Als ich im März des Jahres 1896 in Wien die Freude hatte, mit Brahms täglich verkehren zu können, war er noch der kraftstrotzende Mann mit dem sonoren Organ, den blitzenden Augen, mit der untersetzten behäbigen Gestalt und dem straffen Gange, wie man ihn seit Jahren kannte. An allem nahm er regsten Anteil, mochte es seine Kunst oder die anderen Künste, die Literatur oder die Wissenschaft angehen. Im „Roten Igel“ vertilgte er imposante Portionen mit beneidenswertem Appetite und trank bei unserem gemeinschaftlichen Freunde Ignaz Brüll mit Behagen feurige Weine, die man ihm gern kredenzte, da er sie wohl zu schätzen wusste; er verschmähte, als er mich im Hotel aufsuchte, den Lift, den jeder andere sonst gern benutzt. Nur in einer Beziehung war er ein anderer geworden: seine kaustische Art im Umgange mit anderen hatte sich fast ganz verloren, und er war im Verkehr liebenswürdiger geworden. Bei meinem ersten Besuche, den ich ihm machte, befremdete mich allerdings der Empfang, der mir von der wachhabenden Haushälterin zuteil wurde; denn als ich sie aufforderte, meine Karte hineinzutragen und anzufragen, ob ich den Doktor Brahms sprechen könne, gab sie mir kurzweg den Bescheid: „Geh'n Sie nur so hinein! Der Doktor sagt, er werde sonst bloß zweimal gestört.“ Ich trat also nach dem kräftigen „Herein“ in das einfache Gemach, in dem herzlich wenig von dem zu sehen war, was zum wohnlichen Behagen beiträgt. Aber mit Stolz zeigte er mir die schöne Aussicht von seinem Fenster auf die stattliche Karlskirche. Dann bot er mir mit freundlichem Schmunzeln eine besonders feine Zigarre an und zeigte mir eifrig seine wunderbaren Schätze an Autographen, eine große Menge Schubertscher Lieder (darunter manche der allerberühmtesten), viele Beethovensche Skizzenblätter, Briefe von Hölderlin, sechs Streichquartette von Haydn, die G-moll Symphonie von Mozart in Partitur und vieles, vieles andere. Die Mozartsche Symphonie gab ihm Anlass, mir eine besonders interessante Korrektur zu zeigen, die der Meister gleich in den ersten Takten vorgenommen hatte. „Schauen Sie her“, sagte er, „die verdoppelte Terz hat der Mozart nicht vertragen können, und so hat er aus dem b in der Bratsche ein d gemacht. Ja, muss der ein herrliches Ohr und eine feine Empfindung gehabt haben!“ Die Korrektur, die Brahms zu diesen Worten veranlasste, ist die nachstehende im dritten Takte.

Nachdem ich mich an diesen Sätzen satt gesehen hatte, verabschiedete ich mich von ihm. „Auf Wiedersehn im nächsten Jahre“, meinte er, und fügte so freundliche Worte hinzu, dass ich Anstand nehme, sie zu wiederholen. Aber – das Wiedersehen sollte ein sehr trübes sein! Ich sah ihn zuerst wieder, als er mich – im März des nächsten Jahres – in Wien im Hotel aufsuchte; denn ich hatte ihn bei meinem ersten Besuche verfehlt, obgleich ich frühzeitig zu ihm gegangen war. Man hatte mich zwar darauf vorbereitet, dass sein Anblick mich erschüttern werde, aber so hatte ich mir doch die Veränderung, die mit ihm vorgegangen sein sollte, nicht vorgestellt. Die Augensterne waren wie erloschen, und das Weiße des Aufapfels fast braun, das Gesicht hatte eine gelbbraune Farbe, die Backenknochen traten aus den abgemagerten, hohlen Wangen stark hervor, die eine Gesichtshälfte erschien wie etwas gelähmt, die Haltung war gebückt und müde, der Gang schleppend, und die Kleider schlotterten um den zum Skelett abgemagerten Körper – ein Bild des Jammers! Am 13.März sah ich ihn zum letzten Male in seiner Wohnung; er bot mir, wie gewöhnlich, eine Zigarre an, die ich diesmal gern zum Andenken mitgenommen hätte, aber er nötigte mich, sie anzubrennen. Beim Abschiede sagte er dieses Mal nicht „auf Wiedersehen im nächsten Jahre!“
Um nicht mit diesem trüben Bild zu schließen, will ich kurz von meiner ersten Begegnung mit Brahms erzählen. Es war in Köln gegen Ende des Sommers 1853, als ein junger, hübscher Mann mit langem, blonden Haare und fast mädchenhaftem Gesicht in mein Zimmer trat, mir einen Brief von dem Universitätsmusikdirektor Anold Wehner, einen Gruß von meinem Freunde Wasielewski aus Bonn überbrachte und sich als Johannes Brahms vorstellte. Man hatte damals noch nichts von ihm gehört. Er fragte mich, nachdem wir längere Zeit geplaudert hatten, ob ich etwas von ihm hören wollte, und spielte mir dann auf meine Bitte sein später als op.4 erschienenes Scherzo in Es-moll vor, und zwar so künstlerisch vollendet, dass ich über das Spiel ebenso freudig erstaunt war wie über die Komposition des damals zwanzigjährigen Künstlers. Ich führte ihn dann zu Ferdinand Hiller und geleitete ihn endlich auf den Bahnhof in Deutz, weil er beabsichtigte, Schumann in Düsseldorf zu besuchen. Zum Abschied gab er mir seine Photographie; ich habe sie nun 47 Jahre lang getreulich aufgehoben, und wahrscheinlich werden nicht mehr viele Exemplare dieser Aufnahme existieren. Freilich kann man sich aus ihr nur den Kopf konstruieren, der uns durch die zahllosen Bildnisse, die ihn in seinen späteren Mannesjahren darstellen, vertraut geworden ist. Einige Wochen nach jenem Tage, an dem der junge Brahms die Fahrt zu Robert Schumann angetreten hatte, las man dessen berühmt gewordenen Artikel „Neue Bahnen“.