Unter den großen Künstlern, mit denen zu verkehren mir vergönnt war, nimmt die unvergleichliche dramatische Sängerin Wilhelmine Schroeder-Devrient einen hervorragenden Platz ein. Wohl heißt es, „dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“, aber bekanntlich sind alle geflügelten Worte mit Vorsicht zu gebrauchen, und manchen Meister der Darstellung, wie Eckhoff, Iffland, Talma, Garrick, Jenny Lind, Sofie Schroeder und last not least Wilhelmine Schroeder-Devrient wird die Nachwelt nie vergessen, denn ihre Namen sind eben Marksteine in der Geschichte der Schauspielkunst. So sei denn der größten aller dramatischen Sängerinnen ein schlichter Kranz gewunden, einer Künstlerin, die sich den unvergänglichen Ruhm erworben hat, dem fast schon vergessenen und verschollenen Fidelio durch ihre vollendete Wiedergabe der Leonore die deutsche Opernbühne wieder erobert zu haben.

Es war im Jahre 1847, als die große Künstlerin nach Kopenhagen kam, um einer Einladung zu einem längeren Gastspiele im Königlichen Hoftheater nachzukommen. Bevor jedoch alle Welt die gefeierte Frau hören sollte, wollte der König diesen Genuss zunächst sich und dem engeren Kreise der Hofgesellschaft im voraus verschaffen und ließ sie deshalb zu einem Hofkonzert einladen. Da ich damals dänischer Hofkomponist war, fiel mir die Aufgabe zu, das Programm mit ihr zu vereinbaren und mit ihr zu probieren. Und diesem Umstande verdanke ich das Glück, ihre persönliche Bekanntschaft gemacht zu haben. Obwohl damals schon zweiundvierzig Jahre alt, war sie doch immer noch eine schöne Frau. Namentlich zeigte ihr Profil schöne und edle Linien, und ihre wunderbar schönen Bewegungen ließen es fast ganz übersehen, dass ihre Figur schon etwas reichlich frauenhaft war. Eine spezifische Gesangs künstlerin ersten Ranges war sie nicht: ihre Koloratur war nicht immer durchaus einwandfrei, auch gebot sie nicht über das vom Sänger unnachsichtlich zu verlangende Zungen-“R“, aber ihre Stimme war noch von ungewöhnlichem Wohllaut, und ihre Vortragskunst, ihre dramatische Kraft, ihr wunderbares Vermögen, in allen ihren Bewegungen wahrhaft klassische Schönheit zu verkörpern, alles dies war von so zwingender Gewalt, dass man die geringen Mängel, die – vielleicht auch erst in jenen vorgerückten Jahren – ihrem Gesang anhafteten, vollkommen vergaß. Sie wußte sogar aus einem kleinen Mangel Vorteil zu ziehen, denn mit der verpönten Aussprache des „R“ hinten im Schlunde wußte sie größere Wirkungen zu erzielen, als ich je von irgend einer anderen Gesangsgröße mit dem schulgerechten Zungen-“R“ habe erreichen hören. Nie vergesse ich die Wirkung, die sie in Schuberts „Am Meere“ mit den Worten „mich hat das unglücksel'ge Weib vergiftet mit seinen Tränen“ hervorbrachte, und zwar gerade mit diesem Konsonanten. Man war nach diesen Worten wie erstarrt. Lange zitterte die Wirkung in einem nach, und man wagte kaum zu atmen. Ebenso unvergesslich bleibt mir der Moment, wie sie als Romeo am Sarge der Julia das Gift nahm. Die Art, wie sie den Arm mit der Phiole sinken ließ, und wie ihr ganzer Körper nun im Todesschauer erbebte, war so ergreifend, dass mir war, als erlebte ich alles an mir selbst. Im Hause war viele Sekunden lang Totenstille. Dann aber brach ein elementarer Beifallssturm los, wie man ihn selten vernimmt. Sie sang in Kopenhagen eben den Romeo in Bellinis Montecchi und Capuleti und die Iphigenie in Glucks gleichnamiger Oper. Wahrhaft einzig war die klassische Größe und Schönheit, mit der sie diese griechische Priesterin darstellte. Ein Maler, der im Theater neben mir saß, brach einmal über das andere in die Worte aus: „Könnte man doch das alles auf der Leinwand festhalten! Jede Stellung ist ja ein vollendet schönes plastisches Meisterwerk“. Bei den Vorbereitungen zu dem oben erwähnten Hofkonzerte fragte die Künstlerin mich, was sie wohl am besten zum Vortrag wähle, und ich fühlte mich verpflichtet ihr zu sagen, dass der König Christian eigentlich nur für die damals moderne italienische Opernmusik ein lebhafteres Interesse habe. Da schüttelte sie aber den Kopf und meinte: „Im Kostüm und mit dem Bärtchen auf der Oberlippe kann ich wohl die Arie „Wenn Romeo den Sohn erschlagen“ mit Begeisterung singen, aber im Konzertkleid, nee – das geht nicht.“ Und sie sang lauter Schubertsche, Mendelssohnsche und Schumannsche Lieder, die ich sämtlich begleiten musste; das ist mir noch heute eine kostbare Erinnerung. Wenn ich aber zwischen ihren Gesangsvorträgen zu spielen hatte, musst sie sogar an der Seite des Königs in der Reihe der Fürstlichkeiten Platz nehmen; so zeichnete der König die Sängerin aus.

Am 25. Oktober gab sie ein eigenes Konzert, und dazu wählte sie mich zu ihrem Mitwirkenden, was mich mit gerechtem Stolze erfüllte. Sie sang „Widmung“ von Schumann, „Am Meere“, „Ständchen“, „Ungeduld“ und „Erlkönig“ von Schubert, ein Duett aus Rossinis „Semiramis“ (mit dem Kopenhagener Opernsänger Hansen), ferner „Bächlein, lass dein Rauschen sein“ von Curschmann, Volkslied von Mendelssohn, und „Liebst du nur Schönheit“ aus meinem soeben bei Breitkopf & Härtel erschienenen Liederhefte op. 5. Sämtliche Gesangsvorträge begleitete ich und war außerdem vier Mal als Solist tätig. Deshalb hatte die Diva Mitleid mit mir, als das Publikum am Schlusse des Konzertes den Erlkönig ( welcher bekanntlich auch für den Klavierspieler eine sehr anstrengende Aufgabe ist) noch einmal zu hören begehrte. Leise fragte sie mich: „Wird's denn noch einmal gehen, Füchschen?“ So nannte sie mich mit Vorliebe. Ich vertraute darauf, dass sie wiederum durch ihren hinreißenden Gesang mich alle Ermüdung vergessen lassen würde, und setzte mich rasch entschlossen wieder an den Flügel. War doch mein Herz dankerfüllt dafür, dass sie, die weltberühmte Künstlerin, trotz meines bescheidenen Einspruches ein Lied von mir, dem fast noch ganz obskuren Kunstjünger, zu singen gewünscht hatte.

Eines Abends war ich mit ihr bei dem dänischen, vor kurzem im 94. Lebensjahre verstorbenen Komponisten J. P. E. Hartmann zum Tee geladen. Es war ein ganz kleiner Kreis versammelt, außer dem gefeierten Gaste nur Hartmann mit Frau und Tochter, der nachmaligen Gattin von Niels W. Gade, mein Freund Otto von Königslöw und ich. Es war behaglich in dem kleinen Gemache, die Teemaschine summte traulich, und vom nahen Hafen hörte man das Wasser plätschern. Alles das mochte die liebenswürdige Frau gemütlich stimmen, und so begann sie denn aus ihrem Leben zu erzählen: wie sie in ihrem sechsten Lebensjahre in Hamburg zuerst als kleine Tänzerin habe auftreten müssen, wie sie ihrem Tanzlehrer, der wie ein Mohr ausgesehen habe, nach der Vorstellung eine silberne Medaille habe überreichen müssen, und wie sie als fünfzehnjähriges Mädchen die Louise in „Kabale und Liebe“ auf dem Dresdner Hoftheater gespielt habe. Über dieses Auftreten erzählte sie dann mehr. Sie habe zu Ludwig Tieck gehen müssen, um sich von ihm die Rolle der Louise vorlesen zu lassen. Tieck habe sie mit den wenig aufmunternden Worten empfangen: „Es tut mir sehr leid, liebes Kind, dass sie von den schlechten Stücken, die Schiller geschrieben hat, gerade das Schlechteste ausgewählt haben. Aber, da es nun einmal so ist, will ich Ihnen die Rolle vorlesen.“ Und er habe gelesen. „Aber“, sagte sie, „so schön Tieck den Shakespeare las, so unerträglich ausdruckslos las er den von ihm so maßlos unterschätzten Schiller. Die Worte der Louise zur Milford: „“Milady, nehmen sie ihn hin, rennen Sie in seine Arme! Reißen sie ihn zum Altar – nur vergessen sie nicht, dass zwischen Ihren Brautkuss das Gespenst einer Selbstmörderin stürzen wird““, sprach er in dem Tone, als wenn er etwa sagt: „Guten Morgen, recht schönes Wetter heute“. „Ich aber hatte mir die Worte so gedacht“. Und nun sprach sie, die zweiundvierzigjährige Frau im schwarzen Atlaskleide, die Teetasse vor sich, in der Umgebung einer etwas kleinbürgerlichen Häuslichkeit die Schillerschen Worte so, dass wir alle wie versteinert dasaßen und erst durch ihr freundliches Lachen wieder in die frühere Alltagsstimmung zurückgeführt wurden. Weiter erzählte sie dann unter anderem dies: „Als ich nach langen Jahren wieder in Hamburg als Sängerin auftrat und als Fidelio großen Erfolg errungen hatte, kam, nachdem der Vorhang zum letzten Male gefallen war, ein vom hohen Alter gebeugter Greis auf mich zu, holte mit zitternder Hand ein zerknittertes Papier hervor und entnahm demselben die kleine Medaille, die ich ihm als fünfjähriges Kind hatte überreichen müssen.“ „Und der hieß Lindo“, rief ich, „ich hatte ihn schon erkannt, als Sie ihn zum ersten Male erwähnten. Ich habe als Kind bei ihm geturnt.“

Wie alle echten Künstlernaturen war auch sie im Besitze eines reizenden Humors. Wenn sie sich einen Herrenzylinder auf den Kopf setzte, ihn tief in den Nacken schob, und mit den Allüren eines jüdischen Bankiers den Teufelswalzer aus Robert dem Teufel von Meyerbeer oder desselben Komponisten Lied: „Komm, schönes Fischermädchen, treibe den Kahn ans Land“, im jüdischen Jargon sang, so war das ebenso erschütternd komisch wie die oben erwähnten Momente erschütternd tragisch.

Zum Abschied schrieb mir die liebenswürdige Künstlerin die folgenden Worte ins Album:

 

„Die Musik ist das einzige Talent, was für sich besteht; alle anderen verlangen Zeugen.

Dem kleinen Reinecke-Fuchs zum (freundlichen) o wie ungeschickt!!!, also: zum freundschaftlichen Andenken an seine dankbare Kunstgenossin

Wilhelmine von Döring

gen. Schroeder-Devrient.

Kopenhagen, den 29. October 1847.“

 

Noch einmal begegnete ich dieser seltenen Frau.

Es mag im Jahre 1849 gewesen sein, als ich Robert Schumann bei seiner zeitweiligen Anwesenheit in Leipzig in dem zu jener Zeit von Künstlern bevorzugten Hotel de Bavière aufsuchte. Als ich mich damals nach einiger Zeit wieder entfernen wollte, sagte Schumann mit schlauem Lächeln: „Nun raten Sie einmal, wer soeben nach Ihnen gefragt hat und wer hier im Zimmer nebenan wohnt? Wenn Sie's nicht erraten können, dann gehen Sie nur hinein, Sie werden sich freuen.“ Neugierig gemacht, klopfte ich an die Nebentüre, hörte ein silberhelles „Herein“, öffnete die Türe, und mit dem Rufe „Füchschen“, den ich immer so gerne von ihr gehört hatte, eilte sie auf mich zu – es ist wohl keine Indiskretion, es zu erzählen – umarmte mich und gab mir einen Willkommenskuss. Sie hatte viel zu erzählen und klagte, dass sie, seit wir uns nicht gesehen hatten, so viel Trübes erfahren hatte, und dass ihr nur in ihrem kleinen Hündchen ein ganz treuer Freund geblieben wäre. Ich musste sie zum Scheine schlagen, und sie war glücklich wie ein Kind, als der kleine Hund auf mich losfuhr, um die Unbill zu rächen, die seiner geliebten Herrin angetan war. Es war das letzte Mal, dass ich sie sah.