunter, dass einfach nichts zusammenpasste. Etwas klopfte in ihrem Kopf, wollte sich Gehör verschaffen.

Der Bote leuchtete ihr die Treppe hinauf und ging dann murmelnd und kopfschüttelnd seines Weges.

Gyltha hatte in ihrem Zimmer das Geschrei gehört und aus dem Fenster gerufen, um die Ursache zu erfahren. »Schlimme Sache«, sagte sie. »Die sagen, der Kummer hat sie dazu getrieben, das arme Würmchen.«

»Oder vielleicht hatte sie einfach panische Angst, Dakers würde sie in eine Maus verwandeln und den Katzen zum Fraß vorwerfen, jaja, ich weiß.«

Gyltha blickte alarmiert von ihrer Strickerei auf. »Hoppla? Was soll das heißen?«

»Es stimmt nicht.« Adelia kraulte Wächter die Ohren und schob den Hund dann weg.

Gylthas Augen wurden schmal, aber sie sagte nichts mehr zu dem Thema. »Wie geht’s dem Flamen?«

»Ich glaub nicht, dass er überlebt.« Adelia ging zu ihrem gemeinsamen Bett und strich ihrer schlafenden Tochter übers Haar.

»Geschieht ihm recht.« Gyltha hielt nichts von Söldnern. Im Krieg zwischen Stephen und Matilda hatten viele Söldner gekämpft und sich bei der Bevölkerung verhasst gemacht. Ob sie nun aus Flandern kamen oder nicht – und die meisten kamen tatsächlich daher –, für sie stand die Bezeichnung »Flame« für Vergewaltigung, Plünderei und Grausamkeit. »Das spricht für den König«, sagte sie, »dass er die ganzen Mistkerle verscheucht hat, und jetzt bringt Eleanor sie wieder her.«

»Hmm.«

Gyltha hob die Augenbrauen. Sie hatte heiße Milch mit Rum zubereitet, der ganze Raum duftete danach, und reichte Adelia einen Becher. »Weißt du, wie spät es ist?« Sie zeigte auf die Stundenskala der Kerze neben dem Bett. »Du musst schlafen. Ist schon fast Morgen. Bald wird die Frühandacht gesungen.«

»Es ist alles falsch, Gyltha.«

Gyltha seufzte. Sie kannte das. »Das bleibt es auch bis morgen.«

»Nein, bleibt es nicht.« Adelia raffte sich auf und zog ihren Mantel an. »Ein Maß, ich brauche ein Maß. Haben wir eine Schnur oder so?«

Sie fanden eine Kordel, mit der sie ihre Reisebündel verschnürt hatten. »Und die will ich wiederhaben«, sagte Gyltha. »Is ’ne gute Kordel. Wo willst du hin?«

»Ich hab meine Medizintasche in der Küche vergessen. Die muss ich holen.«

»Du bleibst hier«, befahl Gyltha ihr barsch. »Ohne den alten Araber gehst du nirgendwohin.«

Aber Adelia war schon weg, und mit ihr Kordel und Laterne. Sie ging nicht zur Küche, sondern zur Kapelle der Nonnen. Der Morgen graute.

Sie hatten Berthas Leichnam in dem kleinen Mittelschiff auf einen Katafalk gelegt. Das Tuch, mit dem sie ihn bedeckt hatten, zog alles diffuse Licht von den hohen Fenstern auf die langgestreckte weiße Form, so dass der übrige Raum in diesigem Halbdunkel lag.

Als Adelia durch das Längsschiff schritt, störte das Rascheln ihrer Füße in den Binsen auf dem Boden die Stille, und die Nonne, die vor dem Katafalk kniete, wandte sich um.

Adelia achtete nicht auf sie. Sie stellte die Laterne auf den Boden und schlug das Tuch zurück.

Berthas Gesicht war bläulich angelaufen. Ihre Zungenspitze ragte seitlich aus dem Mund. In Verbindung mit der winzigen Nase verlieh ihr das ein fast keckes Aussehen, wie ein kleiner Kobold.

Die Nonne – Adelia kannte sie nicht – gab ein bestürztes Zischen von sich, als Adelia die Laterne aufnahm und mit der anderen Hand Berthas Lider zurückzog, um die Augen zu untersuchen.

Im Weiß waren kleine Blutflecke zu sehen. Wie nicht anders zu erwarten.

Adelia ging auf die Knie und hielt die Laterne so dicht wie möglich an den Hals. Dort waren Furchen von den Rändern des Riemens zu sehen, an dem das Mädchen gehangen hatte, aber auch andere Spuren – Rillen, die sich über die Kehle nach unten zogen.

Und knapp unterhalb der Blutergüsse, die der Riemen verursacht hatte, verlief einmal rund um den Hals eine Linie von kleinen, kreisrunden Abdrücken.

Die Nonne war aufgestanden und versuchte, Adelia von der Leiche wegzuscheuchen. »Was tut Ihr da? Ihr stört die Totenruhe.«

Adelia achtete nicht auf sie, hörte sie nicht mal. Sie deckte das Tuch wieder über Berthas Gesicht, schlug es am anderen Ende zurück und hob die Röcke des Mädchens an, um den Unterleib zu inspizieren.

Die Nonne rannte aus der Kapelle.

Die Vagina zeigte keinerlei Anzeichen von Gewalt und, soweit zu erkennen war, auch keine Samenspuren.

Adelia legte das Tuch zurück.

Verdammt. Es gab eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden. Ihr alter Lehrer Gordinus hatte sie ihr gezeigt, indem er den Hals von Gehenkten öffnete und deren Zungenbein mit dem von Garrottierten verglich – eine Form der Hinrichtung, die im Bezirk Pavia praktiziert wurde, wo man sie von den Römern übernommen hatte. »Siehst du, meine Liebe? Beim Garrottieren bricht der Knochen nur selten, doch beim Erhängen fast immer. Wenn wir also unsicher sind, ob sich jemand selbst erhängt hat oder von jemand anderem stranguliert wurde, liefert uns das einen Anhaltspunkt. Außerdem kommt es bei Selbstmord durch Erhängen so gut wie nie zu einer Einblutung in die Halsmuskulatur. Wenn wir eine solche bei dem Opfer einer angeblichen Selbsterhängung feststellen, legt das die Vermutung nahe, dass wir es mit Mord zu tun haben.«

Ach … wenn sie die Leiche doch nur sezieren dürfte … Nun denn, so musste sie sich eben auf genaues Maßnehmen verlassen …

»Was geht hier vor?« Die tiefe Stimme dröhnte durch die Kapelle, vertrieb die Stille, schien selbst die Staubflöckchen aufzuschrecken und deutlicher hervortreten zu lassen.

Die Nonne war ganz aufgeregt. »Seht Ihr sie, Mylord. Diese Frau …«

»Ich sehe sie.« Er herrschte Adelia an, die die Kordel von Berthas Schädeldecke bis zu ihren nackten Zehen angelegt hatte. »Seid Ihr von Sinnen? Warum entehrt Ihr die Tote, Mistress? Selbst eine wie diese?«

»Hmm.« Adelia machte einen Knoten in die Kordel, wickelte sie sich um die Hand und ging geistesabwesend Richtung Tür.

Der Abt, der in Breite und Höhe und Farbe unübersehbar war, stellte sich ihr in den Weg. »Mistress, ich habe gefragt, warum Ihr den Frieden der armen Seele stört, die hier ruht?« Alles Bäuerliche war verschwunden, jetzt war der Mann ausschließlich ein gelehrter Vertreter des kirchlichen Standes.

Adelia schob sich an ihm vorbei. Der Riemen, dachte sie, vielleicht ist der ja noch im Kuhstall. Und meine Kette auch.

Der Abt sah ihr nach und schickte die Nonne dann mit einer heftigen Armbewegung zurück zu ihrer Totenwache.

Draußen kam der gewohnte Klosteralltag allmählich in Gang, und das trotz eines Selbstmordes, der Anwesenheit einer Königin, der Besatzung durch ihre Söldner und der grässlichen Kälte. Godstows Bewohner schlitterten auf schmutzigem, buckeligem Eis hastig dahin, um ihre Feuer neu zu entfachen und mit ihrer Arbeit zu beginnen.

Jacques holte Adelia ein, als sie gerade am Pferdestall vorbeiging. »Ich hab auf Euch gewartet, Mistress. Was soll denn hiermit geschehen?« Er trug einen Eimer und schwenkte ihn so vor ihr, dass sie stehenbleiben musste. Darin lag ein Arm. Adelia starrte einen Moment lang darauf, bis ihr wieder einfiel, dass sie ja vor einer halben Ewigkeit, so kam es ihr zumindest vor, eine Amputation vorgenommen hatte.

»Ich weiß nicht. Vergrabt ihn irgendwo, würde ich sagen.« Sie eilte weiter.

»Vergraben«, sagte Jacques und schaute ihr nach. »Wie denn bei dem knochenharten Boden?«

 

Der Kuhstall bei Tageslicht. Warm, trotz der offenen Tür. Die Sonne auf dem verdreckten Boden, ruhig bis auf das gleichmäßige Zischen aus einem der Verschläge, wo eine junge Frau beim Melken war. Sie saß auf dem Hocker, der umgekippt unter Berthas baumelndem Leichnam gelegen hatte.

Ihr Name sei Peg, sagte sie, und sie war es auch gewesen, die, als sie früh am Morgen zum Melken in den Stall gekommen war, Bertha entdeckt hatte. Der Anblick hatte bei ihr einen Schreikrampf ausgelöst, und sie war zurück nach Hause gerannt, wo sie von ihrer Mutter einen Schluck beruhigenden Kräuterschnaps bekommen hatte, ehe sie sich dazu aufraffen konnte, wieder herzukommen und mit der Arbeit anzufangen.

»Deshalb bin ich heute so spät dran, die armen Viecher haben nach mir gemuht, dass ich komm und ihnen Erleichterung verschaffen tu, aber ich war fix und fertig. Hab die Tür aufgemacht, und da hing sie da. Da komm ich nie drüber weg, nie. Der alte Stall hier is nich mehr derselbe für mich, wird er nie wieder sein.«

Adelia wusste, wie sich das anfühlte. Der tröstliche Geruch von Tierblähungen und Stroh, die unschuldige Geborgenheit des Raumes war geschändet worden. Ein alter Balken, von dem ein Körper gehangen hatte, war jetzt ein Galgen. Auch sie würde nie darüber hinwegkommen. Bertha war hier gestorben, und von all den Todesfällen war Berthas der, welcher am lautesten zum Himmel schrie.

»Kann ich was für Euch tun, Mistress?«, erkundigte sich Peg, während sie weitermelkte.

»Ich such nach einem Halskettchen mit einem Kreuz dran. Ich hab es Bertha geschenkt. Sie trägt es nicht, und ich würde es ihr gern mit ins Grab geben.«

Pegs Kappe verrutschte, als sie den Kopf schüttelte, ohne dabei Kontakt mit der Kuhflanke zu verlieren. »Nie gesehen.«

Adelia führte sich die Szene von vor einer Stunde wieder vor Augen. Ein Mann, sie glaubte, es war Fitchet, der Torwächter, war zu dem Schemel unter Berthas Füßen gestürzt und hatte ihn aufgerichtet, dann war er daraufgestiegen und hatte den Leichnam angehoben, damit der Riemen, an dem sie hing, von dem Haken am Balken rutschte.

Was dann? Richtig, richtig, andere Männer hatten ihm geholfen, den Körper auf den Boden zu legen. Irgendwer hatte ihr den Riemen vom Hals genommen und beiseitegeworfen. Bei dem Gedränge von Menschen, die dann vergeblich versuchten, das tote Mädchen wiederzubeleben, hatte Adelia nicht sehen können, ob Bertha die Kette mit dem Kreuz um den Hals gehabt hatte. Falls ja, hätte der Riemen, an dem sie gehangen hatte, die Kette bedecken und sie fest in die Haut des Mädchens drücken müssen, so dass die Kettenglieder kreisrunde Abdrücke hinterlassen hätten.

Aber wenn sie sie nicht getragen hatte …

Adelia machte sich auf die Suche.

Den Riemen entdeckte sie in einer Ecke voller Spinnweben. Es war eine Art Gürtel. Ein ausgeleiertes Loch verriet, an welcher Stelle der Benutzer ihn immer verschlossen hatte, doch am äußeren Ende des Leders war ein weiteres Loch stark geweitet, das über den Haken im Deckenbalken gestülpt worden war, um das Gewicht von Berthas Körper zu tragen.

»Wo hat sie wohl einen Gürtel hergehabt?«, fragte sich Adelia laut und warf ihn sich über die Schulter.

»Weiß nich, die hatte nie ’nen Gürtel«, sagte Peg.

Genau … sie hatte keinen. Adelia ging langsam ans hintere Ende des Stalls, trat kleine Heubüschel beiseite, um nachzuschauen, ob sich darunter etwas verbarg.

Hinter ihr zischte weiter regelmäßig Milch in den Eimer, und Peg sagte nachdenklich: »Die Arme, ich kann mir gar nich vorstellen, was in sie gefahren is. Klar war sie ein bisschen bekloppt, aber trotzdem …«

»Hat sie dir irgendwas gesagt?«

»Die hat viel gesagt, hat immer da hinten so rumgemurmelt, dass man ’ne Gänsehaut kriegen konnte, aber mir hat das nix ausgemacht.«

Adelia erreichte den Verschlag, in dem Bertha gehaust hatte. Hier war es dunkel. Sie stellte die Laterne vorsichtig auf eine Zwischenwand und begann, auf allen vieren im Stroh herumzutasten bis auf die festgetrampelte Erde darunter.

Sie hörte, wie Peg zu ihrer Kuh sagte: »Ihr seid dann fertig, Madam«, und das freundliche Klatschen aufs Hinterteil, als die Melkerin zum nächsten Tier ging, und das Geräusch von anderen Schritten, als ein Neuankömmling den Stall betrat, und schließlich Pegs Stimme: »Einen schönen guten Morgen, Master Jacques.«

»Auch Euch einen schönen guten Morgen, Mistress Peg.«

Die beiden Stimmen hatten etwas spielerisch Kokettes an sich, das den Tag ein klein wenig aufhellte. Jacques, so dachte Adelia, hatte trotz seiner abstehenden Ohren und seines atemlosen Übereifers eine kleine Eroberung gemacht.

Er kam rasch die Stallgasse hoch und blieb stehen, um Adelia bei ihrer Suche zu beobachten. »Ich hab ihn vergraben, Mistress.«

»Was? Ach so, gut.«

»Kann ich Euch irgendwie helfen, Mistress?« Allmählich gewöhnte er sich an ihre Überspanntheiten.

»Nein.«

Denn sie war fündig geworden. Ihre Finger hatten das grobe, dünne Metallband ertastet, klein und zerbrochen – das Kreuz wurde vom Verschluss gehalten, doch ein Stückchen weiter waren die Glieder gerissen.

Gott steh uns bei. Hier also war es passiert. In diesem dunklen Verschlag hatte Bertha sich selbst den Hals zerkratzt, als sie versuchte, die Kette zu lockern, mit der starke Hände sie strangulierten.

Ach, das arme, arme Kind.

Adelia sah wieder, wie Bertha auf sie zugekrochen kam, schnüffelte und zu ihr sagte, die Alte im Wald, die ihr die Pilze für Rosamund gegeben hatte, habe so gerochen wie sie.

»Hat gut gerochen. Wie Ihr.«

Die Erinnerung war unerträglich. Das kurze, traurige Leben, das durch Gewalt beendet worden war … Warum? Wer?

»Mistress?« Ihr Schweigen gab Jacques zu denken.

Adelia rappelte sich auf. Die Halskette fest in der Hand, ging sie mit dem Boten zu Peg zurück, die gerade die Milch aus ihrem vollen Eimer schäumend in ein größeres Behältnis goss und kurz aufmunternd mit dem Hinterteil wackelte, als Jacques näher kam.

Der Melkschemel. Sie wusste jetzt, dass Bertha ermordet worden war, aber es gab noch einen weiteren Beweis …

Als Peg den Schemel aufheben und damit zur nächsten Kuh gehen wollte, kam Adelia ihr zuvor. »Kann ich den einen Moment haben?«

Peg und Jacques starrten sie an, als sie den Schemel nahm und ihn direkt unter den Haken am Balken stellte. Sie wickelte sich die Kordel von der Hand und hielt sie Jacques hin. »Messt mich.«

»Euch messen, Mistress?«

»Ja.« Sie wurde ungeduldig. »Vom Scheitel bis zur Sohle.«

Mit einem Achselzucken hielt er das eine Ende der Kordel oben an Adelias Kopf und ließ sie herunterhängen. Dann bückte er sich und machte einen Knick an der Stelle, wo die Kordel den Boden berührte. »Bitte sehr. Ihr seid nicht sehr groß, Mistress.«

Sie rang sich ein Lächeln ab – seine eigene geringe Körpergröße störte ihn. Ohne seine Stiefelabsätze hätte er sie kaum überragt. Sie betrachtete die Kordel und sah, dass der Knick ein kleines Stück unterhalb des Knotens war, den sie gemacht hatte, als sie die Leiche auf dem Katafalk gemessen hatte. Sie war fast zwei Zoll größer als Bertha.

Jetzt wollen wir mal sehen.

Peg sagte: »Wenn ich drüber nachdenk, fällt mir ein, dass sie gestern auf einmal ganz aufgeregt war, so ungefähr beim Abendmelken.«

»Wer? Bertha?«

»Ja. Hat gesagt, sie müsste der Lady mit dem Kreuz was erzählen und is rausgerannt. Bestimmt hat sie eine von den Nonnen gemeint, weil sie kein anderes Wort dafür wusste.«

Nein, dachte Adelia, sie hat mich gemeint. Ich war die Lady mit dem Kreuz. »Wo ist sie denn hingelaufen?«

»Kann nich weit gewesen sein«, sagte Peg, »weil sie gleich wieder da war und so getan hat, als hätte sie den Teufel mit seinem Schwefelgestank gerochen.«

»Bestimmt hat sie Dakers gesehen«, sagte Jacques. »Sie hatte eine Todesangst vor dieser Frau.«

Adelia fragte: »Und sie hat nicht verraten, was sie der Nonne erzählen wollte?«

»Sie hat dauernd was gemurmelt von es war nich sie, es war er.«

Adelia stützte sich am Pfosten des Verschlages ab, umklammerte ihn fest. »Hat sie vielleicht gesagt: ›Es war keine Sie, es war ein Er?‹«

»Kann schon sein.«

»Hmm.« Sie wollte darüber nachdenken, doch die Kühe weiter hinten brüllten schon vor Unbehagen, und Peg wartete ungeduldig auf ihren beschlagnahmten Melkschemel.

Adelia schob das Gürtelende durch die Schnalle, legte sich die Schlinge um den Hals und zog sie fest. Dann stieg sie auf den Schemel und versuchte, das freie Gürtelende an den Haken zu hängen, doch es gelang ihr nur, mit dem Lederrand an den Haken zu stoßen. Zwischen dem Loch zum Einhängen und dem Haken war eine Lücke. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen; noch immer blieb ein Abstand zwischen Loch und Haken – und sie war größer als Bertha.

»Er ist zu kurz«, sagte sie. »Der Gürtel ist zu kurz.«

Genau das hatte sie gestört. Der Anblick des baumelnden Körpers war im ersten Moment zu schockierend gewesen, doch ihr Verstand hatte es trotzdem registriert – Berthas Füße hätten den Schemel gar nicht erreichen können, um ihn wegzutreten.

Sie begann zu würgen und versuchte hektisch, die Schnalle zu öffnen, ehe ungesehene Arme sie hochhoben und den Gürtel an den Haken hängten; sie bekam keine Luft mehr.

Jacques’ Hände griffen nach ihrem Hals, und sie wehrte sich, so wie Bertha sich gegen die Hände des Mörders gewehrt hatte. »Ist ja gut, Mistress«, sagte er. »Ruhig. Ganz ruhig.« Als er den Gürtel gelöst hatte, streckte er den Arm aus und strich ihr über den Rücken, wie einer verängstigten Katze. »Ganz ruhig. Ruhig.«

Peg starrte sie beide an, als wären sie verrückt geworden. Jacques nickte ihr zu, deutete auf den Schemel, und sie schnappte ihn sich erleichtert und ging wieder zu ihren Kühen.

Adelia blieb wie angewurzelt stehen, lauschte, als Pegs geschickte rissige Hände die Euterzitzen zusammendrückten und losließen, so dass die Milch mit der Gleichmäßigkeit eines langsamen Trommelwirbels in den Eimer schoss.

»Es war keine Sie, es war ein Er.«

Jacques’ Augen blickten sie fragend an. Er zumindest hatte verstanden, worum es ihr gegangen war.

»Nun denn«, sagte Adelia. »Zumindest kann Bertha jetzt in geweihter Erde begraben werden.«

»Kein Selbstmord?«

»Nein. Sie wurde ermordet.«

Wieder sah sie, wie sein junges Gesicht jäh altern konnte.

»Dakers«, sagte er.