Am Abend des 16. November 1843 schritt ich den kurzen Weg von meiner Wohnung zum alten Gewandhaus in Leipzig; es war für mich ein bedeutsamer Weg, denn an dieser altberühmten Stätte, wo von Mozart an fast jeder große Künstler gespielt, und wo Mendelssohn sieben Jahre mit heiligem Eifer seines Amtes als Kapellmeister gewaltet hatte, sollte ich mich nun als berufener Künstler ausweisen. Ein Solistenzimmer gab es in diesen geheiligten, aber äußerlich so bescheidenen Räumen nicht, und bis ich an den Flügel gerufen wurde, hätte ich den Klängen der vorausgehenden Nummern durch die Tür lauschen müssen, wenn es mir nicht gelungen wäre, mich in einem Winkelchen auf dem Podium zu verstecken. Eine Symphonie von Haydn und eine Arie aus dessen „Schöpfung“ waren verrauscht, da trat ein zwölfjähriger Knabe im Jäckchen und mit umgeschlagenem Hemdkragen auf und trug die seinerzeit berühmte Othellophantasie von Ernst mit vollendeter Virtuosität und mit knabenhafter Unbefangenheit vor. Es war Joseph Joachim, dem am Schlusse das sonst etwas reservierte Gewandhauspublikum stürmisch zujubelte. Ich hatte noch eine ganze Weile zu warten, bis ich mich an den Flügel setzen musste, um Mendelssohns Serenade und Allegro giocoso zu spielen. Dass das Publikum meine Leistung zwar freundlich aufnahm, mir aber nicht in gleicher Weise zujauchzte wie dem zwölfjährigen Wunderknaben, kränkte mich nicht, denn ich war verständig genug, um es für selbstverständlich zu halten, dass das Publikum einen Knaben, der auf seiner Geige das ganze Feuerwerk eines brillanten Virtuosenstückes hatte aufblitzen lassen, enthusiastischer belohnte als einen neunzehnjährigen befrackten Jüngling, der die liebenswürdige, aber keineswegs bravourmäßig ausgestattete Serenade von Mendelssohn vorgetragen hatte. Von diesem Tage an, da wir beide unser Debüt im Gewandhaussaale gaben, bis zu Joachims Tode sind wir beide stets in treuer Freundschaft verbunden geblieben. Am Abend des 16. November 1843 hätte keiner von uns ahnen können, dass der eine bis in sein hohes Alter fast alljährlich ein jubelnd bewillkommneter Gast im Gewandhause sein würde, der andere aber fünfunddreißig Jahre lang als Kapellmeister dieses Konzertinstitut leiten und dreiundsechzig Jahre später bei der Feier von Mozarts hundertfünfzigstem Geburtstage eins seiner Konzerte in den Prachträumen des neuen Gewandhauses spielen würde. 

  Joachim war das siebente Kind jüdischer Eltern, die in einem kleinen Orte in der Nähe von Preßburg lebten. Ohne seine musikalische Begabung von Vater oder Mutter ererbt zu haben, zeigte er dennoch sehr früh ein bedeutendes Talent, und schon mit sieben Jahren trat der kleine Mann im Adelssaale in Pest als Geiger auf; infolgedessen hatte er das Glück, aufs Konservatorium in Wien gebracht zu werden. Dort wurde ihm der Vorzug zuteil, den Unterricht des berühmten Geigenmeisters Joseph Böhm genießen zu können, der ihn zu dem Künstler machte, der schon als Dreizehnjähriger einem Mendelssohn imponieren konnte. Mit rührender Dankbarkeit hing er an seinem Lehrer und widmete ihm auch sein Opus 1 Andantino und Allegro scherzoso für Violine mit Orchester. Eine sehr schwierige, vierunddreißig Takte umfassende Kadenz in diesem Werke schrieb er mir in mein Album mit der Unterschrift: „Meinem lieben hochgeschätzten Freunde C. Reinecke zur Erinnerung an Jos. Joachim.“ Wie die Schrift noch den Knaben verrät, so hat er auch nach knabenhafter Weise vergessen, das Datum hinzuzusetzen; die Widmung wird aus dem Jahre 1844 stammen, und zwischen diesem, dem ersten, und dem letzten an mich gerichteten Schriftstück, dem Glückwunsch zu meinem achtzigsten Geburtstage, welchen er am 23. Juni 1904 namens der Königlichen Akademie der Künste an mich richtete, mögen wohl rund sechzig Jahre liegen.

    Ganz naturgemäß stak Joachim bei seinem Erscheinen in Leipzig noch ganz im Banne der Virtuosität, aber durch den steten Umgang mit Mendelssohn, der den Knaben wie ein Vater liebte und förderte, ward er gar bald ins Heiligtum der Kunst eingeführt, und fortan verwertete er sein künstlerisches Können lediglich zur vollendeten Wiedergabe wahrhafter Kunstwerke der Geigenliteratur. Im Jahre 1853 spielte er auf dem Niederrheinischen Musikfeste zu Düsseldorf, und ich hatte zufällig das Glück, diesem seinem ersten Auftreten in den Rheinlanden beiwohnen zu können. Welch ein Andrer, Größerer war er inzwischen geworden. Einst Gefolgsmann der Virtuosität, jetzt Priester der Kunst. Er spielte das Beethovensche Violinkonzert, das bis dahin von keiner Interpretation erreichte, welches erst von dem Augenblicke an, da Joachim es sich zu eigen machte, in seiner ganzen Größe erkannt worden ist. Wie ein jugendlicher Held, vornehm, aber anspruchslos, erschien er auf dem Podium; kaum jedoch hatte er die ersten, gleichsam verklärten Anfangstakte des Solo gespielt, so sprang ihm infolge der tropischen Hitze, die in der Konzerthalle herrschte, die Quinte, doch rasch entschlossen nahm er dem Konzertmeister Theodor Pixis die Geige aus der Hand und spielte, als ob nichts vorgefallen wäre, den ganzen Satz auf dem fremden Instrument zu Ende. Es ist ein müßiges Beginnen, so ein vollendetes Spiel mit Worten zu beschreiben. Aber noch heute, nach sechsundfünfzig Jahren, erinnere ich mich deutlich, dass ich nach diesem Vortrag mich in die einsamsten Gänge des Hofgartens schlich, um ungestört dieses künstlerische Ereignis noch einmal in meinem Innern zu durchleben. - In demselben Jahre gab ich mit Joachim ein Konzert in Bremen, in welchem wir u. a. die Kreuzersonate von Beethoven und das reizvolle H-moll-Rondo von Franz Schubert spielten. Als wir am anderen Morgen allein im Eisenbahncoupé saßen, trieben wir allerlei musikalische Allotria, gaben uns Scharaden auf und improvisierten zweistimmige Kanons u.s.w., da sah ich plötzlich auf der Fußmatte etwas Goldiges blinken und rief: „Schau her, Joachim, da liegt ein Louisd'or!“ Er war genauso erstaunt über diesen Fund wie ich, ward aber ganz verblüfft, als wir nach und nach mehr dieser angenehmen Goldstücke fanden. Plötzlich ging ihm ein Licht auf: er hatte seinen Anteil an der Konzerteinnahme blank in die Hosentasche gesteckt, und diese hatte ein Loch. -

Joachim, welcher bis dahin nur vorübergehend und auf kurze Zeit feste Stellungen angenommen hatte (so als Lehrer des Violinspiels am Conservatorium in Leipzig und als Konzertmeister in Weimar), nahm im Jahre 1853 die Berufung des Königs Georg V. von Hannover an, welcher ihn zu seinem Kammervirtuosen und zum Königlichen Konzertmeister ernannte. In dieser Stellung verblieb er bis zum Jahre 1866. Im Jahre 1863, kurz nachdem er sich mit der trefflichen Sängerin Amalie Weiß vermählt hatte, lud er mich ein, in einem der von ihm geleiteten Abonnementskonzerte meine Ouvertüre zu Calderons „Dame Kobold“ zu dirigieren und bei dieser Gelegenheit in seinem neuen Heim sein Gast zu sein. Es ist mir eine liebe Erinnerung, so selbst von dem jungen Glück dieses herrlichen Künstlerpaares Zeuge gewesen zu sein.

Ein eigentümlicher Zufall ist es, dass die Zahl „3“ eine gewisse Rolle in meinen markantesten Begegnungen mit Joachim spielt: Unser erstes Begegnen war im Jahre 1843, zehn Jahre später gab ich mit ihm das Konzert in Bremen, abermals nach zehn Jahren trat ich, wie eben erzählt, in seinem Konzert als Komponist und Dirigent auf, und im Jahre 1873 spielten wie miteinander die H-moll-Sonate von Joh. Seb. Bach in einem Konzerte in Leipzig, welches von den Freunden und Verehrern des Liederkomponisten Robert Franz veranstaltet worden war, um dem durch Ohren- und Handleiden schwergeprüften Künstler eine Ehrengabe überreichen zu können. Im Jahre 1883 hatte ich zum ersten Mal die Freude, Joachim als Quartettspieler mit seinen trefflichen Genossen de Ahna, Wirth und Hausmann begrüßen zu können. Diese Quartettsoirée fand am 23. April im Saale des Gewandhauses vor einem erwartungsvoll gespannten Hörerkreise statt. Zwar hatte ich meinen Freund gar manches Mal schon als Quartettspieler bewundert, aber niemals als Haupt des von ihm in Berlin gebildeten Quartetts, einer Korona von Künstlern ersten Ranges, die sich nun bereits seit Jahren so ineinander eingelebt hatten, dass nirgends eine Schwäche, nirgends ein Hervordrängen des einzelnen zu entdecken war, und dass selbst die improvisierte Nuance, die sich irgendeiner gestattete, sofort von den übrigen erfasst wurde, als wäre sie in den Proben vorbereitet worden. Es war mir nach einigen Bemühungen glücklich gelungen, diese illustre Vereinigung zu einem Besuche Leipzigs zu veranlassen, und ich hatte die Freude, dass das Leipziger Publikum den vollendeten Leistungen volles Verständnis entgegenbrachte. Man begegnet manchem großen Virtuosen, der scheitert, wenn er Meisterwerke der Kammermusik zur Darstellung bringen soll, weil ihm das Verständnis für diese edelste aller Kunstgattungen abgeht, aber Joachim, der in allen Sätteln gerechte Musiker von sicherstem Stilgefühl und feinstem Empfinden, wusste mit seinen Kunstgenossen ebenso hinreißend ein sonnig-heiteres Quartett von Haydn wie das tiefsinnigste der Beethovenschen Muse zu interpretieren, ebenso gut den romantischen Zauber in Schumanns oder Schuberts Schöpfungen zur Geltung zu bringen wie die schlichte Größe und keusche Anmut Mozarts.

Abermals zehn Jahre später traf ich mit Joachim am Rhein zu gemeinschaftlichem Musizieren zusammen. Am 2. Februar 1889 hatte die „Bonner Zeitung“ folgende kurze Notiz gebracht: „Das Haus Bonngasse Nr. 20 – Beethovens Geburtshaus – ist für den Preis von 57000 Mark von dem jetzigen Besitzer an Herrn ... hierselbst verkauft worden.“ Es hatten sich nämlich kurz zuvor kunstbegeisterte Männer von Bonn vereinigt, um dieses denkwürdige Haus, in dem der größte Sohn dieser Stadt das Licht der Welt erblickt hatte, zu erwerben und der Nachwelt als ein Denkmal pietätvoller Dankbarkeit zu erhalten. So entstand der Verein „Beethoven-Haus“ zu Bonn. Um die nötigen Mittel zur Durchführung des Unternehmens zu beschaffen, entschloss man sich zur Veranstaltung periodisch wiederkehrender Kammermusikfeste großen Stiles mit mustergültigen Aufführungen. Das erste dieser Feste fand im Jahre 1890 vom 11. bis 15. Mai statt. Joachim war zum Ehrenpräsidenten des Vereins ernannt worden, und sein Quartett war natürlich eine Hauptanziehungskraft. Leider war de Ahna inzwischen aus dem Leben geschieden, jedoch durch einen Schüler Joachims aufs beste Beste ersetzt worden. Auf diesem Feste trug ich u. a. mit Joachim und Alfred Piatti Beethovens Trio Op. 70 Nr. 2 vor. Als wir drei später photographiert wurden, addierten wir unsere Lebensjahre und gewannen die stattliche Zahl von 193. Das zweite Fest wurde im Jahre 1893 vom 10. bis 14. Mai gefeiert, und wieder einmal kam die Zahl „3“ zu ihrem Rechte, denn ich hatte wieder mit Joachim ein großes Trio von Beethoven zu spielen.

 In Kürze sei schließlich noch der beiden Feiern gedacht, die bei der Enthüllung der Denkmäler für Mendelssohn in Leipzig und für Schumann in Zwickau stattfanden. Am 26. Mai 1892 wurde das eherne Standbild Mendelssohns enthüllt, und die Feier gipfelte in einem Festkonzerte im neuen Gewandhause, welches ich leitete und in dem Joachim das Mendelssohnsche Violinkonzert spielte, während wir beide uns am Vorabend bei einer mehr intimen Feier an der Aufführung Mendelssohnscher Kammermusikwerke beteiligten. Die Enthüllung des Schumannmonumentes wurde mit einem mehrtätigen Musikfeste gefeiert, und zwar im Juni 1901. Joachim und ich, als die einzigen noch lebenden Musiker, die Schumann nahegestanden hatten, waren eingeladen, das Fest zusammen mit dem einheimischen Musikdirektor zu leiten und uns zugleich als Ausführende daran zu beteiligen. Als Joachim, während ich das Orchester führte, die Geigenphantasie des Meisters vortrug und plötzlich vor übergroßer Rührung den Faden verlor, ward es auch mir weh ums Herz, und es war wohl zu verstehen, wenn wir uns nach Beendigung des Stückes in den Armen lagen, des so trübe dahingeschiedenen, von uns so geliebten Meisters gedenkend. Das war mein letztes Zusammenwirken mit Joachim.

 

Nun ist auch er, der große Geigenmeister, heimgegangen. Die jüngere Generation, die ihn nur in seinen letzten Lebensjahren spielen hörte, behauptet oft enttäuscht zu sein, weil sie wohl die Schwächen bemerkte, die durch die gealterten Glieder bedingt waren, nicht aber die Größe seines Stils und die einfache Schönheit seines Vortrages zu würdigen wusste. Man mag es bedauern, dass die Verhältnisse ihn zwangen, noch bis kurz vor seinem Ende öffentlich aufzutreten, aber es fällt darum doch kein Blättchen aus dem immergrünen Lorbeer, der seine edle Stirn umwindet.