Ein Talent, das jedem frommt,
Hast Du in Besitz genommen;
Wer mit holden Tönen kommt,
Überall ist der willkommen.
Welch ein glänzendes Geleite!
Ziehest an des Meisters Seite;
Du erfreust Dich seiner Ehre,
Er erfreut sich seiner Lehre.
Diese schönen Verse schrieb Goethe dem fünfzehnjährigen Ferdinand Hiller ins Stammbuch. Der Meister, von dem der Dichter spricht, Hummel, hielt den Knaben für würdig, an Beethovens Sterbebett zu treten, Chopin dedicierte dem Jünglinge drei seiner schönsten Notturnos (op. 15), und dem Manne widmete Robert Schumann sein herrliches Klavierkonzert in A-moll. Derjenige, dem solche Anerkennung von solchen Männern zuteil wurde, der sich überdies der Freundschaft eines Mendelssohn, Cherubini, Rossini, Berlioz, Liszt und Meyerbeer rühmen und erfreuen durfte, kann unmöglich ein gewöhnlicher Mensch und unbedeutender Musiker sein. Und dennoch ist nicht in Abrede zu stellen, dass Ferdinand Hiller schon jetzt, noch nicht 20 Jahre nach seinem Tode, ziemlich vergessen ist, - er, der so viel Talente besaß, dass man hätte glauben sollen, der Besitz eines einzigen derselben würde genügen, ihm auf längere Zeit hinaus den Nachruhm zu sichern. Hiller war ein begabter und sehr fruchtbarer Komponist, ein vortrefflicher, feiner Klavierspieler und ungewöhnlich gewandter Improvisator auf seinem Instrumente, ein überaus geschätzter Dirigent, ein geistreicher und witziger Schriftsteller, und außerdem ein glänzender Gesellschafter, der aus dem Stegreif reizende, geistsprühende Reden hielt und nicht nur die französische, sondern auch die italienische Sprache wie seine Muttersprache beherrschte. Er hat niemals im Trüben gefischt und hat sich immer bestrebt, andere zu fördern. Und doch! - Aber wie klein ist überhaupt die Zahl derer, deren Name lange fortlebt! Dem ausübenden Musiker – wie dem Mimen - ist die Nachwelt selten dankbar. Freilich, einige wenige epochemachende Virtuosen, wie Paganini, Liszt, Spohr, Jenny Lind, haben die Unsterblichkeit erlangt. Aber wer außer den Fachleuten weiß jetzt noch etwas von einst gefeierten Spielern wie Steibelt, Iwan Müller, Briccialdi, Drouet (von dem Mendelssohn sogar gesagt hat, dass er das größte Virtuosengenie sei, das ihm je vorgekommen), von Lafont oder Bärmann, etc.? Ja, selbst von Virtuosen neueren Datums, wie Leopoldine Blahetka, Bendel, Gottschalk, Prume, Jaell, Max Bohrer u. a., weiß die große Menge kaum noch etwas. Ähnlich ergeht es den Dirigenten, die sich nicht zugleich anderweitig betätigen. Und wer jetzt etwa glauben sollte, dass die in der Gegenwart hochberühmten Musiker, welche ausschließlich als Kapellmeister fungieren, auch noch in späteren Jahren genannt werden, den fragen wir, ob er heute noch z.B. von Guhr, Habeneck, Girard, Pasdeloup reden hört? Und wenn man von Friedrich Schneider, Lachner, Spohr, Mendelssohn oder Otto Nicolai spricht, so gedenkt man ihrer als Komponisten, nicht als hochbedeutender Dirigenten, die sie doch auch waren. So kann der Nachruhm in den meisten Fällen nur dem schaffenden Künstler zuteil werden. Da aber der Geschmack und selbst das Empfinden der Menschen mit der eilenden Zeit sich überraschend schnell wandelt, so werden auch nur die schaffenden Künstler, welche ihrer Zeit vorauseilten, solchen Nachruhms teilhaftig. Wer an sich Gutes und Schönes geleistet und geschaffen hat, ohne jedoch in erster Reihe zu stehen oder gestanden zu haben, der muss sich in Demut darüber klar sein, dass er sich schon glücklich preisen darf, wenn er seinen Zeitgenossen hie und da durch seine Werke Freude bereitet hat, und dass es schon etwas besagen will, wenn sich auch nur einige seiner Werke bis über seinen Tod hinaus retten, und wärs auch nur auf beschränkte Zeit. Trösten soll er sich damit, dass – wie Hiller einmal so hübsch gesagt hat – das Komponieren für ihn doch die größte Lebensfreude ist und daneben den großen Vorzug hat, kein Geld zu kosten. Man solle aber diese bescheidenen Künstler, zu denen auch Hiller zu rechnen ist, nicht, wie dies heutzutage sogar viel bedeutenderen begegnet, mit Geringschätzung behandeln oder gar mit Spott und Hohn übergießen. So ist der Zweck dieser wenigen Zeilen, zur gerechten Würdigung dieses bedeutenden Mannes beizutragen, dem ich einige Jahre hindurch nahe gestanden habe.
Als ich im Jahre 1843 zum ersten Male nach Leipzig kam, dirigierte Hiller die Gewandhaus-Konzerte, und um in einem derselben auftreten zu dürfen, musste ich vor ihm eine Probe meines Könnens ablegen. Es geschah, und wenige Tage darauf erhielt ich von ihm die Einladung, im Konzert am 16. November zu spielen. Nur eine Konzertsaison hindurch hat Hiller in Leipzig dirigiert. Bald darauf siedelte er nach Dresden über, wo er intimen Verkehr mit Robert Schumann, Berthold Auerbach, Robert Reinick, Eduard Bendemann und anderen hervorragenden Künstlern pflegte. Dort fand er auch Gelegenheit, seine Opern „Ein Traum in der Christnacht“ und „Conradin“ zur Aufführung zu bringen. Dass Hiller später als städtischer Kapellmeister nach Düsseldorf und im Jahre 1850 in gleicher Stellung nach Köln berufen wurde, ist bekannt. Bis zu dieser Zeit war ich nur ab und zu mit ihm in Berührung gekommen. Aber im Jahre 1851 traf ich ihn in Paris, und dort machte er mir den Vorschlag, an der neubegründeten Rheinischen Musikschule, dem jetzigen Kölner Conservatorium, als Lehrer des Klavierspiels zu wirken. Es war die erste, wenn auch bescheidene, feste Stellung, die mir angeboten wurde, seitdem ich meine Stellung als dänischer Hofkomponist infolge der Schleswig-Holsteinischen Erhebung aufgegeben hatte. Dankend nahm ich das vertrauensvolle Anerbieten an und habe es auch niemals zu bereuen gehabt. Hiller war als Direktor der Musikschule ein überaus wohlwollender Vorgesetzter, und im Übrigen erwies er sich als ein ungewöhnlich anregender und gänzlich neidloser älterer Kollege. Wenn ich absehe von dem, was ich meinem Vater und einzigem Lehrer sowie der feinsinnigen Anleitung Mendelssohns verdanke, so ist es Hiller, der mir durch seine ebenso liebenswürdige wie einsichtige und gerechte Kritik am meisten genützt hat; denn Robert Schumann war mehr freundlich anerkennend und aufmunternd als kritisch. Hiller schlug dem damals in Köln lebenden Pianisten und Komponisten Eduard Franck und mir vor, dass wir uns allwöchentlich einmal zusammenfinden, uns unsere ungedruckten Kompositionen vorspielen und gegenseitig ehrlich beurteilen sollten, ein Vorschlag, dem wir freudig zustimmten. In diesen Zusammenkünften erwies sich Hiller einerseits als der berufenste und gleichzeitig liebenswürdigste Kunstrichter (der übrigens auch unsere Kritik stets dankbar aufnahm), andererseits aber als ein sehr fruchtbarer, vielleicht allzu schreibseliger Komponist. Als ich ihn zur ersten Zusammenkunft abholte, fragte er mich, was ich mitbrächte? „Ein Klavierkonzert“ war die Antwort. „Gut“, sagte Hiller, „da werde ich auch eins mitnehmen“, griff in die Schublade und holte das Manuskript von dem später sehr bekannt gewordenen Fis-moll-Konzerte hervor. Acht Tage später hatte ich zweistimmige Lieder unter dem Arme, in Folge dessen holte Hiller ebenfalls zweistimmige Lieder (die zweite Folge der vielgesungenen volkstümlichen Lieder) hervor. Nach weiteren acht Tagen verriet ich ihm, dass ich vierhändige Variationen über eine Sarabande von Bach mitgebracht habe, wieder öffnete sich die an Manuskripten unversiegbare Schublade, und Hiller entnahm derselben ebenfalls Variationen, diesmal freilich zweihändige. Von der spontanen Art, mit der Hiller gern freudigste Anerkennung zollte, gab dieser Abend Zeugnis; denn kaum hatte er meine Variationen mit mir durchgespielt, als er auch schon den Wunsch aussprach, sie zu wiederholen. Und am anderen Morgen trat er früh acht Uhr wieder in mein Stübchen mit den Worten: „Ich komme so früh, weil ich Ihnen durchaus noch einmal sagen musste, wie sehr mir ihre Variationen gefallen haben, und zugleich, um Sie zu bitten, an unserer Musikschule auch Kontrapunkt und freie Komposition zu lehren.“ Ein ander Mal offenbarte sich derselbe schöne Charakterzug, als er mir, sowie er meine zehn Kanons für drei weibliche Stimmen op. 100 kennen gelernt hatte, gleich eine Karte von Köln nach Leipzig sandte, welche die liebenswürdigsten Worte über dieses Werk enthielt.
Im Jahre 1852 verließ er Köln, um als Dirigent an der Großen Oper in Paris zu wirken, und veräußerte deshalb in einer Auktion sein gesamtes Mobiliar, überließ mir aber seinen imposanten großen Schreibtisch, „weil er so gern wissen wolle, wo derselbe bleibe“. An diesem Tische, an dem sich noch Spuren von Flintenkugeln aus den Dresdner Barrikadenkämpfen im Jahre 1848 finden, schrieb Hiller eine große Anzahl seiner Kompositionen, Berthold Auerbach seinen Roman „Auf der Höhe“, und es ist wohl eine eigentümliche Schickung, dass auch diese Zeilen zum Angedenken an seinen dereinstigen Besitzer an ihm geschrieben werden. Dass er in einem verborgenen Fache einen kleinen Schatz enthielt, entdeckte ich erst nach Jahren: es war ein Blatt mit einem gedruckten Gedichte von Goethe, welches dieser eigenhändig unterzeichnet hatte. Nach einem Jahr kehrte Hiller, etwas enttäuscht, nach Köln zurück, und nun erfreute ich mich wieder fast täglich seines anregenden und fördernden Umganges, bis ich selbst Köln für immer verließ. Wir sahen uns seltener, aber er sorgte lange für schriftlichen Verkehr, bis endlich auch dieser ins Stocken geriet.
Es sei mir nur noch vergönnt, einiges aus einem seiner letzten, wenn nicht gar seinem allerletzten Briefe an mich hier mitzuteilen, da es einesteils Zeugnis gibt von seinem Bedürfnisse, anderen Angenehmes zu erweisen, andererseits von der deprimierenden Stimmung, die ihn in seinem letzten Lebensjahre infolge schmerzhafter Leiden beherrschte:
„Lieber Reinecke!
Warum schreiben wir uns eigentlich gar nicht? Es läge doch so sehr nahe! Aufrichtig gesagt, ich glaube, es hat seinen Grund darin, dass wir uns gegenseitig mehr Angenehmes erzeigen möchten als die Verhältnisse es gestatten – und dass es uns unangenehm davon zu sprechen.
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Ich werde nun nicht viel Angenehmes mehr erzeigen können – das hat auch seine gute Seite.
Sie werden wissen wollen, wie es mir geht – darauf ist schwer antworten – ich esse, schlafe, komponiere – aber daneben bin ich durch Misèren so geplagt, dass ich im Grund wenig Freude am Leben habe. Das Zimmer habe ich jetzt schon seit zwei Monaten ungefähr nicht verlassen.
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Hoffentlich geht bei Ihnen alles wieder nach Wunsch – mit den besten Grüßen von Haus zu Haus
Ihr altergebener
13./6. 84 Ferd. Hiller“
Und doch hatte er mir so oft Angenehmes erwiesen und mich sowohl als Komponisten wie als Spieler nicht allein in den Gürzenich-Konzerten, sondern auch auf den Rheinischen Musikfesten, die er dirigierte, so manches Mal berücksichtigt!
Hillers größere Schöpfungen werden wohl bald gänzlich ad acta gelegt sein, obgleich z.B. seine Oratorien „Die Zerstörung Jerusalems“ und „Saul“ so viel Schönes enthalten, dass sie wohl verdienen, dann und wann aufgeführt zu werden. Aber manche seiner anspruchsloseren Kompositionen dürften noch längere Zeit viele Hörer erfreuen, wie man denn auch im Hause wie in Konzerten noch oft sein tief empfundenes „Gebet“, das frische „Im Maien“, seine reizenden und in ihrer Art einzigen Lieder für Sopran und Männerchor, seine „Lorelei“, das Klavierkonzert in Fis-moll, die Klavierstücke „Zur Guitarre“ und „Marcia giocosa“, die graziöse und humorvolle vierhändige „Operette ohne Text“ und manches andere zum Vortrag bringt. Ich halte sein Andenken in Ehren, möchten es auch andere mit mir tun.