XI.

Gegenwart

 

 

Der altmodische Mechanismus klackte und gab nur zögerlich den Blick auf den Inhalt der Truhe preis. Sie musste das Schloss bei nächster Gelegenheit ölen, damit es nicht kaputt ging. Liebevoll strich sie über die reichen Verzierungen, die in das alte Holz geschnitzt waren. Saskia hatte sich nach der Befragung durch Oliver Bergmann erneut in das Gartenhäuschen ihres verstorbenen Großvaters zurückgezogen. Nils schlief bereits tief und fest. Sie hatte eine Nachbarin gebeten, nach ihm zu schauen. Obwohl er im Schlaf gar nicht mitbekommen würde, dass sie wieder einmal nicht da war, nagte das schlechte Gewissen an ihr. Sie ließ ihren Sohn viel zu oft alleine.

Doch jetzt musste sie erst einmal ihre Gedanken zur Ruhe bringen. Bergmann hatte sie verunsichert. Er war die ganze Zeit über freundlich gewesen, doch etwas in seinen stahlblauen Augen hatte Saskia misstrauisch gemacht. Das wissende Funkeln, das mehrfach in ihnen aufgeflackert war, beunruhigte sie. Da sie Pascal nicht anrufen wollte und ihr auch sonst niemand einfiel, mit dem sie hätte sprechen können, war sie kurzerhand hierher gekommen. Sicher, sie hätte Dr. Neuenhaus anrufen können. Er hatte ihr seine private Handynummer gegeben, offenbar aus Angst, sie könnte endgültig aus seiner Studie aussteigen. Saskia lächelte unwillkürlich. Ob er für jede seiner Patientinnen die private Handynummer herausrückte, nur weil sie einmal nicht erschienen waren? Vielleicht empfand er ja doch mehr für sie, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Ob er wusste, dass Saskia ihn unheimlich attraktiv fand?

Sie seufzte und hob den Deckel der Truhe weiter an. Ihr Blick fiel auf die Unordnung, die sich vor ihr ausbreitete. Merkwürdig, dachte sie und stocherte in den alten Sachen herum. Normalerweise lagen die Schriften ihres Großvaters ordentlich gestapelt auf der linken Seite in der Truhe. Rechts befanden sich verschiedenste Utensilien, angefangen von einer alten mechanischen Uhr bis hin zu den Tintenfässern und Karten, die Auskunft über die Landverteilung und die Verlagerung des Rheins im Mittelalter gaben. Saskia hatte lange nicht begriffen, warum beispielsweise der Zollturm in Zons nicht direkt am Rheinufer lag. Eines Tages hatte ihr Großvater die Karten hervorgeholt und ihr gezeigt, wie sich der Lauf des Flussbetts in den letzten fünfhundert Jahren verändert hatte. Staunend hatte sie festgestellt, dass das Wasser sich mittlerweile fast fünfhundert Meter von der östlichen Stadtmauer entfernt hatte.

Saskias Großvater war Historiker gewesen und hatte viel Zeit mit dem Aufbau des Stadtarchivs in Zons verbracht. Er beherrschte viele alte Schriften aus dem Effeff und hatte die Tagebücher von wichtigen Zeitzeugen ins Hochdeutsche übersetzt. Wer die Geschichte von Zons im Internet aufrief, der stieß früher oder später auf seinen Namen. Saskia nahm ein braunes Lederbuch in die Hand. Es war eines ihrer Lieblingsbücher und als Teenager, nachdem ihr Großvater entschieden hatte, dass sie alt genug war, hatte er ihr daraus vorgelesen. Sie hatten an derselben Stelle gesessen, an der Saskia jetzt saß. Nur ein kleines Teelicht hatte den Raum erhellt, während ihr Großvater mit tiefer Stimme von den gruseligen Zonser Morden aus dem Mittelalter erzählte. Ein Lächeln huschte bei der Erinnerung über Saskias Gesicht. Sie löschte das Licht und zündete ein Teelicht an. Die Geister der Vergangenheit flogen auf sie zu und trugen sie zurück in eine andere Zeit, in der sie sich nicht so einsam wie jetzt gefühlt hatte. Schatten huschten flackernd über die Wände und mit einem Mal konnte sie ihren Großvater sehen. Er saß ganz dicht neben ihr und leckte sich über die rauen Lippen, während er unablässig aus dem ledernen Buch vorlas. Sie hörte seine Stimme und die beruhigende Vertrautheit lullte sie warm und herzlich ein.

Saskia wühlte weiter in der Kiste. Irgendwo ganz unten musste noch ein gemeinsames Foto von ihr und ihrem Großvater vergraben sein. Aber das Foto war nicht da. Abermals wunderte sie sich über die Unordnung in der Truhe. Ob Pascal hier seine Finger im Spiel hatte? Schnell suchte sie nach einer dunkelgrünen Schachtel, in der sich wertvolle alte Münzen befanden. Panik durchfuhr sie, als sie nicht sofort darauf stieß. Hoffentlich hatte Pascal sie nicht zu Geld gemacht. Ihr Finger blieb an einer Ecke hängen. Gott sei Dank! Die Schachtel war noch da. Saskia überprüfte den Inhalt. Er war vollständig. Erleichtert atmete sie auf. Aus einem Buch lugte ein heller Zipfel hervor. Saskia zog daran. Erfreut stellte sie fest, dass es sich um das Foto handelte. Sie legte es auf ihren Bauch und schloss die Augen.

Fünf Minuten später war Saskia tief und fest eingeschlafen.

 

 

...

 

 

Oliver Bergmann stand mit seinem Partner Klaus vor einem aufwendig sanierten Altbau am Neusser Stadtpark. Es war eine der besten Wohngegenden in Neuss. Das Haus besaß fünf Etagen mit insgesamt zehn Wohneinheiten. Die alte Stadtvilla war mit weißem Putz modernisiert worden. In regelmäßigen Abständen hatte der Architekt die alten roten Backsteinziegel freiliegen lassen. Dies verlieh dem Haus eine altehrwürdige Anmut gemischt mit den klaren Linien der Moderne. Oliver seufzte. Mit seinem Dienstgrad konnte er sich in diesem Viertel nicht einmal einen Keller leisten. Er drehte sich um und bewunderte den alten Baumbestand des Stadtparks. Wer in einer dieser Wohnungen lebte, gehörte mindestens der oberen Mittelschicht an. Bis zum Stadtzentrum waren es nur wenige Gehminuten und der Park schenkte der Gegend Ruhe und ein Stückchen Natur inmitten der Steinwüste, die in der heutigen Zeit viele Stadtkerne prägte.

Erst jetzt bemerkte Oliver das rote Absperrband, das schlaff im Wind hin und her wehte. Dahinter lagen, zu einem Haufen aufgetürmt, abgebrochene Baumstämme und Äste, deren Blätter mittlerweile ausgetrocknet und braun herabhingen. Vor einigen Wochen, am Pfingstwochenende hatte es in der Umgebung von Düsseldorf und Neuss ein heftiges Unwetter gegeben. Orkanböen des Sturms »Ela« mit Geschwindigkeiten von bis zu 144 Kilometer pro Stunde hatten sechs Tote und einige Verletzte gefordert. In den Tagen nach dem Sturm war der öffentliche Straßenverkehr komplett lahmgelegt gewesen. Die Aufräumarbeiten würden noch Monate andauern.

Oliver überflog die Klingelschilder und drückte schließlich den Knopf, auf dem der Name Martina Bettenstein stand. Er wartete auf die Stimme aus der Gegensprechanlage. Sie blieb stumm. Stattdessen ertönte sofort der Türsummer und öffnete die schwere Eichenpforte. Eine zierliche Brünette mit rotgeweinten Augen erwartete sie in der dritten Etage des Hauses. Oliver und Klaus wiesen sich aus. Sie nannten ihre Namen und Dienstgrade. Die Frau ließ sie schweigend eintreten. Ohne ein Wort führte Martina Bettenstein sie ins Wohnzimmer. Oliver staunte nicht schlecht über den riesigen Raum mit bodentiefen Fenstern und einem wundervollen Blick auf den Stadtpark.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken oder eine Zigarette anbieten?«

»Nein, danke.« Oliver hatte auf der Couch Platz genommen und Klaus sich auf einem eleganten Ohrensessel platziert. Martina Bettenstein nestelte nervös an einer Zigarettenschachtel und zündete sich schließlich eine Zigarette an. »Ich darf doch?« Sie blickte fragend auf die beiden Kriminalkommissare.

»Natürlich. Es ist ja schließlich Ihre Wohnung«, erwiderte Oliver und lächelte. Die Brünette nahm einen tiefen Zug und setzte sich dann auf die andere Ecke der Couch. Sie hatte ein recht hübsches Gesicht mit großen nussbraunen Augen und vollen Lippen. Das Make-up war dezent aufgetragen und die Lippen mit einem Hauch Gloss bedeckt. Ihre Finger waren manikürt und dunkelrot lackiert. Oliver wartete ab, bis sie einen weiteren Zug aus ihrer Zigarette genommen hatte, und begann dann mit der Befragung. Zunächst nahm er die Personalien auf und befragte Martina Bettenstein nach ihrer Beziehung zu Torsten Schniewald. Sie gab an, bereits mehrere Monate mit ihm liiert gewesen zu sein. Sie standen kurz vor der Verlobung und die Hochzeit sollte ebenfalls nicht mehr allzu lange warten. Bettenstein schluchzte, als sie davon erzählte, und Oliver musterte sie mitleidig. Die Zigarette war aufgeraucht und die zarten, zitternden Finger der Frau flatterten nervös hin und her, als suchten sie irgendetwas, um sich daran festzuklammern. Oliver stoppte ihre ausladenden Schilderungen über die Zeit, in der sie Torsten Schniewald kennengelernt hatte, und kam auf den Punkt.

»Sie haben gesagt, dass in der Wohnung von Torsten Schniewald Geld fehlt.«

»Ja, das ist richtig. Er hatte einen Safe im Schlafzimmer hinter dem großen Gemälde. Wir haben jeden Monat ungefähr zweitausend Euro hineingelegt. In der Zwischenzeit hat sich eine Summe von zwanzigtausend Euro angesammelt.« Sie machte eine Pause, um ihren Worten mehr Bedeutung zu verleihen.

»Ich habe vor zwei Tagen nachgesehen und der Safe war leer«, fuhr sie fort.

»Die Wohnung war versiegelt. Wie sind sie dort hineingekommen?«, fragte Oliver, obwohl er sich die Antwort denken konnte.

Martina Bettensteins Gesicht lief rot an und sie wich Olivers Blick aus, als sie antwortete: »Es war nur ein kleines Siegel angebracht. Ich habe einen Schlüssel und ich dachte, es ist nicht weiter schlimm.«

»Ein polizeiliches Siegel darf nicht einfach abgerissen werden. Das könnte sie teuer zu stehen kommen.«

Die Frau senkte reumütig den Kopf. »Wissen Sie, die Hälfte des Geldes gehört mir und ich wollte es einfach wiederhaben, bevor ich große Erklärungen abgeben muss.« Es entstand eine kurze Pause, dann fügte sie hinzu: »Es tut mir leid.«

Oliver ließ die Sache vorerst auf sich beruhen. Seine Abteilung war für solche Delikte ohnehin nicht zuständig. Aber er würde den Vorfall weiterleiten müssen. Glücklicherweise hatte die Spurensicherung ihre Arbeit bereits getan und alle relevanten Informationen dokumentiert. Oliver wusste, dass sich ein Safe in der Wohnung befand. Sie standen in Kontakt mit dem Hersteller, der den Code für die Öffnung übermitteln sollte. Der Hersteller hatte sich allerdings quer gestellt und Klaus hatte daraufhin einen richterlichen Beschluss erwirkt. Im Grunde hatte Martina Bettenstein ihnen einen ganzen Batzen Arbeit abgenommen.

»Können Sie beweisen, dass sich die Summe in dem Safe befand?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe ein paar handschriftliche Aufzeichnungen. Wir haben jeden Monat die Summe fortgeschrieben. Aber ein Beweis ist das sicherlich nicht.« Sie hielt Oliver ein Papier hin, auf dem fein säuberlich die Daten und dazugehörigen Beträge notiert waren. Oliver warf einen flüchtigen Blick auf den Zettel. Er glaubte ihr.

»Woher wollen Sie wissen, dass Torsten Schniewald den Safe vor seinem Tod nicht selbst geleert hat?« Olivers Frage traf Martina Bettenstein wie ein Schlag in die Magengrube. Ihre Augen weiteten sich unwillkürlich und der Schock über die Vorstellung, hintergangen worden zu sein, stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Ich weiß nicht ...« Ihre Stimme klang plötzlich zerbrechlich. »Nein, das glaube ich nicht.«

»Nun, zumindest ist diese Summe auf keinem seiner Konten aufgetaucht«, mischte sich Klaus ein, der sichtlich mit der trauernden Martina Bettenstein mitfühlte. Sie hob den Kopf in seine Richtung und ein flüchtiges Lächeln erhellte für Sekunden ihr Gesicht.

»Warum ist er an jenem Mittwochabend nicht zu Ihnen gekommen?«

Das Lächeln erstarb. Martina Bettenstein strich sich über den leicht gewölbten Bauch. »Ich bin schwanger. Wir haben nicht aufgepasst und er war sehr wütend auf mich.«

Oliver schnalzte mit der Zunge. Martina Bettenstein lieferte ihm möglicherweise gerade das zweite Motiv für einen Mord. Erst das Geld und jetzt die ungewollte Schwangerschaft. Er betrachtete sie erneut. Ob sie trotz ihrer zierlichen Figur in der Lage war, einen nassen Leichnam aus einer Badewanne zu hieven? Im Augenwinkel bemerkte er, dass Klaus den Kopf schüttelte. Offensichtlich hatte er Olivers Gedanken erraten. Nein. Oliver seufzte. Die Frau war viel zu zart. Ihre Trauer schien echt. Enttäuscht erhob er sich. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in den Mord verstrickt war, ging gegen null. Das Gespräch hatte sie nicht im Geringsten weitergebracht. Er würde sich auf Saskia Heinermann konzentrieren müssen. Im Moment lieferte sie die einzige brauchbare Spur.

 

 

...

 

 

Oliver staunte nicht schlecht. Das Rechercheteam hatte die Aussage von Martina Bettenstein bestätigt. Schniewald hatte regelmäßig größere Summen Bargeld abgehoben. Es war relativ exakt nachzuvollziehen, dass er monatlich jeweils tausend Euro beiseitegelegt hatte. Der Beginn der Abhebungen ließ sich ziemlich genau auf den Anfang der Liebesbeziehung zwischen ihm und Bettenstein eingrenzen. Darüber hinaus hatten sie inzwischen den Taxifahrer ermittelt, der Schniewald am fraglichen Abend in die Gaststätte »Zum alten Zollhaus« gefahren hatte. Der Mann hatte Schniewald auf dem Foto wiedererkannt und ausgesagt, dass er allein unterwegs gewesen war. Egal, wie Oliver die Fakten drehte, die Spur endete immer bei Saskia Heinermann. Deshalb hatte sein Chef Hans Steuermark, der dringend einen Fortschritt in den Ermittlungen benötigte, die Observierung von Saskia Heinermann genehmigt und alle notwendigen Formalitäten erledigt, um einen richterlichen Beschluss zu erwirken. Trotzdem ging Oliver in der Täterfrage nach wie vor von einem Mann aus. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Heinermann als Täterin in Frage kam. Dafür erschien sie ihm nicht abgebrüht genug und außerdem fehlte ganz eindeutig das Tatmotiv. Aber vielleicht konnte sie ihn zu einer wichtigen Spur führen. Oliver war sich sicher, dass sie etwas verbarg.

Ingrid Scholten hatte unterdessen die Ergebnisse der Blutanalyse des Opfers zur Verfügung gestellt. Schniewald hatte an dem Abend erhebliche Mengen Alkohol zu sich genommen. Außerdem waren Spuren eines Opiumgemischs in seinem Blut gefunden worden. Offensichtlich hatte Schniewald die ungewollte Schwangerschaft seiner Freundin so sehr zugesetzt, dass er sich am fraglichen Abend die volle Dröhnung gegeben hatte. Opium wurde in der heutigen Medizin nur noch sehr selten, beispielsweise bei chronischen Durchfällen, eingesetzt. In der Drogenproduktion spielte es eine bedeutendere Rolle. Opium war der Grundstoff für die Heroinherstellung. Heroin ließ sich in allen möglichen Varianten beschaffen. Das Opiumgemisch allerdings war nicht so leicht zu bekommen. Mit etwas Glück konnten sie den Beschaffungsweg zurückverfolgen.

Die Tatsache, dass auch das zweite Opfer Spuren desselben Opiumgemischs im Blut gehabt hatte, ließ eine Alarmglocke in Olivers Kopf schrillen. Das war eine bedeutende Gemeinsamkeit. Bisher hatte Oliver zwischen den beiden Leichenfunden keinerlei Zusammenhang gesehen, aber die Blutanalyse gab ihm zu denken. Sollten sie es hier mit ein und demselben Killer zu tun haben, der gerne extravagante Tötungsarten exerzierte und seine Opfer mit Drogen ruhigstellte?

Angewidert schüttelte er das Bild des Mannes mit dem zertrümmerten Kopf ab. Die Vermisstenstelle hatte den fünfundvierzigjährigen Mann identifizieren können. Er war verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Nichts brachte ihn mit dem Konsum von Drogen in Verbindung. Er hatte eine blütenweiße Weste. Nicht mehr als ein paar Strafzettel. Peter Groehn, so hieß der Tote, hatte ein absolutes Durchschnittsleben geführt. Seine Frau hatte ihn nur Stunden nach seinem Verschwinden als vermisst gemeldet und der Polizei Haare ihres Mannes zur Verfügung gestellt. Oliver hielt das Ergebnis der DNS-Analyse in den Händen, welches nur Minuten zuvor durch das Faxgerät gerattert war. Es gab keinen Zweifel mehr an der Identität des Mannes.

Oliver wurde es schwer ums Herz. Er konnte das Gespräch mit Frau Groehn nicht mehr lange hinausschieben. Er würde ihr die Nachricht vom gewaltsamen Tod ihres Mannes überbringen müssen.

 

 

...

 

 

Anna konnte diesen Typen nicht ausstehen. Vielleicht lag das an der katastrophalen Nacht, die hinter ihr lag. Sie war völlig übermüdet und hatte kaum Schlaf gefunden. Bastian Mühlenberg war ihr nicht aus dem Kopf gegangen. Sie hatte wie so oft von ihm geträumt. Hatte sich rücklings an ihn herangeschlichen, um ihn zu überraschen. Doch als er sich umdrehte, sah er erneut anders aus als sonst. Es war zweifellos immer noch Bastian Mühlenberg, doch es war, als hätte er einen Zeitsprung in die Gegenwart gemacht. Sein Oberkörper war weit weniger muskulös, als Anna ihn in Erinnerung hatte. Stattdessen trug er ein gebügeltes weißes Oberhemd, an dem die obersten Knöpfe geöffnet waren. Seine Haare waren immer noch strubbelig, aber modern geschnitten und die Haut war weit weniger sonnengebräunt. Er sah aus wie einer dieser Bürohengste, die ihr täglich in der Bank begegneten. Anna war völlig verwirrt. Sie konnte sich die Bedeutung dieser Veränderung einfach nicht erklären. Was war nur los mit ihr? Drehte sie jetzt völlig durch?

»Ist alles in Ordnung mit dir?« Emilys Stimme holte sie augenblicklich in die Gegenwart zurück. Eigentlich war Anna spontan zu Emily gefahren, weil sie die Bilder der letzten Nacht abschütteln wollte. Die Anwesenheit von Pascal Heinermann, der sich dort auf Emilys Couch fläzte, hatte ihre Laune aber nur noch mehr verschlechtert. Emily hatte Pascal zu sich eingeladen, um die nächste Reportage vorzubereiten. Anna warf ihm einen feindseligen Blick zu, den er mit einem lässigen Augenzwinkern abtat. Der Mistkerl wusste genau, was sie von ihm hielt.

Annas erster Impuls war es, auf der Stelle wieder zu verschwinden. Doch eine Stimme in ihrem Inneren ließ sie zögern. Vielleicht war es besser, Emily zur Seite zu stehen. Im Gegensatz zu ihr war Emily schon immer sehr gutgläubig gewesen und Anna wollte um jeden Preis verhindern, dass Pascal ihr schadete. Sie kannte solche Typen in- und auswendig. Es waren unstete Persönlichkeiten, die aus reinem Egoismus heraus ihre Mitmenschen manipulierten und sie dazu brachten, sie immer wieder zu unterstützen. Am Anfang ihrer Bankkarriere, als ihre Menschenkenntnis weit weniger ausgeprägt war als heute, war Anna einige Male auf solche Typen hereingefallen. Sie hatten ihre Kredite nie zurückgezahlt und Annas Bonus war zusammengeschrumpft wie ein Ballon, aus dem die Luft entwich. Irgendwann hatte sie gelernt, zwischen echter Freundlichkeit und aufgesetztem Charme zu unterscheiden. Sie war sich ganz sicher, dass Pascal zu der schlechten Sorte von Charmeuren gehörte.

»Ja, es ist alles in Ordnung. Ich wollte einfach nur spontan vorbeischauen«, knurrte Anna. Emily bemerkte die Spannung nicht, die sich im Raum wie dicke Luft breitgemacht hatte. Sie hob die Hände und zeigte begeistert auf Pascal.

»Sieh nur, Anna. Wir wollen in den nächsten Wochen meine Artikel durch medizinische Exkurse ergänzen. Wusstest du, dass der Hauptbestandteil des mittelalterlichen Laudanums aus Mohnpflanzen gewonnen wird? Heute bezeichnen wir diese Droge als Opium, aus dem Heroin hergestellt wird. In der Medizin wurde Opium früher auch als Schmerzmittel angewandt.«

Anna stöhnte innerlich. Emilys Wangen waren vor Begeisterung gerötet. Obwohl sie ihrer Freundin ungern in die Quere kam, konnte sie sich die nächste Frage nicht verkneifen.

»Du bezahlst ihn aber erst, wenn er seine Arbeit vollständig beendet hat?« Stille trat ein und Anna fügte mit beißendem Unterton hinzu: »Vorausgesetzt, dass dir die Artikel auch gefallen.«

Emily war für einen Moment sprachlos. Offenbar war ihr erst jetzt Annas Widerwillen aufgefallen. Pascal füllte die Stille, die erneut eingetreten war.

»Ich habe einen kleinen Vorschuss von zweihundert Euro erhalten und natürlich bekomme ich erst dann mehr Geld, wenn Emily vollauf zufrieden ist.«

Er deutete auf die Wasserflasche auf dem Couchtisch und hob ein leeres Glas. »Darf ich dir etwas Wasser einschenken?«

Anna platzte vor Wut fast der Kragen. Dieser Kerl war einfach aalglatt. Verkrampft nickte sie, setzte sich und nahm das Wasserglas entgegen. Wie in Trance verfolgte sie das Gespräch zwischen Emily und Pascal, unfähig, auch nur ein weiteres Wort zu sagen. Pascals Ideen erschienen auf den ersten Blick nicht abwegig, doch Anna konnte ihre Zweifel nicht beiseiteschieben. Auch wenn sie nicht mehr gegen seine Anwesenheit ankämpfte, würde sie so lange hier sitzen bleiben, bis er endlich gegangen war.

 

 

...

 

 

Hans Steuermarks Augen funkelten. Wie immer, wenn er erregt war, lief er vor seinem Schreibtisch auf und ab. Die Laufspuren, die sich bereits in den weichen Flausch seines Teppichs eingegraben hatten, waren nicht zu übersehen. Er war ein großer, hagerer Mann mit dunklen Adleraugen, die aus einem scharf geschnittenen Gesicht mit überaus intelligenten Zügen schauten. Er leitete das Kriminalkommissariat seit etlichen Jahren und hatte in dieser Zeit schon viele Grausamkeiten gesehen. Das Foto des Toten mit dem zertrümmerten Kopf schnürte Steuermarks Magen allerdings zu einem einzigen Knoten zusammen. Wie krank musste ein Täter sein, der sich so etwas ausdachte? Heutzutage gab es eine Vielzahl von Mordinstrumenten, die schnell und präzise töteten. Wenn der Mörder den Mann einfach zerquetschen wollte, hätte er ihn vor einen Zug werfen oder von einem Hochhaus stoßen können. Das wäre einfacher gewesen und zudem auch wesentlich schneller gegangen. Aber offenbar hatte der Täter genau das Gegenteil im Sinn gehabt.

Steuermarks Finger arbeiteten sich durch den Stapel der Tatortfotos. Als er den großen Wassertank erblickte, hielt er inne.

»Was ist das?«, fragte er Oliver Bergmann, der gleich neben seinem Partner Gruber saß und sich gedankenverloren das Kinn rieb.

»Bergmann?«

Der warnende Unterton in Steuermarks Stimme ließ Oliver aufschrecken. Er dachte gerade über eine Sache nach, die ihm einfach keine Ruhe ließ. Die Abteilung, die für Stimmanalysen zuständig war, hatte sich vor ein paar Minuten gemeldet. Bei dem Anrufer, der die Notfallzentrale über den toten Mann in der Industriehalle informiert hatte, handelte es sich um eine weibliche Stimme. Oliver hatte daraufhin sofort mit Ingrid Scholten telefoniert. Keiner von beiden konnte sich eine weibliche Täterin vorstellen. Natürlich, den Motor des Karrens, mit dem das Opfer regelrecht zermalmt worden war, hätte theoretisch auch eine Frau bedienen können. Aber das Tatmuster sprach eindeutig für einen Mann. Das weibliche Geschlecht tötete eher heimtückisch, beispielsweise mit Gift oder im Schlaf. In vielen Fällen stifteten Frauen Männer zur Umsetzung der Tat an. In jedem Fall töteten sie meist schnell und ließen ihre Opfer nicht lange leiden. Der Grund hierfür lag in der unterschiedlichen Motivation. Während männliche Täter oft Macht ausüben und ihre Opfer vernichten wollten, töteten Frauen eher, um sich oder andere vor Unterdrückung oder Gewalt zu schützen. Für sie war der Mord in den meisten Fällen ein Befreiungsschlag gegen die Dominanz, der sie ausgesetzt waren, und die sich anders nicht beenden ließ. Dass der Anrufer eine Frau gewesen war, irritierte Oliver.

Steuermark starrte ihn ungeduldig an, und Oliver holte tief Luft.

»Das ist ein Wassertank. Wir wissen noch nicht, inwieweit er mit dem Mord in Zusammenhang steht. Er ist jedenfalls voll funktionstüchtig und war noch vor kurzem in Betrieb. Unsere Techniker gehen davon aus, dass der Tank innerhalb der letzten zwei Tage genutzt worden ist.«

»Was ist das für ein Fenster?« Steuermark tippte mit dem Finger auf eine Vergrößerung. Oliver zuckte mit den Schultern. Er hatte lange über die Funktion des Tankes nachgegrübelt, aber bisher war ihm keine Idee gekommen. Steuermark runzelte nachdenklich die Stirn.

»Irgendwo habe ich so etwas schon einmal gesehen.« Eine Pause entstand, in der niemand etwas sagte.

»Ich kann mich nicht entsinnen.« Steuermark machte eine Notiz. »Ich denke darüber nach.« Er nahm das nächste Foto in die Hand.

»Das ist der Wagen, mit dem das Opfer so zugerichtet wurde?«

»Ja. Ingrid Scholten geht davon aus, dass der Täter circa zehn Mal vor- und zurückgefahren ist. Dabei wurde der Arm vollständig vom Körper abgetrennt. Der Kopf wurde mit einem Vorschlaghammer zertrümmert. Das Opfer war bis zu diesem Zeitpunkt noch am Leben. Wir haben Spuren von Opium in seinem Blut gefunden. Es kann sein, dass der Mann während seiner Ermordung nicht allzu viele Schmerzen erlitten hat.« Zumindest hoffe ich das, fügte Oliver in Gedanken hinzu.

»Hat die Befragung seiner Witwe irgendetwas ergeben?« Bereits der Tonfall von Steuermarks Stimme machte deutlich, dass er nicht davon ausging.

Oliver schüttelte den Kopf. Claudia Groehn hatte die Nachricht vom Tod ihres Mannes völlig geschockt aufgenommen. Sie konnte keinerlei hilfreiche Details liefern. Auch zu der Frage nach dem Rauschmittel, das im Blut ihres Mannes gefunden worden war, konnte sie nichts beitragen. Groehn hatte ein absolutes Durchschnittsleben geführt. Sein Leben tickte in der immer gleichen Routine. Man konnte die Uhr danach stellen, wann er morgens aufstand und am Abend zu Bett ging. Er hatte keine Feinde und keinen aufregenden Job. Warum ausgerechnet dieser Mann Opfer dieses grausamen Verbrechens geworden war, konnte sich bisher niemand erklären.

»Haben Sie den Besitzer der Lagerhalle ermittelt?« Steuermark ließ nicht locker. Sie hatten immer noch keinen Tatverdächtigen im Fall Schniewald und jetzt tauchte der nächste Tote auf.

Oliver nickte. »Ja. Die Firma ist pleite. Die Halle steht seit fast drei Jahren leer.«

»Aber der Wassertank ...«

Klaus Gruber fiel Steuermark sofort ins Wort. »Ich habe das überprüft. Das Wasser wird durch eine eigene Pumpe in die Halle geleitet und die Stromversorgung läuft über Solarzellen. Die Anlage ist noch intakt. Jeder hätte sie einfach und ohne Kosten benutzen können.«

Steuermark blieb stehen und raufte sich die Haare. »Aber es muss doch irgendeine Spur geben!«

»Der Anrufer in der Notfallzentrale war eine Frau«, platzte es aus Oliver heraus. Die ganze Zeit hatte er sich nach der Bedeutung dieser Nachricht gefragt. In diesem Moment war ihm etwas Wichtiges eingefallen.

»Ingrid Scholten konnte anhand der Spuren am Badewannenrand in Schniewalds Wohnung feststellen, dass dort eine Hebevorrichtung angebracht war, mit der man den toten Körper aus der Badewanne ziehen konnte. Von dort aus wurde die Leiche mit großer Wahrscheinlichkeit auf einen Ledersessel mit Rollen gehievt und anschließend auf dem Bett im Schlafzimmer abgeladen.« Oliver machte eine Pause und blickte in die erstaunten Gesichter. »Mit diesen Hilfsmitteln war nicht sehr viel körperliche Kraft erforderlich, um die Leiche vom Bad ins Schlafzimmer zu transportieren. Es könnte also genauso gut eine weibliche Täterin gewesen sein«, schloss er seine Überlegungen ab.

»Aber das Täterprofil weist doch recht eindeutig auf einen Mann hin, und was soll der Mord an Schniewald mit dem an Peter Groehn zu tun haben?« Klaus warf Oliver einen verständnislosen Blick zu.

»Eine Frau hat uns zu Peter Groehns Leiche geführt und eine Frau könnte auch Torsten Schniewald auf dem Gewissen haben. Dazu kommt, dass beide Opfer die gleiche Substanz im Blut hatten. Ingrid Scholten schwört, dass es sich um die exakt gleiche Dosis Opium handelt. Wir können nicht ausschließen, dass es sich bei den beiden Morden um ein und denselben Täter handelt.« Oliver wusste, dass er einen Treffer gelandet hatte. In Steuermarks Büro herrschte Schweigen.

 

 

...

 

 

Er zog sich die verschwitzte Fahrradkleidung aus und warf sie achtlos in die Ecke. Dann lief er zu seinem Computer und gab das Passwort ein. Innerhalb weniger Sekunden erschien das Bild seiner Königin auf dem Bildschirm. Ein Lächeln schlich sich in sein Gesicht. Alles lief perfekt. Er hatte die Kontrolle zurückgewonnen und war wieder im Spiel. Seine Figuren agierten, ohne es auch nur zu ahnen, genauso, wie er es von langer Hand geplant hatte. Es war ein heißer Tag gewesen und er war erschöpft. Doch der Einsatz hatte sich gelohnt. Sein Blick fiel auf das marmorne Schachbrett. Er hielt kurz inne und dachte nach. Dann schob er lässig die Königin auf ein schwarzes Feld, das sich unmittelbar vor dem weißen König befand. Es konnte nichts mehr schiefgehen. Egal welchen Zug der Gegenspieler auch unternahm. Das Spiel war besiegelt.

»Schachmatt«, sagte er und lief nackt ins Bad, um zu duschen.

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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