Mein erstes Begegnen mit Franz Liszt war kein persönliches: Liszt, im Zenit seines Ruhmes als Virtuose stehend, gab in Hamburg ein Konzert, und ich, als obskurer klavierspielender Knabe, hatte selbstverständlich keinen heißeren Wunsch als ihn, den größten Klavierspieler seiner Zeit, zu hören, einen Wunsch, den der gütige Vater erfüllte. So wanderte ich denn klopfenden Herzens von der Nachbarstadt Altona nach dem Hotel „Alte Stadt London“ auf dem Hamburger Jungfernsteg. Es war noch zur Zeit vor dem schrecklichen Hamburger Brande und zur Zeit der kleinen intimen Konzertsäle. Der fashionabelste Saal Hamburgs war der in dem genannten Hotel, er fasste nur vier- bis fünfhundert Hörer. Liszt war meines Wissens der erste Klaviervirtuose, welcher seine Konzerte ganz allein, ohne jegliche Mitwirkung anderer Künstler, bestritt. Das tat er auch in diesem Konzerte, abgesehen davon, dass er das berühmte Septett in D-moll von Hummel mit Begleitung einiger Hamburger Künstler vortrug. Liszt, eine überaus schlanke, elegante Gestalt, begann mit der Sonate quasi una fantasia in Cis-moll von Beethoven, und ich erinnere mich genau, dass ich ebenso entzückt war von dem unvergleichlichen Vortrage der ersten beiden Sätze wie erstaunt über die rhythmischen Gewalttätigkeiten, welche er im letzten Satze verübte. Ähnlich wechselten die Eindrücke bei mir während seiner ferneren Vorträge. Spielte er wie der echte Liszt, so spielte er wie vor und nach ihm kein anderer Klavier gespielt hat. Seine erstaunliche, von keinem übertroffene Bravour und Virtuosität war stets mit Poesie und mit der feinsten musikalischen Intelligenz gepaart. Kühnheit, Leidenschaft, Anmut, Eleganz, Humor, Schlichtheit des Ausdrucks, alles war zu rechter Zeit da und zwang einen zu uneingeschränkter Bewunderung. Kitzelte es ihn aber, die blinde Menge ein wenig zu nasführen, so ließ er sich zu allerlei Barockem verleiten, worüber sogar ich als Knabe schon den Kopf schütteln musste. So entsinne ich mich, wie betroffen ich war, als er in der übrigens wundervoll gespielten Rossinischen Tell-Ouvertüre den Kuhreigen mit der rechten Seitenfläche des rechten Zeigefingers hämmerte! Unvergleichliche, durch nichts getrübte Leistungen, die mir noch heute, nach beinahe sechzig Jahren, klar vor der Seele stehen, waren das Septett von Hummel, die chromatische G-Dur-Etude von Moscheles, das Schubertsche Ständchen und die schon erwähnten beiden Sätze aus der Beethovenschen sogenannten Mondscheinsonate. Sehr imponierte es mir, dass Liszt zwischen den einzelnen Vorträgen sich nicht zurückzog, sondern vom Podium herabstieg und als vollendeter Kavalier mit der schönen Damenwelt plauderte.

Manches Jahr war vergangen, ich lebte – im Jahr 1848 – in Leipzig. Da forderte mich eines Tages Ernst, der herrliche, Liszt kongenialer Geiger, der sich damals längere Zeit in Leipzig aufhielt, freundlich auf, mit ihm nach Weimar zu fahren, um Liszt einen Besuch abzustatten. Selbstverständlich war ich überglücklich, den Meister kennen lernen zu sollen. Gegen Mittag trafen wir in Weimar ein und eilten auf die Altenburg, wo Liszt damals residierte. Er empfing Ernst mit Herzlichkeit und mich, seinen Schützling, mit der ihm eigenen herzgewinnenden Liebenswürdigkeit. Er lud uns sofort zur Mittagsmahlzeit ein, an der außer unserem gütigen Wirt nur sein Sekretär und Geschäftsträger Belloni, Ernst, dessen Sekretär Franke und ich teilnahmen. Das Mahl war nicht lukullisch, aber vornehm, und zu den Speisen wurde bayrisch Bier und Sekt kredenzt. Den letzteren verschmähte Liszt vollständig und äußerte dabei, wie seltsam es sei, dass er die Reputation habe, viel Sekt zu trinken und oft Saiten abzuschlagen, während doch beides nicht der Fall sei. (In der Tat bin ich nie Zeuge gewesen, dass er eine Saite sprengte, sein Anschlag war stets elastisch, selbst bei titanenhaften Ausbrüchen). Damals war ihm ein Gläschen fine champagne  lieber als die feinste Marke Champagner, und er trank während der Tafel manches Gläschen. Als er auch uns davon anbot, und Ernst für mich dankte mit den Worten: „Der Reinecke ist ein Puritaner, der trinkt keinen Schnaps,“ meinte Liszt: „Enfin, lieber Reinecke, Sie haben ganz recht, ich gewöhne es mir jetzt auch ab.“ Trotzdem trank er dann wieder sein Tässchen Mokka mit einem Schuss Cognac. Nach Tische forderte er mich auf, ihn zu einem Schüler zu begleiten, dem er eine Stunde zu geben habe (es war der jetzt in Leipzig lebende geschätzte Komponist Professor A.W.). Ein größeres Glück hätte ich nicht haben können, als das, Zeuge einer Klavierstunde zu sein, die Liszt gab! Während der ganzen Zeit verharrte Liszt stehend hinter dem Stuhle seines Schülers, machte seine oft humoristisch gewürzte Bemerkungen zu dem Spiele, spielte ab und zu einzelne Stellen in geradezu unnachahmlicher Weise vor und – nahm von Zeit zu Zeit einen Schluck Cognac aus einer kleinen Reiseflasche, die er in der Brusttasche bei sich führte. Am Abend forderte mich Liszt auf, ihm vorzuspielen, da ich doch an der inzwischen arrangierten Whistpartie tätigen Anteil nicht nehmen konnte. Er nahm desto liebenswürdigeren Anteil an meinem Spiele. Als er nun aber während des Whistspiels Grog von Cognac trank, konnte ich mich in meinem Erstaunen darüber nicht der Frage erwehren, ob er wohl an dem heutigen Tage von dem Systeme des „Abgewöhnens“ Abstand genommen habe? Er verneinte dies lachend, indem er hinzufügte, dass man sich dergleichen nur ganz allmählich abgewöhnen dürfe, und indem er mir gleichzeitig von manchen Heldentaten auf diesem Gebiete aus seinen früheren Jahren erzählte. Dieses ersten persönlichen Begegnens musste ich gedenken, als mich Liszt wenige Jahre vor seinem Tode in meiner drei Treppen hoch gelegenen Wohnung besuchte. Es war ein fürchterlich heißer Sommertag, und der große Meister war sichtlich sehr erschöpft. Meine Frau bot ihm begreiflicherweise jede Erfrischung an, die man sich an solchen Tagen als erquickend zu betrachten pflegte, ohne jedoch damit zu reüssieren. Da fiel mir mein erstes Begegnen mit ihm ein, und ich schlug ihm ein Gläschen fine champagne vor. „Enfin, das wäre etwas!“ meinte er. Diese Inclination hatte ihn also noch nicht ganz verlassen, sie ist ihm aber auch nie verhängnisvoll geworden, denn bekanntlich wurde er alt und blieb stets tätig, geistig frisch und selbst produktiv. Das war mein letztes Begegnen mit Liszt. Doch habe ich noch von einigen früheren, für mich ebenso lehrreichen wie interessanten zu berichten. Bald nachdem ich den Meister unter Ernsts Obhut in Weimar besucht hatte, lud er mich ein, auf einige Tage zu ihm zu kommen, und mit dankbarem Herzen gedenke ich noch heute dieser genuss- und lehrreichen Tage. Als wir einmal ganz allein zu Nacht speisten, kam das Gespräch auf Hummel, ich bezeichnete dessen D-moll-Septett als sein vollendetstes Werk und erwähnte gleichzeitig, dass ich es vor Jahren von ihm in Hamburg hätte spielen hören. Liszt aber meinte, dass Hummels Fis-moll-Sonate dem Septett doch wohl den Rang streitig mache, und als ich nun bekennen musste, dass diese mir fremd geblieben sei, setzte er sich an den Flügel und spielte auswendig  die ganze Sonate! Ein anderes Mal äußerte ich, wie sehr ich immer bedauert habe, dass er niemals die Coriolanouvertüre von Beethoven für Klavier transscribiert habe. Da setzte er sich gleich an den Flügel, spielte sie in kongenialer Weise und sagte zum Schlusse: „So ungefähr würde ich's gemacht haben.“ Nachdem er mir die E-Dur-Etude von Chopin aus dessen ihm gewidmeten Opus 10 vorgespielt hatte, sagte er in etwas trübem Tone: „Vier Jahre von meinem Leben gäbe ich darum, wenn ich diese vier Seiten geschrieben hätte.“ Seit ich diese Etüde von Liszt gehört habe, kann sie kein anderer Spieler mir zu Dank spielen. Grade in solchen Augenblicken, unter vier Augen, spielte Liszt am schönsten; hatte er ein größeres Publikum vor sich, so packte ihn leicht ein Dämon, und er ließ sich, wie schon oben erwähnt, zu Barockem und Launenhaften verführen.

Mit gewinnender Güte und Liebenswürdigkeit verlangte er meine jüngsten Kompositionen zu hören. Ich hatte ein Konzertstück für Klavier und Orchester (später als opus 33 erschienen) komponiert, Liszt legte die nicht eben kalligraphisch geschriebene Partitur aufs Pult und spielte nicht allein prima vista in vollendeter Weise das, was in der Partitur stand, sondern er bereicherte zudem meinen etwas altmodischen Klaviersatz durch Improvisationen reizendster Art. Als ich in den nächsten Stunden zugunsten meines Konzertstückes etwas Ähnliches zu Papier gebracht hatte, freute er sich, seine Improvisationen wieder zu finden. Meine vierhändigen Variationen über eine Sarabande von Bach (opus 24), die er wiederholt mit mir spielte, ließ er dagegen unangetastet. Während dieses Aufenthaltes hatte ich auch Gelegenheit, ihn als Opernkapellmeister am Pult zu sehen. Er dirigierte wie ein firmer Operndirigent – Flotows Martha. Als ich nach Leipzig zurückkehren musste, entließ er mich, reich beschenkt mit einem ganzen Stoß seiner Klavierwerke (darunter die berühmte E-Dur-Polonaise, die Des-Dur-Etüde und die drei Notturnos „Liebesträume“), und seine Freundin, die Fürstin Wittgenstein, verehrte mir ein Medaillon (Basrelief) von Liszt nach Schwanthaler, welches noch heute mein Zimmer schmückt, während sein musikalisches Geschenk einen besonderen Platz in meinem Notenschrank einnimmt. Im Jahre 1851 erhielt ich in Bremen, wo ich damals lebte, einen reizend liebenswürdigen Brief von Liszt aus Helgoland, in welchem er mir seinen Besuch anmeldete und mir gleichzeitig den Vorschlag machte, in Bremen ein Konzert zu veranstalten, in dem er mich durch seine Mitwirkung unterstützen wolle, er habe nie in Bremen gespielt, und da könne es vielleicht meinem Konzerte förderlich sein. Dass ich dies großherzige Anerbieten dankbar annahm, wird jeder begreifen. Ich empfing ihn auf dem Bahnhofe, und er fuhr sofort mit mir ins Konzertlokal, um mit mir die soeben erschienenen Variationen für zwei Flügel über den Marsch aus Preciosa von Mendelssohn und Moscheles zu probieren. Nach der Introduktion unterbrach er die Probe und sagte: „Hier wollen wir heut Abend einen Halt machen, ich werde da eine Kadenz improvisieren.“ Und wie erfüllte er am Abend sein Vorhaben! Es war, als wenn er eine Visitenkarte an das Publikum abgäbe, auf der mit goldenen Lettern „Franz Liszt“ geschrieben stände. In der dritten, unfehlbar von Moscheles herrührenden Variation kopierte er in liebenswürdiger Weise (die natürlich nur mir erkennbar sein sollte) die in seinen späteren Lebensjahren etwas manieriert gewordene Vortragsweise Moscheles' so, dass ich Mühe hatte, ganz ernsthaft zu bleiben. Zum Schlusse spielte er seine Don Juan-Phantasie. Jeder große Sänger, jede deutsche Sängerin hätte noch von ihm lernen können, wie man den Don Juan und die Zerline singen soll. Wenn er die schwierigsten Bravourstellen, die längsten Kadenzen spielte, die mir früher oder später beim Vortrage jedes anderen Virtuosen wie überflüssiger Virtuosenflitter erscheinen wollten, so machte das bei ihm den Eindruck, als ob er Blüten und Perlen mit vollen Händen ausstreute. Der Jubel der Hörerschaft war unbeschreiblich. Aber als ich nach dem nicht enden wollenden Beifallssturm die schüchterne Frage wagte, ob er nicht noch eine kleine Zugabe spenden wollte, schüttelte er den Kopf und führte meine Hand an sein Herz – und ich erschrak, als ich fühlte, wie ungestüm, fast hörbar es klopfte.  

Da ich von Bremen aus nach Paris zu reisen beabsichtigte, stattete er mich mit vielen Empfehlungsschreiben, an Berlioz, Erard, die Brüder Escudier, den Fürsten Wittgenstein, die Marquise de Foudras, Madame Patersie (die Erzieherin seiner Töchter) aus, schrieb überdies für die „France musicale“ einen Artikel über mich zur Einführung bei dem Pariser Publikum und verlangte, dass ich seinen Töchtern Blandine und Cosima während meines Aufenthaltes in Paris Klavierstunde geben solle, ein Verlangen, das ich denn auch getreulich und gewissenhaft erfüllt habe. Es ist mir Zeit meines Lebens ein Herzenskummer gewesen, dass ich mich diesem großen Künstler und guten Menschen niemals durch aufrichtige Bewunderung seiner Kompositionen habe dankbar beweisen können, aber es ist mir trotz allen Bemühens stets versagt geblieben, mich für dieselben zu erwärmen. Wer mich deshalb einseitig und beschränkt schilt, hat von seinem Standpunkte aus vielleicht Recht, aber in Glaubenssachen wie im Kunstgeschmack kann man sich nun einmal zu nichts zwingen. Als ich in späterer Zeit verschiedene Stellungen als Dirigent einnahm, konnte ihm das nicht verborgen bleiben, und es ist sicher ein Beweis seiner Herzensgüte und Charaktergröße, dass er mir nach wie vor sein Wohlwollen erhielt; denn dass ich manche seiner Werke als Spieler wie als Lehrer kultivierte, konnte unmöglich Eindruck auf ihn machen.

Noch einmal begegnete ich Liszt in Meiningen. Ich war eingeladen worden, dort in einem Konzerte zum Besten des Joh. Seb. Bach-Denkmals in Eisennach mitzuwirken, und am Vorabende dieses Konzertes traf ich Liszt in einer Gesellschaft bei Friedrich Bodenstedt. Selbstverständlich ward Liszt bestürmt zu spielen. Er blätterte unter den Notenheften, die auf dem Flügel lagen, entdeckte die zweite Suite von Franz Lachner im vierhändigen Arrangement und sagte zu mir: „Kommen Sie, Reinecke, die wollen wir einmal zusammen spielen.“ Und wir spielten sie zusammen von Anfang bis Ende, und es dauerte volle dreiviertel Stunden; den Hörern wäre es lieber gewesen, er hätte fünf Minuten allein gespielt.