Gegenwart
»Woher willst du wissen, dass es Bastian Mühlenbergs Bruder ist?«, fragte Anna leise. Der Anblick des Gerippes schnürte ihr die Kehle zu.
»Er hat das Mühlenamulett um den Hals. Oder das, was davon übrig ist«, mit diesen Worten berührte Emily andächtig die kleine goldene Mühle, die sich leicht vom silbernen Hintergrund abhob. »Wir müssen seine Knochen hier unten rausholen und auf dem Friedhof im Kloster Knechtsteden begraben!«
»Bist du verrückt. Ich fasse diese Knochen nicht an.«
»Bastian Mühlenberg wäre sicherlich froh, wenn wir das für ihn tun würden. Oder vielmehr du, Anna. Du schuldest ihm noch einen Gefallen, oder?«
Annas Blut rauschte ihr in den Ohren. Sie dachte nach. Emily hatte recht, immerhin wäre sie ohne die Erscheinung von Bastian Mühlenberg vor ein paar Monaten dem Puzzlemörder der Gegenwart in die Hände gefallen. Andererseits war sie Bankerin. Sie glaubte nicht an Übernatürliches, sondern ausschließlich an Fakten. Und tot war tot. Gut, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie lange an ihrem Verstand gezweifelt. Im Grunde war sie sich sicher, Bastian Mühlenberg in ihrer Realität getroffen zu haben. Ein schwacher Windhauch streifte ihre Wange und Annas Nackenhärchen stellten sich sogleich auf. Was war das?
»Also gut, nehmen wir ihn mit!«
Entschlossen begann sie, die restlichen Felsbrocken beiseitezuschieben, um das Gerippe freizulegen. Mühsam stemmte sie sich gegen einen dickeren Stein, doch dieser rührte sich nicht vom Fleck. Emily half ihr und beide drückten mit aller Kraft dagegen. Schwerfällig gab der Brocken nach. Das Nächste, was passierte, nahm Anna erschrocken wie einen Kurzfilm wahr, der in Zeitlupe ablief. Der Boden unter ihren Füßen öffnete sich. Staub und Geröll lösten sich tosend von den Wänden, und obwohl sie es kommen sah, konnte sie sich keinen Millimeter rühren. Statt zur Seite zu springen, versagten ihre Beine den Dienst, und sie stürzte in ein großes, schwarzes Loch hinein, welches sich plötzlich vor ihr aufgetan hatte. Sie versuchte sich mit aller Kraft an den Rändern festzukrallen, doch die Steine lösten sich und sie rutschte mit hoher Geschwindigkeit in die Tiefe. Der Aufprall war heftig. Sekunden später folgte Emily, die krachend mit ihrem ganzen Gewicht auf Anna landete. Ihre Rippen knackten und sie bekam kaum noch Luft.
»Alles in Ordnung?«, fragte Emily, die sich langsam von ihr abrollte.
Anna wusste es noch nicht. Trotzdem nickte sie.
»Anna?«
Es herrschte absolute Finsternis. Emily konnte Annas Nicken nicht erkennen, also quetschte Anna sich ein heiseres Ja aus der trockenen Kehle. »Ich glaube meine Rippen sind gebrochen.« Mühsam richtete Anna sich auf. Der Druck in ihrem Brustkorb war so groß, dass sie kaum atmen konnte. Oh, meine Güte, dachte sie, ich werde hier unten verrecken. Sie tastete ihre Rippen ab und spürte, wie ihre Atmung langsam wieder tiefer wurde. Vielleicht war ihre Verletzung doch nicht so schlimm und sie war mit ein paar Prellungen davongekommen.
»Ich rufe Oliver an. Verdammt, wahrscheinlich hätte ich ihm vorher von unserer Expedition erzählen sollen. Er wird sauer auf mich sein«, fluchte Emily leise vor sich hin, während sie ihre Taschenlampe wieder einschaltete und nach ihrem Handy suchte. Mittlerweile bereute sie ihren Alleingang. Andererseits war Oliver zurzeit bis über beide Ohren mit der Lösung seines Falls beschäftigt, so dass er wenig Zeit hatte. Und Emily wusste, dass er sie niemals hätte gehen lassen, wenn sie ihn vorher eingeweiht hätte. Natürlich war ihr bewusst, dass es nicht ungefährlich war, alleine ein unbekanntes Labyrinth zu erforschen. Doch sie hatte unbedingt die Erste sein wollen, die dieses unglaubliche Geheimnis ans Licht brachte. Oliver hätte die gesamte Polizeimannschaft mobilisiert und am Ende wäre die Presse aufmerksam geworden. Irgendein cleverer Journalist hätte ihre Reportage gestohlen und sie selbst, als unbedeutende Journalismus-Studentin, wäre nicht mehr zum Zuge gekommen.
Sie betrachtete Anna, die kreidebleich neben ihr lag. Das schlechte Gewissen nagte an ihr. Du bist ganz schön egoistisch. Anna ist verletzt! Mit Oliver zusammen wäre das nicht passiert.
Als wenn Anna ihre Gedanken lesen könnte, sagte sie: »Emily, jetzt schau doch erst mal, ob wir hier alleine herauskommen. Mir geht’s schon wieder besser.«
Emily leuchtete die Felswände ab. Sie befanden sich in einer tiefen Grube. Sie war vielleicht zwei Quadratmeter groß und ungefähr drei Meter tief. Emily streckte die Arme nach oben. Verdammt, das war viel zu hoch. Selbst wenn Anna auf ihre Schultern kletterte, war es unmöglich, den oberen Rand der Grube zu erreichen. Sie blickte auf ihr Handy. Das war ja klar! Kein Empfang. Sie hielt das Telefon hoch in die Luft. Nichts. Nicht ein schwarzer Balken, der ein Funksignal anzeigte. Emily stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte sich, so weit sie konnte. Da war es! Ein winziger schwarzer Balken erschien auf ihrem Display. Ohne ihre Haltung zu verändern, drückte sie auf die Kurzwahltaste, hinter der sich Olivers Nummer verbarg.
…
Unruhig rutschte Dietrich Hellenbruch auf seinem Stuhl herum. Was wollten diese Polizisten ständig von ihm? Hatten sie denn nichts Besseres zu tun, als fortwährend in seinem Leben herumzuwühlen? Er erinnerte sich ganz genau an seinen letzten Aufenthalt im Neusser Polizeirevier. Sie hatten ihm sein Porträt von Marie weggenommen, ein kleines original Ölgemälde von Bastian Mühlenberg und seiner Frau aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Sie konfiszierten es einfach und Dietrich hatte das Gemälde nur mit allergrößter Mühe wieder zurückerhalten. Marie war die schönste Frau, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Fast schon erlag er dem Irrtum, dass so wundervolle Frauen nur in der Vergangenheit existierten. Heutzutage hatten die meisten hässliche Kurzhaarschnitte, und die paar, die ihre Haare lang trugen, ließen sie unzüchtig offen vom Haupt herabhängen. Marie hingegen besaß wunderbar ordentlich geflochtenes Haar. Wie es sich für ein anständiges Mädchen gehörte!
Jetzt saß er wieder auf dieser scheußlichen Wache, und diesmal machten sie Theater, weil er das lebende Ebenbild von Marie entdeckt hatte. Das ging sie doch gar nichts an! Außerdem war er ihr nur ein einziges Mal bis zu ihrer Wohnung gefolgt.
»Herr Hellenbruch. Noch einmal für Sie zum Verständnis. Stalking ist strafbar. Frau Sandra Schwanengel hat Anzeige gegen sie erstattet. Also hören Sie gefälligst auf, die junge Frau zu verfolgen!«
Kommissar Bergmann betrachtete den alten Archivar nachdenklich. Was für ein komischer Kauz! Vor knapp einer Woche hatten sie die Anzeige von Sandra Schwanengel, einer jungen Studentin – die nebenher Geld mit einem Job bei McDonald’s verdiente – aufgenommen und den polizeibekannten Archivar direkt vorgeladen.
Durch ein zufälliges Gespräch mit einem Kollegen hatte Oliver von dieser Stalking-Geschichte erfahren. Der Kerl verfügte über brillantes Wissen, was historische Ereignisse in und um Zons anging, aber er war Oliver suspekt. Schon bei den Ermittlungen zum Puzzlemörder vor etlichen Monaten war er kurzfristig auf der Liste der Verdächtigen gelandet und jetzt saß er hier vor ihm und seinem Partner Klaus in einem knallroten Pullover. Einem so roten wie der von Frederick Köppe. Warum tauchte dieser Hellenbruch ständig im Zusammenhang mit ihren Ermittlungen auf? So viele Zufälle auf einmal konnte es doch nicht geben! Er schielte kurz zu Klaus hinüber. Dieser zwinkerte ihm zu. Er hat es auch gesehen, dachte Oliver. Am liebsten hätte er die knallrote Farbe von Hellenbruchs Pullover einfach ignoriert, stattdessen sagte er:
»Für heute sollte es reichen, Herr Hellenbruch. Sie sind gewarnt. Wenn Sie Frau Schwanengel noch einmal belästigen, wird sie ihre Anzeige nicht zurückziehen. Das kann gravierende Folgen für Sie haben.«
Der Archivar nickte verdrießlich und erhob sich von seinem Stuhl. Beim Hinausgehen rempelte Oliver ihn absichtlich an und riss unauffällig ein paar Fasern aus seinem roten Pullover. Sicher ist sicher, dachte er. Er würde die Probe sofort ins Labor geben und mit den Faserspuren abgleichen lassen, welche sie an dem aufgeschnittenen Zaun des Chemieparks gefunden hatten.
…
Kurze Zeit später stand Oliver wieder in seinem Büro und starrte auf das Whiteboard. Fünf rot markierte Namen standen in Großbuchstaben darauf:
Peter Hirschauer,
Status: vermisst; Knochenfund 5A.2 zugeordnet
Dorothea Walser,
Status: ermordet; Knochenfund negativ
Jimmy Henders,
Status: vermisst; Knochenfund negativ
Jörg Plaggenwald,
Status: vermisst; Knochenfund 8A.3 zugeordnet
Kerstin Hohenstein,
Status: vermisst; Knochenfund 7B.1 zugeordnet
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und blätterte nochmals die Akten der Vermissten durch. Drei der Bankangestellten waren im Juni verschwunden. Zuerst wurde Kerstin Hohenstein als vermisst gemeldet. Oliver überflog die Vermisstenanzeige. Zuletzt wurde Kerstin Hohenstein auf einer Kundenveranstaltung in Neuss gesehen. Veranstaltungsort war das Swissôtel gewesen.
Eine Alarmglocke schrillte in Olivers Kopf. Swissôtel. War dort nicht auch Jimmy Henders, der Kollege von Anna, zuletzt gesehen worden? Oliver versuchte, sich an Emilys Beschreibung zu erinnern, war sich jedoch nicht mehr sicher. Er schlug die Vermisstenanzeige von Jörg Plaggenwald auf. Er war genau eine Woche nach Kerstin Hohenstein verschwunden. Olivers Atem stockte. Auch Plaggenwald wurde zuletzt auf einer Kundenveranstaltung seiner Bank gesehen. Diese fand zwar in Düsseldorf im Hilton-Hotel statt, aber es war auch wieder eine Kundenveranstaltung! Schnell nahm er sich die Akte von Peter Hirschauer vor. Dieser war von seiner Bank suspendiert worden. Der genaue Zeitpunkt seines Verschwindens war daher unbekannt.
Oliver durchsuchte die Wohnungsfotos, welche die Spurensicherung von Peter Hirschauers Wohnung bei den Ermittlungen gemacht hatte. Ein Foto vom Schreibtisch fiel ihm ins Auge. Der Ausdruck war unscharf. Ungeduldig öffnete er die digitale Akte auf seinem Laptop und vergrößerte die Aufnahme. Tatsächlich: Wenn er nicht exakt danach gesucht hätte, wäre es ihm nie aufgefallen. Aber auf dem Schreibtisch lag eine Einladungskarte:
Überregionale Kundenveranstaltung:
Präsentation innovativer Finanzinstrumente
Ort: Swissôtel Neuss
Datum: Freitag, 28. April 2012
Beginn: 20:00 Uhr
Schwungvoll klappte Oliver die Akte zu und schloss die Fotodatei. Nur um ganz sicherzugehen, holte er die Akte der ermordeten Dorothea Walser, die brutal zugerichtet in einer Waschanlage an der Landstraße B9 gefunden wurde, hervor. Auch sie wurde zuletzt auf einer Kundenveranstaltung gesichtet. Das war es! Der Täter fand seine Opfer auf Kundenveranstaltungen diverser Banken!
Kraftvoll wurde die Tür seines Büros geöffnet und Hans Steuermark trat energisch ein.
»Wo ist Ihr Partner?«
»Er instruiert die beiden Streifenpolizisten, die den defekten Zaunabschnitt auf dem Materialfriedhof im Chemiepark observieren sollen. Wir hoffen, dass der Täter bald dort auftaucht und sich Nachschub besorgt.«
Steuermark nickte. »Sehr gut. Frau Scholten hat mir gerade die neuen Laborberichte übermittelt. An Dorothea Walsers Leiche wurden Spuren von Gold gefunden. Die Spurensicherung glaubt, dass ihr mit einer goldenen sichelförmigen Waffe zuerst die Zunge entfernt und anschließend die Kehle durchtrennt wurde. Es handelt sich um Material, dessen Alter auf über dreihundert Jahre geschätzt wird. Wir haben einen Experten mit weiteren Untersuchungen beauftragt. Es ist sehr fraglich, wie eine so alte Klinge einen so scharfen Schnitt verursachen konnte.«
Olivers Handy klingelte. Im Display erschien Emilys Nummer. Für eine Sekunde fragte er sich, ob er später zurückrufen sollte. Aber die Sehnsucht nach ihrer Stimme war zu groß. Ohne Rücksicht auf Steuermarks Erklärungen nahm er ab.
Eine kaum verständliche, löchrige Stimme flüsterte aus weiter Ferne: »Oliver, bitte hilf uns. Wir sind im Labyrinth unter Zons.«
Olivers Blutdruck schoss in die Höhe. Irgendetwas stimmte da ganz und gar nicht. »Ich verstehe dich ganz schlecht, Emily. Wo bist du?«
»Im Labyrinth mit Anna … meine Wohnung, dort hängt die Karte …« Klick. Die Leitung war tot. Olivers Verstand fuhr Achterbahn. In höchste Alarmbereitschaft versetzt wählte er Emilys Nummer. Verdammt. Die Mailbox ging sofort ran. Er versuchte es noch einige Male ohne Erfolg. Mit hochrotem Kopf gab er auf. Steuermarks Adleraugen waren starr auf ihn gerichtet.
»Was ist los, Bergmann?«
»Herr Steuermark, es tut mir wirklich leid, aber ich muss los. Meine Freundin ist in Gefahr. Bitte sagen Sie Klaus, dass er die Teilnehmer der Kundenveranstaltungen überprüfen soll. Wir müssen herausfinden, welche Personen auf der Veranstaltung waren, auf denen Bankangestellte verschwunden sind.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, schnappte Oliver sich seine Jacke und ließ den ausnahmsweise einmal sprachlosen Hans Steuermark alleine in seinem Büro zurück.
Auf der Fahrt zu Emilys Wohnung wählte Oliver im Minutentakt ihre Nummer, doch ihr Telefon war tot. Verflixt, Emily, wo steckst du nur? Hoffentlich ist dir nichts passiert. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und ein düsteres Gefühl von Angst legte sich schwer in seinen Magen. Die Fahrt nach Köln dauerte eine Ewigkeit. Wegen der einsturzgefährdeten Autobahnbrücke musste Oliver über die Landstraße ausweichen, wo er trotz Blaulicht kaum vorankam. Er brauchte über eine Stunde, bis er vor Emilys Studentenappartement stand. In den Hausflur zu kommen, war kein Problem. Das Wohnheim war wie ein Taubenschlag. Ständig gingen junge Leute ein und aus. Es kostete Oliver keine zwei Minuten, bis eine pummelige Studentin mit schmierigen Haaren das Haus verließ und Oliver die offene Tür nutzte, um hineinzuschlüpfen.
Jetzt, wo er vor Emilys Wohnungstür stand, fiel ihm ein, dass er keinen Schlüssel hatte. O nein! Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Er betrachtete den dicken Türrahmen und den flauschigen Fußabtreter. Vielleicht hatte sie ja einen Ersatzschlüssel versteckt. Oliver hob den Fußabtreter hoch, aber mehr als dicke Staubflusen waren nicht darunter. Anschließend tastete er die Oberkante des Türrahmens ab. In der rechten Ecke wurde er fündig. Wie leichtsinnig, Emily! Aber in diesem Moment war Oliver froh darüber.
Emilys Appartement war klein. An das Wohnzimmer grenzten eine winzige Küche und ein ebenso winziges Schlafzimmer. Oliver blickte sich um. Auf dem Wohnzimmertisch lagen verschiedene Quittungen. Er runzelte die Stirn und überflog die Zettel. Offenbar hatte Emily fleißig Ausrüstungsgegenstände für eine Expedition in das ihm unbekannte Labyrinth unter Zons besorgt. Dann ging er ins Schlafzimmer und blieb direkt vor dem großen Stadtplan an der Wand stehen. Neben dem Plan klebte ein Zettel, auf dem ein Labyrinth beschrieben war. Demnach sollten sich unter der Stadt Zons unglaublich viele verzweigte, schmale Gänge befinden. Südlich des Juddeturms entdeckte Oliver einen doppelköpfigen Adler mit einem Sternchen. Der Erläuterung auf dem Zettel entnahm er, dass es sich um ein Versteck des Erzbischofs von Saarwerden handelte. Ein großes, rotes Kreuz markierte den Eingang zum Labyrinth. Dieser war über den Keller des Museums zu erreichen. Oliver schüttelte den Kopf. Warum hatte sie ihm nur nichts davon erzählt! Er wusste doch, dass sie eine neue Reportage schreiben wollte. Über irgendeinen düsteren Sichelmörder, der den Sündern damals die Zungen herausgeschnitten hatte. Und anschließend auch noch ihre Kehlen durchtrennt! Oliver schüttelte diesen Gedanken ab. Irgendetwas in seinem Inneren wollte weiter um die vergessenen Morde kreisen, doch dafür hatte er jetzt keine Zeit. Später.
Er studierte die Karte bis ins letzte Detail, bevor er sie samt Notizen von der Wand riss und einsteckte. Er hatte keine Ahnung, wie und wo er die beiden Frauen dort unten finden sollte, aber sein Instinkt sagte ihm, dass er sich beeilen musste.
…
Klaus war sauer. Was fiel Oliver nur ein, ihn mit dem wütenden Steuermark alleine zu lassen. Nur weil seine Kleine ein Problem hatte, musste er doch nicht sofort springen. Jetzt hatte er Steuermark am Hals, der wie ein hungriger Tiger vor seinem Schreibtisch auf und ab lief, während er mühsam versuchte, die Besucher der einzelnen Kundenveranstaltungen zu ermitteln. Sie hatten fünf vermisste Bankangestellte auf ihrer Liste, von denen Dorothea Walser bereits tot war.
»Durchsuchen Sie die Teilnehmerlisten nach Besuchern, die bei allen fünf Veranstaltungen waren, auf denen Bankangestellte verschwunden sind.«
Klaus war genervt, aber er wagte nicht, Steuermark zu widersprechen. Er musste hunderte von Namen auf den fünf Teilnehmerlisten vergleichen. Klaus brauchte fast eine Stunde und kam dabei mächtig ins Schwitzen. Steuermarks Anwesenheit war dabei nicht sonderlich hilfreich. Endlich entdeckte er zwei Übereinstimmungen.
»Der erste Treffer ist Jimmy Henders. Er war immer dann anwesend, wenn einer der Bankangestellten verschwand. Aber er gilt ja selbst als vermisst. Die andere Person ist ein Unternehmer namens Matthias Kronberg.«
»Interessant. Überprüfen Sie alle beide auf Vorstrafen.« »Auch Jimmy Henders? «, fragte Klaus. Ihm war nicht klar, warum er einen der Vermissten überprüfen sollte.
»Ja, überprüfen Sie ihn. Wenn ich mich richtig erinnere, ist er als Letzter verschwunden. Es wäre ja denkbar, dass er die Leute entführt hat und selbst einfach nur abgetaucht ist. Wir können diese Möglichkeit zur Zeit jedenfalls nicht ausschließen.« Hans Steuermark wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal kurz zu Klaus um. »Und vergessen Sie nicht, die Facebook-Profile zu überprüfen. Ich wette, wir werden einen Treffer landen!«
Die Tür knallte zu und Klaus saß alleine im Büro. Wunderbar, dachte er, das war eigentlich Olivers Aufgabe. Wütend wählte er Olivers Handynummer. Doch sein Telefon war ausgeschaltet. Hervorragend! Klaus legte auf und loggte sich ins Internet ein. Dann bleibt das wohl an mir hängen!
…
Es herrschte undurchdringbare Dunkelheit. Oliver griff an seinen Gürtel und spürte das beruhigende Gewicht seiner Pistole. Dank Emilys Dokumentation hatte er den Eingang zum Labyrinth auf Anhieb gefunden. Das Museum war zu dieser Zeit schon verschlossen und Oliver musste die Tür aufbrechen, um hineinzugelangen. Er war heilfroh, dass es keine Alarmanlage gab. Das beschauliche Zons hatte kaum Diebstähle zu verzeichnen und bedurfte deshalb keiner solcher Vorsichtsmaßnahmen. Er zerrte eine Taschenlampe aus seiner Hosentasche und schaltete sie an.
»Emily!«, brüllte er in die Dunkelheit hinein, die sich rund um den Schein seiner Taschenlampe wie schwarzer Samt ausbreitete. Sein Ruf hallte an den Wänden wider. Es war kalt und feucht hier unten. Eines musste er Emily lassen, es war verdammt mutig, sich hier herunterzuwagen. Unwillkürlich musste er lächeln. Das war typisch für ihr italienisches Temperament. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog sie es durch. Und dazu noch die toughe Anna an ihrer Seite, da konnte die beiden nichts mehr stoppen. Na ja, fast nichts, sonst würden sie jetzt nicht seine Hilfe brauchen.
»Emily!«, er rief erneut ihren Namen.
Nichts. Bis auf seine eigene Stimme, die sich tausendfach an den Felswänden brach und mit leisem Raunen wieder zu ihm zurückkam, hörte er nichts.
»O l i v e r …?«
Ein helles Stimmchen drang bruchstückhaft aus weiter Ferne zu ihm heran. Sein Puls fing an zu rasen. Das musste sie sein. Oliver versuchte, das Geräusch zu orten. Doch er konnte keine genaue Richtung ausmachen. Zu verschwommen und schwach kamen ihre Rufe bei ihm an. Er kramte den Stadtplan hervor und suchte nach dem Weg, der zum Schatz des Erzbischofs führen sollte. Sicher waren die beiden direkt in diese Richtung gelaufen.
Oliver stürmte los, blieb jedoch gleich wieder stehen. Direkt vor ihm an einer Abzweigung befand sich eine Markierung. Ein neonfarbenes Kreuz leuchtete ihn an. Aber es führte in die andere Richtung! Oliver runzelte die Stirn. Warum waren sie in diese Richtung gegangen? Dieser Gang führte nicht zum Schatz. Er drehte um und lief in den markierten Gang. Fest stand jedenfalls, dass sie hier entlanggelaufen waren.
Oliver rief immer wieder Emilys Namen und versuchte, ihre Antwort zu lokalisieren. Doch in dem Gewirr aus schmalen Gängen war es unmöglich, die Richtung festzustellen. Seit fünfzig Metern hatte er kein Kreuz mehr gesehen. Er wischte sich über die schweißnasse Stirn. Sein Atem ging ruckartig. Erneut blickte er auf den Stadtplan. Er war jetzt schon viel zu lange unterwegs. Hoffentlich hatte er sich nicht im Kreis bewegt. Er zog ein Taschentuch hervor und befestigte es gut sichtbar an der Felswand. Sollte er ein zweites Mal hier entlangkommen, würde er es zumindest erkennen. Ein ohnmächtiges Gefühl überkam ihn. Was, wenn er sie nicht finden würde? Dann lauf zurück und besorge einen Spürhund. Nur Mut, du findest sie!
Oliver arbeitete sich weiter in der Dunkelheit voran. Das Licht seiner Taschenlampe flackerte und mehr als einmal hatte er das Gefühl, eine Bewegung in der Schwärze zu erkennen. Er richtete seine Lampe in die Tiefe des Ganges und erstarrte. O nein! Das konnte nicht wahr sein! Ein weißes Taschentuch leuchtete ihm entgegen.
Oliver war vorher nach links abgebogen. Jetzt nahm er den Gang zur rechten Hand. Wieder rief er Emilys Namen in die Dunkelheit und bekam ein undeutliches Echo ihrer Stimme zurück. Er lief weiter und sah, wie sich der Gang am Ende des Lichtstrahls seiner Taschenlampe gabelte. Wieder kramte er ein Taschentuch hervor, befestigte es an der Wand und beschloss, zuerst den linken Gang zu erkunden. Als er wieder aufblickte, nahm er eine Gestalt im Augenwinkel war. Sein Herzschlag setzte aus und automatisch zog er seine Waffe. Was war das? Er ging langsam weiter und erhaschte eine Bewegung in der rechten Abbiegung.
»Stehen bleiben, Polizei!«, brüllte Oliver hinterher.
Die Gestalt blieb abrupt stehen. Das Licht aus Olivers Taschenlampe reichte nicht weit genug, sodass er sie kaum erkennen konnte. Entschlossen näherte er sich und versuchte, seine Taschenlampe auf den Mann zu richten. Er erhaschte im Bruchteil einer Sekunde den Blick auf einen großen, blonden Mann mit strubbeligen Haaren. Er lächelte. »Stehen bleiben!«, rief Oliver erneut und richtete seinen Lichtstrahl exakt auf den Ort, an dem er ihn eben noch gesehen hatte. Doch er war weg. Das gibt es doch gar nicht!, dachte Oliver angespannt. Wie war er so schnell verschwunden? Oliver leuchtete den Gang ab. Nichts. Dann sah er sich genauer an der Stelle um, an welcher der Mann eben noch gestanden hatte, und entdeckte einen weiteren kleinen Gang, der verdeckt hinter einem kaum sichtbaren Spalt in der Felswand begann.
»Hallo?«, rief er mit strenger Stimme.
»Wir sind hier, Oliver.«
»Emily? Anna?«
»Ja, hier unten.«
Oliver stürmte los. Jetzt konnte er sie ganz deutlich hören. Vor einem Steinhaufen blieb er stehen. Die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels starrten ihn an und ließen für einen Moment das Blut in seinen Adern gefrieren. Dann leuchtete er weiter und entdeckte die Grube.
»Emily, Anna! Seid ihr da unten?«
Oliver legte sich flach auf den Boden und streckte seine Hände in die Grube. Doch sie war viel zu tief, um Emilys Hand zu erreichen. Emily kramte ein Seil aus ihrem Rucksack hervor und warf es zu Oliver empor.
Zehn Minuten später hatte er die beiden endlich aus der Grube befreit und nahm Emily schweißgebadet in die Arme. Nach einer Sekunde stieß er sie sanft von sich weg und schüttelte sie leicht.
»Verdammt, Emily. Wie konntest du mir einen solchen Schrecken einjagen? Ihr hättet sterben können! Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Tut mir leid! Wirklich! Es war dumm von mir. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es gefährlich werden könnte.«
Er sah sie an und einem unwiderstehlichen Impuls folgend riss er sie wieder an sich und küsste sie heftig. All seine Wut und Angst legte er in diesen Kuss hinein. Sie biss ihm auf die Lippen, doch er drückte sie noch enger an sich und ließ sie nicht entkommen. Schließlich gab sie nach. Oliver spürte den Triumph in seinen Adern pulsieren. Er bemerkte seine Erregung und im selben Moment schoss ihm durch den Kopf, dass sie nicht alleine waren. Wo war Anna? Sanft ließ er von Emily ab.
In einiger Entfernung leuchtete Annas Taschenlampe. Oliver lief auf sie zu.
»Anna, komm zurück. Ich glaube, wir sind hier unten nicht alleine!«
Anna drehte sich nicht einmal zu ihm um, sondern stand wie zur Salzsäule erstarrt da, ihren Blick starr ins Dunkel gerichtet.
»Ich habe ihn gesehen. Ich glaube, ich werde verrückt.«
»Wen hast du gesehen?«
Oliver drehte sie vorsichtig zu sich um. Sie sah blass aus. Ihre Körperhaltung war leicht gekrümmt. Wahrscheinlich hatte sie sich eine schwere Rippenprellung zugezogen. Er musste sie unbedingt zu einem Arzt bringen, aber erst einmal mussten sie hier unten raus. Das Labyrinth war Oliver unheimlich. Zwar liebte er alle Arten von Abenteuerfilmen, aber auf der Kinoleinwand waren sie ihm lieber als im wahren Leben.
»Ich habe einen Mann mit blonden Haaren gesehen. Er ähnelte Bastian Mühlenberg.«
»Ach Anna, das ist sicher der Schock«, Emily nahm ihre Freundin in die Arme. »Komm, lass uns von hier verschwinden. Ich habe genug Stoff für meine Reportage.«
…
Nach etlichen Wirrungen hatten sie das Ende des Labyrinths erreicht. Die Stelle, an der sie die sterblichen Überreste von Heinrich Mühlenberg fanden, hatten sie deutlich markiert. Sie würden die Knochen zu einem späteren Zeitpunkt bergen. Kaum hatten sie die letzte Kellertür passiert und den Flur des Kreismuseums erreicht, meldete sich Annas Handy. Anna zuckte bei dem Geräusch zusammenzucken. Sie suchte das Telefon in ihrer Tasche und schaute auf das Display. Es war eine SMS von Jimmy.
Triff mich am Freitag im Swissôtel. Sorry, dass ich mich nicht eher gemeldet habe. LG Jimmy.
Anna las die Nachricht und blieb stehen.
»Das gibt es doch gar nicht. Jimmy ist wieder aufgetaucht.«
In Olivers Kopf schrillte eine Alarmglocke. Wieso jetzt? Ein klirrender Ton ließ ihn innehalten. Etwas Metallisches war auf den Boden gefallen. Oliver sah sich suchend um und entdeckte das goldene Mühlenamulett, welches aus seiner Tasche gefallen war. Er hatte es bei den Überresten von Heinrich gefunden und als Beweisstück sichergestellt. Fasziniert betrachtete er die kleine goldene Mühle auf dem silbernen Hintergrund. Wieder regte sich eine Ahnung in Olivers Kopf. Ein flüchtiger Gedanke, den er vergeblich zu fassen suchte, schwirrte durch sein Gehirn. Konzentriert lauschte er in sich hinein. Dann durchzuckte ihn die Erkenntnis wie ein scharfes Schwert.
»Sagt mal, würde es euch etwas ausmachen, zuerst mit mir aufs Revier zu kommen? Ich muss mir dringend etwas anschauen!«
Fragend sah er Anna an.
»Klar. Meine Rippen schmerzen zwar noch, aber du kannst mich danach zum Arzt fahren. Viel kann man da vermutlich sowieso nicht tun, außer abwarten.«
…
Keine dreißig Minuten später betraten sie gemeinsam Olivers Büro. Ein grübelnder Klaus lief vor dem Whiteboard auf und ab. Rote Kreuze und gelbe Pfeile machten aus der Wandtafel ein abstraktes Kunstgemälde. Zwei Namen waren rot umrandet und mit Ausrufezeichen versehen.
»Das ist ja einer meiner Kunden!«, rief Anna und zeigte mit dem Finger auf den Namen Matthias Kronberg.
Klaus, der sie bisher nicht bemerkt hatte, fuhr erschrocken herum. Sein Blick wanderte von Anna zu Oliver, der dicht hinter ihr stand und Emilys Hand hielt.
»Tauchst du auch mal wieder auf, Partner?«, zischte Klaus. »Weißt du eigentlich, was hier für eine Hektik ohne dich ausgebrochen ist?« Ohne Anna und Emily zu grüßen, fuhr er fort: »Ich würde vorschlagen, du schaffst als Erstes die beiden jungen Damen aus unserem Büro und machst dich dann sofort mit mir an die Arbeit.«
Oliver schüttelte den Kopf. »Wir brauchen die beiden hier, vertrau mir Klaus!«
Klaus hob verwundert die Augenbrauen, legte seinen Stift beiseite und ließ sich mit einer lässigen Geste auf einen Bürostuhl fallen.
»Meinetwegen«, stöhnte er genervt, »schau dir mal das Whiteboard an und diese Aktenberge. Im Prinzip habe ich den Fall schon gelöst. Mir fehlt nur noch die Verbindung zu Frederick Köppe. Es gibt gerade mal noch zwei Verdächtige, und jetzt rate mal, wer das sein könnte!« Klaus grinste selbstzufrieden und blickte Oliver herausfordernd an.
Dieser ließ sich nicht zweimal bitten und knallte Klaus das Mühlenamulett auf den Schreibtisch.
»Dann erkläre mir doch mal diesen Zusammenhang hier! So untätig war ich nämlich auch nicht.«
Klaus starrte das Amulett erstaunt an und nahm es zwischen seine Finger.
»Schickes Teil. Sieht alt aus. Meinst du, es ist wertvoll? Wir könnten eine Party davon schmeißen!«
Oliver riss ihm das Amulett wieder aus der Hand. »Das kannst du vergessen, mein Lieber. Dieses Schmuckstück hier wandert sofort zu Frau Scholten ins Labor. Ich wette mit dir, das Gold ist ungefähr so alt wie die Goldspuren von der sichelförmigen Waffe, mit der Dorothea Walser die Zunge aus dem Hals geschnitten wurde«, Oliver räusperte sich und fügte hinzu: »bevor der Mörder ihr endgültig mit einem sauberen Schnitt die Kehle durchtrennt hat.« Oliver war dieser Zusammenhang mit der Vergangenheit schlagartig klar geworden, als das Mühlenamulett klirrend zu Boden fiel. In diesem Moment hatte er sich an die Worte von Hans Steuermark erinnert, als dieser ihn über die Laborergebnisse zur Mordwaffe informierte. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass – wie im letzten Winter der Puzzlemörder – erneut ein kranker Serienkiller seine hässlichen Fantasien, genährt aus der Historie des Städtchens Zons, zum Leben erwecken würde.
Klaus pfiff anerkennend durch die Zähne und grinste Oliver an. »Wir brauchen also eine Expertin, die sich mit mittelalterlichen Mordinstrumenten aus der Gegend um und insbesondere aus Zons selbst auskennt?«, sein Blick wanderte zu Emily, welche die Konversation mit blassem Gesicht und äußerster Konzentration verfolgte. Emily holte zu einer langen Erklärung aus:
»Eine goldene Sichel wurde bereits vor Christus von den Kelten als Ritualinstrument eingesetzt. Die Priester der Kelten nannte man Druiden. Diese schnitten in Heilungsritualen Mistelzweige mit einer goldenen Sichel aus Eichenbäumen. Ein weiteres Ritual war das sogenannte Stieropfer, für das ebenfalls eine goldene Sichel verwendet wurde. Vor ungefähr fünfhundert Jahren ließ sich ein Mönch aus dem Kloster Knechtsteden eigens eine goldene Sichel als Symbol für die Wahrheit und Reinheit anfertigen. Sündern schnitt er mit der Sichel – als Zeichen ihrer Lügen – die Zungen aus dem Hals. Anschließend tötete er sie, indem er ihre Kehlen durchschnitt. Sein Name war Bruder Ignatius und er ging als Sichelmörder in die Geschichte von Zons ein. Er gab seinen Opfern im Rahmen der kirchlichen Beichte mehrere Chancen, sich von ihren Sünden reinzuwaschen. Doch wenn sie seinen Vorgaben für die Buße nicht folgten oder gar versuchten, sich mit den damals sehr beliebten Ablassbriefen von ihren Sünden freizukaufen, tötete er sie. Für ihn war das eine Todsünde und damit rechtfertigte er seine Taten, bis Bastian Mühlenberg ihm das Handwerk legte. Die goldene Sichel wurde dem Kloster überlassen, aber die Leiche von Bastians Bruder, welcher ebenfalls dem Sichelmörder zum Opfer fiel, wurde nie gefunden.«
Oliver betrachtete Emily mit Bewunderung. Sie ist wirklich eine gute Journalistin, fuhr es ihm durch den Kopf.
»Es könnte also sein, dass diese Sichel wieder aufgetaucht ist und unser Mörder das Spiel von Bruder Ignatius von vorne anfängt?«, fragte Klaus in die Runde hinein. Oliver runzelte die Stirn. Er hatte die ganze Zeit in den Akten geblättert, die Klaus während seiner Abwesenheit zusammengetragen hatte.
»Keines unserer Opfer war besonders religiös. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer der Banker zur Beichte ging«, murmelte Oliver vor sich hin. Dann ging er zu seinem Laptop und öffnete das Internet. »Wenn für Bruder Ignatius damals der Kauf von Ablassbriefen eine Todsünde war, dann haben unsere Opfer vielleicht eine ähnliche Todsünde begangen.« Er gab das Wort Todsünde in die Suchmaschine ein und landete direkt auf der Seite von Wikipedia. Sein Blick blieb an der modernen Interpretation der Todsünden von Mahatma Gandhi hängen.
Die sieben Todsünden der modernen Welt:
1) Reichtum ohne Arbeit
2) Genuss ohne Gewissen
3) Wissen ohne Charakter
4) Geschäft ohne Moral
5) Wissenschaft ohne Menschlichkeit
6) Religion ohne Opferbereitschaft
7) Politik ohne Prinzipien
Gleich bei der ersten Todsünde spürte Oliver ein Kribbeln in seinem Inneren. Das könnte es sein!, fuhr es ihm durch den Kopf. Reichtum ohne Arbeit. Banken verdienen Geld mit Geld, und nicht mit Arbeit! Das könnte das Motiv für die Morde sein. Deshalb waren alle bisherigen Opfer ausnahmslos Bankangestellte! Er druckte die Seite mit den modernen sieben Todsünden aus, markierte die erste Zeile und heftete das Blatt mit einem Magneten an das Whiteboard.
Klaus erhob sich und blieb vor der Tafel stehen. »Wie gesagt, ich habe die Teilnehmer aller Kundenveranstaltungen geprüft. Es gibt nur zwei Verdächtige, die an allen Veranstaltungen – auf denen unsere Vermissten zum letzten Mal gesehen wurden – teilgenommen haben. Matthias Kronberg, ein Unternehmer, und Jimmy Henders, der als vermisst gilt.«
Anna trat an die große Tafel heran und zeigte auf das Foto von Dorothea Walser.
»Diese Frau habe ich auf der Facebook-Seite von Jimmy gesehen. Als ich näher kam, hat er sie schnell weggeklickt, aber ich bin mir ganz sicher, sie erkannt zu haben. Wie schrecklich, dass sie jetzt tot ist!«, sagte Anna.
Klaus blickte Anna an. »Genau das habe ich auch herausgefunden. Alle Opfer sind mit Jimmy Henders auf Facebook verbunden. Sie sind alle seine Freunde. Und noch etwas. Unsere IT-Spezialisten haben herausgefunden, dass er sie allesamt dazu eingeladen hat, sich mit ihm auf den Kundenveranstaltungen zu treffen.«
Anna wurde blass im Gesicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Jimmy ein brutaler Mörder war. Doch dann kamen ihr die vielen Überwachungskameras und die Mönchsgesänge aus seinem Appartement in den Sinn. Unbehagen ergriff sie.
»Ich glaube, ich habe auch eine solche Einladung von Jimmy bekommen.« Ohne weiterzureden, hielt sie Klaus ihr Handy mit der SMS von Jimmy hin.