I.

Vor fünfhundert Jahren

 

 

Die Flügel der Mühle surrten im Wind. Viele Monate war es jetzt her, dass Bastian Marie vor dem Puzzlemörder aus dem Verlies gerettet hatte. Nun saß er auf einer sonnigen Wiese und kaute zufrieden auf einem Grashalm. Zwar wurde der Puzzlemörder von Zons nie gefunden, aber seine Mordserie hatte Bastian trotzdem durchkreuzt. Gemütlich lehnte er sich zurück gegen einen Baumstamm und blinzelte in die strahlende Sonne, als ein lautes Dröhnen in der Nähe ertönte. In seiner wohligen Ruhe gestört, richtete Bastian sich widerwillig auf und schaute in die Richtung, aus der er das Geräusch vernommen hatte. Mit einem Ruck fuhr er hoch. Er konnte nicht glauben, was er dort sah!

 

 

 

 

Bastian blickte zur Stadtmauer von Zons und erstarrte bei dem Anblick, der sich ihm bot. Einer der Wehrtürme an der Südseite war fast völlig in sich zusammengebrochen. Große Steinquader rollten krachend den Abhang in die Rheinauen hinunter. Steine und Staub rieselten an den Rändern der Bruchkante hinunter. Ein leises Zittern breitete sich kriechend vom Fuße des Wehrturms durch den Erdboden aus. Es wurde immer stärker und die Erde begann zu vibrieren. Ein ächzendes Donnern brandete heran und der Boden unter Bastians Füßen hob und senkte sich rhythmisch. Er spürte, wie die Vibration der Erde seinen Körper erfasste, und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, um nicht zu stürzen. Das Grollen unter der Erde wurde immer lauter.

Plötzlich gab die Spannung der Erdoberfläche ruckartig nach. Der Boden direkt vor Bastians Füßen senkte sich ab. Taumelnd hielt er sich gerade noch auf den Beinen. Staub wirbelte auf und für einen Moment verdunkelte sich die Sonne.

Dann trat Stille ein.

Bastians Herz raste. Was um Himmels Willen ging hier vor sich? Er blinzelte. Seine Augen und sein Mund waren trocken vom Staub, der immer noch in der Luft wirbelte und so dicht war, dass er weder etwas sehen noch richtig atmen konnte. Bastians Lungen krampften sich zusammen, und mit einem Husten, der fast seinen Brustkorb zerriss, spien seine Lungen den eingedrungenen Staub wieder aus. Seine Kehle fühlte sich so rau an, als hätte er ein Reibeisen verschluckt. Er fiel auf die Knie, stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab und versuchte, sich zu beruhigen. Er spuckte den Schmutz aus und wischte sich über sein Gesicht. Seine Augen tränten und brannten. Er wollte seinen Blick scharf stellen, doch die Welt um ihn herum war verschwommen und von einem milchigen Schleier verhangen. Auf der Hornhaut seiner Augen befanden sich Unmengen an feinen Staubkörnchen, die seine Schleimhäute reizten und einen stetigen Fluss an Tränen produzierten.

Als Bastian wieder ein wenig von seiner Umgebung erkennen konnte, sah er eine lange, gerade Rinne vor seinen Füßen. Der flache Graben schien nicht breiter als ein halber Meter und zog sich wie ein Trampelpfad dahin. An den Rändern rieselte Sand hinunter. Der Staubnebel begann sich langsam aufzulösen. Bastians Atem beruhigte sich ein wenig und fassungslos starrte er auf den Graben.

War das gerade ein Erdbeben? Die Gedanken rasten durch Bastians Gehirn. Wie sonst hätte sich die Erde vor seinen Augen absenken können? Doch das letzte Erdbeben hatte sich ganz anders angefühlt. Vorsichtig stand Bastian auf. Er blickte sich um. Die Sonne schien, als wäre nichts geschehen, und auch die Vögel in dem Baum über ihm zwitscherten wieder. Insekten surrten durch die Luft und ein Schwarm kleiner, lästiger schwarzer Käfer ließ sich auf seinem schweißgebadeten Körper nieder. Er klopfte seine Kleider ab und versuchte, sich von dem Ungeziefer zu befreien. Er schüttelte den Kopf, sodass seine strubbligen, blonden Haare durch die Luft wirbelten, und augenblicklich bildete sich erneut eine kleine Staubwolke.

Nun, dachte Bastian, falls es kein Erdbeben war, was war es dann?

Bastian ergriff einen langen, knorrigen Stock, den er unter dem Baum entdeckte, und stocherte vorsichtig am Rand des Grabens herum. Die Erde bewegte sich nicht. Er verlagerte sein Gewicht auf das linke Bein und trat mit dem rechten vorsichtig in den Graben hinab. Der Boden gab nicht nach. Mutiger geworden zog Bastian das linke Bein nach und stand jetzt mitten in der Vertiefung. Nichts geschah. Er hüpfte ein paar Mal auf und nieder, um zu prüfen, ob der Boden wirklich hielt, aber die Erde war so fest, als wäre hier schon immer ein Graben gewesen.

 

 

 

 

Ihm war kalt. Ihm war sogar bitterkalt, und das, obwohl es mitten im Sommer war. Er hörte das Wasser von den Mauern tropfen. Tausende von kleinen Wassertröpfchen sammelten sich an der Decke des Gewölbes und bildeten feine Rinnsale, die kreuz und quer an der aus groben Felsbrocken bestehenden Wand hinunterflossen. Sein rasselnder Atem hallte von den hohen Mauern wider. Fast so, als wolle sein Atem nun um Hilfe schreien, denn eine Zunge, die dafür nötig war, hatte er nicht mehr. Das, was von ihr übrig war, drohte ihn zu ersticken. Es war nicht mehr als ein angeschwollener, metallisch nach Blut schmeckender, großer Knoten, der sich in seinem Rachen festgesetzt hatte.

Anfangs hatte er noch versucht, sich zu befreien. Doch die Nägel, die überall aus dem Stuhl – auf dem er gefesselt war – herausragten, bohrten sich tief in sein Fleisch. Schon die kleinste Gewichtsverlagerung bereitete ihm höllische Schmerzen, und so hatte er sich damit abgefunden, möglichst bewegungslos in dieser kalten Dunkelheit zu verharren. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Die schnatternden Gedanken in seinem Kopf kreisten zwischen Hoffnung und Grauen. Sie versuchten, einen Ausweg aus diesem Albtraum zu finden. Doch jeder Gedanke endete jäh mit der gleichen Erkenntnis: Er würde diesen dunklen, kalten und feuchten Ort nicht lebend verlassen! Ein Laut, wie ein gequälter Schrei drang aus seinem geschwollenen Hals hervor. Aus seinen Augen flossen die Tränen. Doch niemand konnte ihn hören.

Und so blieb er weiter dort unten sitzen, alleine mit seinem Schmerz und der Angst, die unbarmherzig sein einziger Begleiter in diesem Albtraum war. Zumindest so lange, bis sein Peiniger wieder aus der Dunkelheit auftauchen würde.

 

 

 

 

Bastian tastete sich vorsichtig Schritt für Schritt voran. Komisch, wie konnte innerhalb von ein paar Sekunden so ein ausgedehnter Graben entstehen? Er hielt sich die Hand an die Stirn, um seine Augen vor dem gleißenden Sonnenlicht dieses heißen Sommertages zu schützen. Er kniff die braunen Augen zu engen Schlitzen zusammen, und mit angestrengter Miene versuchte er, die Länge des Grabens abzuschätzen. Er war sicher noch mindestens hundert Meter vom eingestürzten Wehrturm entfernt.

Eine kleine Menschentraube hatte sich am Fuße des Wehrturms gebildet. Er konnte ihr erstauntes Raunen von Weitem hören. Merkwürdig, wieso waren die Leute ausgerechnet zu dem eingestürzten Turm gelaufen? Bei den mächtigen Erschütterungen mussten auch hinter der dicken Zonser Stadtmauer Häuser eingestürzt sein. Der Wehrturm war solide aus großen Steinen gebaut, während viele der kleinen Häuschen in Zons aus wesentlich leichterem Gemäuer errichtet waren. Was sicherlich nicht zuletzt auf den schmalen Geldbeutel einiger Zonser Bewohner zurückzuführen war. Bastian erinnerte sich an das letzte Erdbeben, welches vor ungefähr drei Jahren, fünf Häuser zum Einsturz gebracht hatte. Es waren etliche kleinere Nachbeben aufgetreten, und Bastian konnte sich noch gut entsinnen, wie die Erde minutenlang bebte, bis endlich wieder Stille eintrat. Die verängstigten Bewohner betraten – obwohl es mitten im Winter geschah – ihre Steinhäuser nicht mehr und verbrachten trotz der klirrenden Kälte die Nächte in provisorischen Strohhütten oder unter freiem Himmel.

Doch diesmal war es etwas anders. Das war kein Erdbeben gewesen!

Bastian warf einen prüfenden Blick in den Graben und lief schneller. Den festen und harten Boden konnte er mit jedem Schritt unter seinen Füßen spüren. Der Graben verlief unnatürlich gleichförmig, bis er zwanzig Meter vor dem Wehrturm plötzlich endete. Eine gerade Kante bildete den Abschluss. Keiner der umstehenden Menschen, die den zusammengefallenen Wehrturm bestaunten, beachtete den Graben. Sie alle standen mit dem Rücken zu Bastian gewandt, hielten ihre Köpfe nach oben gereckt und die Augen starr auf den eingestürzten Turm gerichtet.

Bastian konnte seinen besten Freund Wernhart von der Stadtwache erkennen. Wernhart stand neben dem Arzt, Josef Hesemann, der ihm ebenfalls sehr vertraut war. Mit Wernhart hatte Bastian einige eiskalte Winternächte frierend auf der Lauer gelegen, als sie vor ein paar Monaten auf der Jagd nach dem Puzzlemörder waren. Bastian war jünger als Wernhart und noch nicht so lange bei der Stadtwache wie sein Freund. Dafür trug er trotz seines jungen Alters bereits die volle Verantwortung dafür, kriminelles Gesindel sowie Mord und Betrug in der Stadt Zons in Schach zu halten. Dies hatte Bastian insbesondere Pfarrer Johannes zu verdanken, der ihn, obwohl er der jüngste Sohn des Zonser Müllers war, von frühester Kindheit an Lesen und Schreiben gelehrt und ihn zu dem klugen und rechtschaffenen jungen Mann erzogen hatte, der er heute war. Sicher hätte Bastian sich aufgrund seiner großen und kräftigen Gestalt auch hervorragend als Müller geeignet, doch diese Aufgabe war seinem ältesten Bruder Heinrich zuteilgeworden, der Zons und die gesamte Umgebung mit fein gemahlenem Getreide versorgte.

»Wernhart«, rief Bastian in die Menschenansammlung hinein. »Was ist passiert?«

Wernhart drehte sich überrascht um. Seine blauen Augen blitzten kurz auf, als er Bastian erkannte.

»Schau selbst, Bastian, der Turm ist einfach zusammengekracht.«

»Sind noch andere Gebäude betroffen?«

»Nein. Bis auf den Turm ist alles unversehrt, noch nicht einmal die Dachschindeln vom Haus des alten Jacobs sind herabgestürzt.«

Jacobs Haus war das ärmlichste in ganz Zons. Nach dem letzten Erdbeben hatte die Familie das Dach nur notdürftig abgedichtet. Es sah aus wie ein Flickenteppich. Da sie sich keine neuen Dachschindeln leisten konnten, lugten zwischen den unversehrt gebliebenen Schindeln Holzstücke und Stroh hervor.

Der kleine Menschenauflauf starrte weiter auf den beschädigten Turm. Die übrigen Bewohner der Stadt hatten offensichtlich noch nichts von dem Vorfall mitbekommen.

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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