XIII.
Gegenwart
Sollten sie sich die ganze Zeit auf ein falsches Täterprofil konzentriert haben? Hatten sie dadurch dem wahren Mörder oder vielmehr der Mörderin unter Umständen einen Vorsprung verschafft, den sie vielleicht nie mehr würden aufholen können? Olivers letzter Satz hing wie eine dicke Rauchwolke in der Luft und egal wie sehr man den Kopf zur Seite drehte, man musste den Rauch einatmen und die Worte, die im Raum standen, inhalieren.
»Sie sagen also, es könnte sich bei den beiden Morden um ein und denselben Täter handeln und wir könnten es in diesem Fall mit einer Frau zu tun haben?« Steuermark wiederholte Olivers Worte ungläubig.
»Aber das kann nicht sein. Ich kann ja nachvollziehen, dass das Opium im Blut beider Opfer den Schluss auf einen einzigen Täter zulässt, aber dass es sich um eine Frau handeln soll?« Klaus schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Ich sage ja nicht, dass es eine Frau sein muss. Aber wir können im Moment nicht ausschließen, dass es so sein könnte. Immerhin haben wir eine weibliche Stimme, die uns zur zweiten Leiche geführt hat. Und der Mörder von Torsten Schniewald hat vermutlich eine Hebevorrichtung benutzt, um den Toten von der Badewanne ins Schlafzimmer zu transportieren. Der nötige Kraftaufwand hätte auch von einer Frau aufgebracht werden können. Ich möchte nur verhindern, dass wir eine mögliche Spur außer Acht lassen.« Oliver war sich der Tatsache bewusst, dass er durchaus falsch liegen konnte. Aber wenn man die Fakten objektiv auf den Tisch legte, musste man zwangsläufig zu diesem Schluss kommen und die Suche auf mögliche weibliche Täter ausdehnen.
»Ich muss Ihnen recht geben, Bergmann.« Steuermark unterbrach Klaus Gruber, der gerade neue Zweifel an Olivers These aufwerfen wollte. »Es will zwar nicht so wirklich in meinen Kopf, aber wir können es nicht ausschließen und sollten aus diesem Grund das Täterprofil anpassen.«
Steuermark warf demonstrativ einen Blick auf die Uhr. »So meine Herren, die nächste Pressekonferenz wartet. Noch immer haben wir keine vorzeigbaren Ergebnisse. Ich kann die Meute heute sicherlich noch ein letztes Mal vertrösten, aber ich brauche langsam handfeste Ergebnisse. Finden Sie heraus, was es mit diesem Wassertank auf sich hat, suchen Sie das Geld, das angeblich aus Schniewalds Safe verschwunden ist und ...«, er schnappte sein Jackett und lief Richtung Bürotür, »observieren Sie diese Frau.« Er blieb kurz stehen und überlegte. »Wie war ihr Name gleich noch einmal?«
»Saskia Heinermann«, ergänzte Oliver, kurz bevor Steuermark aus dem Türrahmen verschwand und die Tür mit lautem Knall zuflog.
...
»Nun nimm es schon. Es gehört dir!« Pascals Stimme schnurrte wie die eines Kätzchens. Er hatte ein ganzes Bündel mit Hunderteuroscheinen in der Hand und hielt dieses so vor Saskia hin, als handelte es sich dabei um das Leckerli für einen Schoßhund. Saskia zögerte. Wo um alles in der Welt hat er plötzlich so viel Geld her?, schoss es ihr jetzt schon zum fünften Mal durch den Kopf. Sie hatte keine Erklärung.
»Wie viel hast du für deine Reportage von Emily bekommen?«, fragte sie zweifelnd.
»Das weißt du doch, Schwesterherz. Es waren nur zweihundert Euro Vorschuss. Ich habe einen anderen Weg gefunden und vor allem wollte ich dir nicht mehr zumuten, unseren Vater um Hilfe zu bitten.« Er beugte sich zu Saskia vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Also bitte, Schwesterherz. Jetzt nimm das Geld. Ich weiß, dass du es gut gebrauchen kannst. Außerdem ist es sowieso nur eine Rückzahlung.«
Saskia zweifelte. Er hatte recht, sie brauchte im Moment jeden Cent. Seit sie ihren Job in der Buchhaltung der kleinen Spedition verloren hatte, war es wirklich knapp. Das Geld für die Teilnahme an der medizinischen Studie von Dr. Neuenhaus würde sie erst nach deren Abschluss bekommen. Und das konnte noch dauern. Trotzdem traute sie Pascal nicht über den Weg.
»Sag mir erst, woher du das Geld hast.« Mit fester Stimme bestand Saskia auf einer Erklärung.
Pascal seufzte. »Was habe ich nur verbrochen, dass du so streng zu mir bist?« Er strich Saskia zärtlich über die Wange.
»Ich hatte noch Ersparnisse übrig. Sozusagen den allerletzten Notgroschen für Katastrophenfälle. Und jetzt, wo ich den Job bei deiner Freundin Emily ergattert habe und sie eine längerfristige Zusammenarbeit mit mir plant, habe ich mich dazu entschlossen, dir dein Geld zurückzugeben.« Er blickte sie treuherzig an. »Schließlich sitze ich jetzt nicht mehr auf dem Trockenen und da wäre es doch nicht fair, dich in deiner Situation leiden zu lassen.«
Saskia brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, was Pascal da eben gesagt hatte. Wütend fauchte sie: »Soll das etwa heißen, du sitzt die ganze Zeit auf diesem Haufen Geld herum?«
Pascals Gesicht lief rot an, er hielt den Blick gesenkt und schwieg.
»Antworte mir gefälligst.« Saskia spürte, wie die Wut in ihr hochkochte und sie langsam außer Kontrolle geriet. Monatelang hatte er sie mit seinen verdammten Geldsorgen genervt. Sie immer wieder auf Emily und ihren Vater angesprochen und erst jetzt rückte er mit der Wahrheit heraus und wollte ihr weismachen, dass die ganzen Sorgen nur vorgetäuscht waren? Sie glaubte ihm kein Wort. Vor ihr lag die stattliche Summe von knapp zwanzigtausend Euro. Pascal studierte immer noch Medizin. Schon die Hälfte des Geldes hätte ausgereicht, um ihn ein ganzes Jahr lang zu ernähren.
Pascal zuckte mit den Schultern. »Also gut, ich hatte eine Glückssträhne und habe gewonnen. Ist dir diese Antwort lieber?«
Saskia zuckte bei dem Unterton seiner Stimme, in der fast so etwas wie Hass mitschwang, unwillkürlich zusammen. Irritiert sah sie ihn an und erwiderte nichts. Ein unheilvolles Schweigen breitete sich aus. Schließlich stand Saskia auf und warf Pascal das Bündel mit den Geldscheinen in den Schoß.
»Ich will es nicht. Leg es als Notgroschen zurück oder tu sonst was damit. Mit erspieltem Geld will ich nichts zu tun haben.« Sie ging zur Wohnungstür und öffnete sie demonstrativ. Pascal war blass geworden und hatte ein zerknirschtes Gesicht aufgesetzt.
»Du kannst es dir jederzeit anders überlegen«, hauchte er ihr im Türrahmen zu und verschwand.
...
Mit einem gewaltigen Klacken schloss sich der schwere Deckel des Floating-Tanks. Der Behälter war ungefähr eineinhalb Meter hoch und zwei Meter lang, von weißem Plastik umhüllt und sah aus wie ein misslungenes Ufo, das versehentlich nicht plattgedrückt worden war. Die Halogenstrahler, die in regelmäßigen Abständen auf der Hülle angebracht waren, verstärkten diesen Eindruck.
»Und Sie glauben, dass das funktioniert?«, fragte Dr. Neuenhaus skeptisch. Sein Magen hatte sich bei der Vorstellung, in diesen Tank eingeschlossen zu sein, zusammengezogen. Er litt zwar nicht unter Klaustrophobie, hatte aber Anflüge davon. Ein ungewohntes Gefühl kroch bei diesen Gedanken kalt in ihm hoch. Er horchte in sich hinein und stellte erstaunt fest, dass es ein Hauch von Angst sein musste.
Markus Schweigstein stand mit dem Laboranten ein paar Schritte hinter Neuenhaus und diskutierte eifrig die neue Methode.
»Aber sicher doch. Sie können es selbst ausprobieren.«
Dr. Neuenhaus schüttelte entsetzt den Kopf. »Nein, danke.«
»Es funktioniert im Grunde genommen wie ein Verstärker. Der amerikanische Neurologe Dr. John C. Lilly hat diesen Tank in den Fünfzigerjahren entwickelt, um störende Umwelteinflüsse auszublenden. Er hat in diesen Isolationstanks etliche Selbstversuche mit LSD und anderen Drogen durchgeführt, um die verschiedenen menschlichen Bewusstseinsebenen zu erforschen.«
Schweigstein machte eine kurze Pause und korrigierte etwas auf dem Zettel, den der Laborant ihm schweigend hingehalten hatte. Dann fuhr er fort: »Heute werden diese Tanks sogar in Wellness-Hotels eingesetzt. Das konzentrierte Salzwasser lässt den menschlichen Körper an der Oberfläche treiben und vermittelt ein Gefühl von Schwerelosigkeit. Der Stress fällt von einem ab wie die Blätter von den Bäumen im Herbst.«
Er hielt inne und trat näher an Dr. Neuenhaus heran.
»Sie sehen mitgenommen aus. Wollen Sie wirklich nicht ein paar Minuten entspannen? Das Wasser ist frisch.« Schweigstein zwinkerte Neuenhaus aufmunternd zu.
»Nein, danke. Das sagte ich doch schon.« Neuenhaus lief zu einem kleinen, weißen Waschbecken an der Wand und sah in den Spiegel. Schweigstein hatte recht. Er sah vollkommen erschöpft aus. Seine Haut wirkte aschfahl, die Haare waren stumpf und selbst seine Brille konnte die dunklen Augenränder nicht kaschieren.
»Jetzt erklären Sie mir doch bitte noch einmal die Wirkungsweise. Mein Sponsor sitzt mir wahrhaftig im Nacken und wir beide wollen doch, dass die Studie erfolgreich wird.« Neuenhaus drehte sich wieder um und blickte den Hypnotiseur erwartungsvoll an.
»Also gut. Lassen Sie mich das kurz erklären.« Schweigstein kletterte hinter den Tank und öffnete den schweren Deckel. Dann griff er hinein und zog ein Paar rote Kopfhörer heraus.
»Diese Kopfhörer sind wasserdicht und werden während der kompletten Hypnosesitzung von den Probanden getragen. Die ganze Sitzung findet in diesem Floating-Tank statt. Das Wasser und die Isolation von sämtlichen Umwelteinflüssen verstärkt die Hypnosewirkung um ein Vielfaches.«
Schweigstein deutete auf seinen Monitor und fuhr fort: »Wir führen unsere Stressmessungen wie gewohnt durch. Hautleitfähigkeit, Blutdruck, Herzfrequenz, Bluttemperatur. Da wir wissen, dass sich die Hypnosewirkung im Floating-Tank verstärkt, können wir genau ermitteln, um wie viel Prozent wir den Wirkstoffgehalt unseres Medikamentes erhöhen müssen, um den gleichen Entspannungszustand auch ohne Floating-Tank und Hypnose zu erreichen. Wir können die Länge der Hypnose variieren und sind somit in der Lage, die Dosierung exakt auf den gewünschten Grad der Entspannung anzupassen.« Er verstummte und warf die Kopfhörer zurück in den Tank.
Das laute Knacken, welches das Schließen des Deckels verkündete, ließ Dr. Neuenhaus erneut einen Schauer über den Rücken laufen. Trotzdem fühlte er sich nach Schweigsteins Ausführungen wesentlich entspannter als noch vor ein paar Minuten. Das Verfahren hörte sich vielversprechend an. Er blickte auf die Uhr. Die erste Probandin musste jeden Augenblick hier sein.
»In fünf Minuten können wir mit unserem Experiment beginnen.«
...
Saskia war auf dem Weg zu ihrer Hypnosestunde. Wie an jedem Tag in dieser Woche lief sie auf dem kurzen Fußweg zu ihrem Auto an dem kleinen Kiosk an der Ecke vorbei und kaufte die aktuelle Tageszeitung. Der Inhaber, ein älterer Herr mit fahlem Gesicht und eingefallenen unrasierten Wangen, grüßte sie freundlich. Als er ihr das Wechselgeld zurückgab, fielen Saskia die dicken schwarzen Ränder unter seinen Fingernägeln auf. Unwillkürlich zuckte sie zurück und wischte sich anschließend unauffällig die Hände am Hosenbund ab. Wie viel mochte der alte Mann mit seinem Kiosk im Monat wohl verdienen?, schoss es ihr durch den Kopf. Besonders viel konnte es nicht sein, wenn man sich den Zustand des Kiosks genauer betrachtete. Aber es war sicherlich mehr, als Saskia im Moment in der Tasche hatte.
Ihr kleiner Sohn war heute Morgen erneut mit Bauchkrämpfen aufgewacht. Saskia hatte Nils dreißig Minuten lang ein in der Mikrowelle aufgeheiztes Körnerkissen auf den Bauch gelegt, danach war es besser geworden. Sie blickte auf die Uhr. Es war spät und sie musste sich beeilen, wenn sie pünktlich zu Dr. Neuenhaus kommen wollte.
Wie im Autopilot-Modus fuhr sie den Schlenker zum Kindergarten und gab Nils bei der ersten Erzieherin ab, die ihr über den Weg lief. Zurück im Auto, fiel ihr Blick auf den Beifahrersitz, auf dem die noch ungelesene Tageszeitung lag. Bisher hatte Saskia jeden Tag nach dem tödlichen Verkehrsunfall gesucht. Jedes Mal, wenn sie keine Nachricht gefunden hatte, atmete sie erleichtert auf. Zwar hatte eine Nachbarin ihr eine plausible Erklärung für den schrecklichen Vorfall auf der Deichstraße geliefert, der mit einem Leichenwagen, begleitet von Blaulichtern der Polizei, geendet hatte. Doch Saskia wurde noch immer von den schrecklichen Bildern in ihrem Kopf verfolgt. Sie konnte den Mann mit dem zertrümmerten Kopf einfach nicht ausblenden. Wenn sie der Nachbarin Glauben schenkte, hatte ein alter Mann, ein paar Häuser weiter die Straße hinauf, einen Herzinfarkt erlitten. Er war erst einen Tag später von seiner Tochter gefunden worden und jede Hilfe kam zu spät.
Auf der einen Seite war Saskia heilfroh, dass es offenbar keinen Verkehrsunfall gegeben hatte, andererseits zweifelte sie an ihrem Verstand. Die Erinnerung an den Unfall, die sie verfolgte, war so realistisch, dass es kaum einen Zweifel an ihrer Wahrhaftigkeit geben konnte. Tief in ihrem Innersten spürte sie auch, dass sie es war, die den Mann vor das Auto gestoßen hatte.
Leichte Nervosität machte sich in ihr breit, als sie die Tageszeitung aufschlug. Sie überflog die aktuellen Meldungen. Das Auto des Bürgermeisters war direkt vor seinem Haus angezündet worden. Die Feuerwehr hatte gute Arbeit geleistet und den Brand so eingedämmt, dass er nicht auf die Nachbarautos übergegriffen hatte. Eine andere Meldung beschrieb die Folgen des Orkans »Ela«, der am Pfingstmontag die ganze Region übel zugerichtet hatte, und dann, ganz am Ende der dritten Seite prangte eine Schlagzeile, die Saskia das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Übel zugerichteter Leichnam mit zertrümmertem Kopf in alter Industriehalle gefunden.«
Der Artikel war kurz und wenig aussagekräftig. Ein unbekannter männlicher Toter war von einem ebenso unbekannten Täter brutal verstümmelt worden. Es war keine Rede von einem Verkehrsunfall. Weder ein Auto noch eine Kutsche mit Pferden wurde erwähnt. Saskias Hände zitterten, als sie umblätterte, um zu kontrollieren, ob der Artikel auf der nächsten Seite fortgeführt wurde. Nichts. Nur diese drei Zeilen. Obwohl es nichts zu bedeuten haben musste, überzog plötzlich eine Gänsehaut ihren Körper. Sie schauderte. Saskia überflog die Zeilen ein weiteres Mal und fragte sich fieberhaft, ob dieser Tote etwas mit ihren Erinnerungen zu tun haben konnte. Es gab nur eine einzige Gemeinsamkeit zwischen dem beschriebenen Verbrechen und den Bildern in Saskias Kopf. Den zertrümmerten Schädel. Wieder sah sie die riesigen schwarzen Pferdehufe vor sich, die den Kopf des Mannes in vollem Galopp trafen und sein Gesicht zu einer breiigen Masse zertrampelten. Angst kroch an Saskia hoch und ihre Nackenhaare richteten sich auf.
Hektisch drehte sie den Autoschlüssel und trat aufs Gas. Sie musste hier weg. Weg von diesem Parkplatz, der viel zu belebt war. Sie floh vor den Augen der Zonser, von denen sie sich dabei beobachtet fühlte, wie sie mit hochrotem Kopf auf die Hauptstraße einbog. Ihre Fahrt führte sie unmittelbar an den Rheinauen entlang. Zwischen zwei großen Kornfeldern hielt sie an. Sie trat so heftig auf die Bremse, dass ihr Kopf nach vorne geschleudert und das kleine Frühstück, dass sie im Magen hatte, mit einem bitteren Geschmack in die Mundhöhle katapultiert wurde. Hoch oben am Himmel kreisten Raubvögel. Sie zogen majestätisch ihre Kreise auf der Suche nach Beute. Saskia kurbelte das Seitenfenster herunter und lehnte den Kopf aus dem Wagen. Mit den Augen fixierte sie die Greifvögel. Es waren große Tiere mit einer Flügelspannweite von über einem Meter. Das Ende der Schwingen erinnerte sie an lange Finger. Einer der Habichte schoss plötzlich vom Himmel hinunter. Pfeilgleich tauchte er in das Kornfeld ein. Wie ein kalter Hauch wehte das Kreischen des Beutetieres zu Saskia hinüber. In dem Schrei lag das ganze Entsetzen über den vom Himmel gefallenen Tod.
Saskias Angst steigerte sich ins Unermessliche. Trotz der eisigen Kälte, die sich in ihrem Innersten ausbreitete, tropften Schweißperlen von ihrer Stirn auf den Unterarm. Mit einer fahrigen Bewegung wischte sie die Tropfen weg und schloss die Augen. Sofort waren die Bilder wieder da und entsetzt riss sie die Lider weit auf. Statt des blauen Frühlingshimmels mit den kreisenden Habichten sah sie die Bilder der Vergangenheit vor sich. Sie fühlte und sah, wie der Stadtrat Torsten Schniewald zwischen ihren Schenkeln ertrank. Sie presste mit aller Macht sein Gesicht unter Wasser. Die Luft ging ihm aus und als er starb, war sein Gesicht zu einer angstverzerrten Maske erstarrt. Wie in einem Hollywoodfilm wurde sogleich die nächste Szene eingeblendet. Autos hupten, Reifen quietschten und Saskia stieß den Mann, der ihr im Weg stand und sie vom rettenden Bürgersteig trennte, mit aller Kraft auf die Straße. Eine Stimme schrie in ihrem Inneren auf. Es war die Stimme der Schuld, die sie auf sich geladen hatte, um sich selbst zu retten. Ihr Bewusstsein wollte diese Stimme nicht zulassen. Es hatte doch gar keinen Verkehrsunfall gegeben. Sie hatte nur geträumt. Es war einzig und allein der Stress, der ihrem Verstand einen Streich spielte und sie glauben machte, eine Mörderin zu sein. »Bist du dir da sicher?«, rief die Stimme der Schuld und spulte erneut die grausamen Bilder ab. Saskias Schläfen pochten heiß. Grelle Blitze zuckten durch ihr Blickfeld und stachen wie Nadeln in ihr Hirn. Ihre Sinne explodierten und sie wusste nicht mehr, was sie sah oder auch nicht sah. Sie konnte nicht mehr denken. Nur ein einziges Gefühl dominierte ihren verwirrten Geist. Angst. Dann wurde es dunkel. Auf den Flügeln der Angst schwebte sie ohnmächtig davon. Hinauf in einen schwarzen Himmel, an dem es keine Sonne mehr gab.
...
Schwerelosigkeit. Nichts. Kein Licht, keine Kälte oder Wärme. Nichts, was die Unendlichkeit stören konnte. War sie tot?
Ein rhythmisches Klacken durchbrach die Stille und löste eine wellenartige Bewegung aus, die ihren Körper sanft hin- und herwiegte. Plötzlich durchdrang ein Lichtschimmer die dunkle Schwerelosigkeit. Saskia öffnete ängstlich die Augen.
»Geht es Ihnen gut?« Dr. Neuenhaus‘ Stimme klang sanft. Sein Gesicht schwebte unmittelbar über ihrem. Ein Hauch seines Aftershaves wehte zu ihr hinunter und drang wie belebender Sauerstoff in ihre Nase ein. Er reichte ihr die Hand, doch sie wusste im ersten Moment nichts damit anzufangen. Die Angst umklammerte sie immer noch wie eine Spinne und ließ nur allmählich von ihr ab. Saskia blickte nach oben. Sie befand sich in einem geschlossenen, weiß gefliesten Raum. Der blaue Frühlingshimmel mit den kreisenden Habichten hatte sich aufgelöst.
»Wie bin ich hierhergekommen?«, fragte sie atemlos. Ihr Hals war ausgetrocknet und ihre Stimme klang so rau, als hätte sie ein Reibeisen verschluckt.
Dr. Neuenhaus hob verwundert die linke Augenbraue in die Höhe. »Können Sie sich denn nicht erinnern?«
Saskias Kehle zog sich bei seiner Frage zusammen und plötzlich musste die ganze Angst und der Druck, der sich in ihr aufgebaut hatte, hinaus. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie schluchzte heftig und ihr Körper begann zu zittern.
»Schon gut. Jetzt kommen Sie erst einmal heraus.« Dr. Neuenhaus half ihr auf. Erst jetzt bemerkte Saskia, dass sie sich in einem Floating-Tank befand. Sie war bis auf den Bikini nackt. Ihr fehlte jede Erinnerung daran, wie sie hierher gekommen war. Sie blickte sich in dem relativ kleinen Raum um. An einem Tisch saß Markus Schweigstein, der Hypnotiseur. Vor ihm lagen ein Mikrophon und ein Paar Kopfhörer. Automatisch fuhr ihre Hand zum Ohr und erstaunt stellte sie fest, dass sie die gleichen Kopfhörer trug. Schweigstein kritzelte etwas auf ein Formular, das vor ihm lag. Seine Miene wirkte konzentriert und er richtete die Augen starr auf das Papier, so als wäre Saskia gar nicht anwesend. Dr. Neuenhaus legte ihr ein großes Handtuch um die Schultern. Einen Moment lang drückte er sie dabei an sich. Länger als notwendig, dachte Saskia. Sie hob den Kopf und sah ihn an. Er lächelte und die Wärme, die er ausstrahlte, sprang auf sie über und beruhigte sie ein wenig.
»Ich denke, sie hatten eine Art Albtraum unter der Hypnose.« Schweigstein hatte unerwartet seine Arbeit unterbrochen und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Saskia.
»Ich musste die Hypnose abbrechen. Wahrscheinlich habe ich ein falsches Schlüsselwort verwendet und Ihnen so einen schlechten Traum beschert. Können Sie sich an irgendetwas erinnern?«
Saskia starrte Schweigstein an und reagierte nicht.
»Das tut mir wirklich leid. Es ist eine neue Phase in unserer Studie. Frau Heinermann, ich versprechen Ihnen, das kommt nicht wieder vor.« Dr. Neuenhaus strich über ihre Unterarme. Sein Gesicht wirkte zerknirscht.
Saskia schwieg noch immer. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass sie von Greifvögeln unter einem blauen Frühlingshimmel geträumt hatte und zudem völlig in Angst aufgelöst war, weil sie zwei Männer hatte sterben sehen?
»Es war wahrscheinlich einfach zu hektisch.« Neuenhaus stieß ein nervöses Lachen aus. »Sie waren zu spät und abgehetzt. Ihr Stresslevel war einfach wahnsinnig hoch. Wir sollten die Stunde das nächste Mal verschieben, falls Ihr Sohn wieder Bauchkrämpfe hat.«
Erstaunt registrierte Saskia, dass Neuenhaus über Nils‘ Krämpfe Bescheid wusste. Sie hatte einen vollständigen Filmriss. Für sie war die Zeit in dem Moment stehengeblieben, als sie mit dem Auto zwischen den Feldern an den Rheinauen angehalten hatte. Plötzlich kroch erneut die Angst in ihr hoch. Ob die beiden Ärzte sehen konnten, was sie gesehen hatte? Wussten sie von den Morden? Hatte Saskia unter dem Einfluss der Hypnose geredet? Dinge erzählt, die jetzt auf dem Rekorder abgespeichert waren, der während der Behandlung die ganze Zeit mitlief und jedes ihrer Worte aufzeichnete? Sie holte tief Luft und starrte in die Gesichter der beiden Männer, die immer noch auf ihre Reaktion warteten. Was würde Dr. Neuenhaus nur von ihr denken, wenn er wüsste, dass sie vielleicht für den Tod zweier Menschen verantwortlich war? Würde er sie dann immer noch mit diesem warmen Lächeln bedenken, das ihr Herz jedes Mal höher schlagen ließ? Sie musste sich endlich zusammennehmen. Saskia reckte den Oberkörper und ließ noch einmal tief Luft in die Lungen einströmen.
Schließlich antwortete sie mit vibrierender Stimme. »Danke. Es ist alles in Ordnung. Ich denke, es lag an diesem Ding.« Mit dem Finger deutete sie auf den weißen Tank, der hinter ihr stand. Der immer noch geöffnete Deckel erinnerte sie an ein Monstrum mit weit aufgerissenem Maul. Schnell schüttelte sie diesen Gedanken ab und lief an den beiden verdutzten Ärzten vorbei in die Umkleidekabine.
...
Auf dem Weg nach Hause fiel Saskias Blick erneut auf die Tageszeitung, die immer noch auf dem Beifahrersitz lag. Diesmal war sie an den Ecken zerknüllt. Der kurze Artikel über den Mann mit dem zertrümmerten Kopf lag oben auf. Automatisch lenkte Saskia den Wagen auf die Landstraße B9. Ihr Unterbewusstsein lotste sie durch das Industriegebiet, in dem die Leiche gefunden worden war. Vor einer der verlassenen Hallen drosselte sie das Tempo. Ein langes Absperrband verriet ihr, dass sie am richtigen Ort war. Die Halle kam ihr merkwürdig bekannt vor. Sie wusste nur nicht mehr, woher.
Saskia stoppte den Wagen und stieg aus. Das Gebäude wirkte menschenleer. Einzig das im Wind wirbelnde Absperrband täuschte Leben vor. Vorsichtig beobachtete sie den Eingang. Saskia hatte vermutet, dass Polizisten das Gelände bewachten, doch bis auf ein dickes Siegel am Hallentor konnte sie keinerlei Zeichen polizeilicher Anwesenheit bemerken. Mit unsicheren Schritten näherte sie sich dem baufälligen Gebäude, auf dem sich ein einfaches Wellblechdach befand. Obwohl die Sonne schien, wirkte der Ort düster und strömte eine Traurigkeit aus, die Saskia das Herz schwer werden ließ. War sie schon einmal hier gewesen? Sie griff sich an die Schläfen, die kühl unter ihren Fingerkuppen pochten. Ihr Kopf war ruhig und die schrecklichen Bilder, die sie so oft heimsuchten, blieben verschwunden. Bewusst versuchte sie, die grausamen Visionen aus ihrem Unterbewusstsein hervorzulocken. Sie schloss die Augen und dachte an die riesigen Pferdehufe, die den Schädel des Mannes zertrümmert hatten. Nichts.
Saskia ging noch ein wenig näher an die Halle heran. Das Gebäude blickte sie düster an. Stumm warnte es sie, auch nur einen weiteren Schritt näherzukommen, doch die Eingangstür zog Saskia an wie ein Magnet. Sie wollte wissen, ob sie etwas mit dem Mord zu tun hatte. Unmittelbar vor der Tür, hielt sie inne. Sollte sie das polizeiliche Siegel wirklich aufbrechen und in die Halle eindringen? Mit einem Mal schnürte sich ihre Kehle zusammen. Was, wenn sich herausstellte, dass sie wirklich mit dem Mord zu tun hatte? Saskia zögerte. Dann drehte sie sich um und lief so schnell sie die Füße trugen zurück zu ihrem Wagen.
...
Oliver Bergman war wütend. Er hatte den Bericht über den toten Mann mit dem zertrümmerten Kopf in der Tageszeitung entdeckt und fragte sich, wo die undichte Stelle im Polizeirevier war. So lief das immer, wenn zu viele Abteilungen involviert waren. Man konnte noch so oft darauf hinweisen, dass die Informationen vertraulich zu behandeln waren. Irgendjemand achtete nicht auf diese Ansage oder wollte sich wichtig tun - schon war es passiert. Es war einfach unverantwortlich, das Dienstgeheimnis derart zu verletzen. Gereizt warf er die Tageszeitung in die Ecke. Gerade als er aufstehen und die Zeitung wieder aufheben wollte, stürmte Klaus mit hochrotem Kopf und dem Handy am Ohr ins Büro.
»Ich habe unglaubliche Neuigkeiten. Der Observierungstrupp hat Saskia Heinermann vor der Industriehalle gesichtet, in der wir die Leiche von Peter Groehn entdeckt haben.«
Oliver zuckte ungläubig zusammen.
»Was?«
»Ja, Sportsfreund. Du hast richtig gehört. Diese Frau verbirgt etwas vor uns. Wir sollten sie uns auf der Stelle schnappen.«