Wie manches Rätsel wird dem zu lösen aufgegeben, der dem Werdegang eines Künstlers, seinen großen Eigenschaften und seinen Schwächen, seinen Erfolgen wie auch seinem verfehlten Streben nachforscht und schließlich das Fazit seines Lebens, Schaffens und Wirkens zieht! Ein solches Rätsel war Anton Rubinstein. Gute Feen legten ihm eine seltene Begabung für alles Gute und Schöne, insbesondere für die Musik in die Wiege; als Knabe schon machte er die Welt Staunen, wenn er sich an den Flügel setzte, und Männer wie Mendelssohn und Liszt nahmen ihn mit offenen Armen auf. Und der Wunderknabe verkümmerte nicht, wie das bei so manchem frühzeitigen Talente der Fall ist, sondern aus ihm ward schon als Jüngling einer der größten Klaviervirtuosen, welche die Welt gesehen hat. Auch scheint es, als habe das Schicksal ihn auch im Übrigen zu seinem ganz besonderen Liebling erkoren. Die edle und kunstsinnige Großfürstin Helene von Russland war und blieb bis zu ihrem Lebensende seine mütterliche Freundin und Beschützerin. Seine Landsleute vergötterten ihn, und zwei Weltteile feierten den großen Virtuosen, wie nur einst ein Liszt als solcher gefeiert worden war, für seine zahlreichen Kompositionen fand er einen Verleger, welcher alles und jedes, was der fleißige und unermüdliche Künstler schuf, unbesehen und ohne zu feilschen zu dem gewünschten Honorar akzeptierte; hinter dem Rücken Rubinsteins besorgte er in diskreter und vornehmer Weise die Reklame, deren selbst ein Künstler wie dieser nicht ganz entraten konnte. Wahrhaftig dieser Verleger (Bartholf Senff in Leipzig) war ein weiser Rabe! Last not least flog dem Künstler das Gold in Hülle und Fülle zu; und wenn er gar in Petersburg oder Moskau ein Konzert gab, so bedeutete die Einnahme ein kleines Vermögen. So konnte er mit vollen Händen geben und wohltun wie sein gutes Herz ihm gebot. Aber dieser so edle Mensch und große Künstler war nicht glücklich! Was war`s denn, was ihm fehlte? Es nagte an ihm, dass der Virtuose Rubinstein den Komponisten überragte und dass die Welt den ersten vergötterte, dagegen den Komponisten in liebenswürdiger Weise nur tolerierte. Und doch war auch sein Kompositionstalent ein ungewöhnliches, seine Erfindungsgabe eine leichte und spontane, welche überdies der Originalität nicht entbehrte, namentlich wenn seine Schöpfungen ein orientalisches Kolorit hatten, wie u. a. seine Oper „Feramors“, seine persischen Lieder usw. Sein Fleiß und seine Fruchtbarkeit waren erstaunlich, zumal, wenn man in Anschlag bringt, dass er kaum sechzig Jahre alt geworden, dass überdies seine Zeit durch ununterbrochene Konzertreisen gar sehr in Anspruch genommen war und, - dass ihm einst auf einer Reise in Russland ein ganzer Koffer mit Manuskripten abhanden kam, der trotz aller Nachforschungen nie wieder ans Tageslicht gekommen ist. Er hat nicht weniger als dreizehn Opern geschrieben, ferner ein Ballett, vier Oratorien (die er mit Vorliebe „geistliche Opern“ nannte und auch als solche dramatisch aufgeführt haben wollte), fünf Symphonien, drei Konzertouvertüren, fünf Klavierkonzerte, zwei Violoncellokonzerte, ein Konzert für Violine, achtundzwanzig große Kammermusikwerke, zahlreiche Klavierwerke und Lieder. Unter diesen befinden sich manche Perlen, wir nennen unter vielen nur den „Asra“, „Es blinkt der Tau“, „Gelb rollt mir zu Füßen der brausende Kur“, welche, wenn sie auch in der Gegenwart durch Hugo Wolf und andere Moderne zurückgedrängt sind, doch sicherlich nie ganz vergessen werden können. Während Rubinstein in diesen kleineren Formen so überaus glücklich war, weil seine Erfindungsgabe ihn selten im Stich ließ, so gelang es ihm doch leider nur in vereinzelten Fällen seine größeren Werke zu wirklicher Formvollendung herauszugestalten. Sein unermüdlicher Fleiß strebte fieberhaft danach, ein eben begonnenes Werk rasch abzuschließen, anstatt es in Ruhe der Vollendung entgegenreifen zu lassen. Er mochte sich dies wohl im Geheimen selbst gestehen. Aber er arbeitete trotz dessen unverändert in seiner Weise weiter. Es konnte ihm selbstverständlich nicht verborgen bleiben, dass seine Opern nach und nach von den Bühnen, seine Orchesterwerke und Oratorien aus den Konzertsälen verschwanden, und das machte ihn zum Misanthropen. Während so manche Virtuosen, die ihm nicht gleichkamen, frohgemut die Welt durchstreiften und sich in ihrer eigenen Virtuosität sonnten, wurde sie ihm, dem hochstrebenden Künstler, eine Last, die er widerwillig trug. Wie bitter er es empfand, dass Publikum und Kritik seinen größten Werken wenig Sympathie entgegenbrachten, geht aus dem folgenden Briefe hervor, den ich als sehr bezeichnend für die Stimmung des großen Künstlers aus der Reihe seiner an mich gerichteten Briefe mitteile:

 

St. Petersburg, den 14./25. April 1887

 

Lieber Reinecke!

Herzlichen Dank für die ehrende Widmung und freundliche Zusendung Ihrer Ouvertüre „Zenobia“; wohl möchte ich mich revanchieren, aber es wird wohl nichts draus werden, da ich das Komponieren aufgeben will – ich habe sehr viel geschrieben und meine Kompositionen gefallen eigentlich nur mir allein, und das ist denn doch schließlich kein genug triftiger Grund, um noch mehr zu schreiben.

Also nochmals herzlichen Dank und mit besten Grüßen Ihrer Frau und Ihnen.

Ganz der Ihrige

Ant. Rubinstein.

 

 

Seltsamerweise hatte Rubinstein zwar eine hohe Achtung vor Brahms, aber wenig Sympathie für dessen Werke, was schon daraus hervorging, dass er in den sieben Abenden, in denen er die Geschichte und Entwicklung des Klavierspiels von den ersten Anfängen bis zur Gegenwart durch seine Vorträge praktisch demonstrierte, kein einziges Werk von Brahms vorführte. Auch erzählte er einst: „In der vorigen Woche habe ich in Petersburg zwei Requiems gehört, ein lateinisches, das nicht eben geistreich, aber sehr amüsant war, und dann ein deutsches, welches ungeheuer geistreich, aber recht langweilig war.“ Es waren Verdis und Brahms' Requiems.

  Rubinsteins Erscheinung zeigte sofort, dass man einem bedeutenden Menschen gegenüberstand. Sein Kopf mit dem üppigen Haupthaar erinnerte an den Beethovens, seine gedrungene Gestalt zeugte von Kraft und Energie, seine Bewegungen waren unbekümmert, natürlich und bequem und hatten in seinen reiferen Jahren sogar etwas Bärenhaftes an sich. Er sprach vier Sprachen fließend, liebte die Geselligkeit (aber es mussten Damen an der Tafelrunde sein), spielte außer Klavier auch gerne Whist, hörte mit großem Vergnügen eine hübsche Anekdote, einen guten Witz erzählen und war dann immer ein sehr dankbarer Zuhörer, denn er lachte unbändig und – vergaß alle derartigen Schnurren so rasch und vollständig, dass man ihm dieselben Jahr für Jahr wieder erzählen konnte, ohne dass er ahnte, dass er sie schon einmal gehört und belacht hatte. - Er hatte die bei einem Musiker selten zu findende Eigenschaft, dass er ungern Proben hielt. Führte er ein neues Orchesterwerk von sich auf, so war er sofort nach der ersten Probe mit allem zufrieden, und wenn ich ihn himmelhoch bat, dies oder jenes zu wiederholen, und wenn das Orchester ungeduldig darauf wartete, dann sagte er: „Was wollen Sie? Es kann ja gar nicht besser gehen!“ Freilich musste er auch hier und da die bösen Folgen so leichtsinnigen Probierens spüren. Bei einer Aufführung seines Oratoriums „Der Turmbau zu Babel“ geriet das Orchester infolge der ungenügenden Proben gleich zu Anfang ins Schwanken, und bald war es aus Rand und Band. Rubinstein wandte sich an den neben ihm stehenden Solisten, den Sänger Schelper, mit den Worten: „Haben Sie einen Sohn, Herr Schelper?“ - „Sogar zwei.“ - „Lassen Sie den Jungen um Gottes willen nicht Musiker werden“ - sprach`s, klopfte aufs Pult und fing von vorn wieder an. Er ermunterte überhaupt selten zur Karriere des Musikers, und als eine junge Dame ihm einst vorgespielt hatte und ihn fragte, ob sie weiter studieren solle, packte er sie beim Arm und rief: „Heiraten Sie!“