VII.

Gegenwart

 

 

Etwas leckte über ihr Gesicht. Schleim tropfte auf Saskias Kinn und lief den Hals hinab in ihren Ausschnitt. Übel riechender heißer Atem drang in ihre Nase und für einen Moment war Saskia sich sicher, dass die Dämonen sie erledigt hatten. War sie tot?

Wieder spürte sie die raue Zunge, die quer über Mund und Nase leckte. Sie öffnete leicht die Lippen und schon war das nasse labbrige Ding zwischen ihren Zähnen. Angewidert drehte sie den Kopf zur Seite. Der Dämon ließ sich nicht beirren und beschnüffelte ihren Hals. Sie war tot und dies musste die Hölle sein. Saskia erinnerte sich daran, dass Pascal ihr heißen Tee gebracht hatte. Bis zu diesem Moment ging es ihr, abgesehen von der Migräne, noch ganz gut. Jetzt aber pulsierte das Blut heiß in ihren Adern. Es hämmerte gegen Saskias Schläfen und zwang sie, die Augen geschlossen zu halten. Sie fühlte sich benebelt. Erinnerungsfetzen kamen zurück. Sie hatte den Tee getrunken und dann war sie aus dem Haus gelaufen. Saskia hörte wieder die hupenden Autos und einen lauten Knall. Der Zusammenprall mit dem fremden Mann kam ihr in den Sinn. Schon sah sie wieder die leeren Augen vor sich, die in den blauen Frühlingshimmel starrten. Das Leben war aus ihnen gewichen und ließ nichts als einen seelenlosen Spiegel zurück. Peitschenhiebe versetzten ihrem dröhnenden Kopf schmerzhafte Stiche und Saskia unterdrückte einen Schrei, als die donnernden Pferdehufe den Schädel des Mannes erneut zerschmetterten. Bittere Galle stieg in ihr hoch, als sie gewahr wurde, dass sie diesen Mann festgehalten hatte, um sich selbst zu retten. Die Szene lief wie ein kurzer Filmausschnitt vor ihren Augen ab. Autos hupten und ein Wagen raste direkt auf sie zu. Saskia prallte gegen den Mann, hielt ihn fest und stieß sich dann von ihm ab, um auf dem sicheren Bürgersteig zu landen. Der Mann hingegen wurde mit voller Wucht vom Auto erfasst. Die Vorstellung, schuld am Tod dieses Mannes zu sein, brachte ihr Herz zum Hämmern.

Wieder fuhr die raue, feuchte Zunge über ihr Gesicht und diesmal öffnete sie die Augen. Der Dämon war direkt über ihr. Er war riesig und schwarz wie die Nacht. Saskia krallte die Hände in die Erde und warf den Kopf zur Seite. Sie hatte diesen Mann auf dem Gewissen und jetzt war sie in der Hölle gelandet. Mit einem Ruck fuhr sie hoch und schrie so laut sie konnte. Der schwarze Dämon hielt verdutzt inne. Die dunklen Augen beobachteten sie eine Weile und das langgezogene Winseln, welches daraufhin ertönte, ließ Saskias Schreien verstummen. Sie benötigte einige Sekunden, um zu verstehen, dass dort vor ihr kein Dämon, sondern ein schwarzer Hund saß. Saskia blickte sich um. Dies hier war nicht die Hölle, sondern das Rheinufer. Sanft schmatzten die Wellen und der Sand, auf dem sie saß, war hell und warm. Ein erneutes Winseln ließ sie zu dem Hund oder vielmehr Hündchen hinüberblicken. Der Zwergschnauzer beäugte sie ängstlich und leckte sich nervös die Schnauze. Saskia war vollkommen perplex. Ihr Verstand brachte die beiden verschiedenen Welten, zwischen denen sie gerade hin- und hergesprungen war, nicht übereinander.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Die Stimme brachte Saskia völlig aus der Fassung. Verunsichert blickte sie auf. Vor ihr stand eine ältere Dame mit einer Hundeleine in der rechten Hand. Der Zwergschnauzer kläffte freudig und huschte aufgeregt zwischen ihren Beinen umher.

»Ist ja gut, Benny. Hat er sie erschreckt?« Die Frau setzte ein sorgenvolles Gesicht auf und hob gleichzeitig einen Zeigefinger, der Benny auf der Stelle zum Verstummen brachte.

Saskias Augen füllten sich mit Tränen. Sie schluckte, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. Die Frau beugte sich zu ihr hinunter.

»Ach sie Ärmste, das tut mir aber leid. Ich hätte Benny lieber an die Leine nehmen sollen. Er ist manchmal einfach so wild.« Sie tätschelte behutsam Saskias Arm und half ihr, aufzustehen. Dabei plapperte sie ununterbrochen und ihre Worte stachen wie feine Nadeln in Saskias Gehirn. Schwankend machte sie einen ersten Schritt.

»Eine Freundin von mir hat auch eine Hundephobie.« Die Dame seufzte. »Das kann man sich bei einem so kleinen Hund gar nicht vorstellen ... nicht wahr, Benny ... dass du jemandem Angst machst ...« Der Redefluss wollte einfach kein Ende nehmen. Saskias Verstand konnte die Worte der älteren Frau nicht verarbeiten. Wenigstens brachte sie ein zittriges: «Vielen Dank, es geht schon wieder« hervor. Mit einem verkrampften Lächeln ließ sie die Frau mit ihrem Hund stehen und stakste holprig davon, während ihre Retterin ihr noch eine ganze Reihe an guten Ratschlägen und Entschuldigungen hinterherrief.

Als Saskia sich zurück zu ihrer Wohnung schleppte, versuchte ihr Verstand unablässig zu begreifen, was eigentlich geschehen war. Saskia hatte mittlerweile die Orientierung wiedergefunden und das diffuse Chaos in ihrem Kopf war zumindest übersichtlicher geworden. Sie befand sich am Rheinufer auf der östlichen Seite von Zons. Das war sozusagen das andere Ende der Stadt. Saskia wohnte in der Deichstraße, einer für Zonser Verhältnisse relativ viel befahrenen Straße, die vor der westlichen Stadtmauer entlangführte. Sie erinnerte sich deutlich an die Unfallszene vor dem Haus. Wie sie jedoch die weite Strecke bis zum Rheinufer zurückgelegt hatte, konnte sie sich nicht erklären. Ob sie langsam verrückt wurde und sich alles nur einbildete? Die Blaulichter, die ihr entgegenkamen, als sie gerade in die Deichstraße einbog, ließen Saskias Herzschlag einen Augenblick aussetzen. Ein schwarzer Leichenwagen fuhr dem Polizeiauto hinterher. Instinktiv verbarg sie sich hinter einem dicken Baum und beobachtete ungläubig die Szenerie. Eine flüsternde Stimme meldete sich in ihrem Kopf. Warum war Pascal ihr nicht hinterhergelaufen und hatte sie vor diesem Absturz bewahrt?

 

 

...

 

 

Oliver Bergmann hatte nur noch ein paar Minuten, die er voll auskosten wollte. Seine Zunge glitt sanft über Emilys Brustwarzen, während er ihre Hände behutsam aber unnachgiebig hinter ihrem Rücken zusammenpresste. Sie wehrte sich spielerisch und er genoss den Anblick ihrer Brustwarzen, die sich unter seiner flinken Zunge zusammenzogen. Emilys Oberkörper bog sich nach oben und Oliver konnte sich bei diesem Anblick kaum beherrschen. Eigentlich hätte er längst auf dem Weg zu seinem Partner Klaus sein müssen. Sie hatten sich vorgenommen, die Kneipen in der Umgebung von Torsten Schniewalds Wohnung abzuklappern. Noch immer waren sie auf der Suche nach Zeugen, die den Stadtrat nach seiner Landung in Düsseldorf gesehen hatten. Oliver war mit seinem Dienstwagen auf der Autobahn A57 an Zons vorbeigebraust und nahm den Fuß erst vom Gas, als er vor Emilys Appartement in Köln stand. Er hatte sie gewollt. So sehr, dass ihm alles andere egal war. Der Blick auf seinen Terminplan hatte eine verheißungsvolle Lücke offenbart, die Oliver keinesfalls ungenutzt lassen wollte. Emily hatte splitternackt an der Wohnungstür auf ihn gewartet und er hatte sich auf sie gestürzt wie ein hungriger Wolf.

Mit einem Seufzer ließ er von Emily ab, die mit geöffneten Lippen und geschlossenen Augen unter ihm lag. Ein Stirnrunzeln verriet Oliver ihre Enttäuschung über den plötzlichen Abbruch.

»Bleib, wie du bist. In ein paar Stunden bin ich zurück.« Olivers Stimme klang rau vor Erregung. Ein weiteres Mal drückte er sie mit seinem Oberkörper in die Matratze und drang tief und ohne Vorwarnung in sie ein. Ihr Stöhnen brachte ihn fast um den Verstand. Seine Willenskraft versagte. Sie liebten sich wild und Oliver vergaß für eine Weile die Welt um sich herum. Nur mit Mühe schaffte er es, sich so lange zurückzuhalten, bis Emily ihren Höhepunkt erreicht hatte. Dann sprang Oliver berauscht und glücklich die Stufen zur Haustür hinab, erfüllt von der Vorstellung auf die Fortsetzung seines Liebesspiels.

 

 

...

 

 

»Wie lange willst du mich eigentlich noch warten lassen?« Klaus grinste schief. »Es ist schon komisch, du bist so früh losgefahren und kommst jetzt erst hier an. Hast wohl einen Umweg gemacht?« Mit einem wissenden Blick stieß er Oliver in die Seite. Dieser knurrte und holte eine lange Liste mit Kneipen und Restaurants in Zons hervor.

»Ich schlage vor, wir beginnen hier in der Schloßstraße und arbeiten uns dann langsam Richtung Osten vor.« Oliver wollte mit Klaus nicht über Emily sprechen. Klaus‘ Freundin hatte vor ein paar Monaten mit ihm Schluss gemacht, weil er sich mit einer Prostituierten eingelassen hatte. Seitdem interessierte er sich außergewöhnlich stark für Olivers Beziehung und das störte ihn. Es war, als ob Klaus seine Einsamkeit mit Geschichten über Emily kompensieren wollte. Doch Emily gehörte ausschließlich ihm. Kein anderer Mann sollte auch nur annähernd so viel über sie wissen wie er.

Ohne auf Klaus‘ säuerliche Miene zu reagieren, fuhr Oliver deshalb fort: »Lass uns direkt in der Gaststätte ›Zur Post‹ beginnen.«

Mit dem Finger tippte er auf die Stelle im Stadtplan, an der sich die Kneipe befand. Auf der Schloßstraße gab es diverse Gaststätten. Sie würden sicherlich gut eine Stunde beschäftigt sein, wenn sie alle Wirte zu Torsten Schniewald befragen wollten.

Oliver öffnete die schwere Holztür. Ein dicker alter Mann mit Glatze stand hinter der Theke und polierte Biergläser. Als er die beiden Männer eintreten sah, setzte er ein freundliches Lächeln auf.

»Guten Tag, die Herren. Was darf es sein?«

Bevor Oliver antwortete, blickte er sich um. Zu dieser Uhrzeit war die Kneipe menschenleer. Der Laden war viel größer, als man es ihm von außen ansah. Die Kneipe wirkte solide und gutbürgerlich. Oliver konnte sich gut vorstellen, dass Schniewald hier Entspannung am Abend finden konnte. Lässig bewegte er sich auf den Wirt zu, während Klaus sich weiter umschaute und die Fotografien an den Wänden betrachtete. Als er direkt vor der Theke stand, antwortete er auf die Frage des Wirts. »Nichts, danke. Wir haben ein paar Fragen an Sie.« Mit diesen Worten zog er seine Polizeimarke hervor und hielt sie dem Wirt vor die Nase. Dieser hob erstaunt die Augenbrauen und ließ auf der Stelle das Bierglas zurück ins Waschbecken gleiten.

»Kennen Sie diesen Mann?« Oliver legte ein Foto von Torsten Schniewald auf den Thekentisch. Der Wirt trocknete sich die Hände und nahm das Bild auf.

»Das ist doch dieser tote Stadtrat. Natürlich kenne ich den.« Er schüttelte den Kopf und warf Oliver einen verständnislosen Blick zu.

»War er Gast bei Ihnen?«

»Ach so, das meinen Sie. Nein, ich kenne ihn nur aus der Zeitung. Nicht persönlich. Aber ich weiß, dass er regelmäßig in die Torschenke gegangen ist.«

»Woher wissen Sie das?«, hakte Oliver nach.

»Ich bin mit dem Wirt dort befreundet. Da erzählt man sich so einiges. Wollen Sie nicht doch noch ein Bier trinken? Es ist frisch vom Fass.« Der Wirt hielt ein sauberes Bierglas hoch und zwinkerte Oliver aufmunternd zu. Doch dieser hatte sich bereits der Kneipentür zugewandt. Er wusste, dass sich die Torschenke am anderen Ende von Zons befand. Kurz vor dem Rheintor an der Ostseite der Stadtmauer. Abermals schüttelte er den Kopf. »Nein, danke. Wir haben zu tun. Wenn Ihnen noch etwas zu Torsten Schniewald einfällt oder Sie sich erinnern, ihm doch schon einmal begegnet zu sein, rufen Sie mich bitte an.« Mit diesen Worten ging er erneut in Richtung Theke und drückte dem Glatzkopf seine Visitenkarte in die Hand. Dann machte er kehrt und lief auf den Ausgang zu, wo Klaus bereits auf ihn wartete.

Ohne weitere Zeit zu verschwenden, liefen sie die Schloßstraße entlang und bogen links in die Rheinstraße ein, an deren Ende sich die Torschenke befand. Das für seinen Weinkeller bekannte Restaurant war wesentlich kleiner als die Gaststätte »Zur Post«. Das alte Gemäuer war von außen weiß angestrichen und liebevoll mit Figuren und alten Weinreben verziert. Der Innenraum war gemütlich mit viel altem Holz hergerichtet. Hinter dem großen Tresen stand eine mollige Blondine, die sich gerade angeregt mit einem Kellner unterhielt. Als Oliver und Klaus die Tür geräuschvoll ins Schloss fallen ließen, drehten sich beide erstaunt zu ihnen um. Zu dieser Uhrzeit erwarteten sie offensichtlich noch keine Gäste. Die Blondine fasste sich als Erste und setzte ein falsches Lächeln auf.

»Was kann ich für euch tun?« Ihre Stimme dröhnte wie ein Bass durch den kleinen Thekenraum.

»Wir haben ein paar Fragen zu Torsten Schniewald.« Oliver hatte sich entschlossen, direkt zur Sache zu kommen. Das Auftreten der Blondine war ihm unsympathisch. Sie war nicht besonders groß, wog aber mit Sicherheit um die neunzig Kilogramm, die sich jetzt durch den engen Durchgang des Tresens zwängten. Instinktiv wich Oliver einen Schritt zurück.

»Der war schon länger nicht mehr hier.« Die massige Frau blieb nur wenige Zentimeter vor Oliver stehen. »Was geht euch das an?« Ihr scharfer Atem ließ Oliver weiter zurückweichen. Als Antwort zückte er lediglich seine Polizeimarke, während er sich weiter kontinuierlich von der kräftigen Blondine entfernte. Die blieb beim Anblick seiner Marke stehen. »Wie gesagt, der war schon länger nicht mehr hier. Hat sich mit dem Chef zerstritten.«

»Wann genau war er denn das letzte Mal hier?«

Die Dicke kratzte sich am Kopf. »He Martin, wann war der Schniewald das letzte Mal hier?«

Der Kellner, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte, machte ein paar Schritte auf Oliver zu. »Das ist mindestens drei Wochen her.«

»Und warum hat er sich mit dem Besitzer zerstritten?«, hakte Oliver nun nach.

Die Blonde drängte sich zurück in den Mittelpunkt und zuckte mit den Schultern. »Er hat eine Wette verloren und wollte die Zeche nicht zahlen.«

»Aha, und worum ging es bei dieser Wette?« Oliver hatte plötzlich das Gefühl, auf etwas Wichtiges gestoßen zu sein. Obwohl er gerade eine größere Distanz zwischen sich und die Kellnerin gebracht hatte, ging er interessiert einen Schritt auf sie zu. Sie fühlte sich sichtlich geschmeichelt. Im Plauderton erzählte sie ihm, dass die beiden oft nächtelang gepokert hatten. Nach einer scheinbar nicht enden wollenden Glückssträhne des Besitzers der Torschenke hatte Schniewald sich wütend aus dem Staub gemacht.

»Der hat gedacht, unser Chef würde ihn mit gezinkten Karten über den Tisch ziehen. Seitdem ist er hier nicht mehr aufgetaucht.« Während sie sprach, schwenkte sie ihre massigen Arme am Körper hin und her.

»Um welche Summe ging es denn beim Pokerspiel?«

Die Blonde hob beschwichtigend die Hände. »Das weiß ich nicht. Da müsst ihr den Chef schon selber fragen.« Mit diesen Worten zwinkerte sie Klaus zu, der im Türrahmen stehen geblieben war und das Gespräch stumm verfolgte. »He, du Großer. Willst du ein Bier?«

»Wenn Sie uns verraten, wo sich Schniewald sonst so am Abend aufgehalten hat, dann vielleicht.« Zu Olivers großem Entsetzen zwinkerte Klaus der Blondine ebenfalls zu. Die Blonde verlagerte das Gewicht auf ein Bein und wippte dabei aufreizend mit den Hüften. »Versucht es mal im ›Alten Zollhaus‹ ein Stückchen weiter die Straße hinauf.« Sie deutete mit dem Kopf zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Oliver hatte plötzlich den dringenden Wunsch die Torschenke zu verlassen und Klaus vor einem großen Fehler zu bewahren. Die Blonde hatte seinen Partner fest im Visier und Klaus‘ Körperhaltung sprach ganze Bände. Oliver richtete seinen Oberkörper auf und platzierte sich bewusst zwischen den beiden. Dann ließ er die Kellnerin den Namen und die Adresse des Besitzers auf einen Zettel schreiben. Um Walter König würde er sich später kümmern. Jetzt mussten sie erst einmal hier heraus.

 

 

...

 

 

»Sie schließen die Augen und stellen sich einen blauen Sommerhimmel vor. Alle Ihre Gedanken werden zu Wolken, die Sie sanft beiseiteschieben, bis der Himmel wieder strahlend blau ist.« Die Stimme des Hypnotiseurs drang behutsam in Saskias Bewusstsein, während sie sich zu entspannen versuchte. Dr. Neuenhaus saß neben ihr. Obwohl sie die Augen geschlossen hatte, konnte sie seinen Blick spüren. Er hatte sich wirklich Sorgen um sie gemacht und ein neu entwickeltes Entspannungsprogramm eines Kollegen in die klinische Studie integriert. Markus Schweigstein war Psychologe und ausgebildeter Hypnotiseur. Dr. Neuenhaus war von den Erfolgen seiner Therapie überzeugt. Dies war jetzt schon Saskias dritte Hypnosestunde und sie fühlte sich tatsächlich deutlich gelassener. Und das, obwohl sie sich heftig mit Pascal gestritten hatte.

Ihre Gedanken schweiften zurück. Nachdem sie sich unbemerkt für Polizei und Schaulustige zurück nach Hause geschlichen hatte, traf sie Pascal nicht mehr in ihrer Wohnung an. Nils schlief tief und fest in seinem Bett und hatte zum Glück überhaupt nicht mitbekommen, dass Saskia nicht zu Hause gewesen war. Sie hatte ihren Stiefbruder sofort angerufen und ihn zur Rede gestellt. Sie wollte wissen, warum er sie nicht aufgehalten hatte. Doch Pascal log offenbar, dass sich die Balken bogen. Er behauptete doch tatsächlich, dass sie friedlich geschlafen habe, als er die Wohnung verließ. Von dem Tee, den er ihr ans Bett gebracht hatte, wollte er auch nichts mehr wissen. Stattdessen fing er wieder an, sie wegen seiner Geldnöte unter Druck zu setzen. Sie war so wütend auf ihn gewesen, dass sie ihm nichts von dem Unfall und dem Leichenwagen erzählt hatte. Saskia war fest entschlossen, selbst herauszufinden, was passiert war. Es war jetzt acht Uhr morgens und direkt nach dieser Hypnosestunde würde sie sämtliche Tageszeitungen nach dem Unfall durchsuchen. Vielleicht hatte sie doch einfach nur einen schlimmen Albtraum gehabt und würde gar nichts finden. Dann hätte sie Pascal Unrecht getan und alles wäre in Ordnung. Saskia holte tief Luft und ließ sich von der Stimme des Hypnotiseurs forttragen. Ihr Leben fühlte sich plötzlich so locker und leicht an. Selbst das Bild des toten Stadtrates Torsten Schniewald konnte ihr nichts mehr anhaben. Erstaunt stellte Saskias fest, wie sie völlig emotionslos die gruselige Szene auf seinem Bett abspulen konnte. Alles war wieder voller Wasser und sie saß rittlings auf ihm. Das Bett befand sich in ihrer Fantasie in einem Burggraben und Saskia nahm gelassen hin, dass die Wellen über seinem Kopf zusammenschwappten. Beinahe zärtlich drückte sie sein Gesicht unter Wasser und genoss den Anblick des Sterbenden. Als alles Leben aus ihm gewichen war, blickte sie in seine friedlichen angstlosen Augen und wusste, dass sie nichts Schlimmes getan hatte.

Der Ton einer kleinen Glocke ertönte und Saskias Geist befand sich plötzlich wieder in der realen Welt. Die gerade durchlebte Szene war aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Sie blickte in die lächelnden Gesichter von Markus Schweigstein und Dr. Neuenhaus. Sie fühlte sich zutiefst entspannt. Der Gedanke an den Streit mit Pascal zog noch einmal wie eine Wolke durch ihren Kopf, doch Saskia schob diese behutsam beiseite und lächelte zurück.

 

 

...

 

 

Dr. Joachim Neuenhaus war äußerst zufrieden. Es war doch immer gut einen Plan B in der Tasche zu haben. Nachdem sein Hauptsponsor für das Anti-Stress-Medikament fast das Budget zusammengestrichen hätte, hatte er seinen Joker, Markus Schweigstein, aus der Tasche gezogen. Neuenhaus kannte ihn aus dem Klinikum Köln. Er genoss einen hervorragenden Ruf, obwohl er kein klassischer Mediziner war. Seine Technik hatte jedoch schnell überzeugt und nicht wenige Ärzte zogen Schweigstein gerne zur Therapie hinzu, insbesondere dann, wenn es um die Schmerzbehandlung von Patienten ging. Schweigstein war in der Lage, das sogenannte Schmerzgedächtnis zu löschen. Selbst bei hoffnungslosen Fällen war seine Methode erfolgreich.

Es hatte Neuenhaus zwar einige Mühe gekostet, seinen Sponsor von der Einbindung des Hypnotiseurs in seine klinische Studie zu überzeugen, aber am Ende hatte das Gewinnstreben gesiegt. Jetzt konnte man zusätzlich zum Anti-Stress-Nahrungsergänzungsmittel noch eine Hypnose-CD mit anbieten, die so überteuert war, dass sich das Ganze für seinen Sponsor hervorragend rechnete. Aber das war Neuenhaus egal. Er interessierte sich nicht für die monetären Aspekte seiner Forschung. Sein Ziel war es, etwas Einzigartiges zu schaffen. Er wollte den Erfolg und dieser war jetzt zum Greifen nahe. Seine Probandin Nummer eins reagierte positiv auf die Hypnose und zeigte erste Reaktionen. Genauso hatte Dr. Neuenhaus es vorausberechnet. Jetzt konnte die nächste Phase seiner Studie starten. Er hatte bereits zwanzig Probandinnen ausgesucht, für die in den nächsten Wochen teilstationäre Aufenthalte in der Klinik geplant waren. So konnte Neuenhaus seine Versuchspersonen den ganzen Tag beobachten und ihre Stressreaktionen genauestens analysieren. Jetzt musste er nur noch Gruppen bilden, die er jeweils mit einem Placebo, dem Originalmedikament und einer leichten Abwandlung behandeln würde. Aufgeregt schob Neuenhaus die randlose Brille hoch, während er akribisch die nächsten Schritte seiner Behandlung am PC plante.

 

 

...

 

 

Anna rief Bastians Namen im Traum, doch er sah durch sie hindurch, als wäre sie Luft. Dabei war er auf der Suche nach ihr. Lauthals schrie er ihren Namen in die Nacht und bemerkte nicht, dass sie direkt vor ihm stand. Tränen liefen über sein Gesicht und die Verzweiflung war ihm deutlich anzusehen. Es versetzte Anna einen Stich ins Herz, Bastian so leiden zu sehen. Sie verdankte ihm ihr Leben. Wäre Bastian nicht gewesen, hätte der Nachahmer des Puzzlemörders sie vor ein paar Monaten geschnappt. Der Puzzlemörder selbst hatte vor über fünfhundert Jahren sein Unwesen getrieben und wurde von den Einheimischen so genannt, weil er sich ein grausames Muster ausgedacht hatte, nach dem er junge Frauen ermordete. Auch Anna stand auf seiner Liste, doch Bastian hatte sie rechtzeitig gewarnt. Ihre beste Freundin Emily hielt sie für verrückt, aber Anna war sich sicher, Bastian begegnet zu sein. Er war ihr Beschützer, und auch wenn sie eine Zeitspanne von über fünfhundert Jahren trennte, spürte Anna, dass es eine tiefe Verbindung zwischen ihnen gab, die jeder logischen Erklärung entbehrte. Sie war Bankerin. Fakten und Zahlen prägten ihr Leben und für Träumereien hatte sie eigentlich wenig Sinn. Doch Bastian Mühlenberg besuchte sie in ihren Träumen und er fühlte sich so real an, dass sie manchmal tatsächlich an ihrem Verstand zweifelte. Sie wusste, dass Bastian Mühlenberg in der Vergangenheit gelebt hatte und an eine Andere vergeben war, doch das blendete sie aus. In der Welt, in der sie ihm begegnete, gab es nur sie beide. Bastian war genau der Typ Mann, in den sie sich einfach verlieben musste. Groß und muskulös gebaut. Blondes Strubbelhaar und ein feines Gesicht mit eleganten hohen Wangenknochen, die Annas Herz höher schlagen ließen. Seine braunen Augen waren so tief, dass sie sich vollkommen darin verlieren konnte. Was würde sie dafür geben, diesen Mann in ihrem Leben zu haben!

Sie strich ihm sanft durchs Haar, während er weiter ihren Namen rief und nach ihr suchte. Warum nur konnte er sie nicht mehr sehen? Sie rüttelte an seinen Schultern und mit einem Mal sah er sie an. Doch irgendetwas hatte sich an ihm verändert. Er sah älter aus. Nein, es war etwas anderes. Seine Haare. Er hatte eine neue Frisur. Erschrocken öffnete Anna die Augen und fuhr hoch. Sie war alleine in ihrem Schlafzimmer und der Vollmond schien hell durch das Fenster. Erschöpft betrachtete sie ihre fahle Haut, die durch das Mondlicht blutleer wirkte. War der Vollmond schuld an ihrem schlechten Traum? Die Augen fielen Anna zu und sanft glitt sie wieder in den Schlaf. Bastian Mühlenberg kehrte in dieser Nacht nicht mehr zu ihr zurück.

 

 

...

 

 

Oliver Bergmann stand mit seinem Partner Klaus Gruber vor der Gaststätte »Altes Zollhaus«. Sie waren in dieser Woche schon zum zweiten Mal hier. Eine der Kellnerinnen, die Oliver unbedingt sprechen wollte, war krank gewesen. Oliver kramte sein Notizbuch hervor und schlug den Namen nach. Saskia Heinermann. Sie hatte genau an dem Abend gekellnert, an dem Torsten Schniewald ermordet worden war. Da sie vom Wirt und den anderen Kellnern nichts Brauchbares erfahren hatten, malte sich Oliver bei ihr schon größere Chancen aus. Es war noch früh am Abend und die Kneipe mit Sicherheit noch leer. Prüfend warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Hoffentlich war Frau Heinermann schon da. Er öffnete die Tür und ließ Klaus den Vortritt. Über seine Schulter hinweg erblickte Oliver eine attraktive Blondine mit üppigen Rundungen. Sie war damit beschäftigt, die Tische abzuwischen und bemerkte sie zunächst nicht. Gerade als Oliver sie ansprechen wollte, klingelte sein Handy. Die Nummer im Display ließ zu dieser Uhrzeit nichts Gutes verheißen. Sein Chef Hans Steuermark war am anderen Ende der Leitung. Oliver holte tief Luft und hob ab.

»Bergmann, wo sind Sie?« Die Stimme klang scharf wie ein Rasiermesser.

»In Zons. Wir versuchen, Zeugen im Fall Schniewald zu finden.« Oliver bemühte sich, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben.

»Das wird warten müssen. Fahren Sie sofort in das Industriegebiet am Wahler Berg an der B9. Ich habe Ihnen bereits eine SMS mit der genauen Adresse geschickt. In einer alten Industriehalle ist eine verstümmelte Leiche gefunden worden. Machen Sie sich auf einen schlimmen Anblick gefasst. Der Schädel des Leichnams ist vollständig zertrümmert worden. Frau Scholten habe ich bereits informiert. Sie ist unterwegs.«

»Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte Oliver und fixierte dabei die blonde Kellnerin, die sich nach einem kurzen Blickwechsel wieder ihrer Arbeit zugewandt hatte.

»Das ist das Interessante. Es war ein anonymer Anrufer in der Notfallzentrale.«

Ohne auch nur ein einziges Wort im »Alten Zollhaus« zu verlieren, verließen Oliver und Klaus das Lokal und machten sich auf den Weg zum Tatort.

 

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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