Kapitel drei

Ausgeschlossen, dass der Bischof nun noch von England in die Normandie eilen würde, um einen tobenden König zu beruhigen. Die Geliebte des Königs war tot; der König würde selbst nach England kommen und wie ein Dämon durch die Lüfte reiten, um zu verwüsten und zu brandschatzen und vielleicht sogar im Zorn seine eigene Frau zu töten, falls er sie finden konnte.

Also ritt auch der Bischof im Morgengrauen los, ein weiterer Dämon, der in die Welt entlassen wurde, um dem König zuvorzukommen, die Königin zu finden und sie in Sicherheit zu bringen, um an Ort und Stelle zu sein, den wahren Schuldigen zu suchen, um sagen zu können: Mylord, haltet ein! Ich bringe Euch Rosamunds Mörder.

Um Armageddon zu verhindern.

Der Bischof nahm nur mit, wer und was seinem Vorhaben dienen konnte, was lächerlich wenig war im Vergleich zum üblichen Tross Seiner Lordschaft: zwei Waffenknechte, einen Reitknecht, einen Sekretär, einen Boten, einen Fuhrwagen, Reit- und Ersatzpferde sowie einen arabischen Arzt, einen Hund, zwei Frauen und einen Säugling – sollte Gott ihnen beistehen, falls sie nicht Schritt halten könnten.

Sie hielten Schritt. So gerade eben. Ihr Fuhrwagen, Pater Patons »Transportmittel«, war solide gebaut, umhüllt von lila Wachstuch zum Schutz gegen die Witterung, und auf dem Stroh im Innern lagen Kissen verteilt – aber das Gefährt war nicht für schnelles Fahren gedacht. Nach drei Stunden erklärte Gyltha, wenn sie noch viel länger in diesem Mistding bleiben müsste, würden ihr die Zähne vom ständigen Klappern ausfallen, und das arme Kind würde den Verstand verlieren.

Also stiegen sie aufs Pferd um und steckten die kleine Allie wie eine Larve im Kokon in eine gut ausgepolsterte Satteltasche. Wächter, der Hund, landete weniger sacht in der anderen. Der Wechsel ging rasch vonstatten, um nicht den Anschluss an den Bischof zu verlieren, der nicht auf sie warten würde.

Jacques, der Bote, war vorausgeschickt worden, um den Bischofspalast in St. Albans für ihre Übernachtung vorzubereiten. Am darauffolgenden Tag würden sie im Barleycorn in Aylesbury absteigen.

Es war kalt und wurde noch kälter, je weiter sie nach Westen kamen, so als wehte ihnen Henry Plantagenets eisiger Atem in den Nacken und käme stetig näher.

Sie erreichten das Barleycorn nicht, weil es an dem Tag zu schneien begann und sie die Straßen verließen, um auf höherem Gelände über den uralten Icknield Way weiterzuziehen, wo Baumalleen und der Kreideboden unter den Pferdehufen das Fortkommen leichter und somit schneller machten.

Auf diesem Höhenzug gab es keine Herbergen, und der Bischof wollte keine Zeit mit der Suche nach einer verlieren. »Wir schlagen ein Lager auf«, sagte er.

Als er ihnen schließlich erlaubte abzusitzen und Adelia vom Pferd steigen wollte, verweigerten ihre Muskeln den Dienst. Sie blickte besorgt zu Gyltha hinüber, die ebenfalls Mühe hatte, abzusteigen. »Geht’s noch?« Die Frau aus dem Sumpfland mochte zäh wie Leder sein, aber sie war auch eine Großmutter und hatte mehr Rücksicht verdient.

»Ich bin an Stellen wund, über die ich lieber nich reden will.«

»Ich auch.« Und es brannte wie verrückt.

Der Einzige, der noch schlimmer aussah als sie, war Pater Paton, dessen üppiges Frühstück in St. Albans im Verlauf des Tages immer wieder aus ihm herausgesprudelt war, begleitet von lautstarkem Stöhnen. »Hätt nich so schlingen sollen«, meinte Gyltha bloß.

Die kleine Allie dagegen hatte die Reise unbeschadet überstanden, schien sie in ihrer gemütlichen Satteltasche sogar genossen zu haben, obwohl sie immer nur kurz gestillt werden konnte, wenn Bischof Rowley einen hastigen Wechsel der Pferde befahl.

Die beiden Frauen nahmen das Baby mit in den Wagen und versorgten dort ihre Wunden mit Salben aus Adelias Arzneikiste. »Davon kriegt Pater Fettwanst nix ab«, sagte Gyltha gehässig. Sie konnte Pater Paton nicht leiden.

»Und der große Dummkopf …« Gyltha ließ sich nur ungern anmerken, wie sehr sie Mansur ins Herz geschlossen hatte, »… würde nich mal was sagen, wenn sein Hintern glühen würde.«

Was stimmte. Der Araber pflegte einen Stoizismus, der an Fühllosigkeit grenzte. Da er als kleiner Junge an byzantinische Mönche verkauft worden war, die seine wunderschöne Diskantstimme bewahrten, indem sie ihn kastrierten, hatte er gelernt, dass Klagen nutzlos war.

In all den Jahren, seit er bei Adelias Zieheltern Zuflucht gefunden hatte und ihr Beschützer und Freund geworden war, hatte sie ihn nie jammern hören. Natürlich sprach er in Gesellschaft von Fremden ohnehin nicht viel. Die Engländer fanden ihn und seine arabische Kleidung schon seltsam genug, auch ohne dass der sechs Fuß große und adlergesichtige Mann mit einer hellen Kinderstimme sprach.

Oswald und Aelwyn, die beiden Waffenknechte, und Walt, der Reitknecht, waren im Umgang mit ihm unsicher, trauten ihm anscheinend irgendwelche okkulten Fähigkeiten zu. Adelia hingegen wurde von ihnen wie Dreck behandelt, wenn Rowley es nicht mitbekam. Zu Anfang hatte Adelia diese Unhöflichkeiten noch der strapaziösen Reise zugeschrieben, doch mit der Zeit war nicht mehr zu übersehen, dass es damit nichts zu tun hatte. Wenn der Bischof oder Mansur nicht in der Nähe waren, halfen sie ihr weder aufs Pferd noch herunter, und wenn sie zwischen den Bäumen verschwand, um einem menschlichen Bedürfnis nachzugehen, verfolgten sie stets leise, beleidigende Pfiffe. Ein paarmal hörte sie Wächter aufheulen, als wäre er getreten worden.

Außerdem hatten sie und Gyltha keine Damensättel bekommen. Rowley hatte zwar welche angeordnet, doch in der Hast waren sie vergessen worden, so dass die beiden Frauen gezwungen waren, rittlings zu sitzen, eine unschickliche Haltung, die Adelia jedoch im Grunde vorzog, weil sie vermutete, dass Damensättel der Wirbelsäule schadeten.

Dennoch, die Unterlassung war unhöflich und, wie sie glaubte, beabsichtigt gewesen.

Diener der Kirche, wie diese Männer es waren, hielten sie natürlich für ein loses Frauenzimmer. Entweder sie war die Metze des Bischofs oder die des Sarazenen, vielleicht von beiden. Sie fanden es schon schlimm genug, bei dem lausigen Wetter quer durchs Land zu hasten, um eine Geliebte des Königs zu beerdigen, da wollten sie nicht noch eine Hure mitschleppen.

»Wieso kommt die eigentlich mit?«

»Weiß der Himmel. Soll ’nen fixen Verstand haben.«

»Noch fixer macht sie bestimmt die Beine breit. Ist das der Bastard Seiner Lordschaft?«

»Könnte von sonst wem sein.«

Das Gespräch war bewusst so geführt worden, dass Adelia es hören konnte.

Verdammt, das würde ihm schaden. Henry II. hatte Rowley gegen den Willen der Kirche ernannt, die einen aus ihren Reihen zum Bischof von St. Albans machen wollte und noch immer auf einen Grund hoffte, den Kandidaten des Königs aus dem Amt zu drängen. Wenn seine Feinde erfuhren, dass er ein illegitimes Kind gezeugt hatte, wäre das die Chance, auf die sie warteten.

Verfluchte Kirche, dachte Adelia. Unsere Affäre war zu Ende, ehe er Bischof wurde. Verflucht soll sie sein, weil sie ihren Dienern eine unmögliche Enthaltsamkeit aufzwingt. Verflucht soll sie sein, wegen ihrer Heuchelei. Die Christenheit wimmelte von Priestern, die einer Vielzahl von Sünden frönten. Und wie viele von denen wurden verurteilt?

Und verflucht soll sie sein wegen ihres Frauenhasses – eine Missachtung der halben Erdbevölkerung, mit der Folge, dass diejenigen, die sich partout nicht wie die Schafe in den kirchlichen Pferch sperren lassen wollten, als Huren und Ketzerinnen und Hexen verurteilt wurden.

Verflucht sollt ihr sein, dachte sie mit Blick auf die Männer des Bischofs, seid ihr denn so unschuldig? Sind eure Kinder etwa alle ehelich geboren? Wer von euch hat schon bei einer Frau gelegen, ohne mit ihr verheiratet zu sein?

Und verflucht sollst du sein, Bischof Rowley, dass du mich in diese Lage gebracht hast.

Dann verfluchte sie alle noch einmal, weil sie sie so wütend gemacht hatten, obwohl sie doch gerade Allie stillte.

Pater Paton entging ihren Verwünschungen. Unsympathisch, wie er war, behandelte er sie doch zumindest so wie alle anderen – als geschlechtslosen und bedauerlichen Kostenfaktor.

Jacques, der Bote, ein linkischer, großohriger und etwas übereifriger junger Mann, schien ihr gewogener zu sein als die anderen, aber der Bischof hielt ihn ständig auf Trab und ließ ihn mit Botschaften vorausgaloppieren, so dass sie ihn kaum zu Gesicht bekam.

Kaum merklich ging der Icknield Way in den Ridgeway über. Die Kälte wurde immer beißender und raubte Menschen und Pferden die Kraft, doch zumindest näherten sie sich nun der Themse und der Abtei Godstow, die sich auf einer ihrer Inseln erhob.

Jacques stieß erneut zu ihnen, tauchte zwischen den Bäumen auf wie ein berittener weißer Bär. Er schüttelte sich den Schnee ab, während er sich vor Rowley verneigte. »Die Äbtissin Mutter Edyve entsendet Eurer Lordschaft ihre Grüße und freut sich darauf, Euch und Eure Begleiter willkommen zu heißen, wann immer es Euch beliebt. Überdies soll ich Euch sagen, dass der Leichnam von Lady Rosamund noch heute über den Fluss zum Kloster gebracht werden soll.«

Rowley sagte erschüttert: »Dann ist sie also tot.«

»Davon gehe ich aus, Mylord, denn die Nonnen beabsichtigen, sie zu beerdigen.«

Der Bischof blickte ihn erbost an. »Reite zurück zur Abtei. Sag ihnen, wir treffen heute Abend ein, und ich bringe einen Sarazenenarzt mit, der Lady Rosamunds Leichnam examinieren und die Ursache ihres Todes feststellen soll.« Er drehte sich zu Adelia um und sagte auf Latein: »Ihr wollt Euch die Leiche doch ansehen, oder?«

»Ich denke, ja.« Obwohl ihr nicht klar war, was die Tote ihr würde verraten können.

Der Bote nahm sich noch rasch die Zeit, etwas Brot, Käse und einen Krug Ale in seine Satteltasche zu stopfen, ehe er sich wieder aufs Pferd schwang.

»Solltet Ihr nicht zuerst ein wenig rasten?«, fragte Adelia ihn.

»Sorgt Euch nicht um mich, Mistress. Ich schlafe im Sattel.«

Sie wünschte, sie könnte das, doch es kostete sie schon Kraft, sich überhaupt im Sattel zu halten. Die Mäntel, die Pater Paton besorgt hatte, waren aus billiger Wolle, und sie, Gyltha und Mansur wären auf dem Pferderücken erfroren, wenn sie nicht ihre dicken Biberfellmäntel mitgenommen hätten. Im Sumpfland wimmelte es von Bibern, und die Mäntel hatte ihr ein dankbarer Fallensteller geschenkt, den Adelia von einer Lungenentzündung kuriert hatte.

Am Nachmittag erreichte der Reiterzug das tiefer gelegene Dorf Thame und die Straße nach Oxford. Es schneite noch immer, und die Dämmerung brach an, doch der Bischof sagte: »Jetzt dauert es nicht mehr lange. Wir zünden Laternen an und ziehen weiter.«

Sie kamen nur mühsam voran. Die Pferde mussten mit Decken behängt werden, obwohl sie in Bewegung blieben. Kurz darauf wurden ihnen auch die Fransenstirnbänder angelegt, die normalerweise dazu dienten, die Fliegen abzuhalten, jetzt jedoch verhindern sollten, dass die Tiere durch die wirbelnden dicken Flocken, die ihnen an den Wimpern klebten, die Sicht verloren.

Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Wenn die Straße nicht zwischen Hecken verlaufen wäre, sie hätten die Orientierung verloren, ob mit oder ohne Laternen, und wären auf einem Feld oder im Fluss gelandet. Wenn die Hecken an einer Kreuzung endeten, ließ Rowley haltmachen, bis sie den richtigen Weg wiedergefunden hatten. Die Männer mussten förmlich danach suchen, wobei sie sich einander unentwegt etwas zuriefen, damit sich keiner verirrte – ein Fehler, der sie in dieser Kälte das Leben gekostet hätte.

Vorsichtshalber mussten die Frauen mit dem Baby wieder in den Fuhrwagen steigen, wo Pater Paton bereits Zuflucht gesucht hatte mit der Begründung, wenn er länger in der Kälte bliebe, würde er seine für einen Sekretär unverzichtbare Schreibhand verlieren.

Sie hängten eine Laterne an den Bogen über ihren Köpfen, bereiteten ein Lager aus Stroh und nahmen dann Allie zwischen sich, um sie mit ihren Körpern zu wärmen. Die Kälte drang wie Nadeln durch die Ösen der Plane, so eisig, dass sie den Geruch des Strohs und selbst den des Hundes zu ihren Füßen nicht mehr wahrnahmen.

Sie bewegten sich im Schritttempo – Mansur führte die Pferde –, doch tiefe Löcher, die vom Schnee verdeckt wurden, brachten den Wagen immer wieder jäh ins Schwanken und rüttelten sie durch, so dass an Schlaf nicht zu denken war. Zudem hätten sie aus Sorge um die anderen, die das Wetter draußen erdulden mussten, ohnehin kein Auge zutun können.

Gyltha sagte bewundernd über Rowley: »Er wird nich halten, was?«

»Nein.«

Dieser Mann hatte einen Mörder quer durch die Wüsten von Outremer verfolgt, da würde er sich von einem englischen Schneesturm nicht aufhalten lassen.

Aber damals war er noch jünger, dachte Adelia. Laut sagte sie: »Mach dir um ihn keine Sorgen. Er macht sich auch keine um …« Der Wagen wankte bedenklich, und sie umklammerte mit der rechten Hand eine Strebe, während sie mit der linken ihr Kind fester packte, damit sie nicht von einer Seite zur anderen flogen. Die Laterne schwang im Halbkreis, und Gyltha fuhr hoch, um die Kerze zu löschen, die sonst die Plane hätte in Brand setzten können.

»… uns«, beendete Adelia den Satz.

In der Dunkelheit weiter hinten hörten sie Pater Paton um Errettung beten, während draußen schrille arabische Flüche auf Pferde niederprasselten, die nicht mehr ziehen wollten. Eins von beidem hatte wohl geholfen, denn nach einem weiteren heftigen Ruck setzte sich der Wagen wieder in Bewegung.

»Weißt du«, ertönte Gylthas Stimme, als setzte sie ein Gespräch fort, »Rowley erinnert sich noch an den Krieg zwischen Matilda und Stephen. Er ist jünger als ich, aber er wurde in diese Zeit hineingeboren, und seine Eltern haben sie durchgemacht, genau wie ich. König Stephen ist friedlich im Bett gestorben. Und Königin Matilda ist noch immer gut beieinander. Aber der Krieg zwischen den beiden … war für uns einfache Leute entsetzlich. Wir starben zu Hunderten. Es war … es war, als hätten wir alle in der Luft gehangen ohne was zum Festhalten. Es gab kein Gesetz mehr, es gab nix mehr. Meinen Pa haben sie einfach vom Feld weggeholt, damit er für Hugh Bigod eine Burg baut. Er ist nie wiedergekommen. Erst nach drei Jahren haben wir erfahren, dass er von einem Stein erschlagen wurde. Ohne ihn sind wir fast verhungert.«

Adelia hörte das tiefe Einatmen, schwerer als ein Seufzer. Einfache Sätze, dachte sie, doch was haben sie für ein Gewicht.

Gyltha sagte: »Unsere Em haben wir dann auch verloren. War älter als ich, ungefähr elf. Söldner sind gekommen, und Ma ist mit meinen Brüdern und mir in den Sumpf geflohen, aber sie haben Em erwischt. Sie hat geschrien, als sie mit ihr weggaloppiert sind. Das hör ich heute noch. Haben nie rausgefunden, was mit ihr passiert ist, aber sie war auch eine von denen, die nie zurückgekommen sind.«

Es war eine Belehrung. Adelia hatte Gyltha schon früher einmal über den dreizehn Jahre dauernden Krieg reden hören, aber nur ganz allgemein. Nie so. Die alte Frau war Zeugin des Bürgerkrieges gewesen und beschwor nun Gespenster herauf, die ihr noch immer Schmerz bereiteten. Der Feudalismus mochte hart sein für die kleinen Leute, aber er bot ihnen zumindest Schutz. Adelia, die wohlbehütet und privilegiert aufgewachsen war, bekam zu hören, was geschah, wenn die Ordnung zusammenbrach und die Zivilisation mit ihr.

»Und es hat auch nix genützt, zu Gott zu beten. Der hat nich hingehört.«

Männer gaben ihren niedrigsten Instinkten nach, sagte Gyltha. Bauernburschen, die einigermaßen anständig blieben, solange Ordnung herrschte, wurden zu Räubern und Vergewaltigern, als sie sahen, wie diese Ordnung sich auflöste. »Henry Plantagenet, tja, der ist zwar mit Vorsicht zu genießen, aber als er König wurde, hat es aufgehört, verstehst du? Es hat aufgehört. Auf einmal hatten wir wieder Boden unter den Füßen. Das Getreide wuchs wie zuvor, die Sonne ging morgens auf und abends unter, wie sie das soll.«

»Ich verstehe«, sagte Adelia.

»Ja, aber du weißt nich, wie es war, nich richtig«, entgegnete Gyltha. »Rowley wohl. Seine Ma und sein Pa, das waren einfache Leute, und die haben das alles durchgemacht, genau wie ich. Er sorgt dafür, dass mein Ulf, Gott segne ihn, mit einem vollen Bauch zur Schule gehen kann und keiner ihn aufschlitzen will. Ein bisschen unterwegs sein? Ein paar Schneeflöckchen? Was ist das schon?«

»Ich habe nur an mich gedacht, nicht?«, sagte Adelia.

»Und an die Kleine«, sagte Gyltha, streckte die Hand aus und tätschelte sie. »Und auch ein bisschen an Seine Lordschaft, glaub ich. Was mich angeht, ich folg ihm, wohin er will, und bin froh, wenn ich helfen kann.«

Gyltha hatte die ganze Unternehmung auf eine Ebene gehoben, die Adelia beschämte und ihr Anlass zu Selbstvorwürfen gab. Selbst jetzt noch konnte sie der Begründung für dieses Wagnis keinen Glauben schenken – anders als der Bischof, und wenn er recht hatte und sie dadurch einen Bürgerkrieg verhindern konnten, dann musste auch sie bereit sein, ihr Bestes zu geben.

Und das bin ich auch, dachte sie mit einer Grimasse. Ulf ist sicher in der Schule, Gyltha und Mansur und mein Kind sind bei mir. Ich bin froh, dass Bischof Rowley Freude in einem Gott findet, der ihn von seinem Begehren befreit hat. Wo sollte ich sonst sein?

Sie schloss die Augen und überließ sich duldsamer Langmut.

 

Ein weiterer heftiger Ruck weckte sie. Sie hatten angehalten. Die Plane wurde hochgehoben, und mit der schneidenden Kälte, die ins Wageninnere drang, tauchte ein blaues Gesicht mit einem Eisbart auf. Adelia erkannte den Boten; sie hatten ihn eingeholt. »Sind wir da?«

»Fast, Mistress.« Jacques klang aufgeregt. »Seine Lordschaft bittet Euch, herauszukommen und sich etwas anzusehen.«

Es schneite nicht mehr. Der Mond schien von einem sternenübersäten Himmel auf eine beinah schöne Landschaft. Der Bischof und der Rest seiner Entourage standen zusammen mit Mansur am Anfang einer schmalen, buckeligen Steinbrücke, deren Geländer sich deutlich im Schnee abhob. Lautes Wasserrauschen auf der linken Seite ließ vermuten, dass sich dort unten ein Wehr oder ein Mühlgraben befand. Rechter Hand glänzte ein ruhiger Fluss. Bäume ragten auf wie weiße Wächter.

Als Adelia näher kam, zeigte Rowley hinter sie. Sie wandte sich um und sah ein paar niedrige Hütten. »Das ist das Dorf Wolvercote«, sagte er. Dann drehte er sie so, dass sie über die Brücke hinweg auf ein Gewirr von Dächern blickte, das die Sterne verdunkelte. »Die Abtei Godstow.« Irgendwo zwischen den Gebäuden war Licht zu erahnen, wenngleich die Fenster zu ihrer Seite hin alle dunkel waren.

Aber sie sollte sich das ansehen, was in der Mitte der Brücke war. Als Erstes erblickte sie ein reglos dastehendes, gesatteltes Pferd. Kopf und Zügel hingen herab, ein Bein war angehoben. Der Reitknecht Walt stand daneben und tätschelte ihm den Hals. Seine Stimme drang schrill und kläglich durch die Stille. »Wer macht so was? Ein gutes Pferd, braver Kerl, wer macht so was?« Das Pferd schien ihn mehr aufzuregen als der Tote, der ausgestreckt mit dem Gesicht nach unten daneben im Schnee lag.

»Mord und Totschlag auf den Straßen des Königs«, sagte Rowley leise, und sein Atem kringelte sich wie Rauch. »Reiner Zufall, der nichts mit unserem Vorhaben zu tun hat, aber ich denke, Ihr seht es Euch lieber mal an, schließlich sind Leichen Euer Metier. Aber macht schnell.«

Er hatte alle anderen zurückgehalten, wie sie es ihn gelehrt hatte; nur die Fußspuren des Reitknechts und seine eigenen führten im Schnee auf die Brücke, und nur seine kamen wieder zurück. »Ich musste mich vergewissern, ob der Bursche tot ist«, sagte er. »Nehmt Mansur mit, um den Schein zu wahren.« Er hob die Stimme. »Master Mansur kann die Spuren auf dem Boden lesen. Er spricht unsere Sprache nicht, daher wird Mistress Adelia für ihn übersetzen.«

Adelia blieb noch einen Moment, wo sie war, Mansur an ihrer Seite. »Weißt du, wie spät es ist?«, fragte sie auf Arabisch.

»Hör doch!«

Sie löste den Schal, den sie um den Kopf gewickelt hatte. Von der anderen Seite der Brücke war einsam und fern, aber dennoch deutlich über das laute Wasserrauschen hinweg eine schöne Frauenstimme zu vernehmen, die einen gleichbleibenden Ton sang. Nach einer kurzen Pause antworteten ihr andere Stimmen in verhaltenem Gesang.

Sie hörte einen Schlag der liturgischen Glocke, eine Antiphon. Die Nonnen von Godstow hatten sich aus ihren Betten erhoben und sangen die Vigil.

Es war also etwa vier Uhr morgens.

Mansur sagte: »War der reitende Bote nicht früher hier? Vielleicht hat er was gesehen.«

»Wann wart Ihr hier, Jacques? Der Doktor will das wissen.«

»Bei Tageslicht, Mistress. Da lag diese arme Seele noch nicht da.« Der junge Mann war bekümmert und verstört. »Ich hab den frommen Schwestern die Botschaft Seiner Lordschaft überbracht und bin dann sofort wieder über die Brücke zurückgeritten. Ich war wieder bei Euch, ehe der Mond aufging, stimmt doch, Mylord, oder?«

Rowley nickte.

»Wann hat es aufgehört zu schneien?« Sie sah, dass nur wenige Flocken auf der Leiche lagen.

»Vor drei Stunden.«

»Bleibt hier.«

Mansur nahm eine Laterne, und sie gingen gemeinsam auf die Brücke, wo sie sich neben den Leichnam knieten. »Möge Allah ihm gnädig sein«, sagte Mansur.

Wie sie es von ihrem Ziehvater gelernt hatte, nahm Adelia sich einen Moment Zeit, um zu dem Geist des Toten zu beten, der jetzt ihr Kunde war. »Erlaube deinem Fleisch und deinen Knochen, mir das zu sagen, was deine Stimme nicht mehr sagen kann.«

Er lag mit dem Gesicht nach unten, zu ordentlich für jemanden, der vom Pferd gestürzt war, die Beine gerade, die Arme über den Kopf gestreckt, Mantel und Tunika glatt übers Gesäß gezogen. Seine Kappe, wie seine übrige Kleidung aus gutem, aber leicht abgenutztem Wollstoff, lag neben ihm, und die kecke Fasanenfeder daran war abgeknickt.

Sie nickte Mansur zu. Sachte strich er das wellige braune Haar zurück, um den Hals zu berühren. Er schüttelte den Kopf. Er hatte durch Adelia genug Erfahrung im Umgang mit Leichen, um zu wissen, dass der Todeszeitpunkt nicht mehr festzustellen wäre. Der Körper war gefroren – hatte begonnen zu gefrieren, sobald das Leben aus ihm wich, und würde lange genug gefroren bleiben, um die natürlichen Prozesse aufzuhalten.

»Hmm.«

Geschickt drehten sie gemeinsam den Leichnam um. Zwei halbgeschlossene braune Augen betrachteten ohne Interesse den Himmel, und Mansur musste die gefrorenen Lider förmlich mit Gewalt schließen.

Der Tote war jung, zwanzig, einundzwanzig, vielleicht weniger. Der dicke Pfeil in seinem Oberkörper stammte von einer Armbrust und war tief eingedrungen und wahrscheinlich durch den Sturz, durch den auch die Feder gebrochen war, noch tiefer hineingetrieben worden. Mansur hielt die Laterne so, dass Adelia die Wunde untersuchen konnte. Sie hatte einen Blutkranz, aber an der Stelle, wo die Leiche gelegen hatte, waren nur wenige Blutflecken im Schnee.

Sie führte Mansurs Hand, bis die Laterne den Hals der Leiche beschien. »Hmm.«

 

Eine Scheide, in der noch das Schwert steckte, war an einem Gürtel befestigt, dessen matte Schnalle ein Wappen zierte. Dasselbe Wappen, das auf eine offene, leere Geldbörse gestickt war.

»Nun macht schon, Doktor. Das alles könnt Ihr auch noch tun, wenn wir ihn ins Kloster gebracht haben.« Rowleys Stimme.

»Seid still«, befahl Adelia ihm auf Arabisch. Er war mit ihr den ganzen Weg von Cambridge hierhergehetzt. Nun konnte er gefälligst einen Moment warten. Hier stimmte was nicht; vielleicht hatte Rowley sie deshalb gerufen, um sich die Sache anzusehen, weil er unbewusst die Auffälligkeiten registriert hatte, obwohl er in Gedanken mit einem gänzlich anderen Mord beschäftigt war.

Walt, der Reitknecht, stieß eine gequälte Bitte aus. »Der arme Kerl hier hat Schmerzen, Mylord. Da iss’ nix mehr zu machen. Wir sollten ihn endlich erlösen.«

»Doktor?«

»Nun wartet doch!« Verärgert stand sie auf und ging, den Blick starr auf den Boden gerichtet, zu der Stelle, wo Pferd und Knecht standen. »Was hat er denn?«

»Irgendein gottloses Schwein hat ihm die Sehne zerschnitten.« Walt zeigte auf eine klaffende Wunde am Bein des Pferdes, knapp über dem Fesselgelenk. »Da. Das war Absicht, ganz sicher.«

Hier war der Schnee dunkel von Blut, und es war deutlich zu erkennen, dass das Tier wild gestrampelt hatte, ehe es ihm gelungen war, auf seine drei unverletzten Beine zu kommen.

»Ist da wirklich nichts mehr zu machen?« Von Pferden wusste sie nur, wo vorne und hinten war.

»Das Schwein hat ihm die Sehne zerschnitten.« Dumme Fragen von einer Frau wie ihr zu beantworten machte Walt nur noch wütender.

Adelia ging zurück zu Mansur. »Das Tier muss getötet werden.«

»Nicht hier«, sagte er, »sonst blockiert der Kadaver die Brücke.« Und Brücken waren lebenswichtig. Sie verfallen zu lassen, unpassierbar zu machen, war ein feindlicher Akt, der hart bestraft wurde, weil er den einheimischen Händlern und Kaufleuten großen Schaden zufügte.

»Was zum Teufel heckt ihr beiden aus?« Rowley war näher gekommen.

»Hier stimmt was nicht«, erklärte Adelia.

»Ja, irgendwer hat den armen Teufel da ausgeraubt und getötet. Das seh ich auch. Wir laden ihn jetzt auf und ziehen weiter.«

»Nein, da ist noch mehr.«

»Und was bitte schön?«

»Ich brauche noch Zeit«, schrie sie ihn an und dann, ruhiger: »Der Doktor braucht Zeit.«

Der Bischof pustete die Wangen auf. »Warum habe ich sie mitgenommen, Herr? Erklär mir das. Also schön, kümmern wir uns wenigstens schon mal um das Pferd.«

Adelia bestand darauf, vor Walt und dem leidenden Tier über die Brücke zu gehen. Neben ihr hielt Mansur die Laterne so, dass das Licht bei jedem Schritt den Boden vor ihnen erhellte.

Alles, was nicht weiß war, war schwarz: Stiefelspuren, Hufspuren, wild durcheinander und nicht zu unterscheiden. An der Stelle, wo die Brücke beim großen Wachhaus des Klosters wieder in die Straße überging, hatte sich die eigentliche Tat abgespielt. Viel Blut.

Mansur zeigte auf eine Stelle etwas abseits.

»Oh, gut gemacht, mein Lieber«, sagte sie. Unter dem Schatten dicker Eichenäste, die über die Klostermauer hingen, führten deutliche Spuren zu anderen und schrieben eine Geschichte für diejenigen, die sie lesen konnten. »Hmm. Interessant.«

Hinter ihr beruhigten der Bischof und der Reitknecht das hinkende Pferd, während sie es wegführten und erörterten, wo es getötet werden sollte. Ob die Nonnen das Fleisch haben wollten? Ein Pferd war eine Delikatesse. Aber das Schlachten und Zerlegen würde bei diesem Wetter mühselig werden, deshalb schnitt man ihm wohl besser unter den Bäumen, wo die Klostermauer im Wald verschwand, die Kehle durch. »Sie können es sich ja später holen, wenn sie wollen.«

»Glaub nich, dass dann noch viel davon übrig ist, Mylord.« Nicht nur Menschen aßen gern Pferdefleisch.

Walt sattelte das Tier ab. Am Sattel war eine mit Wachstuch umwickelte Rolle befestigt. »Ho-ho, ganz ruhig, mein Braver, ho-ho.« Er beruhigte das Tier sanft in Pferdesprache, während er es zu den Bäumen führte.

»Könnten wir den Leichnam auch dort verstecken?«, wollte Adelia wissen.

»Dann bleibt davon auch nicht viel übrig«, sagte Mansur.

Rowley trat zu ihnen. »Nun beeilt euch doch, ihr beiden. Sonst sind wir gleich alle Eiszapfen.«

Adelia, die seit Cambridge unentwegt vor Kälte gezittert hatte, spürte sie nicht mehr. »Wir wollen nicht, dass der Tote entdeckt wird, Mylord.«

Der Bischof kämpfte um Geduld. »Er ist bereits entdeckt worden, Mistress. Wir haben ihn entdeckt.«

»Wir wollen nicht, dass der Mörder ihn findet.«

Rowley räusperte sich. »Ihr meint, wir sollten es ihm nicht verraten? Er weiß es schon, Adelia. Er hat dem Jungen einen Bolzen in die Brust geschossen. Er wird nicht zurückkommen, um sich zu vergewissern.«

»Doch, das wird er. Das hättet Ihr auch selbst gesehen, wenn Ihr nicht so in Eile wärt.« Sie stupste Mansur an. »Tu so, als würdest du was erklären.«

Rowley stand zwischen ihnen, während Mansur ihre Erkenntnisse auf Arabisch erläuterte und Adelia auf der anderen Seite so tat, als würde sie übersetzen. Sie erzählten ihm die Geschichte eines Mordes, wie die Spuren im Schnee sie erzählt hatten.

»Der Zeitpunkt ist nicht feststellbar. Vermutlich passierte es, nachdem es aufgehört hatte zu schneien. Auf jeden Fall so spät nachts, dass niemand mehr unterwegs war. Sie haben hier auf ihn gewartet, in der Nähe des Tors.«

»Sie?«

»Zwei Männer.« Rowley wurde in den Schatten der Eiche gezogen, wo im Schnee Fußstapfen zu erkennen waren. »Seht Ihr? Der eine trägt genagelte Stiefel, der andere hat Querstreifen an den Sohlen, vielleicht mit Riemen umwickelte Holzschuhe. Sie waren beritten und haben ihre Pferde zwischen die Bäume dort geführt, wo Walt ist. Sie sind zu Fuß zurückgekommen und haben sich hier hingestellt. Während sie warteten, haben sie gegessen.« Adelia hob einen Krümel vom Boden auf und dann noch einen. »Käse.« Sie hielt sie dem Bischof unter die Nase.

Er wich zurück. »Wenn Ihr das sagt, Mistress.«

Die Vigil war zu Ende, und das Kloster lag wieder schweigend da. Von irgendwo tiefer zwischen den Bäumen drang Walts Gebet. »Und der Herr erbarme sich deiner armen Seele, falls du eine hast.«

Ein langer Schrei wie ein Pfeifen, ein Krachen im Unterholz. Stille.

Walt tauchte wieder auf, wischte mit einer Hand seinen Dolch am Umhang ab und fuhr sich gleichzeitig mit der anderen über die Augen. »Gott, wie ich das hasse.«

Der Bischof klopfte ihm auf die Schulter und schickte ihn zu den Wartenden am anderen Ende der Brücke. Zu Adelia und Mansur sagte er: »Die wussten also, dass er kommen würde?«

»Ja. Sie haben auf ihn gewartet.« Selbst der verzweifeltste Wegelagerer würde sich nicht in einer so eisigen Nacht in den frühen Morgenstunden auf die Lauer legen in der Hoffnung, dass zufällig ein Reisender vorbeikommt.

Sie waren bestimmt froh, dass der Schneesturm aufgehört hatte, dachte sie, denn sie konnten schließlich nicht ahnen, dass sie dadurch ihre Schuld in die Schneedecke schrieben, wo die zufällig vorbeikommende Adelia Rachel Ortese Aguilar, die Medica der berühmten Medizinschule von Salerno, Sachverständige des Todes und der Todesursachen, sie enträtseln würde.

Und das würde ihnen noch leidtun.

Beim Warten war ihnen noch kälter geworden. Sie hatten mit den Füßen gestampft, um sich aufzuwärmen. Im Geist wartete Adelia mit ihnen, biss in imaginären Käse. Vielleicht hatten sie dem Klang der Komplet gelauscht, die von den Nonnen gesungen wurde, ehe die sich für die drei Stunden vor der Vigil zur Ruhe begaben. Ansonsten war es wohl totenstill gewesen, höchstens der Ruf einer Eule oder der heisere Schrei einer Füchsin hatte die Ruhe unterbrochen.

Da kommt er, der Reiter. Die Straße herauf, die vom Fluss zum Kloster führt, das Hufgeklapper seines Pferdes wird vom Schnee gedämpft, ist aber in der stillen Nacht deutlich zu hören.

Er nähert sich dem Tor, wird langsamer – will er hinein? Doch Schurke Nummer eins ist vor ihn getreten, mit gespannter Armbrust. Sieht der Reiter ihn? Ruft er etwas? Erkennt er den Mann? Wahrscheinlich nicht; der Schatten ist hier sehr dunkel. So oder so, der Bolzen ist abgeschossen und steckt schon tief in der Brust.

Das Pferd bäumt sich auf, der Reiter fällt nach hinten und stürzt zu Boden, wobei die Bolzenfedern zerbrechen. Schurke Nummer zwei packt die Zügel, führt das verstörte Pferd zu den Bäumen und bindet es dort an.

»Er liegt im Schnee und stirbt, das Geschoss einer Armbrust ist fast immer tödlich, ganz gleich, wo es trifft«, sagte Adelia, »aber sie gehen auf Nummer sicher. Einer von ihnen – ein Mann mit großen Händen – erwürgt ihn, während er am Boden liegt.«

»Herr sei uns gnädig«, sagte der Bischof.

»Ja, aber nun kommt das Interessante«, sagte Adelia, als wäre alles andere ganz alltäglich gewesen. »Jetzt erst schleifen sie ihn in die Mitte der Brücke. Seht Ihr? Seine Stiefelspitzen haben Furchen in den Schnee gezogen. Sie legen seine Kappe neben ihn – meine Güte, wie kann man so dumm sein! Haben die geglaubt, ein vom Pferd Gefallener liegt so kerzengerade da? Die Beine geschlossen? Gewänder glattgestrichen? Das war Euch aufgefallen, oder? Und dann, dann, holen sie sein Pferd auf die Brücke und schneiden ihm die Sehne durch.«

»Sie bringen ihn nicht in den Wald«, betonte Mansur. »Auch das Tier nicht. Hätten sie das getan, wären Pferd und Reiter frühestens im Frühling gefunden worden, und dann hätte keiner mehr sehen können, was mit ihnen passiert ist. Nein, stattdessen legen sie ihn so hin, dass der Erstbeste, der am Morgen über die Brücke kommt, ihn finden und dann Krawall schlagen wird.«

»Wodurch den Mördern weniger Zeit für ihre Flucht bleibt.« Der Bischof war nachdenklich. »Ich verstehe. Das ist … exzentrisch.«

»Das hier ist exzentrisch«, sagte Adelia. Sie waren wieder zu der Leiche gegangen.

Am Anfang der Brücke, wo die anderen warteten, hatte jemand in einem alten Fass ein Feuer angezündet. Gesichter, die im Schein der Flammen gespenstisch leuchteten, blickten hoffnungsvoll in ihre Richtung. »Braucht ihr noch lange?«, rief Gyltha. »Die Kleine hat Hunger, und wir kriegen schon Frostbeulen.«

Adelia achtete nicht auf sie. Sie spürte die Kälte noch immer nicht. »Zwei Männer«, sagte sie. »Und ihren Schuhen nach zu urteilen, sind sie arm. Zwei Männer töten unseren Reiter. Sie nehmen das Geld aus seiner Börse, aber sie lassen die Börse hier. Ein gutes Stück mit seinem Familienwappen darauf. Sie lassen ihm seine Stiefel, den Mantel, die Silberschnalle, das schöne Pferd. Welcher Räuber macht so was?«

»Vielleicht sind sie gestört worden«, sagte Rowley.

»Von wem denn?« Adelia dachte konzentriert nach. »Von uns jedenfalls nicht. Wir waren noch weit weg. Sie hatten genug Zeit, dieser armen Seele alles zu rauben, was sie besaß. Aber sie tun’s nicht. Wieso nicht, Rowley?«

Der Bischof überlegte. »Sie wollten, dass er gefunden wird.«

Adelia nickte. »Das war ihnen wichtig.«

»Sie wollten, dass er identifiziert werden kann.«

Adelia atmete tief erleichtert aus. »Genau. Es soll bekannt werden, wer er ist und dass er tot ist.«

»Verstehe«, sagte Rowley bedächtig. »Daher auch der Vorschlag, dass wir seinen Leichnam verstecken. Gefällt mir trotzdem nicht.«

»Aber das wird sie zurücklocken, Rowley«, sagte Adelia und berührte ihn zum ersten Mal, indem sie ihn am Ärmel zog. »Sie haben sich alle Mühe gegeben, dass die Welt vom Tod dieses armen jungen Mannes erfährt. Sie werden zurückkommen und nachforschen, warum das nicht geschehen ist. Wir können auf sie warten.«

Mansur nickte. »Irgendein Teufel will aus diesem Mord seinen Vorteil ziehen, möge Allah ihn niederschmettern.«

Wieder zupfte Adelia am Ärmel des Bischofs. »Aber nicht, wenn der Junge offenbar nur weg ist, einfach verschwunden.«

Rowley war skeptisch. »Wahrscheinlich hat er Eltern, die sich Sorgen um ihn machen.«

»Wenn ja, dann werden sie sich wünschen, dass seine Mörder gefunden werden.«

»Er sollte würdevoll bestattet werden.«

»Noch nicht.«

Der Bischof entzog seinen Arm ihrem Griff und entfernte sich von ihr. Adelia beobachtete, wie er an das Brückengeländer trat, sich darüberbeugte und in das tosende Wasser blickte, das weiß im Mondlicht leuchtete.

Er hasst es, wenn ich das tue, dachte sie. Er war bereit, die Frau zu lieben, aber nicht die Ärztin. Und doch hatte er die Ärztin mitgenommen, und jetzt muss er die Konsequenzen tragen. Ich habe eine Pflicht gegenüber diesem Toten, und ich werde sie nicht verleugnen.

Jetzt war ihr kalt.

»Also gut.« Er wandte sich um. »Euer Glück, dass Godstow ein Eishaus besitzt. Dafür ist es berühmt.«

Während man den Toten in seinen Mantel hüllte und seine Habseligkeiten zusammensuchte, ging Adelia ihr Kind stillen.

Der Bischof von St. Albans versammelte seine Männer um sich und erklärte ihnen, was Dr. Mansur aus den Spuren im Schnee geschlossen hatte.

»Mit der Gnade Gottes hoffen wir, diese Mörder zu überführen. Bis dahin wird keiner von euch, ich wiederhole, keiner, ein Wort darüber verlieren, was wir heute Nacht gesehen haben. Wir werden diesen Leichnam so würdevoll wie möglich, aber in einem heimlichen Versteck aufbewahren, um abzuwarten, wer auftaucht und Fragen nach dem Toten stellt – und wenn wir die Mörder entlarvt haben, dann möge sich Gott ihrer Seelen erbarmen, denn wir werden es nicht tun.«

Das war klug. Rowley hatte in Outremer als Kreuzritter gekämpft und dort gelernt, dass Männer williger gehorchten, wenn sie wussten, was ihr Befehlshaber vorhatte, und nicht bloß unverständliche Befehle erhielten.

Er erntete zustimmendes Brummen bei den Umstehenden, von denen der Bote besonders eifrig klang. Er und seinesgleichen waren viel unterwegs, und sie sahen in dem Reiter auf der Brücke einen von ihnen, der den Verbrechern zum Opfer gefallen war, die die Straßen unsicher machten. Sie waren zwar zu spät gekommen um dem Reisenden als barmherzige Samariter das Leben zu retten, aber sie konnten zumindest seine Mörder überführen.

Nur Pater Patons gerunzelte Stirn verriet, dass er schon ausrechnete, wie viel der Leichnam die Kirchenkasse kosten würde.

Die Männer nahmen die Mützen ab und trugen den Toten zum Wagen. Dann brachten sie ihn, die Pferde am Zügel führend, über die Brücke ins Kloster Godstow.