Kapitel vier

Die Abtei Godstow mit ihren umliegenden Waldungen und Feldern war im Grunde eine große Insel, die durch die Windungen der Themse und ihrer Zuflüsse entstanden war. Der Torwächter, der den Reisenden öffnete, war zwar ein Mann, ebenso wie der Reitbursche und der Stallknecht, die ihre Pferde versorgten, doch auf der Insel herrschten die Frauen.

Hätte man sie gefragt, so hätten die vierundzwanzig Nonnen und ihre weiblichen Dauergäste beteuert, dass der Herr allein ihnen befohlen habe, der Welt den Rücken zu kehren, doch ihre offensichtliche Zufriedenheit ließ vermuten, dass der Wunsch des Herrn exakt dem ihren entsprach. Manche waren begüterte Witwen, die den Ruf des Herrn am Grab ihres Mannes vernommen und sich prompt nach Godstow begeben hatten, ehe sie erneut verheiratet werden konnten. Andere waren Jungfrauen, die sich nach einem kurzen Blick auf den für sie ausgewählten Gatten ganz plötzlich und unwiderstehlich zur Keuschheit berufen gefühlt und ihre Mitgift statt in die Ehe lieber mit ins Kloster genommen hatten. Hier konnten sie ein stattliches und stetig wachsendes Lehen effizient und großzügig verwalten – und das alles ohne männliche Einmischung.

Die einzigen Männer über ihnen waren St. Benedikt, dessen Regeln sie befolgten und der seit sechshundertfünfzig Jahren tot war, der Papst, der weit weg war, der Erzbischof von Canterbury, für den die meiste Zeit dasselbe galt, und ein neugieriger Archidiakon, der ihnen aber nichts anhaben konnte, da sie ihre Bücher peinlich genau führten und ihr Verhalten stets untadelig war.

Ach so, ja, und der Bischof von St. Albans.

So reich, wie Godstow war, besaß es gleich zwei Kirchen. Die eine schmiegte sich unauffällig an die Westmauer der Abtei, war klein und war die Privatkapelle der Nonnen. Die andere, deutlich größere, stand am östlichen Rand nahe der Straße und diente den Menschen aus den umliegenden Dörfern als Gotteshaus.

Die Abtei selbst war praktisch ein kleines Dorf, in dem die frommen Schwestern ihre eigenen Bereiche hatten, und dorthin wurden die Reisenden nun von dem Torwächter geführt. Eine Magd, die eine Schultertrage schleppte, kreischte bei ihrem Anblick auf und machte dann einen Knicks, wobei Milch aus den Eimern schwappte. Die Laterne des Wächters beschien Durchgänge, Höfe und die gemeißelten Säulen eines Kreuzgangs, der zum Schlafsaal führte, wo sich an den nacheinander aufgehenden Fensterläden weißumhüllte Köpfe zeigten, wie blasse Mohnblumen, und aufgeregte Stimmen, »Der Bischof, der Bischof«, tuschelten.

Rowley Picot, kräftig, energisch, unbeirrbar und lärmend männlich, war ein Hahn, der in einen friedlichen Stall voller Hennen einbrach, die bis dahin bestens ohne ihn ausgekommen waren.

Die Priorin, die noch dabei war, ihren Schleier festzustecken, kam ihnen entgegen und bat sie, im Kapitelsaal auf die Äbtissin zu warten. Derweil standen Erfrischungen bereit. Hatten die Ladys irgendwelche Wünsche? Und der Säugling, so ein prächtiger kleiner Kerl, was konnte man für ihn tun?

Die Schönheit des Kapitelsaales beruhte auf seinen schmucklosen großen Holzstreben und Bögen. Kerzen erhellten die frischen Binsen auf dem Boden und spiegelten sich auf einem glänzenden langen Tisch und den Stühlen. Neben dem Geruch der Apfelholzscheite im Kohlenbecken lag ein Duft von Heiligkeit und Bienenwachs in der Luft – und vermischte sich dank Wächter jetzt mit dem Gestank eines übelriechenden Hundes.

Rowley tigerte ungeduldig und gereizt durch den Raum, doch Adelia stillte die kleine Allie zum ersten Mal seit Beginn der Reise mit der Ruhe, die das Kind verdiente. Da sie die Abtei mit Rosamund Clifford in Verbindung brachte, hatte sie befürchtet, ein verlottertes Kloster mit schlampigen Nonnen vorzufinden, die ihrem Stand keine Ehre machten. Noch immer hatte sie schlimme Erinnerungen an das Kloster St. Radegund in Cambridge, die einzige andere Schwesternschaft, die sie bislang in England gesehen hatte – ein bedrückender Ort, an dem letztendlich die Komplizin eines Kindermörders entlarvt worden war.

Hier in Godstow jedoch kündete die Atmosphäre von Geborgenheit, Ordnung, Disziplin und davon, dass alles so war, wie es sein sollte.

Sie döste vor sich hin, eingelullt von Pater Patons einschläferndem Gemurmel, der in seinem Schiefertafelbuch Berechnungen anstellte. »Für Käse und Ale auf der Reise … für Pferdefutter …«

Ein sachter Stoß von Gyltha brachte sie auf die Beine. Eine kleine, sehr alte Nonne, die sich auf einen Stock mit Elfenbeingriff stützte, war hereingekommen. Rowley streckte ihr die Hand hin, die Nonne beugte sich ächzend vor, um den Bischofsring an seinem Finger zu küssen. Alle verneigten sich.

Die Äbtissin nahm am Kopfende des Tisches Platz, lehnte den Gehstock behutsam an ihren Stuhl, faltete die Hände und hörte zu.

Innerhalb weniger Minuten wurde Adelia klar, dass ein Gutteil von Godstows Wohl und Segen dieser kleinen Frau zu verdanken war. Mutter Edyve besaß die distanzierte Ruhe älterer Menschen, die alles schon erlebt hatten und es jetzt zum zweiten Mal kommen sahen. Dieser junge Bischof, ein Grünschnabel im Vergleich zu ihr, konnte sie nicht aus der Fassung bringen, obwohl er in seinem Gefolge einen Sarazenen, zwei Frauen, einen Säugling sowie einen eher unappetitlichen Hund mitbrachte und ihr erzählte, er habe vor ihren Toren einen Ermordeten gefunden.

Selbst der Wunsch des Bischofs, die Leiche in ihrem Eishaus zu verstecken, wurde seelenruhig aufgenommen. »Ihr hofft, auf diese Weise den Mörder zu finden?«, fragte sie.

»Die Mörder, Äbtissin«, korrigierte der Bischof ein wenig zu ungeduldig. Erneut erklärte er ihr die Beweise, die von Doktor Mansur und seiner Assistentin gefunden worden waren.

Adelia dachte, dass Mutter Edyve wahrscheinlich alles schon beim ersten Mal begriffen hatte. Sie wollte nur noch etwas mehr Zeit zum Nachdenken gewinnen. Die Augen mit den faltigen Lidern, die in einem Gesicht wie aus runzeligem Kalbsleder ruhten, schlossen sich, während sie lauschte. Ihre blaugeäderten Hände spiegelten sich in der polierten Tischplatte.

Rowley kam zum Ende: »Wie wir vermuten, legen es die Täter darauf an, dass sich der Tod und der Name des jungen Mannes herumsprechen werden. Wenn dies nicht geschieht, kommen sie möglicherweise zurück, um Nachforschungen anzustellen.«

»Also eine Falle.« Eine sachliche Feststellung.

»Eine notwendige Falle, um der Gerechtigkeit willen«, beteuerte Rowley. »Und nur Ihr dürft davon wissen, Äbtissin.«

Er verlangt viel von ihr, dachte Adelia. Einen Toten nicht zu bestatten, sondern ihn unbeweint zu verstecken, verstößt ganz sicher gegen das Gesetz und die christliche Ordnung.

Doch nach dem, was Rowley ihr erzählt hatte, war es dieser alten Frau gelungen, ihr Kloster und ihre Nonnen unbeschadet durch einen dreizehnjährigen Bürgerkrieg zu bringen, der zu einem großen Teil genau hier in der Gegend getobt hatte – eine Leistung, die den Verdacht nahelegte, dass dabei so manche menschliche und göttliche Vorschrift umschifft worden war.

Mutter Edyve öffnete die Augen. »Eins müsst Ihr wissen, Mylord: Die Brücke gehört uns. Unserem Kloster obliegt es, sie instand zu halten und ihren Frieden zu wahren und demzufolge auch diejenigen zu ergreifen, die darauf einen Mord verüben.«

»Dann seid Ihr also einverstanden?« Rowley war verblüfft. Er hatte Widerstand erwartet.

»Allerdings«, sagte die Äbtissin gelassen, als hätte sie ihn gar nicht gehört, »werdet Ihr die Hilfe meiner Tochter Priorin benötigen.« Unter ihrem Skapulier holte Mutter Edyve die größte Schlüsselkette hervor, die Adelia je gesehen hatte. Es war ein Wunder, dass die alte Frau von dem Gewicht nicht zu Boden gezogen wurde. Zwischen den wuchtigen Schlüsseln, die daran befestigt waren, hing eine kleine Glocke. Sie läutete sie.

Die Priorin, die sie zuvor begrüßt hatte, kam herein. »Ja, Mutter?«

Jetzt, wo sie die beiden zusammen sah, bemerkte Adelia, dass Schwester Havis das gleiche flache Gesicht und die gleiche, wenn auch nicht ganz so runzelige Lederhaut hatte wie die Äbtissin. »Tochter Priorin« war also nicht nur ein frommer Titel. Edyve hatte ihr Kind mit nach Godstow gebracht, als sie Nonne wurde.

»Unser Bischof hat eine Lieferung für unser Eishaus mitgebracht, Schwester Havis. Sie soll während der Laudes unbemerkt dorthin geschafft werden.« Ein Schlüssel wurde von dem großen Eisenring gelöst und überreicht. »Bis auf weiteres wird niemand sonst davon unterrichtet.«

»Ja, Mutter.« Schwester Havis verneigte sich zuerst vor ihrem Bischof, dann vor ihrer Mutter und ging. Keine Fragen. Godstows Eishaus, so dachte Adelia, hatte im Laufe der Zeit gewiss nicht nur Rinderhälften beherbergt. Schätze? Flüchtlinge? Vielleicht beides, denn immerhin lag es zwischen der Stadt Wallingford, die auf Königin Matildas Seite gestanden hatte, und der Burg Oxford, über der König Stephens Flagge geweht hatte.

Allie begann zu strampeln, und Gyltha, die sie im Arm hielt, blickte zuerst fragend Adelia an und dann auf den Boden.

Adelia nickte, der Boden war sauber. Allie wurde zum Krabbeln abgesetzt. Allerdings lehnte sie diese Fortbewegungsart ab und schob sich lieber auf dem Allerwertesten durch den Raum. Müde legte Wächter, der Hund, sich so hin, dass sie ihn an den Ohren ziehen konnte.

Rowley dankte der Äbtissin nicht einmal für ihre Hilfsbereitschaft, sondern kam sogleich zu der Angelegenheit, die ihm auf der Seele brannte. »Und nun, Madam, wie steht’s mit Rosamund Clifford?«

»Ja, Lady Rosamund.« Sie klang nach wie vor gelassen, doch ihre Hände spannten sich leicht an. »Man sagt, die Königin soll sie vergiftet haben.«

»Das habe ich befürchtet.«

»Und ich befürchte, es könnte wieder Krieg geben.«

Stille trat ein. Die Äbtissin und der Bischof waren sich jetzt ohne Worte einig, als hätten sie gemeinsam ein schlimmes Geheimnis. Erneut drängten sich galoppierende Reiter in die Erinnerung derjenigen, die den Bürgerkrieg erlebt hatten, und Adelia spürte ihre Angst so deutlich, dass sie am liebsten ihr Kind hochgenommen hätte. Stattdessen passte sie genau auf, dass Allie dem Kohlenbecken nicht zu nahe kam.

»Ist ihr Leichnam eingetroffen?«, fragte Rowley unvermittelt.

»Nein.«

»Ich dachte, sie soll hier bestattet werden.« Er klang vorwurfsvoll, als sei es die Schuld der Äbtissin. Wo doch jeder andere Bischof, dachte Adelia, mit Wohlwollen auf ein Kloster geblickt hätte, das sich weigerte, eine Frau zu bestatten, die wegen ihrer losen Sitten berüchtigt war.

Mutter Edyve blickte seitlich an ihrem Stuhl hinunter. Allie versuchte gerade, sich an einem seiner Beine hochzuziehen. Adelia wollte sie dort wegholen, doch die Äbtissin hob mahnend einen Finger, nahm dann, ohne den Gesichtsausdruck zu verändern, die kleine Glocke von der Schlüsselkette und reichte sie nach unten.

Du kennst dich mit Kindern aus, dachte Adelia beruhigt.

»Lady Rosamund hat unserem Kloster so manche Freundlichkeit angedeihen lassen.« Mutter Edyves Stimme klang hell wie die eines fernen Vogels. »Wir schulden ihrem Leichnam die Bestattung und ihrer Seele einen Gottesdienst. Die Vorkehrungen sind getroffen worden, doch ihre Haushälterin Dakers weigert sich, uns die Tote zu überlassen.«

»Wieso denn?«

»Das kann ich nicht sagen, aber ihre Einwilligung ist unerlässlich, fürchte ich.«

»Im Namen des Allmächtigen, wieso?«

Irgendetwas, vielleicht sogar Erheiterung, blitzte ganz kurz im reglosen Gesicht der Äbtissin auf. Vom Boden neben ihrem Stuhl ertönte ein Klingeln, als Allie ihr neues Spielzeug untersuchte. »Mylord, soweit ich weiß, habt Ihr den Wormhold Tower während Lady Rosamunds Erkrankung besucht?«

»Das wisst Ihr doch. Eure Priorin … Schwester Havis hat mich aus Oxford hergeholt.«

»Und Ihr wurdet beide durch das Labyrinth geführt, das den Turm umgibt?«

»Irgend so ein verrücktes Weib hat uns am Eingang erwartet, ja.« Rowleys Finger trommelten auf den Tisch. Er hatte sich noch nicht gesetzt, seit sie den Raum betreten hatten.

»Das war Dakers.« Wieder diese kaum wahrnehmbare Erheiterung, wie ein Windhauch über einem Teich. »Wie ich höre, lässt sie seit dem Tod ihrer Herrin niemanden mehr herein. Sie hat sie vergöttert. Mylord, ich fürchte, wenn sie Euch nicht durch das Labyrinth führt, werdet Ihr nicht zum Turm gelangen.«

»Ich werde dorthin gelangen. Bei Gott, das werde ich. Solange ich hier Bischof bin, bleibt kein Toter unbeerdigt …« Er stockte und lachte dann. Er hatte gerade selbst einen mit ins Kloster gebracht.

Das ist seine große Stärke, dachte Adelia, während ihr warm ums Herz wurde und sie ihn anlächelte. Er hat einen Blick für die Absurdität der Dinge. Sie sah zu, wie er sich bei der Äbtissin für sein Benehmen entschuldigte und für ihr Entgegenkommen dankte – bis sie merkte, dass die blassen alten Augen der Nonne sich von ihm abgewandt hatten und jetzt sie betrachteten, wie sie ihn betrachtete.

Die Äbtissin kam wieder zur Sache. »Dakers’ Bindung an ihre Herrin war …«, sie suchte nach Worten, »… furchterregend. Die unglückselige Magd, die die verhängnisvollen Pilze aus dem Wald mitgebracht hat, ist vor lauter Angst um ihr Leben aus dem Turm geflohen und hat bei uns Zuflucht gesucht.«

»Sie ist hier? Gut. Ich will ihr einige Fragen stellen.« Er verbesserte sich. »Mit Eurer Erlaubnis, Madam, würde ich ihr gern einige Fragen stellen.«

Die Äbtissin neigte den Kopf.

»Und wenn ich Eure Freundlichkeit noch ein wenig mehr in Anspruch nehmen darf«, fuhr Rowley fort, »würde ich gern einen Teil meiner Leute hierlassen, während Doktor Mansur und seine Assistentin mich zum Wormhold Tower begleiten, um zu sehen, was sich dort machen lässt. Wie gesagt, unser guter Doktor verfügt über gewisse Fähigkeiten, die uns bei der Untersuchung der Angelegenheit helfen können …«

Nicht jetzt, dachte Adelia. Nicht heute. Um Gottes willen, Rowley, wir sind von der Reise erschöpft.

Sie hüstelte und fing Gylthas Blick auf. Gyltha versetzte Mansur, der neben ihr stand, einen Stoß. Mansur schaute sie beide an und sprach dann zum ersten Mal auf Englisch: »Euer Doktor braucht zuerst Ruhe.« Er fügte hinzu: »Mylord.«

»Von wegen Ruhe«, sagte Rowley, sah aber zu Adelia hinüber, die mit ihm kommen musste, wenn er weiterritt, oder warum war sie sonst hier?

Sie schüttelte den Kopf. Wir brauchen Ruhe, Rowley. Du brauchst Ruhe.

Die Augen der Äbtissin hatten den Blickwechsel registriert, und wenn er ihr sonst nichts verraten hatte, obwohl wahrscheinlich doch, so schloss sie daraus, dass die Angelegenheit damit geklärt war. »Wenn Ihr den Leichnam des armen Mannes untergebracht habt, wird Schwester Havis Euch zu Euren Unterkünften führen«, sagte sie.

 

Es war noch immer sehr dunkel und kalt. Die Nonnen sangen in ihrer Kapelle die Laudes, und alle anderen, die irgendeine Aufgabe zu erledigen hatten, waren damit in den Gebäuden beschäftigt, so dass niemand am Haupttor den geschlossenen Fuhrwagen bemerkte, in dem ein Toter lag.

Walt und die Waffenknechte bewachten ihn. Sie traten auf der Stelle, schlangen die Arme um den Oberkörper, um sich warm zu halten, und überhörten gleichmütig die neugierigen Fragen des Klosterwärters, der sich aus dem unteren Fenster des Torhauses lehnte. Schwester Havis wies ihn schneidend an, den Kopf einzuziehen, die Fensterläden zu schließen und sich um seinen eigenen Kram zu kümmern. »Haltet den Mund, Fitchet.«

»Tu ich doch, oder?« Fitchet war gekränkt. »Tu ich doch immer, oder?« Die Fensterläden wurden zugeknallt.

»Tut er auch«, sagte Schwester Havis. »Meistens.«

Sie hielt die Laterne hoch und stapfte vor ihnen durch den Schnee.

Walt führte die Zugpferde hinter ihr her, der Bischof, Oswald und Aelwyn trotteten an seiner Seite, und Adelia und Mansur saßen auf dem Wagenbock.

Nachdem Rowley begriffen hatte, dass Adelia völlig erschöpft war, hätte er sie in das Zimmer gelassen, das für sie und Allie und Gyltha im Gästehaus hergerichtet worden war, doch dieser tote junge Mann war ihre Verantwortung. Sie mochte noch so gute Gründe haben, die unwürdige Behandlung des Leichnams erfolgte auf ihr Geheiß, daher musste sie ihm zumindest so viel Achtung zollen, wie es ihr unter diesen Umständen möglich war.

Sie folgten der Mauer, die die weitläufigen Gebäude und Gärten des Klosters umgab, bis zu der Stelle, wo auf der anderen Seite das Pferd des Toten lag.

Das Rauschen, das sie auf der Brücke gehört hatten, wurde lauter. Sie waren jetzt nahe am Wasser, entweder an der Themse oder an einem schnellen Zufluss, über dem noch kältere Luft aufstieg. Der Lärm wurde ohrenbetäubend.

Mansur und Adelia saßen so hoch auf dem Wagen, dass sie über die Mauer und, wenn keine Bäume im Weg waren, über den Fluss blicken konnten. Mansur zeigte auf die Brücke und auf eine Wassermühle am anderen Ufer.

Der Araber sagte etwas, aber sie konnte ihn nicht verstehen. Vielleicht, dass die Mühle noch im Dunkel gelegen hatte, als sie auf der Brücke gestanden, so dass sie sie nicht bemerkt hatten. Jetzt drang Licht aus den winzigen Fenstern in ihrem Turm, und das große Wasserrad drehte sich im Mühlgraben.

Sie hatten gehalten. Schwester Havis war vor einer großen Steinhütte stehengeblieben, die an die Mauer angebaut war, und schloss die Tür auf.

Im Licht ihrer Laterne war zu erkennen, dass die Hütte bis auf eine Leiter und ein paar Werkzeuge leer war. Der Boden bestand aus Steinplatten, doch den meisten Raum nahm eine gewölbte Eisenscheibe mit Griffen ein, die aussah wie der Deckel eines riesigen Topfes.

Schwester Havis trat beiseite. »Man kann sie nur zu zweit anheben.« Sie hatte die gleiche emotionslose Stimme wie ihre Mutter.

Aelwyn und Oswald mussten sich kräftig anstrengen, um den Deckel zu heben. Darunter war ein finsteres Loch, aus dem eine Kälte aufstieg, die selbst in der eisigen Hütte noch spürbar war, und mit ihr drang der Geruch von Stroh und gefrorenem Fleisch nach oben.

Der Bischof hatte der Priorin die Laterne aus der Hand genommen und kniete sich neben das Loch. »Wer hat das Eishaus gebaut?«

»Das wissen wir nicht, Mylord. Wir haben es entdeckt und instand gehalten. Die Mutter Äbtissin glaubt, dass es schon hier war, lange bevor unser Kloster gegründet wurde.«

»Vielleicht die Römer?« Rowley war fasziniert. Die Leiter wurde geholt und so hingestellt, dass er hinuntersteigen konnte. Seine Stimme hallte herauf, als er weitere Fragen stellte, die Schwester Havis kühl beantwortete.

Ja, dass es so weit von der Schlachterei des Klosters entfernt lag, war unpraktisch, aber vermutlich hatten seine Erbauer es so nah an einem eingedeichten Flussabschnitt errichtet, damit die Kammer nicht unterspült wurde und zugleich von der Nähe des kühlenden Wassers profitierte.

Ja, wenn an Michaeli geschlachtet wurde, weil nicht einmal Godstow alle Tiere über den Winter bringen konnte, wurde das meiste zwar eingepökelt, doch dank des Eishauses konnten sie bis in den Frühling hinein oder sogar länger gelegentlich frisches Fleisch genießen.

Ja, selbstverständlich fror der Mühlteich dort drüben nur in sehr kalten Wintern zu, doch in den letzten Jahren war jeder Winter kalt gewesen, und der letzte Frost hatte außergewöhnlich lang gedauert, so dass der Vorrat an Eisblöcken bis in den Sommer hinein hielt. Ja, Seine Lordschaft könne einen Abfluss für das Schmelzwasser sehen.

»Prächtig.«

Adelia hüstelte vielsagend. Rowleys Kopf tauchte auf. »Was denn?«

»Das Totengebet, Mylord.«

»Ach so, ja, natürlich.«

Der Leichnam wurde auf die Steinplatten gelegt.

Die Totenstarre war gewichen, wie Adelia mit Interesse bemerkte, aber das lag gewiss an der einigermaßen warmen Unterbringung im windgeschützten Stroh des Fuhrwagens. Unten in diesem eiskalten Loch würde sie wieder einsetzen.

Die sichere, feste Stimme des Bischofs von St. Albans klang durch die Hütte. »Domine, Iesu Christe, Rex gloriae … bewahre die Seelen der Verstorbenen vor den Qualen des Feuers, vor den Tiefen der Unterwelt … dass die Hölle sie nicht verschlinge, noch dass sie hinabstürzen in die Finsternis, sondern dass der Bannerträger Sankt Michael sie ins heilige Licht geleite, wie du es einst Abraham verheißen …«

Adelia fügte lautlos ihr eigenes Gebet hinzu. Und mögen diejenigen, die dich lieben, mir mein Tun vergeben.

Sie stieg zu Oswald und dem Bischof in das Loch hinunter, ehe der Tote hinabgereicht wurde. Ein schrecklicher Ort, wie ein kolossales gemauertes Ei, dessen Inneres rundum mit in Netze gestopftem Stroh isoliert war, über dem weitere Netze die Eisblöcke hielten. An Haken hingen Hälften von Rind, Lamm, Wild und Schwein, weiß von Frost und so dicht beisammen, dass sie nicht hindurchgehen konnte, ohne mit den Schultern an das Fleisch zu stoßen.

Sie suchte eine geeignete Stelle, und als sie sich aufrichtete, verfing sich ihre Kappe in den Krallen irgendwelcher toter Wildvögel, die an ihren eigenen Galgen baumelten.

Mit klappernden Zähnen – und nicht bloß vor Kälte – nahmen sie und die anderen die Füße des Toten entgegen, der von Aelwyn und Walt nach unten gereicht wurde.

Gemeinsam legten sie ihn so unter das Federwild, dass ihm eventuelle Tropfen nicht ins Gesicht fallen würden.

»Es tut mir leid. Furchtbar leid.« Als die anderen schon aus dem Loch gestiegen waren, blieb Adelia noch einen Moment länger bei dem Toten und gab ihm ein Versprechen. »Ob wir deine Mörder fangen oder nicht, ich lasse dich nicht lange hier unten.«

Für sie war es schon fast zu lang. Sie war so starr vor Kälte, dass sie es nicht mehr die Leiter hinaufschaffte und Mansur sie hochhieven musste.

 

Die Äbtissin überließ Rowley ihr Haus und beteuerte, es sei eine Entlastung für sie, weil es ihr ohnehin immer schwerer fallen würde, die hohen Stufen zur Haustür zu nehmen. Da er ihr vor Gott übergeordnet war, blieb ihr auch gar nichts anderes übrig, obwohl er so zum inneren Hof mit Kreuzgang, Kapelle, Refektorium und Dormitorium der Nonnen Zugang hatte, der Männern ansonsten nachts versperrt blieb. Nachdem sie einen Blick auf Pater Paton geworfen und befunden hatte, dass auch er keine sexuelle Gefahr darstellte, brachte sie den Sekretär bei seinem Herrn unter.

Jacques, Walt, Oswald und Aelwyn bezogen Quartier in den Unterkünften der Bediensteten.

Mansur erhielt einen schönen Raum im Gästehaus der Männer. Gyltha, Adelia, Allie und der Hund wurden ebenso angenehm im Frauenflügel neben der Kirche untergebracht. Verwinkelte Außentreppen führten jeweils zu den Türen der Gäste, so dass die Frauen im obersten Stock einen weiten Blick nach Westen über den Weg nach Oxford und die Felder der Abtei hatten, die sich sanft zur Themse hinabsenkten.

»Entendaunen«, sagte Gyltha, die ein großes Bett inspizierte, »und keine Flöhe.« Sie schaute unter die Bettdecke. »Und irgendein Engel hat heiße Steine reingelegt, um es anzuwärmen.«

Adelia wollte sich nur noch hinlegen und schlafen, und eine Zeitlang taten sie das alle drei.

Sie wurden von Glocken geweckt, von denen eine praktisch direkt neben ihren Ohren läutete und den Wasserkrug in seiner Schale auf dem einzigen Tisch im Raum erbeben ließ.

Adelia schnappte sich Allie, die zwischen ihr und Gyltha schlief, und fragte alarmiert: »Brennt es?«

Gyltha lauschte angespannt. Die wuchtigen Schläge kamen vom Kirchturm ganz in der Nähe, und gleichzeitig ertönten auch andere Glocken, blecherner und sehr viel weiter entfernt. »Es ist Sonntag«, sagte sie.

»Ach verdammt. Das kann doch nicht wahr sein.«

Doch nicht nur weil es die Höflichkeit gebot, sondern auch weil sie, wie Adelia sehr wohl bewusst war, in der Schuld der Äbtissin standen, war es unumgänglich, am Morgengottesdienst teilzunehmen, zu dem Godstows Glocken riefen.

Und sie riefen nicht nur die Menschen im Kloster. Die Kirche im äußeren Hof stand allen offen, Laien und Geistlichen (nicht jedoch irgendwelchen Ungläubigen und übelriechenden Hunden, so dass Mansur und Wächter weiterschlafen konnten), und heute kämpfte sich wirklich jeder aus dem Umland durch den Schnee hierher. Das Dorf Wolvercote kam geschlossen über die Brücke, da sein Gutsherr die eigene Dorfkirche hatte verfallen lassen.

Natürlich war der Bischof die große Attraktion. Er war ein ebensolches Wunder wie ein herabgestiegener Engel. Schon allein ein Blick auf seinen Chormantel und die Mitra war den Zehnten wert, den jedermann zahlen musste. Vielleicht würde er ja auch den Husten des Kleinen heilen; und ganz sicher konnte er die Winteraussaat segnen. Einige krank aussehende Milchkühe und ein hinkender Esel waren schon draußen am Wassertrog angebunden worden und harrten seiner Aufmerksamkeit.

Die Geistlichkeit zog durch eine gesonderte Tür ein und begab sich zu ihren Sitzen im prächtigen Gestühl des Chores unter dessen ebenso prächtigem Fächergewölbe.

Aufgrund seiner Tonsur saß Pater Paton neben dem Klosterkaplan, einem kleinen verhuschten Mann, und gegenüber den Nonnen, in deren ansonsten schwarzen Reihen zwei junge Frauen in weißen Gewändern auffielen, die häufig kicherten. Sie fanden Pater Paton lustig.

Die meisten Bischöfe nahmen ihre Homilie zum Anlass, die Sünde im Allgemeinen zu verdammen, häufig in normannischem Französisch, ihrer Muttersprache, oder auf Latein, weil sie glaubten, je weniger die Gemeinde verstand, desto größer ihre Ehrfurcht.

Rowleys Predigt war anders, und er sprach eine Sprache, die seine Herde verstand. »Ein paar Kerle behaupten, die arme Lady Rosamund sei durch die Hand Königin Eleanors gestorben. Das ist eine boshafte Lüge, und ihr macht unserem Herrn Freude, wenn ihr dem keinen Glauben schenkt.«

Er verließ die Kanzel und marschierte in der Kirche auf und ab, während er predigte und schimpfte. Er war gekommen, um herauszufinden, was oder wer hinter Rosamunds Tod steckte, sagte er. »Denn ich weiß, dass sie hier allseits beliebt war. Vielleicht war es ein unglücklicher Zufall, vielleicht auch nicht, aber wenn nicht, dann werden König und Königin dafür sorgen, dass der Übeltäter rechtmäßig bestraft wird. Bis dahin sind wir alle verpflichtet, unseren Mund zu halten und den kostbaren Frieden unseres Herrn Jesus Christus zu wahren.«

Dann kniete er sich auf die Steine und das Stroh nieder, um zu beten, und alle in der Kirche taten es ihm gleich.

Sie lieben ihn, dachte Adelia. Einfach so lieben sie ihn. Spielt er ihnen was vor? Nein, darüber ist er hinweg. Genau wie er über mich hinweg ist.

Als sie sich erhoben, stellte jedoch ein Mann – dem gespenstischen Weiß nach zu schließen, das sich in den Poren seiner Haut eingenistet hatte, war es der Müller von der anderen Seite der Brücke – eine Frage. »Master, es heißt, die Königin ist mit dem König zerstritten. Das wird doch keinen Kampf zwischen den beiden geben, oder?«

Ein ängstliches Murmeln bestätigte seine Frage. Der Bürgerkrieg, in dem ein König gegen eine Königin gekämpft hatte, lag erst eine Generation zurück, und niemand wollte einen weiteren erleben.

Rowley wandte sich ihm zu. »Welche ist Eure Missus?«

»Die hier.« Der Mann deutete mit dem Daumen auf die rundliche Frau neben sich.

»Und soweit ich das sehe, habt Ihr da eine gute Wahl getroffen, Master Müller. Ihr zwei habt euch im Laufe der Jahre doch bestimmt schon mal gestritten, aber deswegen noch lange keinen Krieg angefangen. Das ist bei Königen auch nicht anders.«

Unter allgemeinem Gelächter kehrte er zu seinem Thron zurück.

Eine der beiden weißgekleideten jungen Frauen sang zu Ehren des Bischofs das Responsorium, und sie sang so schön, dass es Adelia, die normalerweise nichts für Musik übrig hatte, bei den Antworten der Gemeinde kaum erwarten konnte, erneut diese Stimme zu hören.

Daher freute sie sich, als dieselbe junge Frau nach dem Auszug der Geistlichkeit draußen im großen Hof auf sie wartete. »Darf ich mitkommen und mir Eure Kleine ansehen? Ich liebe Kinder.«

»Gern. Ich muss Euch zu Eurer Stimme gratulieren, es ist ein Genuss, Euch zuzuhören.«

»Vielen Dank. Ich bin Emma Bloat.«

»Adelia Aguilar.«

Sie gingen nebeneinander her. Besser gesagt, Adelia ging, und Emma hüpfte. Sie war vierzehn Jahre alt, und aus irgendeinem Grund sprudelte sie über vor Glück. Adelia hoffte, dass nicht der Bischof der Grund war. »Zählt Ihr zu den Benediktineroblaten?«

»O nein. Nur Priscilla wird den Schleier nehmen, ich werde bald heiraten.«

»Gut.«

»Ja, nicht? Irdische Liebe …« Emma tänzelte vor lauter Lebensfreude. »Gott schätzt sie bestimmt ebenso hoch ein wie die himmlische Liebe, nicht wahr, auch wenn Schwester Mold etwas anderes sagt, warum sollte er uns wohl sonst dieses Gefühl geben?« Sie klopfte sich auf die Herzgegend.

»›Es ist besser, zu heiraten, als sich in Begierde zu verzehren‹«, zitierte Adelia.

»Genau. Ich frage mich, wie konnte der heilige Paulus das wissen? Wo ihm doch beides fremd war.«

Sie war ein erfrischendes Kind und tatsächlich ganz vernarrt in Kinder oder wenigstens in Allie, mit der sie länger Guck-guck spielte, ohne geistig Schaden zu nehmen, als Adelia das für möglich gehalten hätte.

Anscheinend genoss das Mädchen irgendwelche Privilegien, denn sie wurde nicht für die Nachmittagsarbeiten der Schwestern zurückgerufen. Reichtum oder Stand, fragte Adelia sich, oder beides?

Die Fremden, die aus heiterem Himmel im Kloster aufgetaucht waren, interessierten das Mädchen nicht mehr als Spielzeug, das zu ihrer Belustigung da war, doch verlangte sie umgekehrt, dass die Fremden sich für sie interessierten. »Fragt mich nach meinem zukünftigen Mann, fragt mich, fragt mich.«

Er war offenbar wunderschön, ach, so wunderschön, stattlich, leidenschaftlich in sie verliebt, und er schrieb romantische Gedichte, die denen von Paris an Helena in nichts nachstanden.

Gyltha sah Adelia an und hob die Augenbrauen, Adelia hob die ihren. Das Mädchen war richtig glücklich, was bei arrangierten Ehen selten der Fall war. Denn arrangiert worden war sie. Emmas Vater, so erzählte sie ihnen, war Weinhändler in Oxford und belieferte das Kloster mit bestem Rheinwein, der dadurch bezahlt wurde, dass sie hier die Erziehung erhielt, die der Frau eines Adeligen zukam. Der Vater hatte ihren Zukünftigen für sie ausgewählt.

Auf einmal wurde Emma, die jetzt am Fenster stand, so von Lachen geschüttelt, dass sie sich am Mittelpfosten festhalten musste.

»Euer Zukünftiger ist also ein hoher Herr?«, fragte Gyltha grinsend.

Das Lachen erstarb, und Emma schaute aus dem Fenster, als könnte die Aussicht ihr etwas verraten, und Adelia sah, dass der Überschwang der Jugend im Laufe der Zeit durch Schönheit ersetzt werden würde.

»Der Herr meines Herzens«, sagte Emma.

 

Es war schwierig für die Reisenden, ungestört zusammenzukommen, um ihr weiteres Vorgehen zu besprechen. So nachsichtig die Regeln in Godstow auch gehandhabt wurden, es war ausgeschlossen, dass ein Sarazene den inneren Hof betrat. Ebenso ausgeschlossen war es, dass der Bischof die Frauenunterkünfte aufsuchte. Die einzige Möglichkeit bot die Kirche, und selbst dort war vor dem Hauptaltar stets eine Nonne anwesend, die für die Seelen jener Verstorbenen betete, die für dieses Privileg bezahlt hatten. Es gab jedoch eine Seitenkapelle, die der Jungfrau Maria gewidmet war und in der auch nachts Kerzen brannten – ein weiteres Geschenk der Toten, damit die Muttergottes ihrer gedachte. Die Äbtissin hatte ihnen erlaubt, diese Kapelle als Treffpunkt zu nutzen, solange sie Stillschweigen darüber bewahrten.

Davon, dass die Gemeinde tagsüber beim Gottesdienst den Kirchenraum angewärmt hatte, war nichts mehr zu spüren. Die flackernden Kerzen auf dem Schrein verbreiteten nur wenig Licht und Wärme, während der gewölbte Raum um sie herum in eisigem Schatten lag.

Als Adelia mit Gyltha durch eine Seitentür eintrat, sah sie eine wuchtige Gestalt vor dem Altar knien, den Kopf unter der Kapuze gebeugt und die Finger so fest verschränkt, dass sie aussahen wie blanke Knochen.

Rowley stand auf, als die Frauen hereinkamen. Er sah müde aus. »Ihr kommt spät.«

»Ich musste die Kleine stillen«, erklärte Adelia.

Aus dem Hauptraum der Kirche war die monotone Stimme einer Nonne zu hören, die die Totenfürbitten aus dem Klosterregister verlas. Sie ging dabei sehr präzise vor. »Gott in deiner Gnade, erbarme dich der Seele von Thomas aus Sandford, der in St. Gile’s, Oxford, einen Obstgarten gestiftet hat und am Tag nach Martini im Jahre des Herrn 1143 heimging. Gütiger Jesus in deiner Gnade, nimm dich gnädig der Seele von Maud Halegod an, die drei Mark in Silber gespendet hat …«

»Hat Rosamunds Magd Euch irgendwas sagen können?«, flüsterte Adelia.

»Die?« Der Bischof gab sich keine Mühe, leise zu sprechen. »Das Weib ist irre, da hätte ich mehr aus den verdammten Eseln rausholen können, die ich den ganzen Nachmittag lang segnen musste. Sie blökt nur rum. Ehrlich, wie ein Schaf.«

»Wahrscheinlich habt Ihr sie eingeschüchtert.« Im vollen Ornat hatte er gewiss furchteinflößend gewirkt.

»Aber nein, ich habe sie nicht eingeschüchtert. Ich war bezaubernd. Die Frau ist hirnlos, das könnt Ihr mir glauben. Seht zu, dass Ihr sie irgendwie zum Reden bringt.«

»Das werde ich.«

Gyltha hatte in einer Ecke einige Betkissen gefunden und verteilte sie nun so im Kreis, dass das Kerzenlicht darauf fiel. Jedes trug das Wappen einer Adelsfamilie, deren Angehörige beim Kirchgang keine schmutzigen Knie bekommen wollten.

»Betkissen sind praktisch«, sagte Adelia und schob eines unter den Korb mit der schlafenden Allie, damit er nicht auf den kalten Steinen stand. Wächter ließ sich auf einem anderen nieder. »Wieso stiften die Reichen keine Betkissen für die Armen? Dann würde man sich länger an sie erinnern.«

»Die Reichen wollen nich, dass wir es bequem haben«, sagte Gyltha. »Ist nich gut für uns. Könnte uns auf dumme Gedanken bringen. Wo steckt denn der alte Araber?«

»Der Bote holt ihn gerade.«

Als er, gefolgt von Jacques, in einen Mantel gehüllt, durch die Seitentür eintrat, musste er den Kopf einziehen.

»Gut«, sagte Rowley. »Du kannst gehen, Jacques.«

»Ähm.« Der junge Mann trat kläglich von einem Bein aufs andere.

Adelia hatte Mitleid mit ihm. Die Arbeit eines Boten war wenig beneidenswert und einsam. Die meiste Zeit waren sie kreuz und quer im Land unterwegs und hatten nur ein Pferd als Begleitung. Ihre Herren verlangten viel von ihnen. Briefe mussten rasch abgeliefert und die Antworten noch rascher zurückgebracht werden. Entschuldigungen wie schlechtes Wetter, Stürze, unwegsames Gelände oder Vom-Weg-Abkommen wurden beiseitegefegt. Eher argwöhnte man, dass der Bote die Zeit und das Geld seines Auftraggebers in irgendeiner Schenke vergeudet hatte.

Rowley, so fand sie, ging besonders hart mit seinem Boten um. Wieso sollte der junge Mann nicht bei ihren Erörterungen dabei sein? Sie vermutete, Jacques’ Sünde bestand darin, dass er zwar die schlichte Livree von St. Albans trug, aber versuchte, seine geringe Größe durch Stiefel mit hohen Absätzen und eine lange Feder an der Kappe wettzumachen, was den Verdacht nahelegte, dass er ein Anhänger der von Königin Eleanor und ihrem Hof eingeführten Mode war, wonach Männer sich ebenso elegant kleideten wie Frauen. Diese Entwicklung wurde von der jungen Generation begrüßt, aber als verweichlicht von Männern abgelehnt, die wie Rowley, Walt und Oswald am liebsten Leder- oder Kettenpanzer trugen.

Walt hatte den Boten einmal nicht ganz unzutreffend als »’ne Selleriestange mit Wurzeln dran« beschrieben, und Rowley hatte Adelia gegenüber gegrollt, er fürchte, sein Bote sei »kein guter alter englischer Normanne«, sondern ein »rausgeputztes Jüngelchen«, was für ihn gleichbedeutend mit weibisch war. »Ich werde ihn entlassen müssen. Der Bursche parfümiert sich sogar. Ich kann doch meine Sendschreiben nicht von einem eitlen Gecken austragen lassen.«

Und das, dachte Adelia, aus dem Munde eines Mannes, der eine halbe Stunde braucht, um sein pompöses Ornat anzulegen.

Sie beschloss, sich für den Boten einzusetzen. »Kommt Master Jacques morgen mit zu Rosamunds Turm?«

»Natürlich.« Rowley war noch immer gereizt. »Kann doch sein, dass ich Botschaften versenden muss.«

»Dann wird er ebenso viel wissen wie wir auch, Mylord. Das tut er ohnehin schon, und ein Kopf mehr schadet nicht. Lasst ihn bleiben.«

»Na gut, meinetwegen.«

Vom Altar hinter dem Lettner ertönte noch immer das gemurmelte Gebet für die Toten, das auch die ganze Nacht über von verschiedenen Nonnen fortgesetzt werden würde. »… in deiner Gnade der Seele von Thomas Hookeday, dem Feldhüter unseres Sprengels, für die Sixpence, die er gestiftet hat …«

Rowley holte die Sattelrolle hervor, die dem Toten von der Brücke gehört hatte. »Hatte noch keine Zeit, sie mir anzuschauen.« Er löste die Riemen, legte sie auf den Boden und entrollte sie. Während Jacques hinter ihnen stand, saßen die vier drum herum und betrachteten den Inhalt.

Der spärlich war. Eine Lederflasche Ale. Ein halber Käse und ein Laib Brot, ordentlich in Tuch gewickelt. Ein Jagdhorn – seltsam bei jemandem, der ohne Begleitung oder Hunde unterwegs war. Ein ebenfalls sorgsam gefalteter Ersatzmantel mit Pelzbesatz, erstaunlich klein für den hochgewachsenen Mann.

Wohin auch immer er unterwegs gewesen war, er hatte darauf vertraut, dort Nahrung und Unterkunft zu finden. Nur mit dem Brot und dem Käse wäre er nicht weit gekommen.

Außerdem fanden sie einen Brief. Anscheinend war er direkt unter die Lasche zwischen die Schnallen der Lederriemen geschoben worden, welche die Rolle zusammenhielten.

Rowley hob ihn auf und strich ihn glatt.

»›An Talbot aus Kidlington‹«, las er, »›mögen der Herr und seine Engel Euch an diesem Tage segnen, an dem Ihr in das Mannesalter eintretet, und Euch vom Pfad der Sünde und allem Unrecht fernhalten, das hofft inniglich Euer liebnd. Vetter Wlm Warin, Diener des Rechts, der Euch hiermit 2 Mark in Silber als Anzahlung auf Euer Erbe übersendet, dessen Rest Ihr beanspruchen mögt, wenn wir uns sehen. Geschrieben am Tage unseres Herrn, dem 16. vor den Kalenden des Januar in meinem Kontor bei St. Michael am Nordtor von Oxford.‹«

Er blickte auf. »So, da haben wir’s. Jetzt kennen wir den Namen unseres Toten.«

Adelia nickte bedächtig. »Hmm.«

»Was ist denn nun schon wieder? Der Junge hat einen Namen, einen einundzwanzigsten Geburtstag und einen liebenden Vetter mit einer Anschrift. Genug, womit Ihr arbeiten könnt. Was er nicht hat, sind die zwei Mark in Silber. Ich denke, die haben jetzt die Diebe.«

Adelia registrierte, dass er nicht von »wir« sprach. Es würde also ihre Aufgabe sein, nicht die des Bischofs. »Findet Ihr das nicht seltsam?«, fragte sie. »Wenn das Familienwappen auf seiner Geldbörse uns nicht verraten hätte, wer er war, dann tut es dieser Brief. Der liefert ja fast schon zu viele Informationen. Welcher liebende Briefeschreiber nennt seinen Vetter denn ›Talbot aus Kidlington‹ anstatt einfach bloß ›Talbot‹?«

Rowley zuckte die Achseln. »Eine absolut übliche Anredeform.«

Adelia nahm ihm den Brief aus der Hand. »Und er ist auf Velin geschrieben. Teuer, für so eine kurze, persönliche Mitteilung. Wieso hat Master Warin kein Papier benutzt?«

»Alle Advokaten benutzen Velin oder Pergament. Für die ist Papier infra dignitatem.«

Doch Adelia bohrte weiter. »Und es ist zerknittert, einfach zwischen die Schnallen gestopft. Seht Ihr, an einer Stelle ist es angerissen. Kein Mensch geht so mit Velin um, das kann man immer wieder abschaben und neu benutzen.«

»Vielleicht war der Junge in Eile, als der Brief eintraf, und er hat ihn nur rasch weggesteckt. Oder er war wütend, weil er mit mehr als nur zwei Mark gerechnet hat? Oder Velin war ihm völlig schnuppe. Was es mir …«, der Bischof verlor allmählich die Geduld, »… in diesem Moment auch ist. Worauf wollt Ihr hinaus, Mistress?«

Adelia überlegte einen Moment.

Ob der Körper im Eishaus der des Talbot aus Kidlington war oder nicht, im Leben hatte er einem ordentlichen jungen Mann gehört; das hatte ihr sowohl seine Kleidung verraten als auch die Sorgfalt, mit der der Inhalt der Sattelrolle eingepackt worden war. Menschen mit einem solchen Ordnungssinn – und zu ihnen zählte Adelia – stopften nicht einfach mit der flachen Hand ein Dokument auf Velin in eine Öffnung, wie hier geschehen.

»Ich glaube, er hat den Brief nicht einmal gesehen«, sagte sie, »ich glaube, seine Mörder haben den Brief dort hineingesteckt.«

»Um Himmels willen«, fauchte Rowley sie an, »Ihr dichtet da viel zu viel hinein. Adelia, Wegelagerer hinterlegen bei ihren Opfern keine Briefe. Worauf wollt Ihr hinaus? Dass der Brief eine Fälschung ist, um uns in die Irre zu führen? Talbot aus Kidlington ist gar nicht Talbot aus Kidlington? Der Gürtel und die Börse gehören jemand ganz anderem?«

»Ich weiß es nicht.« Aber irgendwas stimmte nicht mit diesem Brief.

Sie besprachen, wie sie am folgenden Tag zu Rosamunds Turm kommen würden. Adelia sollte mit Rowley, Jacques und Walt über den Treidelpfad flussaufwärts reiten, während Mansur und ein Waffenknecht in einem Boot folgen würden, auf dem der Leichnam dann zurückgebracht werden sollte.

Während sie noch Einzelheiten besprachen, nutzte Adelia die Gelegenheit, um sich die verschiedenen Wappen genauer anzusehen. Keines passte zu dem auf der Börse oder dem Gürtel des jungen Mannes.

Rowley sagte zu Gyltha: »Du musst hierbleiben, Mistress. Die Kleine können wir unmöglich mitnehmen.«

Adelia blickte auf. »Ich lasse sie nicht hier zurück.«

Er sagte: »Es geht nicht anders, das wird kein Familienausflug.« Er ergriff Mansurs Arm. »Komm mit, mein Freund, mal sehen, was das Kloster so an Booten zu bieten hat.« Sie gingen nach draußen, gefolgt von Jacques.

»Ich lasse sie nicht hier zurück«, rief Adelia ihm nach, was die Fürbitte für die Toten hinter dem Lettner kurz ins Stocken brachte. Sie wandte sich an Gyltha. »Was fällt ihm ein. Das kommt nicht in Frage.«

Gyltha fasste Adelia bei den Schultern und drückte sie hinunter auf ein Betkissen, dann setzte sie sich neben sie. »Er hat recht.«

»Hat er nicht. Stell dir vor, wir werden durch den Schnee abgeschnitten oder durch irgendwas anderes. Sie muss gefüttert werden.«

»Dann sorge ich dafür.« Gyltha nahm Adelias Hand und schaukelte sie sacht. »Es wird Zeit, Mädchen«, sagte sie. »Höchste Zeit, dass sie abgestillt wird. Deine Milch wird knapp. Du weißt es, und die Kleine weiß es.«

Adelia bekam die Wahrheit zu hören, wie stets von Gyltha. Es stimmte, die Milch in ihren Brüsten wurde schon seit einigen Wochen spürbar weniger, und beide Frauen hatten Nahrung zu Brei zermanscht und mit Kuhmilch verrührt, um ihn in Allies gierigen Mund zu löffeln.

Als Adelia noch kinderlos war, hatte sie geglaubt, das Stillen wäre eine feuchte Peinlichkeit; stattdessen hatte es sich als eine der natürlichen Freuden des Lebens entpuppt und ihr darüber hinaus einen Vorwand geliefert, ihr Kind stets überallhin mitzunehmen. Denn die Mutterschaft war zwar eine weitere Wonne, hatte sie aber auch mit einer quälenden und unerwarteten Angst erfüllt, als wären ihre Sinne in den Körper ihrer Tochter und, wenn auch weniger intensiv, in den aller Kinder übertragen worden. Adelia, die einst jeden minderjährigen Menschen befremdlich gefunden hatte und ihn auch so behandelte, war jetzt offen für deren Kummer, ihre geringsten Schmerzen und jedes Unglück.

Allie hatte nur selten unter derlei Ungemach zu leiden. Sie war ein robustes Kind, und allmählich hatte Adelia erkannt, dass ihr Mitgefühl eigentlich ihr selbst galt, dem zwei Tage alten Winzling, der vor fast dreißig Jahren von unbekannten Eltern auf einem steinigen Hang im italienischen Kampanien ausgesetzt worden war. Als sie heranwuchs, hatte sie kaum darüber nachgedacht. Es war etwas, das mit einem Augenzwinkern betrachtet wurde, was sich schon darin zeigte, dass die Eheleute, die sie damals gefunden hatten, diesem für alle drei durchaus glücklichen Ereignis dadurch Rechnung trugen, dass sie ihr unter anderem den Namen Vesuvia gegeben hatten. Signor und Signora Aguilar, kinderlos, warmherzig, klug und exzentrisch, beide Ärzte, die in der freiheitlichen Tradition der wunderbaren Medizinschule von Salerno ausgebildet worden waren, er Jude, sie katholische Christin, hatten in Adelia nicht nur eine geliebte Tochter gefunden, sondern auch einen Verstand, der selbst ihre eigene Intelligenz übertraf, und sie hatten sie dementsprechend erzogen. Nein, es hatte keine Rolle gespielt, dass sie einst ausgesetzt worden war. Im Gegenteil, es hatte sich als das größte Geschenk erwiesen, das die leibliche, unbekannte, verzweifelte, trauernde oder gleichgültige Mutter ihrem Kind hatte machen können.

Bis dieses Kind selbst ein Kind gebar.

Dann brach sie heraus, die Angst. Wie ein Wirbelsturm, der nicht aufhören wollte; nicht allein die Angst, dass Allie sterben könnte, sondern Angst, dass Adelia selbst sterben könnte und das Kind ohne die Gnade zurücklassen müsste, die ihr selbst zuteil geworden war. Dann wäre es besser, wenn sie beide stürben.

O Gott, wenn der Giftmörder sich nicht mit Rosamunds Tod begnügte … Oder wenn die Mörder von der Straße ihnen unterwegs auflauerten … Oder wenn sie ihr Kind in Godstow zurückließ und dort plötzlich ein Feuer ausbrach …

Es war krankhaft, und Adelia wusste – denn so vernünftig war sie noch immer –, wenn das so weiterging, würde das sowohl ihr als auch Allie schaden.

»Es wird Zeit«, sagte Gyltha erneut, und da Gyltha es sagte, die verlässlichste aller Frauen, wurde es das auch.

Aber sie ärgerte sich über die Selbstverständlichkeit, mit der Rowley eine Trennung verlangte, die ihr Kummer bereiten und Angst machen würde, so unbegründet Letztere auch sein mochte. »Er hat nicht zu entscheiden, ob ich sie hierlasse. Ich will sie nicht hierlassen. Ich will einfach nicht.«

Gyltha zuckte die Achseln. »Ist auch sein Kind.«

»Sollte man nicht meinen.«

Die Stimme des Boten ertönte von der Tür. »Ich bitte um Vergebung, Mistresses, aber Seine Lordschaft bittet darum, dass Ihr Bertha befragt.«

»Bertha?«

»Lady Rosamunds Magd, Mistress. Die mit den Pilzen.«

»Ach so, ja.«

Abgesehen von dem unaufhörlichen Totengebet in der Kirche und den kanonischen Stunden, war im Kloster Nachtruhe eingekehrt, so dass es in einer tiefen, mondlosen Finsternis lag. Als er die beiden Frauen zu ihrer Unterkunft führte, beschien der Lichtkreis aus Jacques’ Laterne nur den unteren Teil der Mauern und gut zwei Schritte des mit Schnee gesäumten Weges. Dort angekommen, gab Adelia ihrem Töchterchen einen Gutenachtkuss und überließ es Gyltha, die Kleine ins Bett zu bringen.

Sie und der Bote gingen allein weiter, verließen den äußeren Hof und gelangten auf offenes Gelände. Ein schwacher Geruch ließ ahnen, dass sie sich irgendwo in der Nähe von Gemüsegärten befanden, die jetzt durch den Frost abstarben.

»Wo führt Ihr mich denn hin?« Ihre Stimme klang bockig in der Dunkelheit.

»Leider zum Kuhstall, Mistress«, sagte Jacques entschuldigend. »Das Mädchen hat sich dort versteckt. Die Äbtissin wollte sie in der Küche unterbringen, aber die Köchinnen haben sich geweigert, mit ihr zu arbeiten, wo doch Lady Rosamund aus ihrer Hand das Gift bekommen hat. Die Nonnen haben versucht, mit ihr zu reden, aber sie sagen, es ist schwierig, aus der armen Seele irgendwas Sinnvolles rauszubekommen, und sie hat schreckliche Angst, dass die Haushälterin der Lady herkommt.«

Der Bote plauderte weiter, wollte beweisen, dass er es wert war, in den seltsamen inneren Ermittlerzirkel des Bischofs aufgenommen zu werden.

»Was das Wappen auf der Börse des armen jungen Mannes betrifft, Mistress. Da könnte es ratsam sein, Schwester Lancelyne zu konsultieren. Sie führt das Kopialbuch und Register des Klosters und hat die Sinnbilder jeder Familie verzeichnet, die je etwas gestiftet haben. Es könnte sein …«

Er hatte seine Zeit gut genutzt. Es war typisch für einen Boten, dass er versuchte, sich bei den Dienern der Häuser, die er besuchte, lieb Kind zu machen, weil er auf diese Weise eine bessere Verpflegung bekam, ehe er wieder aufbrechen musste.

Rechts und links von ihnen waren jetzt wieder Mauern. Adelias Stiefel platschten durch den Matsch von Wegen, die tagsüber gewiss viel benutzt wurden. Ihre Nase registrierte, dass sie an einem Backhaus vorbeikamen, jetzt an einer Küche, einem Waschhaus. Alles stumm und unsichtbar in der Finsternis.

Erneut offenes Gelände. Noch mehr Matsch, aber hier und dort Fußspuren in einer Schneewehe, wo jemand vom Pfad abgebogen war.

Gefahr.

Das Gefühl erfasste sie blind. Unerklärlich, aber so stark, dass sie sich duckte und unter dem Eindruck stehenblieb, als wäre sie daheim in den Gassen von Salerno und hätte den Schatten eines Mannes mit einem Messer gesehen.

Der Bote blieb ebenfalls stehen. »Was ist denn, Mistress?«

»Ich weiß nicht. Nichts.« Im Schnee waren Fußspuren, deutliche, erklärbare Fußspuren, gewiss, doch für sie, die an die Spuren auf der Brücke dachte, zeugten sie von Tod.

Sie zwang sich weiterzustapfen.

Der beißende Gestank von glühendem Eisen und ein Hauch von Wärme in der Luft verrieten ihr, dass sie eine Schmiede passierten. Jetzt ein Stallgebäude und der Geruch nach Pferdedung, der, als sie weitergingen, zu Kuhgeruch wurde – sie hatten den Kuhstall erreicht.

Jacques wuchtete eine Seite der Doppeltür auf. Dahinter kam eine breite, schmutzige Stallgasse zum Vorschein, die von meist leeren Verschlägen gesäumt war. An Michaeli wurde überall im Land Vieh geschlachtet – das Futter reichte nie, um alle Tiere über den Winter zu bringen –, doch als sie die Stallgasse entlanggingen, fiel das Licht der Laterne auf die verdreckten Hinterteile und Schwänze der Kühe, die man am Leben gelassen hatte, um den Winter über Milch zu haben.

»Wo ist sie?«

»Man hat mir gesagt, sie sei hier. Bertha!«, rief Jacques. »Bertha!«

Von irgendwo aus der Dunkelheit am hinteren Ende des Stalles drang Quieken und das Rascheln von Stroh, als wollte eine Riesenmaus in ihr Loch flüchten.

Jacques ging voraus und leuchtete mit der Laterne in den letzten Verschlag, ehe er sie an den Haken eines Deckenbalkens hängte. »Ich glaube, da ist sie drin, Mistress.« Er trat zurück, damit Adelia hineinschauen konnte.

An der Rückwand des Verschlages war ein großer Berg Stroh aufgehäuft. Adelia sprach ihn an. »Bertha? Ich will dir nichts tun. Bitte rede mit mir.«

Sie musste es mehrmals sagen, ehe der Berg sich bewegte und ein Gesicht aus dem Stroh auftauchte. Das Licht der Laterne fiel direkt von oben darauf, und im ersten Moment dachte Adelia, es wäre ein Schweinekopf, doch dann sah sie, dass es einem Mädchen gehörte, dessen ausgeprägte Stupsnase nur die Nasenlöcher sehen ließ und an einen Rüssel erinnerte. Kleine, beinahe wimpernlose Augen starrten Adelia ins Gesicht. Der breite Mund bewegte sich und gab helle Laute von sich. »Tout me ne«, so hörte es sich zumindest an. »Tout me ne, tout me ne.«

Adelia wandte sich zu Jacques um. »Ist sie Französin?«

»Soweit ich weiß, nein, Mistress, aber ich glaube, sie fleht, dass wir ihr nichts tun.«

Das Blöken veränderte sich. »Habangstvose.«

»›Ich habe Angst vor ihr‹«, übersetzte Jacques.

»Vor der Haushälterin?«, fragte Adelia.

Bertha duckte sich entsetzt. »Versaubertmiinemaus.«

»›Sie wird mich in eine Maus verzaubern‹«, half Jacques aus.

Adelia kam der beschämende, aber unwiderstehliche Gedanke, dass die Zauberkräfte der Haushälterin bei der Verwandlung dieses Kindes in ein Tier nicht stark beansprucht werden würden.

»Untutmiinfalle.« Bertha, die offensichtlich ihre Angst verlor und Mut fasste, schob sich ein Stück vor, so dass unter Kopf und Haar, das die gleiche Farbe hatte wie das Stroh ringsherum, ein magerer Hals und Körper zum Vorschein kamen. Sie starrte gebannt auf Adelias Hals.

»›Und tut sie in eine Falle‹«, sagte Jacques.

Allmählich kam Adelia hinter Berthas seltsame Sprache. Und wie immer, wenn von Zauberei die Rede war, wurde sie von Zorn erfasst. Sie war bestürzt, dass man das Mädchen mit dunklem Aberglauben in Angst und Schrecken versetzt hatte. »Sitz gerade«, sagte sie.

Die kleinen Schweinsäuglein blinzelten, und Bertha setzte sich sofort auf, während das Stroh herabrieselte. Sie war daran gewöhnt, angeherrscht zu werden.

»So«, sagte Adelia ruhiger. »Niemand macht dir zum Vorwurf, was geschehen ist, aber du musst mir erzählen, wie es dazu kam.«

Bertha beugte sich vor und zeigte auf Adelias Halskettchen. »Das da schön, was das?«

»Das ist ein Kreuz. Hast du noch nie eines gesehen?«

»Lady Ros hat so was, noch hübscher. Wofür? Zauberei?« Das war ja furchtbar. Hatte denn niemand diesem Mädchen das Christentum nahegebracht?

Adelia sagte: »Sobald ich kann, kauf ich dir eines und erklär dir, was es damit auf sich hat. Aber jetzt musst du mir ein paar Dinge erzählen. Machst du das?«

Bertha nickte, die Augen noch immer auf das Silberkreuz gerichtet.

Und so fing es an. Adelias Geduld wurde vor allem durch Berthas ermüdende, ausweichende Wiederholungen und Beteuerungen, dass es nicht ihre Schuld gewesen sei, auf eine schier unerträgliche Probe gestellt, ehe es ihr gelang, dem Mädchen überhaupt irgendwelche sinnvollen Antworten zu entlocken. Bertha war derart unwissend und leichtgläubig, dass Rosamund in Adelias Augen immer mehr an Ansehen verlor. Eine so ungebildete Dienerin war eine Schande für ihre Herrin. Von wegen schöne Rosamund, dachte sie. Es war hässlich, dieses armselige kleine Geschöpf derart zu vernachlässigen.

Schwer zu schätzen, wie alt Bertha war, und sie selbst wusste es nicht. Irgendwo zwischen sechzehn und zwanzig, vermutete Adelia, halb verhungert und ebenso blind und ahnungslos wie ein Maulwurf in seinem Loch.

Jacques hatte Adelia unauffällig einen Melkschemel in die Kniekehlen geschoben, so dass sie sich setzen konnte und nun mit Bertha auf Augenhöhe war. Er blieb direkt hinter ihr im Dunkeln stehen, sagte aber kein Wort.

Seitdem Adelia von Rosamunds Tod erfahren hatte, war sie überzeugt gewesen, letztendlich zu dem Ergebnis zu gelangen, dass es sich um einen traurigen Unfall gehandelt hatte.

Sie hatte sich geirrt. Je mehr Vertrauen Bertha zu ihr fasste und je besser Adelia sie verstand, desto deutlicher wurde, dass Bertha zu einer wenn auch ahnungslosen Mordkomplizin gemacht worden war.

An jenem verhängnisvollen Tag, so erzählte die Magd, war sie vom Wormhold Tower in den Wald geschickt worden, um Feuerholz zu sammeln, keine Pilze. Sie hatte einen Schlitten hinter sich hergezogen, um ihn mit toten Ästen zu beladen, die sie mit einem Haken von den Bäumen riss.

Sie war die niedrigste von Rosamunds Mägden und hatte schon einen schlimmen Morgen hinter sich gehabt. Dakers hatte sie verprügelt, weil ihr ein Topf runtergefallen war, und ihr gesagt, Lady Rosamund sei ihrer überdrüssig und habe vor, sie zu entlassen, was für Bertha, die allein auf der Welt war, bedeutet hätte, als Bettlerin durchs Land ziehen zu müssen.

»Das ’n Drachen«, wisperte Bertha und schaute nach oben und unten, für den Fall, dass die Haushälterin flügelschlagend hereingeflogen war, um sich auf einem der Deckenbalken im Stall niederzulassen. »Wir habense immer Drachendakers genannt.«

Vor lauter Verzweiflung und aus Angst vor Drachendakers’ Zorn hatte Bertha so viel Brennholz gesammelt, dass sie den Schlitten nicht mehr von der Stelle bewegen konnte, sobald sie das gebündelte Holz auf ihm festgebunden hatte. Daraufhin hatte sie sich einfach auf den Boden gehockt und in ihrem Kummer den Wald angeheult.

»Und dann is die gekommen.«

»Wer ist gekommen?«

»Na, die. Die Alte.«

»Hattest du sie schon mal gesehen?«

»Klar nich.« Bertha betrachtete die Frage als Beleidigung. »Die war nich aus unserer Gegend. War die zweite Köchin von der Königin Eleanor. Von der Königin. Is überall mit der rumgereist.«

»Hat sie dir das erzählt? Dass sie für Königin Eleanor gearbeitet hat?«

»Jawohl, hatse.«

»Und wie sah die alte Frau aus?«

»Wie ’ne Alte eben.«

Adelia atmete tief durch und versuchte es erneut. »Wie alt? Beschreib sie mir. Gutgekleidet? Zerlumpt? Wie war ihr Gesicht? Was für eine Stimme hatte sie?«

Aber Bertha, die weder die Beobachtungsgabe noch das nötige Vokabular besaß, war unfähig, diese Fragen zu beantworten. »Die war hässlich, aber freundlich«, sagte sie. Das war die einzige Beschreibung, die sie liefern konnte, wahrscheinlich weil Freundlichkeit in ihrem Leben so rar war, dass sie sich das gemerkt hatte.

»Wie hat sich denn ihre Freundlichkeit gezeigt?«

»Die hat mir doch die Pilze geschenkt. Das waren Zauberpilze. Hat gesagt, die würden machen, dass Lady Ros mir dann …« Berthas bedauerliche Nase hatte sich vor lauter Anstrengung gekräuselt, als sie nach dem Wort suchte, das die Frau benutzt hatte. »… gewogen wäre.«

»Sie hat gesagt, deine Herrin wäre dann mit dir zufrieden?«

»Jawohl, hatse.«

Es dauerte seine Zeit, aber schließlich konnten Teile des Gesprächs zwischen Bertha und der alten Frau im Wald rekonstruiert werden.

»So mach ich das bei meiner Lady Eleanor«, hatte die Alte gesagt, »ich mach ihr ein gutes Pilzgericht, und dann ist sie mir gewogen.«

Bertha hatte hoffnungsfroh gefragt, ob das auch bei weniger hohen Herrinnen klappte.

»O ja, sogar noch besser.«

»Und wenn deine Herrin dich wegschicken wollte, würd sie’s dann nich mehr tun?«

»Dich wegschicken? Im Gegenteil, sie würde dich besser behandeln.«

Dann hatte die Alte hinzugefügt: »Weißt du, was, Bertha, mein Täubchen? Ich mag dich, und deshalb schenk ich dir meine Pilze, damit du sie deiner Lady zubereiten kannst. Sie mag doch Pilze, oder?«

»Is ganz verrückt danach.«

»Na bitte. Brat sie ihr, und dann wirst du dafür belohnt werden. Aber du musst es jetzt sofort tun.«

Fassungslos fragte sich Adelia, ob Bertha sich diese Geschichte nicht einfach nur ausgedacht hatte, um ihre eigene Schuld zu vertuschen. Dann verwarf sie den Gedanken. Niemand hatte sich je die Mühe gemacht, Bertha irgendwelche Märchen zu erzählen, in denen geheimnisvolle alte Frauen jungen Mädchen ihre Herzenswünsche erfüllten – oder überhaupt irgendwelche Märchen. Außerdem war Bertha ohnehin unfähig, sich irgendwas auszudenken.

Also hatte Bertha an jenem Tag im Wald den Pilzkorb auf den Schlitten mit dem Feuerholz gebunden und alles mit frischer Kraft und voller Hoffnung zurück zum Wormhold Tower gezogen.

Der beinahe menschenleer war. Das war interessant, fand Adelia. Die Haushälterin Dakers hatte sich an diesem Tag nach Oxford begeben, um dort eine neue Köchin zu suchen – Köchinnen, so schien es, hielten es unter Dakers’ hartem Regiment nie lange aus und kündigten unentwegt. Das andere Gesinde hatte ohne Dakers’ Aufsicht eigenmächtig freigenommen und die Schöne Rosamund praktisch allein gelassen.

Also hatte sich Bertha in der leeren Küche an die Arbeit gemacht. Es waren so viele Pilze, dass sie für zwei Mahlzeiten reichten, und Bertha hatte die Hälfte für den kommenden Tag aufbewahrt. Die übrigen hatte sie mit Butter in eine Pfanne getan, eine Prise Salz, ein bisschen Bärlauch und ein wenig Petersilie dazugegeben und sie über dem Feuer im eigenen Saft schmoren lassen. Dann hatte sie den Teller zum Sonnenzimmer hinaufgetragen, wo Rosamund am Tisch saß und einen Brief schrieb.

»Die hat nämlich schreiben gekonnt«, sagte Bertha ehrfürchtig.

»Und sie hat die Pilze gegessen?«

»Verschlungen.« Das Mädchen nickte. »Richtig gierig.«

Der Zauber hatte gewirkt. Lady Rosamund hatte Bertha ein überaus seltenes Lächeln geschenkt, ihr gedankt und gesagt, sie sei ein braves Mädchen.

Später hatten die Krämpfe begonnen …

Selbst jetzt noch, so wurde Adelia klar, erkannte Bertha bei dem alten Weib im Wald keine bösen Absichten. »War Pech«, sagte sie. »Hat die Alte keine Schuld dran. Da is ’n böser Pilz aus Versehen mit in den Korb gerutscht.«

Es war sinnlos, ihr zu widersprechen, aber es war kein Versehen gewesen. Bei den Pilzen, die Bertha verwahrt und die Rowley für Adelia mitgenommen hatte, war die Teufelshaube so zahlreich vertreten wie jede andere Sorte – und war sorgsam daruntergemischt worden.

Bertha jedoch war nicht bereit, jemandem etwas Böses zu unterstellen, der freundlich zu ihr gewesen war. »War nich ihre Schuld, war auch nich meine. War Pech.«

Adelia lehnte sich auf dem Schemel zurück und dachte nach. Also zweifelsfrei ein Mord. Nur Bertha konnte meinen, dass es ein Versehen gewesen war; nur Bertha konnte glauben, dass königliche Köchinnen den Wald durchstreiften und Mägden, denen sie zufällig begegneten, Zauberpilze schenkten. Das Ganze war genauestens geplant gewesen. Die alte Frau, wer auch immer sie war, hatte ein Netz gesponnen, um just an dem Tag, als Rosamunds Drachen Dakers ihrer Herrin einmal von der Seite gewichen war, eine ganz spezielle Fliege zu fangen, nämlich Bertha.

Was bewies, dass die Alte wusste, was in Rosamunds Haushalt vor sich ging, oder von jemandem Anweisungen bekommen hatte, der das wusste.

Rowley hat recht, dachte Adelia, jemand wollte, dass Rosamund stirbt und die Königin belastet wird. Wenn Eleanor den Befehl dazu gegeben hätte, wäre sie wohl kaum auf die Idee gekommen, eine alte Frau auszusuchen, die ihren Namen erwähnen würde. Nein, es war nicht Eleanor gewesen. Der Täter musste die Königin sogar noch mehr hassen als Rosamund. Oder vielleicht wollte er auch nur ihren Gatten gegen sie aufbringen und England auf diese Weise in den Krieg stürzen. Was ihm gelingen konnte.

Es war still geworden im Stall. Berthas Gebrabbel, dass es nicht ihre Schuld gewesen war, hatte aufgehört, und die einzigen Geräusche machten die Kühe beim Kauen und Herauszupfen des Heus aus den Trögen.

»Im Namen Gottes«, sagte Adelia verzweifelt zu Bertha, »ist dir denn sonst gar nichts an der alten Frau aufgefallen?«

Bertha dachte nach und schüttelte den Kopf. Dann blickte sie erstaunt. »Hat gut gerochen«, sagte sie.

»Sie hat gut gerochen? Was heißt gut?«

»Eben gut.« Das Mädchen kroch jetzt nach vorne und schnupperte wie eine Spitzmaus. »Wie Ihr.«

»Sie hat gerochen wie ich?«

Bertha nickte.

Seife. Gute parfümierte Seife, Adelias einziger Luxus, den sie sich erst vor zwei Stunden gegönnt hatte, als sie sich gründlich vom Schmutz der Reise gereinigt hatte. Einmal im Jahr ließ sie sich von ihrer Ziehmutter aus Rom eine Lieferung Seife zusenden, die aus Lauge, Olivenöl und Blütenessenzen hergestellt wurde. In einem ihrer Briefe hatte Adelia sich über die englische Seife beklagt, die hauptsächlich aus Rindertalg bestand, weshalb ihre Benutzer rochen, als sollten sie gleich in die Backröhre geschoben werden.

»Hat sie nach Blumen gerochen?«, fragte sie. »Rosen? Lavendel? Kamille?« Und wusste sogleich, dass es sinnlos war. Selbst wenn Bertha diese Pflanzen kannte, sie würde sie doch nur mit ihren einheimischen Namen benennen können, die wiederum Adelia unbekannt waren.

Aber es war immerhin ein Fortschritt. Keine normale alte Frau, die im Wald Pilze sammelte, würde, selbst wenn sie tatsächlich Seife benutzte, nach parfümierter Seife duften.

Adelia erhob sich und sagte: »Wenn du ihren Duft noch einmal an jemand anderem riechst, sagst du mir dann Bescheid?«

Bertha nickte. Ihre Augen blickten starr auf das Kreuz an Adelias Hals, als gäbe es ihr Hoffnung, obwohl sie nicht wusste, was es bedeutete.

Und welche Hoffnung bleibt dem armen Ding denn noch?

Mit einem Seufzer löste Adelia die Kette um ihren Hals, schob sie zusammen mit dem Kreuz in Berthas verdreckte kleine Hand und schloss deren Finger darum. »Behalt das, bis ich dir ein eigenes kaufen kann«, sagte sie.

Es fiel ihr schwer, das zu tun, aber nicht wegen des Symbolgehalts des Kreuzes – Adelia hatte zu viele Religionen kennengelernt, um ihren ganzen Glauben auf eine einzige zu beschränken –, sondern weil sie es von Margaret bekommen hatte, ihrer alten Kinderfrau und einer wahren Christin, die auf der Reise nach England gestorben war.

Aber ich habe Liebe erfahren. Ich habe mein Kind, meinen Beruf, meine Freunde.

Bertha, die nichts dergleichen besaß, umklammerte das Kreuz, quietschte vor Freude auf und verschwand damit im Stroh.

Als sie durch die Nacht zurückgingen, fragte Jacques: »Glaubt Ihr wirklich, dass dieses kleine Schweinchen für Euch die Trüffel wittern kann, Mistress?«

»Nicht sehr wahrscheinlich«, räumte Adelia ein, »aber Berthas Nase ist vielleicht die beste Spur, die wir haben. Sollte sie den Duft der Alten noch einmal riechen, dann bei jemandem, der fremdländische Seife kauft und uns sagen kann, bei welchem Händler, und der kann uns dann eine Liste seiner Kunden geben.«

»Schlau.« Der Bote klang bewundernd.

Nach einer Weile sagte er: »Glaubt Ihr, die Königin steckt dahinter?«

»Jemand will, dass wir das glauben.«