18. Kapitel
S
anjay Kasliwal kam gegen Mittag auf Chateau de Vaumarcus an. In dem Moment, da sein Wagen über die Zugbrücke in den Innenhof des Schlosses fuhr, riss die Nebeldecke über dem See auf. Marie-Claire de Vries und ihre Freundin Christiane Schachert hatten sehr lange geschlafen. Nun standen beide auf der Terrasse des Schlosses und bewunderten das unten im Tal aus den letzten Nebelfetzen des Sees wie eine Fata Morgana langsam auftauchende Naturwunder. In der Nacht hatte es in den Alpen auf der gegenüberliegenden Seeseite kräftig geschneit. Dort drüben verbargen sich nahe des Berner Oberlandes Eiger, Mönch und Jungfrau. Die Sonne touchierte die weißen Berggipfel und kolorierte das Tal mit dem See in Pastellfarben. Die taubenetzten letzten Blätter auf den uralten Bäumen im Park des Schlosses glitzerten wie Gold. Die umliegenden Wiesen und Weinberge strahlten eine einzigartige Ruhe aus. Die gelb-braunen Holzläden an den Fenstern des Schlosses akzentuierten das Bruchsteingemäuer mit den drei konischen Türmen. Der Morgentau auf den Auwiesen zwischen Schloss und See, auf denen sich einst die Heerscharen Karls des Kühnen und der Schweizer gegenübergestanden hatten, war gefroren und glitzerte im Zwielicht.
Sie sahen das Auto die Straße zum Schloss heraufkommen. Marie-Claire war weniger aufgeregt als Chrissie, die eine Stunde lang vor dem Spiegel im Bad gestanden und sich geschminkt hatte, weil sie, wie sie frotzelnd bemerkte, nicht jeden Tag einen Prinz aus dem Morgenland treffen würde. Aber Sanjay sah so gar nicht wie ein Prinz aus. Statt in einer Nobelkarosse vorzufahren, wie Chrissie es erwartet hatte, stieg er aus einem offensichtlich gemieteten Kleinwagen aus. Er trug Jeans, einen einfachen Pullover und eine gefütterte Lederjacke.
»Bonjour, Mademoiselle des Vries, einen wunderschönen guten Tag, Marie-Claire«, strahlte er und streckte ihr seine weit geöffneten Arme entgegen, als seien sie seit Jahrzehnten die engsten Freunde. »Sehen Sie, Marie-Claire, jeder Fluss beginnt mit einem mickrigen, kleinen Tropfen Regen. Alles beginnt mit etwas, dem wir keine große Bedeutung beimessen, das aber plötzlich zum pulsierenden Zentrum des Geschehens wird. Damals, in Berlin, hatte ich erwähnt, dass ich vielleicht nach Grandson fahren würde. Vielleicht, hatte ich gesagt! Jetzt sind Sie und Ihre charmante Freundin hier – und ich auch …«
Da war es wieder! Marie-Claire liebte diese kryptischen Andeutungen, die blumige Sprache dieses Mannes, voller Aphorismen und philosophischer Gedanken. Es war eine Sprache, wie sie sie in den arabischen Ländern kennen und lieben gelernt hatte. Eine Sprache, die zu Sanjay passte: sanft, warmherzig – ehrlich! Marie-Claire sah, wie Chrissie den groß gewachsenen Inder mit den tiefdunklen Augen bewundernd anstarrte.
Weil die Dezembersonne das Schloss, den See und die Alpen in den herrlichsten Farben erstrahlen ließ und sie alle drei das Verlangen hatten, die Umgebung zu erkunden, fuhren sie kurz darauf hinab ins Tal und weiter nach Grandson. Schon auf der Fahrt in das nur wenige Minuten entfernte Grandson erklärte Sanjay, dass er gedenke, über Nacht zu bleiben. Marie-Claire blickte ihre Freundin Christiane an. Chrissie saß auf dem Rücksitz und schmunzelte. Der Gedanke an eine gemeinsame Nacht im Bett von Karl dem Kühnen zusammen mit einem Prinzen aus dem Morgenland löste in ihr offensichtlich die wildesten Fantasien aus, aber Sanjay Kasliwal ließ keine Missverständnisse aufkommen.
»Ich habe auf der Herfahrt im Ort herumgefragt. Es ist ein kleines Dorf. Ein Hotel gibt es nicht. In Neuchâtel soll es angeblich ein wunderschön am See gelegenes Suitenhotel geben. Das ist mir allerdings zu weit. Also habe ich mir in der einzigen Pension in Grandson ein Zimmer reserviert. Es ist sehr schlicht, um es vornehm auszudrücken, aber es soll dort exzellente Wildgerichte geben. Außerdem hat es einen sehr netten Namen. Da konnte ich nicht widerstehen.«
Das L’Auberge du Cheval Blanc lag mitten im Ort, nur wenige Meter von jener alten Festung am See entfernt, die Karl der Kühne im Januar des Jahres 1476 mit fünfzehntausend Soldaten belagert hatte. Die Schweizer Verteidiger ergaben sich, wurden aber im Auftrag des Herzogs allesamt hingerichtet oder im See ertränkt.
Dass Sanjay sich diese einfache Pension ausgesucht hatte, zeigte Marie-Claire, dass der reiche Schmuckhändler aus Jaipur alles andere als kapriziös oder anspruchsvoll war. Das schlichte, dreigeschossige Haus mit den griechischblauen Fensterläden war für das kleine Örtchen Grandson sowohl Bar, Restaurant, Pension wie auch Feinkostladen. Und das Essen war tatsächlich exzellent. Eine Speisekarte gab es nicht, dafür aber eine Hausherrin, die sowohl Köchin als auch historisch bewanderte Gesellschaftsdame war. Wie sie den köstlichen Rehbraten mit Rotkraut und Knödeln so schnell herbeigezaubert hatte, gab sie nicht preis. Marie-Claire kam zu dem Schluss, dass es wohl das Mittagessen der Familie war, das ihnen da aufgetischt wurde.
Der Mittag in dem Gasthof verlief so unglaublich entspannt, dass Marie-Claire nicht glauben wollte, diesen Mann erst seit kurzer Zeit zu kennen, ihn erst ein einziges Mal, damals in Berlin, getroffen zu haben. Christiane schien von Sanjay maßlos begeistert zu sein. Ihre Blicke ließen keine Zweifel aufkommen, dass sie Sanjay anhimmelte, aber sie hatte Stil genug, es nicht zu deutlich zu zeigen. Ihr herzliches Lachen und ihre offene Art zu plappern trugen maßgeblich dazu bei, dass sie sich schnell die zweite Flasche Wein bestellten und sich in zwanglosen Plaudereien verloren. Dann ging Sanjay plötzlich zu seinem Wagen und kehrte mit einem kleinen Päckchen zurück.
»Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag, Marie-Claire! Ich habe Ihnen als kleine Aufmerksamkeit ein Buch mitgebracht, das ich erst vor wenigen Tagen auf einer Auktion erwerben konnte. Es ist ein sehr altes Buch, mit vielen alten Wahrheiten, die so beständig sind wie Diamanten! Ich hoffe, es macht Ihnen viel Freude, darin zu lesen. Da Sie sicherlich Latein können, werden Sie danach vielleicht ein wenig besser verstehen, warum ich fest davon überzeugt bin, dass die wahre Bedeutung eines Edelsteins nicht in dem materiellen Wert, den ihm die Gegenwart beimisst, liegt, sondern in seiner Kraft und Energie aus der Vergangenheit.«
Gerührt von Sanjays Worten öffnete Marie-Claire das Päckchen. Ihr Atem stockte, als sie das offensichtlich sehr alte, leicht stockfleckige, aber noch in exzellentem Zustand befindliche Buch mit den herrlichen Holzdrucken aufschlug. Es war die Coronae Gemma Nobilissima des Wilhelmus E. Newheusern aus dem Jahre 1621. Ein philosophischer Exkurs über die Beziehung zwischen Planeten, Sternen, Edelsteinen – und dem Menschen. Es war eindeutig ein Original. Vorne eingelegt steckte ein zusammengefalteter Bogen Briefpapier. Sie öffnete ihn. Er trug Sanjays persönlichen Briefkopf mit seiner Anschrift in Jaipur. Unter seine liebevollen Geburtstagswünsche hatte er ein Zitat geschrieben:
Und also werden die Edelsteine
von Feuer und Wasser erzeugt,
deshalb haben sie auch Feuer und Wasser und
viele Kräfte und Wirkungen in sich …
»Physica« von Hildegard von Bingen (1098 – 1179)
Marie-Claire errötete. Sanjay lächelte sie an. Auch er schien ein wenig verlegen zu sein. Christiane versuchte zu verbergen, dass sie am liebsten heulen würde.
»Das kann ich nicht annehmen, Sanjay! Ich kenne dieses Buch nicht, aber ich ahne, wie unvorstellbar wertvoll es ist. Es muss Sie ein Vermögen gekostet haben!«
»Ja, Marie-Claire, es hat ein Vermögen gekostet. Aber eben nur eins. Und ich habe, Gott verzeihe mir diesen Hochmut, glücklicherweise noch genug von diesem Vermögen, das ich für das einzusetzen gedenke, was mich wirklich bewegt. Mein Verlangen, nicht-irdischen, mystischen Dingen auf den Grund zu gehen und sie zu verstehen, ist ungezügelt. Früher habe ich viel Geld für edle Pferde und für das Polospiel ausgegeben. Jetzt, da mein garstiges Bein mir zuweilen den Dienst versagt, gebe ich Geld für Gedanken aus, die andere Menschen in anderen Zeiten aufgeschrieben haben. Bücher sind meine neue Leidenschaft! Zumindest diese Leidenschaft scheinen wir bereits zu teilen. Ich hoffe, nein, ich weiß daher, dass Sie dieses Buch mit Respekt und mit der Bereitschaft lesen werden, Dinge zu erfahren, deren Sein wir nicht beweisen können. Aber ich ahne, dass Sie längst spüren, dass nicht im Beweis das Wissen um die Existenz liegt. Im Glauben, Marie-Claire, das haben mich schon in jungen Jahren meine Eltern und Großeltern gelehrt, liegt mehr Weisheit als im Wissen! Und deswegen freue ich mich schon heute auf den Tag, da Sie anfangen werden mir davon zu erzählen, was in diesem Buch geschrieben steht. Ich kann nämlich leider kein Latein.«
Es dauerte ein bisschen, bis Marie-Claire die rührenden Worte von Sanjay Kasliwal in ihrer ganzen Tragweite verstanden hatte. Nachdem sie das Restaurant verlassen hatten, fuhren sie an den See, um dort spazieren zu gehen. Erst dort wurde ihr bewusst, was Sanjay gesagt hatte: »Zumindest diese Leidenschaft scheinen wir bereits zu teilen …« Sie begriff, dass dies seine Art war, Hoffnung auszudrücken. Ohne Frage: Sanjay mochte sie sehr – und sie mochte ihn.
»Wissen Sie, Marie-Claire, dieser Abstecher an diesen See hat für mich eine tiefe Bedeutung. Ich war früher, während meiner Internatszeit in der Schweiz, noch nicht wissbegierig und weitsichtig genug, um zu erkennen, dass sich in diesem Teil Europas, hier um den Lac de Neuchâtel herum, so unendlich viele Berührungspunkte zu meinem Leben und zu dem meiner Vorfahren finden. Hier wurde abendländische Geschichte geschrieben, aber abendländische Geschichte war auch über viele Jahrhunderte untrennbar verbunden mit der Geschichte meiner Heimat – mit Indien.«
Marie-Claire blieb verwundert stehen und blickte Sanjay Kasliwal fragend an. Die Nachmittagssonne ließ ihre letzten wärmenden Strahlen über den See gleiten und brachte den dunklen Teint Sanjays besonders intensiv zur Geltung. Das sanfte Winterlicht ließ ihn ungemein gut aussehen. Seit sie das kleine Restaurant verlassen hatten, um nahe des Sees in den Auen spazieren zu gehen, nahm sie immer deutlicher wahr, dass er ein sehr attraktiver Mann war. Seine Attraktivität zeigte sich nicht in Äußerlichkeiten. Sie erwuchs aus der Einheit seines Charmes mit seinem Charisma und seiner unendliche innere Stärke signalisierenden Körperhaltung. Alles, was Sanjay war, kam von innen. Marie-Claire überkam eine wunderbare Ruhe, eine Ausgeglichenheit, die sie gehofft hatte hier in Grandson zu finden. Sie erschrak ein wenig, als sie an die zurückliegenden Wochen dachte. Drei Männer waren in kürzester Zeit in ihr Leben getreten. Gregor von Freysing hatte sie nach den Geschehnissen am Wörthersee zwar noch einmal angerufen. Indirekt hatte er eingestanden, dass er etwas überreagiert habe, aber für sie hatte es halbherzig geklungen. Die unüberbrückbare Kluft, die seit dem Wochenende am Wörthersee zwischen ihnen bestand, war am Telefon schnell spürbar geworden. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sich hinter der Fassade des charmanten und gebildeten Grandseigneurs in Wirklichkeit doch ein erzkonservativer Mann verbarg, dessen Lebenseinstellung so gar nicht mit ihrer eigenen in Einklang zu bringen war. Zudem irritierte sie nach wie vor seine undurchschaubare Verbindung zu den ultrakonservativen Rittern vom Goldenen Vlies. Sein plötzliches Desinteresse am Florentiner war ebenfalls verwunderlich. Angeblich hatten seine Auftraggeber ihn angewiesen, ab sofort jegliche Recherche über den Verblieb des Diamanten einzustellen. Man wollte sich von den kriminellen Geschehnissen um den Florentiner distanzieren. Marie-Claire fiel es schwer, ihm zu glauben. Nach diesem Telefonat hatte sich Gregor nicht mehr gemeldet. Auch von Abdel Rahman hatte sie seit ihrer gemeinsamen Nacht in Wien nichts mehr gehört. So überraschend, wie er in ihr Leben getreten war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Sie machte sich darüber seltsamerweise keine Gedanken mehr. Sein Versuch, das Buchmanuskript zu erwerben, war fehlgeschlagen. Wahrscheinlich war er deshalb längst wieder abgereist. Die Nacht mit ihr war für ihn offenbar nichts anderes als ein nettes Abenteuer gewesen. Nein, sie dachte nicht mehr an diese beiden Männer, schob die Gedanken an die Turbulenzen der letzten Zeit beiseite. Sanjay strahlte eine derart faszinierende Ruhe aus, dass sie am liebsten eine Mauer um sich herum gebaut hätte, um sich vor jeglichen irritierenden Einflüssen zu schützen. Gemeinsam mit Sanjay wollte sie diese Ruhe auskosten. Erneut spürte sie, dass dieses Verlangen keinerlei sexuellen Aspekte in sich barg.
Chrissie, einfühlsam wie sie war und so schwer es ihr wahrscheinlich gefallen war, hatte sich unter dem Vorwand, dass sie sich nicht wohl fühle, zum Schloss fahren lassen. Marie-Claire hätte sie dafür umarmen können. Sie hatte sehr wohl bemerkt, wie vernarrt Christiane in Sanjay war. Aber Chrissie hatte schnell erkannt, dass Marie-Claire sich danach sehnte, mit Sanjay alleine zu sein, und dass sie störte. Sie hatte für sich entschieden, jegliches Misstrauen gegenüber Sanjay Kasliwal fallen zu lassen. Während des Mittagessens war sie zu dem Schluss gekommen, dass er ihr in Berlin doch die Wahrheit erzählt hatte. Er reiste durch Europa auf der Suche nach antiken Büchern, nach alten Quellen – nach allem, was seine Neugier an den religiös-mythologischen Aspekten von Edelsteinen stillen konnte. Und er war von dem Wunsch beseelt, die drei Diamanten, die Tränen Gottes aus jener legendären Statue wieder nach Indien zurückzubringen.
Sanjay Kasliwal hatte mit seiner Arbeit als Schmuckhändler viel Reichtum angehäuft, aber dennoch schien Geld nicht das Wichtigste in seinem Leben zu sein. Darin schien er sich von seinem Bruder Pappu zu unterscheiden, von dem er soeben erzählte. Marie-Claire hatte Pappu Kasliwal damals in Berlin im Wintergarten des Hotels nur kurz zusammen mit Sanjay erlebt. Er hatte auf sie den Eindruck eines eher unscheinbaren Mannes gemacht. Lediglich sein unsteter, nervöser Blick war ihr aufgefallen. Allerdings hatte sie damals bereits das Gefühl gehabt, dass die beiden Brüder sich nicht besonders gut verstanden. Die einzige Gemeinsamkeit, die sie zu haben schienen, war das Polospiel. Sanjay sah nachdenklich aus, während er über seine Familie in Indien und über sein Verhältnis zu Pappu sprach.
»Pappu ist anders als ich, Marie-Claire. Die Götter haben ihm die Gier als Bürde für sein Leben in die Wiege gelegt! Seine Geschäftsmethoden sind sehr umstritten. Er ist sehr egoistisch, oft auch skrupellos!«
»Sie mögen ihn nicht sonderlich, oder?« Marie-Claire hatte das Gefühl, solche Fragen stellen zu dürfen. Sie merkte, dass Sanjay über dieses Thema nicht gerne sprach, aber sie fühlte auch, dass es ihn belastete.
»Vieles von dem, was Pappu macht, ist mit dem Ehrenkodex meiner Familie nicht in Einklang zu bringen! Mein verstorbener Vater, die Götter mögen seiner Seele gnädig sein, hat Ehre über jegliches weltliche Verlangen gestellt. Er hat danach gelebt. So wie auch der Vater meines Vaters danach gelebt hat. Und er hat meinen Bruder und mich in diesem Geiste erzogen. Aber Pappu weiß nicht, was Ehre ist. Er wird gesteuert von einer grenzenlosen Gier nach Reichtum. Er lässt sich blenden von dem Glanz eines Diamanten. Das innere Feuer eines Edelsteins ist für ihn eine Flamme, die ihn verzehrt. Pappu liebt das luxuriöse Leben, liebt sündhaft teure Luxushotels, schnelle Autos und aalt sich in dem Ruf, der unserer Familie anhaftet, legendär reich zu sein. Ja, Pappu ist anders.«
»Streitet ihr euch deswegen?«, fragte Marie-Claire.
»Nein, nicht wirklich. Nicht mehr! Früher hatten wir öfters Auseinandersetzungen wegen geschäftlicher Belange. Er stellt den hohen Profit über die Zufriedenheit eines Kunden. Pappu würde dir einen Kieselstein als Edelstein verkaufen, wenn du selbst es nicht merken würdest. Ihm ist es egal, was Kunden denken. Er liebt es, Geld anzuhäufen.«
Sanjay blieb stehen. Er schaute nachdenklich zu den Alpen auf der anderen Seite des Sees. Dann lachte er laut.
»Pappu ist wie dieser Dagobert Duck, diese Comicfigur, die es liebt, auf Goldbergen zu sitzen, Dukaten zu scheffeln und sich Böses auszudenken, um noch mehr davon zu bekommen. Wenn Pappu diese legendäre Statue mit dem darin verborgenen Schatz besäße, er würde nicht ein einziges Karat davon an unser Volk abgeben. Pappu würde es einfach so sehen, dass dieser Schatz unseren Vorfahren gehörte – und damit auch ihm. Aber lassen wir das. Es ist ein unrühmliches Thema. Und es ist irrelevant. Die Statue wird wohl immer verschlossen bleiben. Zwei der drei Diamanten, zwei der Tränen Gottes sind weg – verschwunden. Die Göttin Sita scheint zu wissen, dass es nicht gut ist, wenn die Statue wieder geöffnet würde. Vielleicht spielt sie Pappu damit einen Streich.«
Marie-Claire blickte Sanjay fasziniert an. Obwohl es erst ihr zweites Zusammentreffen war, war er ihr unendlich vertraut. Er schien ebenso zu empfinden, denn er ließ sie an seinen tiefsten Empfindungen teilhaben. Sanjay war stehen geblieben und schaute Richtung Grandson. Marie-Claire folgte seinem Blick und versuchte, von den heiklen familiären Dingen abzulenken.
»Wie meinen Sie das eigentlich, Sanjay? Wieso gibt es Ihrer Einschätzung nach eine enge Verbindung zwischen den Geschehnissen hier am See und jenen in Ihrer Heimat?«
»Wenn Sie sich mit der Geschichte einiger der berühmtesten Schmuckstücke und Diamanten der Welt beschäftigen, Marie-Claire, stoßen Sie ausnahmslos auf berühmte Adelsgeschlechter Europas. Aber auch auf berühmte Handelshäuser. Sie werden in den Wappen dieser Häuser und Herrscher auffallend oft schwarzhäutige Menschen finden! Sie müssen sich vor Augen halten, dass sich der Reichtum und damit der Einfluss dieser Handelshäuser und der Aristokraten maßgeblich auf den Kontakt und den Handel mit dem Mohrenland begründete. Unter dem Mohrenland verstand man schon immer Afrika und das Morgenland, also auch Indien. Als die Portugiesen den Seeweg nach Afrika suchten, stießen sie, nach der Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung, auf die ostafrikanischen Städte Mombasa und Malindi. Dort kamen sie dahinter, dass seit Jahrtausenden Schiffe zwischen Indien und Ostafrika verkehrten. Damit war der Seeweg von Europa über Afrika nach Indien entdeckt. Der Handel mit dem Mohrenland begann – und das machte nicht zuletzt Fugger, Welser und viele italienische Handelshäuser reich.«
Marie-Claire hörte ihm fasziniert zu. Warum er ihr all das erzählte und wo da ein Zusammenhang mit Grandson, mit dem Florentiner bestand, war ihr jedoch noch nicht klar.
»Sardinien hat zum Beispiel gleich vier Mohren in seinem Wappen. Korsika führt auch Mohren im Wappen. Der berühmte deutsche Bischof Otto von Freising hat sich das Recht, einen Mohren im Wappen zu tragen, mit seiner Teilnahme am zweiten Kreuzzug verdient. Und was ich erst seit einigen Tagen weiß, der neue deutsche Papst Ratzinger, also Benedikt XVI., hat links oben auch einen Mohren in seinem Wappen! Ist doch interessant, oder? Ein wenig vereinfacht ausgedrückt ließe sich also sagen: Die Verbindung des Abendlandes zum Mohrenland und auch die Kreuzzüge waren die wirtschaftliche Basis des unvorstellbaren Reichtums der europäischen Handels- und Herrscherhäuser. Und der Reichtum des Papstes begründet sich wohl auch darauf! Meine Heimat Indien gehörte zum Mohrenland, und in der Diktion der damaligen Zeit bin auch ich ein Mohr! Aus meinem Land stammen fast all jene Diamanten, die Karl der Kühne hier, genau hier, wo wir jetzt stehen, am Ufer des Lac de Neuchâtel, bei sich trug. Aus meinem Land stammen die berühmten ›drei Brüder‹, die Karl der Kühne besaß. Mein Bestimmung ist es, sie zu finden.«
Sanjay Kasliwal drehte sich um und blickte auf die Auen und die dahinter steil ansteigenden Hügel.
»Das da drüben ist das Kloster von La Lance. Und der Ort dort hinten ist wohl Concise. Somit, liebe Marie-Claire, stehen wir genau auf jenem Schlachtfeld, auf dem am 2. März 1476 die zwanzigtausend Soldaten von Karl dem Kühnen den achtzehntausend der Schweizer Eidgenossen gegenüberstanden. Genau hier, Marie-Claire, begann der Untergang des Burgundischen Reiches. Und genau hier hatte Karl der Kühne sein Lager aufgebaut. Als er von den Schweizern überrannt wurde, ließ er all seine Reichtümer zurück. Vierhundert Wagenladungen Beute machten die Schweizer, darunter unvorstellbare Schätze, Waffen und Ausrüstungsgegenstände. Alles zusammen soll diese Beute damals eine Millionen Gulden wert gewesen sein! Sie wissen ja, Marie-Claire, dass Karl der Kühne eine ungewöhnlich pompöse Hofhaltung liebte. Er nahm seinen unermesslich wertvollen Schatz stets mit auf die Schlachtfelder. Wahrscheinlich weil er es gewohnt war, immer als Sieger von dannen zu ziehen. Zumindest bis zu jenem 2. März des Jahres 1476, dem Tag ….«
»… an dem er floh und dabei drei seiner wertvollsten Diamanten zurückließ: die legendären göttlichen drei Brüder – darunter jenen Diamanten, der später der Florentiner genannt werden sollte.«
Marie-Claire hatte Sanjay unterbrochen, um seine Ausführungen zu vollenden. Eine tiefe Ehrfurcht vor diesem so unglaublich gebildeten Mann überkam sie, aber auch eine eigentümliche Ehrfurcht vor dieser Wiese, auf der sie beide jetzt standen und sich zum ersten Mal, seit sie sich kannten, lange in die Augen schauten.
»Hat es eine große Bedeutung für dich, hier zu stehen?« Marie-Claire hatte ihn geduzt, weil sie das Verlangen hatte, ihre Gefühle deutlicher zu zeigen. Er registrierte es mit einem warmherzigen Lächeln.
»Ja, es ist ein sehr erhebendes Gefühl! An dieser Stelle fielen diese drei Edelsteine, die auf vielen Umwegen aus meiner Heimat Indien hierher gelangt waren, auf den Boden. Hier fand ein Bauer sie, wollte sie wegschmeißen, weil er sie für Glassteine hielt. Für drei Gulden wechselten sie schließlich ihren Besitzer, der größte von ihnen wurde viele Jahre später für fünftausend Gulden weiterverkauft …«
»… gelangte zu Lodovico Moro, dem Herzog vom Mailand …«
»… wurde für zwanzigtausend Gulden von Papst Leo X. erworben …«
»… und gelangte damit in den Besitz der Maria de Medici …«
»… die ihn ›Florentiner‹ nannte …«
»… Durch die Heirat von Franz Stephan von Lothringen-Toskana mit Maria Theresia von Österreich gelangte er nach Wien in die Schatzkammer …«
»… wurde von Marie-Antoinette mit nach Paris genommen …«
»… gelangte nach der Hinrichtung von Marie-Antoinette auf unbekannten Wegen in die Hände von Napoleon …«
»… und kehrte wieder zurück nach Wien, wo er im Jahre 1919 aus der Schatzkammer genommen wurde …«
»… und seither verschwunden ist!«
Marie-Claire und Sanjay blickten sich an. Ihre Augen strahlten. Die Sonne war während ihres Wortwechsels, der gegenseitigen Ergänzung ihres Wissens, untergegangen. Marie-Claire hatte das Gefühl, dass sich zwei Seelen gefunden hatten. Weder sie noch Sanjay hatten gezögert, ihr Wissen um den Florentiner miteinander zu teilen. Schon in Berlin waren sie so offen zueinander gewesen. Hier führten sie fort, was Sanjay damals ihre gemeinsame Vorsehung genannt hatte. Es war ein wunderbares Gefühl. Sie ergänzten und vertrauten sich. Grenzenlos!
»Und wo ist deiner Meinung nach der Florentiner jetzt?«, versuchte sie, verwirrt von ihren großen Gefühlen, abzulenken.
»Sita weiß es. Und Madame und Monsieur Ostier!«
Marie-Claire zuckte zusammen. Diesen Namen hatte sie schon einmal gehört. Nein, sie hatte ihn gelesen. Gestern hatte sie über den Namen hinweggelesen, weil er im Kontext mit all den anderen Informationen in den Tagebüchern des Alphonse de Sondheimer über den Verkauf der Kronjuwelen aus der Wiener Schatzkammer keine Bedeutung für sie hatte. Aber jetzt erinnerte sie sich. Ostier! Ja, auf der handschriftlichen Zeichnung, die eher einer Skizze ähnelte, hatte oben links der Name Ostier gestanden. Es war eine Skizze, ganz offensichtlich von einem Experten angefertigt, die den Schluss zuließ, dass geplant war, den Florentiner zu zerschneiden. Von Ostier? Ihr sagte der Name nichts.
Marie-Claire traute sich nicht, nach dem Ehepaar zu fragen, und lenkte ab. »Wer ist Sita?«
Sanjay schien auf die Frage gewartet zu haben. »Wie du vermutlich weißt, bin ich Hindu. Wir bezeichnen unsere Religion als Sanatana Dharma, was so viel bedeutet wie ewige Ordnung. Gemeint ist damit eine kosmische, aber auch eine menschliche Ordnung. In dieser ewigen Ordnung gilt Sita als eine Göttin für Glück und Wohlstand. Im Epos Ramajana wird übrigens das Leben Sitas mit ihrem Mann Rama erzählt. Die Legende besagt, dass diese Göttin die drei aus der Statue entwendeten Diamanten mit einem Fluch belegt hat. Du erinnerst dich, ich hatte dir das damals in Berlin schon erzählt. Und das sind unsere göttlichen drei Brüder, der Große Sancy, der Kleine Sancy und der Florentiner. Hier, wo wir jetzt stehen, hat der Fluch dem Burgunder Karl dem Kühnen zum ersten Mal Unglück gebracht. Zwei Monate später erlitt er die nächste Niederlage in Murten. Ein knappes Jahr danach starb er vor den Toren von Nancy! Seither ziehen sich die Spuren dieses Fluchs der Göttin Sita, der auf den Steinen liegt, durch ganz Europa. Die Gier nach den göttlichen drei Brüdern hat bereits viele Menschen das Leben gekostet. Und noch immer streben Menschen danach, ihrer habhaft zu werden. Das Wissen, wo einer dieser Diamanten ist, kann tödlich sein.«
Marie-Claire hatte nicht wirklich zugehört, was Sanjay gesagt hatte. Zu sehr war sie mit dem Namen Ostier beschäftigt, aber sie fragte immer noch nicht nach.
»Glaubst du an solche Flüche?«
Sanjay atmete tief durch. »Ich mache mir keine Gedanken über das Glauben. Ich glaube! Im Zusammenhang mit Diamanten ist es wichtig, einen festen Glauben an das Überirdische zu haben. Es gab eine Zeit hier in Europa, da wurden viele Kopien von berühmten Edelsteinen aus Quarz hergestellt. Übrigens auch vom Florentiner! Die Menschen glaubten damals an die heilende Wunderwirkung der Quarze – nicht an den materiellen Wert eines echten Diamanten! Du siehst also, der wahre Glauben hebt materielles Denken auf. In meiner Heimat bringt man den Glauben an die göttliche Kraft der Diamanten in einen engen Zusammenhang mit dem Licht. Auch mit dem Licht der Erleuchtung. Du weißt, das innere Feuer eines Diamanten ist einzigartig. Sein Funkeln, das Chaos der Lichtblitze in seinem Inneren ist ein Wunder. In Indien sagen wir: Die völlige Abwesenheit von Licht ist Finsternis – nichts! Das höchste Licht ist das Eine – das Eine ist aber zugleich das erste Schöne – Lichthaftigkeit ist Schönheit. Je höher etwas in der Seinsordnung steht, je lichthafter ist es, desto schöner ist es auch! All das eint sich in einem Diamant.«
Marie-Claire spürte, wie Sanjays Denken ihre eher wissenschaftlich-pragmatische Einstellung aushöhlte. Was er sagte, berührte sie tief, aber sie konnte sich jetzt nicht wirklich darauf konzentrieren. Zu sehr wühlte die Frage sie auf, wen er mit Ostier gemeint hatte. Sie glaubte, ein leichtes Zittern in ihrer Stimme zu bemerken, als sie ihn schließlich fragte: »Und wer ist Ostier?«
Sanjays Augen bekamen einen eigentümlichen Glanz. Sein Blick war irritierend sanft, und sein Lächeln wirkte gequält.
»Wir haben heute wunderschöne Stunden miteinander verbracht, und wir haben uns gegenseitiges Vertrauen bewiesen. Das ist ungewöhnlich zwischen zwei Menschen, die sich kaum kennen. Aber vielleicht kennen wir uns ja schon. Von früher. Und da, wo es ein Früher gab, da wird es auch ein Später geben. In meiner Religion ist das so. Ich werde dir später erzählen, wer Madame und Monsieur Ostier waren. Sie leben beide nicht mehr. In mir lebt nur noch die Erinnerung an sie.«
Erschrocken stellte Marie-Claire fest, dass sie mit ihrer Frage zu weit gegangen war. Sanjay wirkte plötzlich abweisend. Er bat sie, zum Auto zurückkehren zu können. Angeblich fror er. Sie glaubte ihm nicht.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, das hast du nicht. Nichts von dem, was du sagst, kann falsch sein, denn es kommt tief aus deinem Inneren. Alles ist in Ordnung. Es ist nun einmal deine Aufgabe, den Florentiner zu suchen. Ich suche ihn auch. Wo die beiden Sancys derzeit sind, wissen wir nicht. Du bist beruflich daran interessiert, das zu ergründen, versuchst, diese Edelsteine zu finden. Oder zumindest dazu beizutragen, dass sie gefunden werden. Damals in Berlin habe ich dir schon gesagt, dass ich glaube, dass die göttliche Fügung uns einen wird. Deshalb verstehe ich auch, dass du wissen möchtest, wer sich hinter dem Namen Ostier verbirgt. Nein, alles ist in Ordnung, Marie-Claire. Ich bin nur sehr müde und würde mich gerne ein wenig auszuruhen. Wenn ich nicht zu sehr störe, können wir uns zum Abendessen in eurem Schloss treffen. Ich würde gerne das Zimmer sehen, in dem Karl der Kühne einst nächtigte.«
Gegen fünf Uhr am Abend erreichten sie Schloss Vaumarcus. Während Sanjay ins Tal fuhr, stieg Marie-Claire die Treppen hinauf zu ihrem Zimmer. Die ganze Zeit über war sie das Gefühl nicht losgeworden, dass sich ein Schatten über Sanjays und ihr Verhältnis zueinander gelegt hatte. Misstraute er ihr? Sie betrat das Zimmer Charles le Téméraires. Christiane saß vor dem Kamin und las.
»Hallo, Glücksgöttin! Komm bloß nicht auf die Idee, mir jetzt von romantischen Spaziergängen am See zu erzählen! Dann stürze ich mich nämlich aus dem Fenster vor Eifersucht! Ist das ein Mann! Für den schmeiße ich alles hin! Ich reiße mir die Kleider vom Leib und offeriere mich als seine treue Dienerin, wenn es sein muss. Ohne Fragen zu stellen. Seit heute weiß ich, dass es diese Märchenprinzen aus dem Morgenland wirklich gibt. Mein Neid ist mit dir, meine Liebe! Also sei gewarnt: Wenn du den vergraulst, werfe ich mich ihm sofort an den Hals – wenn er mich denn haben möchte.«
Marie-Claire musste lachen. Chrissie meinte all das sehr ernst. Ohne auf ihre Bemerkungen einzugehen, suchte Marie-Claire ihr Handy, das sie im Zimmer hatte liegen lassen. Sie fand es im Bett.
»Ach übrigens«, wandte sich Christiane nochmals an sie, »seit mehr als zwei Stunden klingelt das Ding da im Abstand von zehn Minuten. Vielleicht ist es dein Lover aus Marrakesch. Oder der reumütige Gregor! Mein Gott, deine Sorgen möchte ich auch mal haben. Gleich drei Männer …«
Als Marie-Claire de Vries auf ihr Handy schaute, zeigte die Uhr auf dem Display drei Minuten nach fünf an. Laut Anrufspeicher war der letzte Anruf vor einer Viertelstunde eingegangen. Es war eine Wiener Nummer, die sie nicht kannte. Ihr Interesse galt jedoch im Moment einzig diesem geheimnisvollen Namen Ostier. Sie schaltete den Laptop ein und wählte sich über das Handy ins Internet ein. Es dauerte lange, bis sie über die Kombination mehrerer Suchbegriffe fündig wurde. War das eine neue heiße Spur? Zeichnete sich hier ab, was mit dem Florentiner geschehen war, nachdem der österreichische Kaiser den Diamanten mit 1,2 Millionen Franken beliehen hatte und das Geld nicht hatte zurückzahlen können, weil er nach Madeira verbannt worden war? Wer hatte diesen wertvollen Diamanten als Sicherheit erhalten? Und was war dann mit ihm geschehen? War der Name Ostier der Schlüssel zu diesem Geheimnis? Ein Schlüssel, der vielleicht sogar dazu führen konnte herauszufinden, wer den Florentiner heute besaß? Hatte Sanjay deswegen gezögert, ihr mehr über diese Ostiers zu sagen?
Marie-Claire merkte, dass sie aufgeregt war. Hastig überflog sie die wenigen Fundstellen und die Querverweise im Internet, die sie nach der Eingabe von »Ostier + Juwelier« erhalten hatte. Ihr Herz pochte schnell. Der Name Ostier war selten. Dann erstarrte sie. Da gab es eine Marianne Ostier, zweite Ehefrau des Wiener Juweliers Otto Österreicher. Er hatte ein Geschäft im ersten Bezirk von Wien, Graben 7 gehabt – nur wenige Schritte von der Hofburg und von der Schatzkammer entfernt! Und er war in dritter Generation Hofjuwelier gewesen! Also ein auserwählter Juwelenhändler mit direktem Zugang zur Hofburg – zur österreichischen Kaiserfamilie! Er war Jude, der sich aus Angst vor den Nationalsozialisten in Oliver Ostier umbenannt hatte und später nach New York ausgewandert war, wo er das Schmuckgeschäft »Ostier Jewelleries« eröffnet hatte. Glaubte man den Informationen im Internet, zählten extrem wohlhabende Schmucksammler zu seinen Kunden. Seine Frau, Marianne Ostier, hatte 1958 sogar ein Buch mit dem Titel Jewels & Women veröffentlicht. Und 1969 gab sie das Buch Collection of Jewellery designed by Marianne Ostier heraus.
Marie-Claire entfuhr ein lautes »Unglaublich!« Marianne Ostier galt bis Ende der fünfziger Jahre als eine renommierte Schmuckdesignerin, deren außergewöhnlich schöne und wertvolle Schmuckstücke nach ihrem Tode sogar versteigert worden waren! Bei Christie’s!
Das war es! Kein Zweifel. Diese Marianne Ostier – und wohl auch ihr Ehemann – waren höchstwahrscheinlich der Weg zur Wahrheit um das Verschwinden eines der berühmtesten Diamanten der Welt. Ostier war Hofjuwelier in Wien und ein anerkannter Schmuckexperte gewesen. Er hatte direkten Kontakt zum Kaiserhaus gehabt – und hatte mit Sicherheit den Florentiner gesehen. Dieser Ostier – oder war es seine Frau Marianne? – würde nie einen solch wertvollen und berühmten Edelstein in mehr oder minder wertlose, geschichtslose Teile zersägen. Nein, das würden Schmuckliebhaber niemals tun. Ohne Frage: Hier tat sich eine Sensation auf. In der Welt der Edelsteinliebhaber und -händler wäre es die aufsehenerregendste Entdeckung seit Jahrzehnten, wenn die Spur dieses Edelsteins lückenlos nachgewiesen werden könnte. Und für Christie’s wäre es eine noch größere Sensation … Plötzlich war sie sich sicher, dass Sanjay Kasliwal das wusste. Er musste das wissen. Er war ein absoluter Kenner des Edelsteingeschäfts. Ihm konnte nicht entgangen sein, dass es eine direkte Verbindung zwischen dem Florentiner und den Ostiers gab. Aber woher wusste Sanjay das? Wusste er von dem Manuskript von Alphonse de Sondheimer, hatte er es gelesen oder gar besessen? Er musste die Zeichnung gesehen haben. Jene Skizze, die offensichtlich von einem Experten angefertigt worden war als Plan für die Zerteilung des Florentiners. Stammte sie von Marianne Ostier? Wenn ja, dann wäre das der erste Beweis dafür, dass der Florentiner zirka 1960 noch existiert hatte. War der Florentiner dieser Skizze entsprechend in zwei Teile zerschnitten worden, oder hatte die Designerin davon abgesehen, weil sie beziehungsweise ihr Mann einen Abnehmer für den hundertsiebenunddreißigkarätigen Diamanten gefunden hatten? Wahnsinn, Marie-Claire de Vries, Expertin des Auktionshauses Christie’s, war auf dem besten Wege, eine sensationelle Entdeckung zu machen! Ihre Gedanken überschlugen sich. Der Florentiner war zwar im Jahre 1920 in Genf verschwunden, aber es gab ihn wahrscheinlich noch! Daher war sie sich nun absolut sicher, dass der im Jahre 1981 im Versteigerungskatalog von Christie’s auf Position siebenhundertzehn angebotene Diamant tatsächlich der Florentiner gewesen war. Irgendjemand wollte ihn verkaufen, hatte dann aber die Offerte kurzfristig zurückgezogen. Bislang hatte sie sich noch nicht mit den Versteigerungsdetails von damals beschäftigt. Sie lagen im Zentralarchiv in London in einem Tresor. Nur wenige Auserwählte hatten Zugang zu diesem Tresor, in dem Details zu Anbietern und Käufern archiviert wurden. Wer immer dort nachforschte, musste sich die Genehmigung des Board of Directors einholen und begründen, warum er gewisse Details wissen wollte. Zudem musste eine besondere Geheimhaltungserklärung unterschrieben werden. Kundennamen und alle Angaben zu ihnen waren die sensibelsten Daten bei Christie’s. Damit ging man extrem vorsichtig um. Für ihren Rechercheauftrag zum Florentiner hatte sie eine solche Genehmigung erhalten. Lustigerweise Francis Roundell selbst nicht! Er war zwar Sicherheitschef, aber die Direktoren waren stets bestrebt, die Zahl der Zugangsberechtigten überschaubar zu halten. In diesem Fall hatte man argumentiert, dass Roundell über den Bericht von Marie-Claire de Vries alle erforderlichen Informationen erhalten würde. Sie alleine war berechtigt, die Akte der damaligen Versteigerung einzusehen. Und sie zeichnete daher verantwortlich für die Geheimhaltung der sensiblen Kundendaten. So war das Gesetz des auf eine exzellente Reputation angewiesenen Auktionshauses.
Wer also hatte 1981 diesen Diamanten angeboten? Und das Angebot dann wieder zurückgenommen? Warum war der Florentiner nie zur Versteigerung gelangt? Konnte Gregor von Freysing ihr diese Frage beantworten? Oder Abdel Rahman? Oder wusste Sanjay Kasliwal, was damals geschehen war? Wusste der Inder, wo der Florentiner jetzt war? Wenn ja, warum gab er dann vor, ihn zu suchen? Das Handy klingelte und riss sie aus ihrer Begeisterung und Aufgeregtheit heraus. Missmutig schaute sie auf das Display. Es war wieder diese Wiener Nummer, die ihr nichts sagte.
»Jetzt geh schon ran«, flüsterte Christiane ihr zu und kicherte. »Vielleicht ist es ja Abdel Rahman! Oder Gregor. Die warten auf dich in Wien! Dann kannst du mir ja den Inder überlassen …«
Marie-Claire nahm das Gespräch an. Sie erkannte die Stimme sofort. Es war Christoph, Cathrines Mann. Sie hatte lange nichts von ihm gehört und noch länger nicht mit ihm gesprochen. Sie mochten sich nicht. Und ganz offensichtlich mochte Cathrine ihn auch nicht mehr.
Bevor Marie-Claire sagen konnte, dass sie sehr beschäftigt sei und nicht mit ihm sprechen könne, schlug ihr ein wahrer Wortschwall entgegen. Christoph war sehr aufgeregt. Seine Stimme überschlug sich beim Sprechen. Während sie den Worten ihres Schwagers zu folgen versuchte, liefen ihr plötzlich Tränen über die Wangen. Sie zitterte am ganzen Körper. Das Handy fiel ihr aus der Hand. Christiane sprang erschrocken auf.
»Um Himmels willen, was ist denn los? Warum weinst du? Du zitterst ja am ganzen Körper! Jetzt sag schon.«
»Das war der Mann meiner Schwester. Er ist völlig aufgelöst. Cathrine ist weg – verschwunden! Er sagt, sie habe ihn völlig überstürzt verlassen, hat nur den Pass mitgenommen, ist mit einem Araber weggeflogen – nach Marrakesch.«
19. Kapitel
K
riminalhauptkommissar Bernhard Kleimann wusste nicht, was er tun sollte. Seinem italienischen Kollegen Gianfranco Moreni ging es nicht anders. Die beiden Interpol-Beamten saßen auf der Dachterrasse eines Cafés am Djema el Fna in Marrakesch und starrten schon seit geraumer Zeit auf das bunte Treiben unten auf dem Marktplatz. Die untergehende Sonne strahlte das quadratische Minarett der nahen Kutubiya-Moschee an, des im 12. Jahrhundert erbauten Symbols der machtvollen Ausdehnung des Almohadenreiches. Die goldenen Kugeln auf dem Dach der Moschee reflektierten die Sonnenstrahlen. Unten auf dem Marktplatz herrschte reges Treiben. Zwischen den Ständen der Obst- und Gemüseverkäufer drängten sich Menschenmassen. Verhüllte muslimische Frauen in ihren traditionellen langen Kleidern, aber auch junge Mädchen in kurzen Röcken gingen von Stand zu Stand. Das allgegenwärtige Nebeneinander von Tradition und Moderne gefiel Kleimann an Marrakesch. Hier, unmittelbar an den Souks der Altstadt gelegen, auf dem »Platz der Gehängten«, auf dem früher Rechtsbrecher öffentlich hingerichtet wurden, zeigte sich der Facettenreichtum dieser Oasenstadt am Fuße des schneebedeckten Hohen Atlas. Hier prallten lärmend und farbenprächtig mehrere Welten aufeinander: Wasserverkäufer mit riesigen Messingbehältern auf dem Rücken, ausstaffiert mit roten Pluderhosen, den Kopf bedeckt mit breitkrempigen Hüten, versuchten zu verkaufen, was in diesen Dezembertagen bei kaum mehr als achtzehn Grad niemand brauchte; Hökerer und Quacksalber, Schlangenbeschwörer und Geschichtenerzähler zogen die Marktbesucher in ihren Bann. Akrobaten wirbelten durch die Lüfte und beeindruckten ihre Zuschauer mit waghalsigen Flickflacks; der Geruch und Rauch der unzähligen Garküchen hing über dem Geschehen. Das war das traditionelle, farbenfrohe und sehr exotische Marokko, von dem er anfänglich geglaubt hatte, es werde nur für Touristen aufrechterhalten. Doch sein marokkanischer Kollege Khalid Semouri hatte ihm glaubhaft versichert, dass dies keine aufgesetzte Touristenshow, sondern marokkanischer Alltag sei. Ein Alltag, zu dem die Repräsentanten des Maroc Nouveau ebenso gehörten. Die gestylten jungen Männer ließen ihre auf Femme fatale zurechtgemachten Freundinnen in den bauchfreien Jeans mit Vorliebe direkt vor den Cafés rund um diesen Platz vor den Augen der greisen Marktweiber aus den sündhaft teuren Kabrioletts steigen. Es war ein faszinierender Platz, und wann immer es ihm möglich war, ging er von seinem nahe gelegenen Hotel aus hierher, um auf dieser Dachterrasse zu sitzen und das bunte Treiben zu beobachten. Ja, diese Stadt gefiel ihm. Sie sprühte vor Leben. Die zehn Kilometer lange, in der Morgen- und Abendsonne ockerfarben erstrahlende Stadtmauer umringte und behütete eine Welt, die nach anderen als im nahen Europa geltenden Gesetzen zu funktionieren schien.
Heute aber stand Bernhard Kleimann absolut nicht der Sinn nach den architektonischen und kulturellen Schönheiten dieser alten und doch auch so modernen Stadt. Er war zutiefst beunruhigt. Nur widerwillig gestand er sich ein, dass die Operation Mraksch völlig aus dem Ruder lief. Sein italienischer Kollege und er hatten sich daher nach dem heutigen Meeting mit den marokkanischen Kollegen hierhin zurückgezogen, um die Situation realistisch zu bewerten. Realistisch hieß in diesem Falle, dies ohne marokkanische Geheimdienstleute und Polizisten zu tun. Denn die, darüber war er sich ebenso im Klaren wie Gianfranco Moreni, kochten ihr eigenes Süppchen. Zwar waren die Kollegen immer sehr nett, vermeintlich kooperativ und letztendlich auch sehr effizient. Aber Effizienz à la Maroc, so hatte es Gianfranco vor einer halben Stunde so treffend wie auch zynisch umschrieben, »… heißt nicht, Probleme nach demokratischen, rechtsstaatlichen Prinzipien und mit kriminalistischer Perfektion zu lösen – sondern sich bei Problemen der Schusswaffe zu bedienen.«
Damit hatte er die seltsamen Todesumstände des italienischen Kommissars Carlo Frattini gemeint. Offiziellen Verlautbarungen der marokkanischen Behörden zufolge war der Sohn des im Palazzo Pitti umgekommenen Museumswärters von unbekannten Tätern auf offener Straße überfallen, durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe getötet und seines Fahrzeugs beraubt worden. Am helllichten Tag und auf einer belebten Hauptstraße. Das war die marokkanische Version, die von höchster Stelle in Rabat sogar dem italienischen Außenministerium in Rom »mit Bedauern« übermittelt worden war. Dass Gianfranco Moreni als altgedienter Kriminalist und langjähriger Leiter der Mordkommission in Palermo sehr wohl den Unterschied zwischen einem Schuss aus einer Handfeuerwaffe aus nächster Nähe und einem Schuss aus einem Gewehr mit kleinkalibriger Highspeed-Munition kannte, schienen die marokkanischen Kollegen nicht einmal in Erwägung gezogen zu haben, als sie Moreni erlaubt hatten, die Leiche des toten Commissario zu identifizieren. Seither war dieser sehr erregt, was noch immer nicht zu überhören war.
»Bernardo, ich weiß nicht, ob ich lieber schreien oder schweigen soll! Die haben Carlo Frattini liquidiert, glaub es mir! Die Leiche hatte einen Einschuss im Kopf, die zweifelsfrei erkennen ließ, dass der Schütze von einer erhöhten Position aus geschossen hat. Der Schusskanal lief von oben in der Schläfe nach unten zum Wangenknochen auf der anderen Seite des Gesichts. Vorne ein kleines Loch. Hinten ein kleines Loch. Typisch für kleinkalibrige Hochgeschwindigkeitsmunition – die übrigens international verboten ist. Nur Killer verwenden diese Munition! Nix da, Schuss aus nächster Nähe! Die haben ihn liquidiert. Und damit war das Problem des rachelüsternen Polizisten aus Italien gelöst. Die scheren sich um nichts, die lösen hier Probleme anders. Und so werden sie auch weiterhin agieren!«
Bernhard Kleimann schwieg betroffen. Er wusste, dass sein italienischer Kollege Recht hatte. Er wusste aber auch, dass es nichts brachte, den mysteriösen Tod von Carlo Frattini an die große Glocke zu hängen. Öffentlichkeit war das Letzte, was man in diesem sensiblen Fall gebrauchen konnten. Niemand in Rom und Lyon wusste so genau, was um Carlo Frattini herum geschehen war. Spielraum für abstruse Vermutungen gab es genug. Was hatte der Sohn des toten Museumswächters in Marrakesch gemacht? Wieso hatte er seine gesamten Ersparnisse zusammengekratzt, um diese Reise finanzieren zu können? Stand sein Tod etwa im Zusammenhang mit dem zweier Marokkaner, über den die hiesigen Medien berichtet hatten? Der Einzige, der dazu etwas hätte sagen können, war tot.
»Wir werden kaum Antworten auf unsere Fragen bekommen«, versuchte Bernhard Kleimann seinen italienischen Kollegen ein wenig zu beruhigen. »Es ist eine heikle Sache. Die Marokkaner sind ohnehin nicht gerade hoch erfreut, dass wir von Interpol hier mit dabei sind. Die wären froh, wenn sie die ganze Sache alleine regeln könnten. Aber die neusten Entwicklungen haben den marokkanischen Sicherheitsbehörden auch gezeigt, dass sie uns brauchen. Das ist alles so verflucht verworren, dass auch ich ehrlich gesagt nicht mehr weiß, wie ich damit umgehen soll. Was, zum Teufel, macht diese Marie-Claire de Vries jetzt plötzlich hier in Marrakesch? Ich verstehe das nicht!«
Gianfranco Moreni schien sich dazu durchgerungen zu haben, nicht mehr über den Tod seines Kollegen Frattini nachzudenken. Bevor er antwortete, schaute er sich allerdings auffällig misstrauisch um, ob in ihrer unmittelbarer Nähe noch andere Zuhörer saßen. Leise sagte er dann: »Auch wenn ich diesen Typen hier bei den Behörden nicht so recht traue, so gehe ich doch davon aus, dass sie in der Lage sind, Passdaten richtig zu lesen. Es war Marie-Claire de Vries! Diese Mitarbeiterin von Christie’s ist hier in Marrakesch angekommen. Zusammen mit Abdel Rahman, alias Faisal Ben Ait Haddou – alias Jilani Rezaigui. Sie sind von Wien über Casablanca nach Marrakesch geflogen. Laut Oberst Semouri sitzen die beiden seit gestern in einer Wohnung auf der anderen Seite des Golfclub-Hotels, in einer der Eigentumswohnungen, die zum Reitclub gehören. Raffiniert ausgesucht, diese Verstecke! In der riesigen Anlage herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Da fallen Fremde nicht auf. Man hat zwei Wohnungen auf dem gleichen Terrain – mit unterschiedlichen Zufahrtsstraßen und vielen Fluchtmöglichkeiten! In der einen sitzen die Leute fürs Grobe, die Handlanger, in der anderen wohnt der Anführer. Sie werden nie zusammen gesehen, obwohl sie nur knapp fünfhundert Meter voneinander entfernt sind. Aber jetzt wissen wir zumindest, wo sich Abdel Rahman versteckte! Und Marie-Claire de Vries ist ebenfalls dort. Ich hoffe nur, dass diese Wohnung auch das Versteck für die beiden geraubten Diamanten ist.«
»Ich glaube schon«, antwortete Bernhard Kleimann. »Abdel Rahman hat sich extrem konspirativ verhalten, als sie zu dieser Wohnung gefahren sind. In einem der abgehörten Telefonate hat er eine Formulierung verwendet, aus der man schließen kann, dass er die beiden geraubten Diamanten hier hat. Allerdings verstehe ich nicht, warum diese Marie-Claire jetzt hier auftaucht. Ist sie denn eine Komplizin? Auf jeden Fall hat sie ein Verhältnis mit diesem Araber. Die Kollegen in Wien haben die beiden auf dem Weihnachtsmarkt beobachtet. Am nächsten Morgen kam er aus ihrer Wohnung. Jetzt ist sie plötzlich hier, obwohl sie doch in die Schweiz hatte fliegen wollen. Das ist schon alles sehr verworren! Ich verstehe auch nicht so ganz, wieso Francis Roundell hier bald auftauchen wird. Das ist für ihn sehr risikoreich! Die abgehörten Telefongespräche sind aber eindeutig. Er kommt her! Und, ehrlich gesagt, Gianfranco, ich freue mich schon auf den Moment, wenn ich Francis hochnehmen kann. Er ist ein Saukerl. Er hat versucht, mich, als seinen alten Freund und Kollegen, für seine dreckigen Spielchen zu missbrauchen, die er vermutlich schon seit Jahren treibt. Er als Sicherheitschef bei Christie’s hat die besten Kontakte. Er sitzt mittendrin in der Schmuck- und Kunstszene. Niemand wäre doch auf die Idee gekommen, dass er sein Wissen für krumme Geschäfte nutzt. Daher sehne ich mich regelrecht nach einem Wiedersehen. Ich kann nur hoffen, dass die Marokkaner nicht wieder eigene Wege gehen, ohne uns darüber zu informieren. Die sind seit den Anschlägen von Casablanca so paranoid, was Terroristen betrifft, dass sie am liebsten alles abknallen, was ihnen diesbezüglich Probleme bereiten könnte. Die scheren sich einen Dreck um rechtsstaatliche Spielregeln.«
»Wobei wir ja nun ziemlich sicher wissen, dass dieser Jilani oder Abdel oder Faisal kein Terrorist ist. Das ist ein schnöder Krimineller, ein Handlanger für die Geschäfte von Francis Roundell. Er ist der Kopf der Bande. Und Abdel Rahman ist seine rechte Hand. Der erledigt die Drecksarbeit für Geld.«
»Von dem er aber die Hälfte seinem terroristischen Bruder in Granada zukommen lässt«, unterbrach Bernhard Kleimann.
»Und der hat nun mal ganz eindeutig Kontakt zu den Hintermännern der Terroranschläge von Casablanca und Madrid! Ich wäre also mit meiner Einschätzung, dass er kein Terrorist ist, etwas vorsichtig, lieber Kollege.«
Hauptkommissar Bernhard Kleimann hielt inne. Gedankenversunken schaute er hinunter zum Djemaa el Fna. Touristen schoben sich in kleinen Grüppchen über den Platz. Leise sprach er weiter: »Der Bruder von Abdel Rahman ist ein Puzzleteil, das ich ebenfalls noch nicht so ganz einordnen kann. Er ist ohne Frage eine wichtige Figur innerhalb dieses Netzwerkes islamistischer Fundamentalisten. Unsere Nachrichtendienste tun sich zwar ziemlich schwer, uns Informationen zu liefern, weil es natürlich wieder einmal um politische Rücksichtnahmen und um das leidige Thema Quellenschutz geht. Wahrscheinlich aber ist der Bruder sogar für die Finanzierung aller Aktivitäten der spanischen Zelle dieser Terrorgruppe verantwortlich. Was Francis Roundell betrifft, so wissen wir nach dem derzeitigen Stand unserer Ermittlungen lediglich, dass diese Terrorgruppierung ihn logistisch und personell in seinen kriminellen Aktivitäten unterstützt. Roundell plant die Coups, lässt sie von den Leuten um Abdel Rahman ausführen – und die kassieren dafür dann Geld, mit dem sie ihre terroristischen Ziele finanzieren. So einfach ist das. Francis Roundell können wir aber deswegen eine Zugehörigkeit zu den Terroristen ebenso wenig nachweisen wie Abdel Rahman. Ich glaube eher, dass sich da eine unheilvolle Allianz aufgetan hat. Was ja nichts Neues ist.«
»Absolut nicht«, bestätigte Gianfranco Moreni die Einschätzung seines Kollegen. »Solche Kooperation gibt es immer wieder. Sogar die Mafia lieferte in der Vergangenheit immer wieder Waffen an Terrorgruppierungen. Und zwar weltweit. Deswegen ist ein Mafioso aber noch kein Terrorist. Die machen Geschäfte mit allen, die gut bezahlen. Ich pflichte Ihnen allerdings bei, dass es sich hier um eine höchst brisante Kooperation zwischen Terroristen und Kriminellen handelt. Viele spektakuläre Kunstdiebstähle der Vergangenheit müssen unter diesen Aspekten noch einmal neu aufgerollt werden. Wer weiß, wo Roundell seine Finger sonst noch drin hatte. Er scheint immer nach demselben Muster vorzugehen: Erst lässt er berühmte Kunstgegenstände von seinen terroristischen Helfern stehlen. Dann bietet er den Versicherungen an, die geklauten Kunstgegenstände zurückzuholen, was ihm ja nicht schwer fällt. Und hinterher kassiert er wahnwitzige Belohnungen von der Versicherung! Wahrscheinlich ist das mit den beiden Schmuckstücken von Bayern und Florenz auch so geplant.«
Bernhard Kleimann schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Es bleibt dennoch offen, was es mit diesem Florentiner auf sich hat, von dem Marie-Claire de Vries dauernd spricht. Die abgehörten Telefonate sind diesbezüglich nicht sonderlich aufschlussreich. Erstaunlich ist aber, dass Abdel Rahman irgendwie auch was mit diesem Florentiner zu tun hat. Er taucht letztendlich immer da auf, wo Marie-Claire de Vries ist. Und immer führt die Spur zu Roundell. Dieser Florentiner-Diamant ist meines Wissens seit ungefähr 1920 verschwunden. Also, wieso wird er so intensiv gesucht? Was hat der Florentiner mit den beiden Sancys zu tun? Hat er was damit zu tun? Das alles passt nicht richtig zusammen. Und ich muss mich wiederholen: Warum ist Marie-Claire de Vries in Marrakesch?«
»Warten wir’s ab«, unterbrach ihn der italienische Beamte.
»Die marokkanischen Kollegen haben die Wohnung im Hotel Palmeraie verwanzt. In Abdel Rahmans Wohnung war das bislang nicht möglich, weil er sie nie verlässt. Vielleicht ist er zu intensiv mit dieser Marie-Claire beschäftigt. Auf jeden Fall sind alle Telefone jetzt angezapft. Rahmans Handy sollte jetzt ebenfalls abgehört werden, auch wenn das technisch ein wenig komplizierter ist. Aber ab Mittag hören wir mit! Vielleicht sind wir bald etwas klüger. Wenn Francis Roundell tatsächlich kommen sollte und sich auch nur annähernd abzeichnet, dass die beiden gestohlenen Diamanten hier in Marrakesch sind, sollten wir auf jeden Fall zugreifen. Wir müssen zugreifen! Es geht schließlich nicht nur um zwei Diamanten, sondern auch um Mord. Wobei ich wirklich hoffe, dass die Marokkaner bei dem Zugriff nicht wieder den Weg der verbrannten Erde wählen und alles liquidieren, was nicht schnell genug die Hände gen Himmel streckt.«
*
Marie-Claire de Vries war verzweifelt. Sie wollte weinen, traute sich aber nicht. Der feste Griff des arabisch aussehenden Mannes tat ihr weh. Seine Fingernägel gruben sich in ihren Unterarm ein. Sie verstand noch immer nicht, warum er sie so brutal behandelte. Dann kamen zwei Polizisten. Sie lächelten freundlich. Ihre Schweizer Uniformen wirkten beruhigend. Marie-Claire ging davon aus, dass sich dieses Missverständnis schnell klären würde.
Der Flughafen von Zürich war zu dieser späten Abendstunde fast menschenleer. Um sie herum hatte sich jedoch am Kontrollschalter für die Boarding Cards eine kleine Gruppe Neugieriger versammelt. Die Gaffer tuschelten. Das Wort Terroristin fiel. Ihr Blick wanderte zur Uhr an der Wand über den Hinweistafeln für den Abflug. In einer Stunde ging ihre Maschine nach London. Es war der letzte Flug nach London an diesem Abend, und sie musste ihn unbedingt erreichen. Das Leben von Cathrine hing davon ab.
»Was ist hier los?«, fragte einer der beiden Polizist barsch. Der Kontrolleur für die Boarding Cards, der Marie-Claire noch immer am Arm festhielt, tat sehr stolz.
»Der Name im Pass dieser Frau ist nicht identisch mit dem Namen, der auf ihrer Boarding Card steht. Sie ist mir aufgefallen, weil sie so nervös ist. Deswegen habe ich sie festgehalten. Da stimmt etwas nicht!«
»Bitte Ihren Ausweis, Madame! Die Boarding Card und das Ticket«, forderte der Polizist sie auf. Marie-Claire war sprachlos. Sie verstand überhaupt nicht, um was es ging. Was sollte denn mit ihrem Pass nicht stimmen? Sie war doch mit dem gleichen Pass vor drei Tagen zusammen mit Chrissie von Wien nach Zürich geflogen.
»Impossible!«, zischte sie und hielt dem Polizisten die gewünschten Dokumente hin. Sie zitterte. Der Polizist sah es. Mürrisch blätterte er in dem Pass, schaute Marie-Claire an, prüfte die Boarding Card, schaute auf das Flugticket und blickte ihr schließlich misstrauisch in die Augen.
»Vous êtes Madame de Vries? Madame Cathrine de Vries?«
Aufmerksam betrachtete er die Frau, die vor ihm stand. Sie war auffallend hübsch, mit langen blonden Haaren, sie wirkte sehr gepflegt und war modern gekleidet. Außer einer kleinen Handtasche und einem Laptop hatte sie kein Gepäck bei sich. Da auf dem Ticket kein Gepäckkontrollsticker zu sehen war, ging er davon aus, dass die Frau nur mit Handgepäck unterwegs war. Das kam ihm seltsam vor. Sie hatte laut Ticket noch ein lange Reise vor sich. Das Ticket war erst vor einer Stunde hier am Flughafen gekauft und mit einer Kreditkarte bezahlt worden. Die Boarding Card galt für den Abendflug von Zürich nach London Heathrow. Für den nächsten Tag war ein Flug von London nach Casablanca und weiter nach Marrakesch gebucht. Und das alles ohne Koffer, ohne Kleidungsstücke? Hier stimmte tatsächlich etwas nicht. Augenscheinlich war diese Frau optisch identisch mit der abgebildeten Person in dem österreichischen Reisepass, den er in der Hand hielt. Der Pass schien auch echt zu sein. Er war etwas abgegriffen und voller Stempel aus aller Welt. Doch auf dem Ticket der British Airways stand ein anderer Name, zumindest ein anderer Vorname. Im Pass hieß diese Frau Cathrine de Vries. Auf allen anderen Dokumenten hieß sie seltsamerweise aber Marie-Claire de Vries. Als er ihr das zeigte, wurde die Frau sehr nervös. Voller Panik starrte sie in ihren Pass und blätterte darin herum.
»Ich … ich verstehe das nicht!«, stotterte Marie-Claire de Vries. Sie spürte, wie ihr Schweißperlen auf die Stirn traten.
Wie konnte es geschehen, dass sie den Reisepass von Cathrine in der Handtasche hatte? Wann war das passiert? Angestrengt dachte sie nach und ihr fiel eine mögliche Erklärung ein: Vor drei Monaten waren sie und Cathrine zusammen in Rom gewesen. Hatten sie damals im Hotelzimmer in Rom versehentlich ihre Pässe vertauscht? War es möglich, dass sie beide seitdem mit falschen Pässen reisten? War es möglich, dass auf ihrer gesamten Reise nach Ägypten niemandem aufgefallen war, dass sie den Reisepass ihrer Zwillingsschwester benutzte? Ihr selbst auch nicht? War das möglich? Ihre Gedanken überschlugen sich. Ja, wieso nicht? Cathrine und sie sahen sich im realen Leben und auch auf den Passbildern täuschend ähnlich. Dann noch derselbe Familienname, dieselbe Staatsangehörigkeit, dasselbe Geburtsdatum, derselbe Wohnort: Wien! Cathrine war also mit ihrem Reisepass unterwegs. Und sie war weit weg, in Marrakesch – und in Gefahr. Vielleicht sogar in Lebensgefahr! Wenn sie jetzt hier in Zürich festgenommen oder zumindest länger aufgehalten würde, was würde dann in Marrakesch geschehen? Würde Abdel Rahman …? Marie-Claire begriff, dass sie die Polizisten nur dann von der Richtigkeit ihrer Geschichte überzeugen konnte, wenn sie noch irgendein anderes Personaldokument vorzuweisen hatte.
»Um Gottes willen«, blickte sie die beiden Polizisten flehend an. »Das ist der Reisepass meiner Zwillingsschwester. Wir müssen ihn vertauscht haben. Wir sind eineiige Zwillinge. Das Ticket hatte ich heute telefonisch bestellt. Der Frau am Schalter ist wohl nicht aufgefallen, dass es ein Pass mit einem anderen Vornamen ist.«
Hektisch kramte sie in ihrer Handtasche. Der Führerschein! Ja, auf dem Führerschein stand ihr richtiger Name – mit Bild! Auf der Kreditkarte auch – allerdings ohne Bild. Auf ihrem Dienstausweis, ja, auf dem Hausausweis von Christie’s war auch ihr Bild, ihr richtiger Name, ihre Anschrift. Sie gab den Polizisten alle Dokumente. Siedend heiß wurde ihr plötzlich bewusst, dass es nicht das Problem war nachzuweisen, dass sie Marie-Claire de Vries war. Das Problem war, dass sie jetzt keine gültigen Reisedokumente mehr besaß. Sie würde nicht weiterreisen dürfen, bis das alles geklärt war. Sie würde nicht nach London kommen, um die Dokumente zu holen, die Abdel Rahman haben wollte! Und sie würde nicht nach Marrakesch weiterfliegen können! Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie spürte, wie ihre Kräfte sie verließen.
»Hier, schauen Sie …«, presste sie hervor und zog ein Bild aus der Brieftasche. Es zeigte Cathrine und sie vor der Spanischen Treppe in Rom. Auf der Rückseite des Fotos stand ein Datum. »Hier, bitte, sehen Sie. Wir sind Zwillinge.«
»Wie heißt Ihr Sicherheitschef, Madame de Vries?« Sie hörte die Stimme des Polizisten wie in Trance, verstand aber nicht, was er mit dieser Frage bezweckte. Prüfend hielt er ihren Hausausweis in der Hand.
»Roundell … Francis Roundell«, schluchzte sie. Der Polizist wirkte plötzlich sehr ernst. Er fuhr die Gaffer an.
»Gehen Sie weiter! Hier gibt es nichts zu sehen!« Dann tat er einen Schritt auf Marie-Claire zu und fasste sie am Arm: »Ich muss Sie bitten, mir auf die Wache zu folgen. Sie sind vorläufig festgenommen.«
*
Abdel Rahman alias Faisal Ben Ait Haddou alias Jilani Rezaigui versuchte, seine Nervosität zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht. Unruhig ging er zum Fenster und schaute durch den Vorhang hindurch auf den Weg, der vom Parkplatz des Reitstalls zu der Wohnung führte, in der er sich aufhielt. Er konnte nichts Auffälliges feststellen, dennoch hatte er ein ungutes Gefühl. Sein sechster Sinn sagte ihm, dass da draußen seltsame Dinge geschahen. Sechs Autos waren dort unten geparkt. Es waren die gleichen Fahrzeuge wie am frühen Morgen. Sie gehörten reichen Marokkanern, die sich eine Eigentumswohnung in dieser noblen Clubanlage erlauben konnten. Insgesamt standen sechs Häuser auf dem Terrain. In jedem waren ein Dutzend Wohnungen untergebracht. Die meisten davon waren Maisonettewohnungen mit zwei Etagen und sechs Zimmern. Anonymität und Diskretion waren hier oberstes Gebot. Er wusste, dass ein General der marokkanischen Armee in dem gegenüberliegenden Wohnblock gleich zwei Wohnungen besaß. In einer der Wohnungen des Generals hielten sich zwei sehr junge Frauen auf. Er sah sie manchmal abends durch die Gardinen hindurch. Es waren offensichtlich heimliche Gespielinnen des Generals, der immer nur am Wochenende kam.
Abdel Rahman schaute auf die Uhr. In der Schweiz war es jetzt neun Uhr. Vor knapp vier Stunden hatte er mit Marie-Claire telefoniert. Sie hatte laut aufgeschrien, als sie gehört hatte, dass Cathrine mit ihm in Marrakesch sei. Und sie hatte ihn unflätig beschimpft, als sie erfuhr, dass Cathrine freiwillig mit ihm geflogen war. Das hatte Marie-Claire nicht geglaubt. Also hatte er ihr erzählt, wie er Cathrine am Tag nach dem Besuch des Weihnachtsmarktes angerufen und sie sich mit ihm verabredet hatte – nur wenige Stunden nachdem er Marie-Claires Wohnung am frühen Morgen verlassen hatte. Abdel Rahman grinste dämonisch. Es hatte ihm gefallen: zwei Schwestern innerhalb von vierundzwanzig Stunden! Eine hübscher als die andere. Und dann auch noch Zwillingsschwestern! Selbst ihre Körper waren sich sehr ähnlich. Und eine war geiler als die andere. Die eine liebte die harte Art. Die andere war so heiß auf ihn gewesen, dass sie sich schon mittags nach dem Essen in der Toilette des Restaurants von ihm hatte bumsen lassen. Und abends im Hotel dann noch einmal. Immer wieder. Schließlich war sie ihm auf die Nerven gegangen. Hätte sie nicht plötzlich angefangen, von der Arbeit ihrer Schwester Marie-Claire zu erzählen, hätte er sie wahrscheinlich aus dem Hotelzimmer hinauskomplimentiert. Aber dann war dieser eine Satz gefallen. Diese Sache mit der Statue, in der angeblich ein Schatz versteckt sein sollte! Ein einziger Satz aus dem Mund von Cathrine hatte den Dingen plötzlich eine andere Wende gegeben. So heiß, wie sie auf ihn war, so dumm schien sie auch zu sein. Ohne dass er sie überhaupt gefragt hatte, erzählte sie von dem Geheimauftrag ihrer Schwester, von dem Dossier bei Christie’s in London. Und ihm war klar geworden, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Florentiner, dem Buchmanuskript und diesem Schatz – und damit auch einen Zusammenhang zwischen den beiden Sancys und dem Florentiner gab.
Plötzlich sah er vieles in einem anderen Licht, er begriff vieles: Der Scheißkerl Roundell wollte ihn aufs Kreuz legen! Da lief ein wahnwitziges Ding ab. Hier ging es nicht um schnöde Diamanten, die später an die Versicherungsgesellschaften verkauft werden sollten. Es ging es um viel mehr! Roundell hatte ihm lediglich gesagt, dass diese drei Diamanten einen enormen Wert hätten, weil sie früher einmal zusammengehört hatten. Aber das war wohl nur die halbe Wahrheit gewesen. Er erkannte, dass er mit Cathrine de Vries völlig unerwartet einen Joker in der Hand hielt. Mit ihr als Geisel würde er von Marie-Claire de Vries all das bekommen, was Roundell brauchte: das Buchmanuskript – und die geheimen Unterlagen über diese Auktion bei Christie’s vor so vielen Jahren. Jene Unterlagen, aus denen offensichtlich hervorging, wer den Florentiner-Diamanten jetzt besaß. Die beiden Sancy-Diamanten hatte er bereits. Sie lagen im Wohnzimmer nebenan in einem Aquarium im Sand versteckt. Wie zwei kleine, glitzernde, von Goldfischen bewachte Kieselsteinchen sahen sie aus. Bislang waren sie nur ein paar Millionen Euro wert gewesen. Jetzt aber ging es um einen Schatz – um unvorstellbaren Reichtum! Und jetzt war er, Abdel Rahman, mit von der Partie! Roundell hatte keine andere Chance. Was immer das für ein legendärer Schatz war, um den es hier ging, ohne ihn würde Roundell diesen Coup nicht durchziehen können. Wenn Marie-Claire de Vries morgen käme und diese Unterlagen mitbringen würde, wäre man dem Besitzer des Florentiners einen entscheidenden Schritt näher. Und damit dem Schatz. Er aber hatte die beiden Sancys. Wenn, wie Cathrine de Vries es so dahingeplappert hatte, alle drei Edelsteine zum Öffnen der Statue erforderlich waren, kam Roundell jetzt nicht mehr an ihm vorbei. Roundell war zwar der Einzige, der offensichtlich wusste, wo diese Statue sich befand, aber ohne die beiden Sancys lief nichts. Und wo die versteckt waren, wusste Roundell nicht!
Abdel Rahman lächelte süffisant vor sich hin. Die war wirklich zu dämlich, diese Cathrine de Vries! Eine von diesen frustrierten und nicht ausgelasteten Huren, die zu Hause einen stinkreichen Mann sitzen haben, sich aber von anderen Männern vögeln lassen und dann anfangen zu plappern. In dem Moment, als er erkannte, was er mit Cathrine de Vries in der Hand hatte, in diesem Moment hatte er entschieden, Cathrine de Vries nach Marrakesch zu locken und sie dann als Geisel festzuhalten. Es war ihm danach nicht sonderlich schwer gefallen, sie die ganze Nacht hindurch zu verwöhnen, den zärtlichen, einfühlsamen und vernarrten Liebhaber zu spielen. Einer, der davon träumt, sie als Frau zu haben. Für immer und ewig. Und sie hatte ihm das tatsächlich abgenommen. Eine Nacht hatte er gebraucht, um sie dazu zu kriegen, mit ihm nach Marrakesch zu fliegen. Mit völlig verklärtem Blick war sie nach Hause gefahren, hatte Pass, Geld, Kreditkarten und ein paar Kleider eingepackt und war mitgekommen. Doch wie hatte sie dann geschrien und um sich geschlagen, als er ihr hier in der Wohnung die Wahrheit gesagt hatte. Und die Wahrheit war sehr einfach: Entweder Marie-Claire schaffte dieses Buchmanuskript und die geheimen Unterlagen aus dem Christie’s-Archiv heran, oder ihre Zwillingsschwester würde sterben! Genau das hatte Cathrine de Vries ihre Schwester am Handy wissen lassen. Jetzt lag sie oben im Zimmer und schlief. Er hatte sie am Bett festgebunden und mit einem Betäubungsmittel in Tiefschlaf versetzt. Abdel Rahman fragte sich, ob Marie-Claire tun würde, was er von ihr verlangte. Oder war sie cleverer als ihre Schwester, die offensichtlich glaubte, sie würde Marrakesch jemals wieder lebend verlassen? Cathrine glaubte das wirklich und war sich absolut sicher, dass Marie-Claire seinen Forderungen nachkommen würde.
»Meine Schwester liebt mich – sie würde alles tun, um mir zu helfen! Wir sind Zwillingsschwestern«, hatte sie geschluchzt.
Abdel Rahman schaute noch einmal aus dem Fenster. Draußen vor dem Haus war nach wie vor alles ruhig. Der Abendhimmel war von den Lichtern der nahen Stadt erhellt. Es erinnerte ihn daran, dass er heute einen Zettel im Postfach gefunden hatte. Die Verwaltung des Reitclubs teilte darin mit, dass morgen Abend im Club, in den dazu gehörenden Wohnanlagen sowie im Hotel Palmeraie eine routinemäßige Notfallübung der Feuerwehr von Marrakesch stattfinden würde, in dessen Rahmen es zu Lärm- und Rauchbelästigung kommen könne. Auch am Parkplatz stand das auf einem großen Plakat geschrieben, verbunden mit dem Hinweis, dass die Zufahrtswege zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Uhr gesperrt seien. Es ärgerte ihn ein wenig. Er verstand nicht, warum das so spät mitgeteilt wurde. Wie auch immer: Genau zu dieser Zeit würde Marie-Claire de Vries morgen Abend ankommen. Und Francis Roundell. Das würde eine große Überraschung werden. Roundell wusste weder, dass Marie-Claire auf dem Weg nach Marrakesch war, noch dass Abdel Cathrine de Vries als Geisel genommen hatte. Marie-Claire wiederum ahnte nicht, dass Roundell hier sein würde. Und beide wussten sie nicht, dass er, Abdel Rahman, jetzt ebenfalls über den Schatz in der Statue Bescheid wusste.
Würde Marie-Claire so handeln, wie ihre Schwester das glaubte und wie er das erwartete? Oder hatte sie so etwas wie Stolz und Ehrgefühl? Hasste sie Cathrine jetzt? Schließlich hatte sie mit dem Telefonat erkannt, dass ihre eigene Schwester sie betrogen hatte. Würde sie jetzt noch die Unterlagen bringen, um ihre Schwester zu retten?
Eine andere Frage, die er sich seit gestern stellte, war, wieso Roundell sich nicht selbst diese Unterlagen aus dem Christie’s-Archiv besorgte. Er saß doch als Sicherheitschef von Christie’s an der Quelle. Wieso musste Roundell warten, bis Marie-Claire diese Dossiers hatte? Das war etwas, das Abdel Rahman nicht begriff. Doch das würde sich sicherlich mit dem Kommen von Francis Roundell klären. Seine Gedanken wanderten zurück zu Marie-Claire. Es machte ihn nervös, dass er nicht genau abschätzen konnte, wie sie nun handeln würde. Was hatte sie ins Telefon geschrien? »Ich bringe dich um!«
*
Francis Roundell war die Fliegerei absolut leid. Erst letzte Nacht war er aus Indien zurückgekehrt. Der Zeitunterschied und der extreme Klimaumschwung steckten ihm noch in den Knochen, zumal er nur zwei Tage Zeit gehabt hatte für die Dinge, die er in Jaipur hatte erledigen müssen. Dafür aber war dort alles perfekt gelaufen. Der Zugang zu der Statue war jetzt endgültig gewährleistet. Der Inder, den er nicht sonderlich mochte, hatte sich mit den Verfahrensweisen und vor allem mit den finanziellen Abmachungen einverstanden erklärt. Alles war jetzt nur noch eine Frage der Zeit. Die beiden Sancys hatte er schon. Den Florentiner würde er ebenfalls bald besitzen.
Auch wenn er mit allem zufrieden sein konnte, war er müde und abgespannt. Eigentlich hatte er ab morgen zwei Tage Urlaub. Daher stand ihm absolut nicht der Sinn danach, jetzt nach Marokko zu fliegen, zumal er es nicht für besonders klug hielt, derzeit mit Abdel Rahman zusammenzutreffen. Es gab zwar keine wirklich konkreten Hinweise darauf, dass die internationalen Ermittlungsbehörden aktiv waren, aber genau das beunruhigte ihn. Es konnte der Eindruck entstehen, als seien die spektakulären Raubüberfälle in Bayern und Florenz vergessen. Das war jedoch mit Sicherheit nicht der Fall. Francis Roundell kannte seinen ehemaligen Kollegen Bernhard Kleimann gut genug. Seit fast einer Woche versuchte er ihn zu erreichen. Nach ihrem Zusammentreffen in Lyon hatten sie kaum miteinander gesprochen. Das musste nicht unbedingt etwas bedeuten, es konnte aber auch ein Indiz dafür sein, dass die Operation Mraksch in der heißen Phase war. Und Kleimann gehörte zu dieser Sonderermittlungsgruppe. Nein, jetzt nach Marrakesch zu fliegen war wirklich nicht klug. Zumal er weitaus Wichtigeres zu tun hatte. Auch mit Marie-Claire de Vries hatte er schon viel zu lange nicht mehr telefoniert. Sie war in die Schweiz geflogen und hatte sich von dort nur kurz gemeldet. Was sie genau dort machte, wusste er nicht. Sie schwieg sich über ihre Aktivitäten aus. Ihr Bericht war längst überfällig. Francis hatte das Gefühl, als lasse sich Marie-Claire absichtlich Zeit mit dem Schreiben des Berichts. Im Zentralarchiv von Christie’s war sie noch nicht gewesen, das hatte er in Erfahrung gebracht. All das beunruhigte ihn.
Und jetzt dieser höchst eigenartige Anruf von Abdel Rahman. Was nur wollte der Araber? Er war sich ganz sicher, dass Abdel Rahman irgendetwas im Schilde führte. Aber was? Francis spürte, dass die Dinge irgendwie aus dem Ruder liefen. Abdel hatte sich zwar sehr bemüht, unbedarft zu wirken, aber das war ihm misslungen. Von wichtigen Veränderungen und neuen Erkenntnissen hatte er gefaselt und auf dem Treffen beharrt. Francis Roundell ging nachdenklich in seiner Wohnung auf und ab. Der Kamin flackerte unruhig. Draußen stürmte es noch immer. Hatte Abdel in Wien irgendwelche Dinge in Erfahrung gebracht, von denen er nichts wissen sollte? Vermutlich war es besser, sich schnell von dem Araber zu trennen. Für immer. Abdel wusste zu viel. Ebenso wie Marie-Claire. Wenn er sie nach Abschluss dieser Sache aus dem Wege räumen würde, wenn sie verschwunden wäre, würden das Board of Directors bei Christie’s und auch die Ermittlungsbehörden davon ausgehen, dass Marie-Claire hinter der ganzen Sache steckte. Ja, wenn Abdel Rahman und Marie-Claire unschädlich gemacht worden wären, stünde seinem Triumph nichts mehr im Weg. Drei Jahre lang hatte er die ganze Sache geplant. Das Genialste war, dass kein Verdacht auf ihn fallen würde. Geschickt hatte er sehr viele falsche Spuren gelegt. Jeder würde Marie-Claire verdächtigen, denn sie war es, die sich ja so intensiv mit dem Florentiner beschäftigte. Sie würde Einblick in die geheimen Archivunterlagen nehmen, von denen er schon längst wusste, was drinstand. Genau das war das Raffinierteste an seinem Plan. Marie-Claire de Vries lebte im Bewusstsein, dass der Auftrag für die Recherche nach dem Florentiner vom Board of Directors bei Christie’s gekommen war. Das aber stimmte nicht. In der Führungsetage von Christie’s wusste niemand etwas davon. Er hatte sie in diesem Glauben gelassen, damit sie nicht misstrauisch wurde. Marie-Claire würde, falls jemals jemand dahinterkommen würde, zur Verantwortung gezogen werden. Aber dann wäre sie längst verschwunden. Tote Zeugen konnten nun einmal nicht sprechen.
20. Kapitel
D
as Flugzeug von London nach Casablanca war bis auf den letzten Platz ausgebucht. Marie-Claire war leichenblass. Ihr stand der Sinn nach Ruhe, aber ihr Leben war alles andere als ruhig. Sie brauchte dringend jemanden, der ihr half. Doch wer sollte das sein? Was sollte sie nur tun? Ihre Situation war völlig verfahren. Kaum hatte sie eine kritische Situation überstanden, da entstanden neue, schier unlösbare Probleme. Der Flughafenpolizist, der sie gestern Abend in Zürich nach dem Namen des Sicherheitschefs von Christie’s gefragt hatte, kannte Francis Roundell. Welch ein Zufall! Er hatte lange Zeit in Genf seinen Dienst versehen und war zweimal als Sicherheitsbeamter bei der alljährlichen Auktion von Christie’s im November im Einsatz gewesen. Dabei hatte er Francis Roundell kennen gelernt, und das ganz offensichtlich gut. Wie Roundell aussehe, hatte der Polizist sie auf der Flughafenwache gefragt, ob Roundell verheiratet sei und wo Roundell früher als Kriminalbeamter gearbeitet habe. Was immer der Polizist gefragt hatte, sie hatte ihm antworten können. Alles hatte sie von Francis gewusst. Das hatte sie gerettet. Es war wirklich ein sehr verständiger Beamter gewesen. Er hatte ihr schließlich geglaubt, dass sie den Pass ihrer Schwester versehentlich eingesteckt hatte. Und ebenso zeigte er Verständnis dafür, dass sie in unvorstellbare Schwierigkeiten geraten würde, wenn sie nicht nach London und dann weiter nach Marokko fliegen würde. Trotz allem hatte er sie aber auch ermahnt, dass sie sich strafbar mache, sollte sie mit diesem Pass weiterreisen.
Aber was sollte sie tun? Sie musste nach Marrakesch! Nur sie konnte diese Sache regeln. Gab es eigentlich noch jemanden, dem sie trauen konnte? Francis Roundell traute sie schon seit einiger Zeit nicht mehr so recht. Jetzt, nachdem sie im Zentralarchiv gewesen war, um sich die Dossiers zu besorgen, hatte sie sogar Angst vor ihm.
Gregor? Nein, Gregor konnte und würde ihr nicht helfen. Er war sicherlich der falsche Ansprechpartner, zumal er sich wahrscheinlich sowieso nie mehr melden würde. Und Sanjay? Er hatte sich auf ihre Fragen nach den Ostiers wirklich sehr seltsam verhalten. Einerseits sprach er immer von Ehrlichkeit und Offenheit und von dem ungewöhnlichen Vertrauen, das sie verband, aber dieser Frage von ihr war er ausgewichen und hatte sie auf später vertröstet. Was verschwieg er? Als sie ihn angerufen und ihm mitgeteilt hatte, dass sie aus familiären Gründen sehr kurzfristig aus Grandson abreisen müsse, war er sehr distanziert gewesen, was sie gut verstehen konnte. Sie konnte ihm nicht sagen, was der wirkliche Grund ihrer übereilten Abreise war. Nein, Sanjay um Hilfe zu bitten, war beim derzeitigen Stand der Dinge nicht möglich. Und der guten, treuen Seele Chrissie konnte sie zwar alles erzählen, aber helfen konnte ihre Freundin Christiane ihr ebenfalls nicht. Vor Marie-Claire lagen Entscheidungen, die ebenso dramatische wie fatale Folgen haben konnten. Ihren Job bei Christie’s würde sie sowieso verlieren, und nur sie alleine war dafür verantwortlich. Hätte sie sich nicht mit diesen drei Männern eingelassen, wäre das alles nicht passiert. Jetzt war es zu spät. Jetzt galt es einzig und alleine, Cathrine zu retten. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie musste an ihre Zwillingsschwester denken. Cathrine hatte sich an Abdel rangemacht, hatte mit ihm geschlafen! Mit demselben Mann, mit dem sie in der Nacht zuvor zusammengewesen war. Das war die eine, die grausamste Erkenntnis. Die andere, die gefährliche, war, dass Cathrine Abdel offensichtlich Details ihrer streng geheimen Recherche über den Florentiner erzählt hatte. Und das, obwohl sie Cathrine ausdrücklich gebeten hatte, mit niemandem darüber zu reden. Damit hatte Cathrine sie beide in große Gefahr gebracht. Konnte sie Cathrine das jemals verzeihen? Oder waren sie beide nur Opfer eines brutalen, skrupellosen Kriminellen? Hatte Abdel Rahman von Anfang an nur mit ihr gespielt und sie ausgenutzt? War er vielleicht sogar einer der Täter, die die beiden Sancys geraubt hatten? In den Zeitungsberichten hatte sie gelesen, dass einer der Täter wahrscheinlich durch eine Polizeikugel verletzt worden war. Als sie mit Abdel Rahman im Bett gewesen war, hatte sie eine frische Narbe an seinem Unterleib gesehen. Er hatte behauptet, sich bei einem Unfall schwer verletzt zu haben. Damals hatte sie ihm geglaubt, doch jetzt bezweifelte sie selbst die Richtigkeit seines Namens. An allem zweifelte sie.
War Cathrine an dieser verfahrenen Situation schuld? Hätte Cathrine nicht mit Abdel geschlafen und wäre sie nicht mit ihm nach Marrakesch geflogen, wäre alles sicher ganz anders verlaufen. Oder vielleicht doch nicht? Die Beantwortung dieser Frage war unwichtig geworden. Sie musste zunächst tun, was Abdel Rahman von ihr verlangte. Sie hatte das Buchmanuskript und die Unterlagen aus dem Archiv bei sich. Vor wenigen Stunden hatte sie sich die beiden Aktenordner in der Christie’s-Zentrale besorgt. Rasch hatte sie die Seiten überflogen. Der Inhalt hatte sie schockiert. Als sie während eines Gesprächs mit Luc Duchard, der im Board of Directors des Konzerns saß, feststellte, dass er über ihren Auftrag in keiner Weise informiert war, wusste Marie-Claire weder ein noch aus. Wieso wussten die Direktoren von Christie’s nichts von ihrem Auftrag? Offensichtlich hatte Francois Roundell sie angelogen. Aber warum? Seither hatte sie Angst. Entsetzliche Angst! Was von nun an geschehen würde, war nicht absehbar. Das Einzige, was derzeit feststand, war, dass sie im Flugzeug nach Marokko saß. In etwa vier Stunden würde sie in Marrakesch landen.
*
Für Hassan Jorio, Kommandant der Berufsfeuerwehr von Marrakesch, war es der aufregendste Einsatz seines Lebens. Der dickbäuchige Hüne mit dem kahlen Schädel saß in seinem Büro und zwirbelte nervös an seinem Oberlippenbart. Der Muezzin rief soeben von der nahen Moschee zum Nachmittagsgebet. Vor ihm auf dem Schreibtisch lagen Dutzende Straßenkarten, Baupläne, Fahrzeug- und Personallisten. Seit zwei Tagen tat er nichts anderes, als sich auf diese Sache im Hotel Palmeraie und dem nahe gelegenen noblen Reitclub vorzubereiten. Was ihn unruhig machte, waren aber nicht die einsatztechnischen Aspekte dieser Übung, das war pure Routine. In allen größeren Hotels, Schulen und öffentlichen Gebäuden wurden in regelmäßigen Abständen solche Übungen durchgeführt. Sie liefen immer nach dem gleichen Muster ab: simulierte Brandherde im Objekt – Alarm – Ausrücken – Ankunft – Lagebesprechung mit den Abteilungsleitern der jeweiligen Einsatzgruppen – Brandherde lokalisieren – Schläuche ausfahren – Anwohner evakuieren – Wasser Marsch! Heute jedoch würde das ganz anders ablaufen. Zum einen eilten permanent hochrangige Polizeibeamte mit goldenen Schulterabzeichen und vielen Orden auf ihren Jacketts in sein Büro, hinterfragten ständig, was er tat und plante. Zum anderen gab es da die vielen Zivilbeamten, deren Namen er sich nicht merken konnte und von denen er nicht einmal genau wusste, wer sie überhaupt waren. Fest stand nur, dass es alles sehr wichtige Leute waren, die auf direkten Befehl des Innenministers handelten und deren Befehlen er widerspruchslos zu gehorchen hatte. Doch das war nicht gerade einfach. Die fürchterliche Geheimnistuerei dieser Männer ließ ihn nur erahnen, was auf ihn und seine Männer zukommen würde. Man hatte ihm nur gesagt, dass acht Löschfahrzeuge mit je zehn Feuerwehrmännern bereitstehen mussten. Zudem noch Fahrzeuge und Personal zur weiträumigen Absperrung, vier mit Ärzten und Sanitätern besetzte Notarztwagen und ein Rettungshubschrauber! Den genauen Ablauf der Übung würde er erst kurz vor dem Einsatz erfahren. Dann, dachte Hassan Jorio, würde man ihm vielleicht auch sagen, warum er noch zwanzig Feuerwehruniformen hatte besorgen müssen. Auch das war unter strengster Geheimhaltung geschehen! Auf der Materialanforderungsliste, die ihm kommentarlos auf den Tisch geknallt worden war, standen Dinge, die für solche Übungen nicht üblich waren. Zum Beispiel Löschmaterialien für Brände mit hoch explosiven Chemikalien. Und ABC-Gasmasken! Diese Liste las sich so, als würde heute in dem Luxusresort außerhalb von Marrakesch Krieg ausbrechen! Dem war vielleicht auch so. Es ging um Terroristen! Und das machte ihn nervös.
*
Cathrine de Vries war aus dem Tiefschlaf erwacht. Sie war völlig benommen. Ihr erster Versuch, sich in dem Bett aufzurichten, misslang. Beide Hände waren mit Klebeband an dem hinteren Teil des Bettes festgebunden. Auch ihre Beine hatte man zusammengebunden. Cathrine war übel, sie musste würgen. Panik überkam sie. Ihr Mund war zugeklebt. Entsetzt schaute sie sich in dem Zimmer um. Die Fensterläden waren zugeklappt, die Vorhänge vorgezogen. Sie konnte an den wenigen Lichtstrahlen, die ins Zimmer fielen, nur erahnen, dass es später Nachmittag sein musste. Dann hörte sie einen Muezzin in der Nähe über Lautsprecher die Gläubigen zum Gebet rufen. Also war es ungefähr sechs Uhr, kurz vor Sonnenuntergang! Sie schien sehr lange geschlafen zu haben. Sie hatte Kopfschmerzen. Wieder bekam sie einen Würgeanfall, hyperventilierte und zwang sich, bewusst ruhig durch die Nase ein- und auszuatmen.
Dann hörte sie unten Stimmen. Angestrengt lauschte sie durch das Halbdunkel des Zimmers. War das möglich? Sie war sich sicher, Marie-Claires Stimme zu hören. Die andere Stimme war die von Abdel Rahman. Die beiden stritten sich. Dann war es plötzlich vom einen auf den anderen Augenblick still. Cathrine de Vries zerrte an ihren Fesseln, aber das Klebeband schnitt ihr in die Handgelenke. Ihre Beine waren von dem langen Liegen taub. Das da unten war tatsächlich ihre Schwester Marie-Claire.
Cathrine war unendlich erleichtert, doch gleichzeitig kam auch die Angst zurück. Sie schämte sich und fürchtete sich vor dem ersten Zusammentreffen mit Marie-Claire. Sie wusste, dass zwischen ihnen beiden nichts mehr so sein würde, wie es einmal gewesen war.
Doch im Moment zählte nur die Situation, in der sie und Marie-Claire sich befanden. Sie war Geisel eines skrupellosen Gangsters, eines Arabers, der sie benutzt hatte wie eine Hure. Und sie hatte Marie-Claire mit ihrem Verhalten unendlich verletzt. Marie-Claire war nun gezwungen gewesen, ihren Auftraggeber zu hintergehen. Sie musste Unterlagen besorgen, die dieser Abdel Rahman haben wollte. Ihre Schwester machte sich dadurch strafbar, und sie hatte sich freiwillig in die Hände dieser Kriminellen begeben – um sie, Cathrine, zu retten. Würden sie und Marie-Claire Marrakesch verlassen können, sobald diese Gangster hatten, was sie wollten? Die Tür ging auf. Gegen das Licht im Treppenhaus konnte sie die Gestalt von Abdel Rahman erkennen. Daneben stand Marie-Claire. Cathrine konnte das Gesicht ihrer Schwester im Halbdunkel nicht wirklich sehen, aber sie glaubte zu spüren, wie mitleidvoll und hasserfüllt Marie-Claire sie anschaute. Abdel Rahman sprach mit ihr. Der blanke Hohn seiner Worte ließ Cathrine erschauern.
»Okay, das reicht! Du hast gesehen, dass es deiner Schwester den besonderen Umständen entsprechend gut geht. Reizvoll, der Anblick, nicht wahr? So am Bett festgebunden! Du erinnerst dich?«
Die wenigen Worte von Abdel Rahmann ließen unbändigen Hass in Cathrine de Vries aufkeimen. Sie bäumte sich auf. Dann wurde die Tür wieder geschlossen, und sie war alleine mit ihrem Hass.
»Sag mir, was du von uns willst. Du wirst es bekommen. Unsere Freiheit gegen deine Gier! Das ist es doch, worum es geht, oder? Du willst den Florentiner!«
Marie-Claire de Vries versuchte gegen ihre Emotionen anzukämpfen. Der Abscheu, den sie für Abdel Rahman empfand, half ihr dabei. Sie hasste diesen Mann, wie sie nie zuvor in ihrem Leben einen Menschen gehasst hatte. Sie war sich in diesem Augenblick sicher, dass sie in der Lage wäre, diesen Mann zu töten. Der Anblick ihrer Zwillingsschwester Cathrine in dem Bett, hilflos und verzweifelt, ließ ein unbändiges Verlangen nach Rache in ihr erwachen. Das half ihr, überhaupt mit dem Araber reden zu können. Die Pistole, die Abdel Rahman vor sich auf dem Tisch liegen hatte, erinnerte sie daran, dass er ein gefährlicher, ein sehr gefährlicher Mann war.
»Du willst den Florentiner, richtig?«
»Du bist ein kluges Mädchen, Marie-Claire. Wirklich! Ich bewundere deinen Scharfsinn«, lachte er sie hämisch an.
»Ja, ich will den Florentiner. Hast du die Unterlagen mitgebracht?«
»Viele Leute wollen den Florentiner, Abdel! Viele hatten ihn schon einmal. Alle starben sie auf höchst dramatische und ungewöhnliche Weise. Ja, ich habe die Unterlagen. Aber glaube mir: An dem Diamanten hängt ein Fluch. Du solltest es dir überlegen.«
»Weißt du, wo er ist?«
»Hältst du mich für so dumm, dass ich es dir sagen würde, wenn ich es wüsste?«
»Hast du die Unterlagen mitgebracht – das Manuskript und dieses Dossier?«
»Glaubst du, ich habe diese Sachen hier in meiner Tasche? Meinst du, so blöde bin ich? Du bist so ein mieses Schwein, du würdest Cathrine und mich sofort töten, wenn ich dir die Sachen einfach so geben würde. Lass Cathrine frei. Dann bekommst du das Manuskript. Danach lässt du mich laufen und bekommst das Dossier!«
Marie-Claire begriff, dass sie und Cathrine nur so lange eine Überlebenschance hatten, wie sie die Unterlagen als Pfand besaß. Das hatte sie schon auf der Herfahrt erkannt, und daher war sie mit dem Taxi zur Rezeption des Hotels Palmeraie gefahren und hatte die beiden Umschläge dort hinterlegt und darum gebeten, sie bis zu ihrem Einchecken für sie aufzubewahren. Dann hatte sie ein Zimmer gebucht. Auf diese grandiose Idee war sie erst gekommen, als der Taxifahrer ihr auf der Fahrt vom Flughafen zu jenem Haus, das Abdel Rahman ihr am Telefon genannt hatte, von dem Hotel vorschwärmte, aber auch erwähnt hatte, dass das Hotel halb leer sei. Plötzlich fühlte sie sich siegessicher. Ja, so hatten sie und Cathrine eine Chance, hier heil rauszukommen. Eine kleine Chance zumindest.
Ihr Blick fiel auf den kleinen Tisch neben ihrem Sessel. Unter einer Zeitung schaute ein Pass hervor. Es war ein roter Pass. Sie konnte erkennen, dass in goldenen Lettern »Europäische Union – Republik Österreich« darauf stand. Der Pass von Cathrine. Abdels Worte ließen sie aus ihren Gedanken hochschrecken.
»Schade, dass du so abweisend bist. So geht das nicht, Marie-Claire! Du scheinst deine Situation und die deiner Schwester falsch einzuschätzen. Euer Leben hängt an einem hauchdünnen Faden. Und du glaubst wirklich, du könntest hier noch Forderungen stellen? Absurd! Aber vielleicht kann ich deine Bereitschaft zur Kooperation ein wenig intensivieren, wenn wir noch einmal zusammen nach oben gehen zu deiner Schwester und ich sie vor deinen Augen so verwöhne, wie ich das mit dir gemacht habe. Du hast es ja gemocht, oder? Aber vielleicht kann ich dich ja auch im gleichen Bett neben deiner Schwester festbinden und mich dann die nächsten Tage abwechselnd mit euch beiden beschäftigen. Ein sehr reizvoller Gedanke! Zwillingsschwestern. Also, überleg dir genau, was du hier daherquatschst!«
Marie-Claire war angewidert. Wie sehr sie diesen Mann hasste. Doch sie musste vorsichtig sein.
»Ich hatte eher vermutet, dass du mit mir einen schnellen Deal machen willst: Du kriegst die Unterlagen – und ich kriege meine Schwester. Aber du scheinst es ja nicht sonderlich eilig zu haben. Ich habe die Unterlagen. Sie sind hier in Marrakesch, aber ich habe sie jetzt nicht dabei. Du kannst mich und Cathrine vergewaltigen, mit einer Pistole in der Hand ist das einfach. Du hast das ja sowieso schon getan, insofern ist mir das scheißegal, glaube mir. Aber an die Unterlagen kommst du so nicht ran.«
Plötzlich hatte sie Angst vor ihrer eigenen Courage. Sie sah das Aufblitzen in den Augen von Abdel Rahman.
»Was willst du eigentlich mit dem Florentiner?«, fragte sie beschwichtigend. »Kein Mensch weiß genau, wo er wirklich ist. Willst du mich und Cathrine so lange hier am Bett festbinden, bist du ihn anhand der Unterlagen gefunden hast? Das ist doch absurd. Du alleine findest den Diamanten nicht. Aber ich könnte …«
»Ich bin nicht allein! Daher bin ich auch nicht auf dich angewiesen!«
Wie ein Peitschenschlag unterbrachen die Worte des Arabers ihre Überlegungen, wie sie ihn hinhalten könnte. Sie hatte keine Idee, wie sie hier möglichst schnell wieder heil rauskommen könnte. Abdel stand auf. Die Pistole in der Hand ging er quer durch das Wohnzimmer, blieb neben dem Aquarium stehen, griff hinein und wühlte mit der freien Hand im Sand des Beckens. Grinsend zog er etwas aus dem Wasser.
»Schau mal, hier! Nette kleine Sternchen, oder?«
Marie-Claire erstarrte. Abdel stand einige Meter entfernt, doch gegen das Licht des beleuchteten Aquariums konnte sie in seiner Hand zwei funkelnde Steine erkennen, beide von der Größe einer Walnuss. Einer davon war etwas kleiner. Sie funkelten selbst auf diese Distanz so intensiv, dass sie sofort wusste, was Abdel Rahman da in der Hand hielt.
»Der Große und der Kleine Sancy!«
»Richtig, meine Liebe. Und zwar die Originale. Keine Kopien!«
Demonstrativ nahm Abdel Rahman einen der Edelsteine zwischen Daumen und Zeigefinger und zog ihn blitzschnell über das Glas des Aquariums. Es war ein grausiges Geräusch. Danach war eine tiefe Furche in dem Glas zu sehen. Abdel steckte die Steine zurück in den Sand auf den Boden des Aquariums.
»Warum bist du so unglaublich unersättlich?«, fragte Marie-Claire. »Die beiden Sancys sind ein Vermögen wert. Warum willst du auch noch den Florentiner? Ihn zu finden ist schwierig – wenn es dir überhaupt gelingt. Und dann ist es noch ein weiter Weg dahin, ihn zu kriegen. Willst du noch ein Museum in die Luft jagen? Wozu?«
Abdel Rahman richtete plötzlich die Pistole auf sie. Marie-Claire zuckte zusammen. Scheiße, dachte sie, du warst zu vorlaut. Du hast ihn gereizt. Der ist wahnsinnig! Er wird dich töten, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ich sagte doch, ich bin nicht allein. Noch nicht! Ich will den Florentiner. Denn da gibt es eine kleine, nette Statue irgendwo auf der Welt, die darauf wartet, wie in dem alten Sesam-öffne-dich-Spielchen durch Zauberkraft ihres Innenlebens beraubt zu werden. Und dafür brauche ich den Florentiner. Wir brauchen ihn.«
Marie-Claire hoffte, dass Abdel nicht gesehen hatte, wie sie bei seinen letzten Worten zusammengezuckt war. Woher wusste er von der Statue? Es gab nur wenige Menschen, die dieses Geheimnis kannten. Sanjay zum Beispiel! Sanjay? Ihr wurde schwindelig. Das konnte nicht sein. Oder doch? Steckte Sanjay Kasliwal mit Abdel Rahman, mit diesem miesen Verbrecher unter einer Decke? Francis! Francis Roundell wusste ebenfalls von der Statue …
»Ich habe von dieser Legende gehört. Es gibt viele solcher Legenden. Wenn du an so was glaubst, glaubst du auch an den Heiligen Gral. Oder an Atlantis«, versuchte sie, ihr Entsetzen zu kaschieren. Abdel betrachtete sie mit eiskaltem Blick. Wieder sah sie in seinen Augen die Bereitschaft zu töten.
»Hör auf, so blöde mit mir rumzuspielen, Marie-Claire. Versuch es erst gar nicht! Du bist nicht in der Position für solche Spielchen. Es wird dir nicht gelingen, Zeit zu schinden. Die Uhr tickt, meine Liebe. Glaub es mir. Du spielst mit der Zeit. Und du spielst mit deinem Leben. Und mit dem deiner Schwester. Also, wo sind …«
Abdel Rahmans Handy klingelte. Verärgert zog er es aus seiner Hosentasche.
»Oui … komm rein. Ich mach dir die Tür auf.«
Marie-Claire saß noch immer in dem Sessel nahe dem Aquarium. Sie blickte den Araber fragend an, der ihr mit einer Bewegung der Pistole bedeutete, sitzen zu bleiben. Es klingelte.
Abdel drückte den Türöffner. Augenblicke später stand ein Mann in der Tür, dessen Stimme Marie-Claire kannte, ja, sehr gut kannte! Beinahe hätte sie laut aufgeschrien vor Entsetzen. Francis Roundell trat in den Raum. Sein Blick ging zu Abdel Rahman. »So ein verfluchter Mist. Was ist denn hier los? Überall Straßensperren und Feuerwehrautos.«
Dann sah er die Pistole in der Hand des Arabers. Und er sah Marie-Claire. »Was … was soll das? Bist du wahnsinnig?«
Noch nie zuvor hatte Marie-Claire ihren Chef Francis Roundell so perplex gesehen. Hager und groß gewachsen wie er war, fahl im Gesicht vor Überraschung und Entsetzen, sah Roundell fast bemitleidenswert aus. Es war deutlich zu erkennen, dass er nicht gewusst hatte, dass er sie hier treffen würde. Er schluckte verlegen, starrte Abdel Rahman fragend und doch wütend an.
»Bist du denn total verrückt …?«
Der Araber unterbrach ihn rüde. »Setz dich hin. Und halt das Maul. Setz dich!«
Mit der Pistole dirigierte er Francis Roundell auf einen Sessel gegenüber von Marie-Claire. Roundell war sichtlich schockiert. Abdel Rahmans Körpersprache signalisierte nackte Aggression.
»Wenn du miese britisch-französische Ratte glaubst, mich aufs Kreuz legen zu können, dann täuschst du dich. Und zwar gewaltig! Ich weiß über die Statue Bescheid! Ich jage dir eine Kugel in dein kleines, hinterlistiges Hirn, wenn du noch einmal versuchen solltest, so ein dreckiges Spiel mit mir abzuziehen! Eigentlich würde ich dich am liebsten gleich umlegen.«
Marie-Claire de Vries zitterte. Ihre Blicke schossen zwischen Francis Roundell und Abdel Rahman hin und her. Abdel – Francis – die Pistole – die beiden Sancys in dem Aquarium – Cathrine – die Dossiers – der Florentiner – die Statue! Ihre Hand fuhr zu ihrem Mund. Es gelang ihr nicht, das Entsetzen zu unterdrücken. Der Schrei presste sich zwischen ihren Fingern hindurch. Es war ein qualvolles, animalisches Gurgeln, das beide Männer sie anstarren ließ. Sie blickte Francis in die Augen: direkt, hasserfüllt, enttäuscht. Angst war in Francis’ Augen zu sehen. Und Überraschung. Aber kein Mitleid. Sie konnte sehen, dass er nicht gewusst hatte, dass sie hier war. Er wusste offensichtlich auch nicht, dass Cathrine oben lag – als Geisel. Die Augen von Abdel hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt. Er war extrem gereizt – zu allem bereit. Wild fuchtelte er mit der Waffe vor Roundells Kopf herum und richtete sie für Momente auf Marie-Claire. Dann explodierte die Pistole in seiner Hand. Nein, es war nicht seine Pistole. Es war ein Fenster. Und das Aquarium. Abdel Rahman duckte sich, dann riss ihn etwas unnatürlich schnell und wie eine Gummipuppe verdreht nach hinten. Seine Pistole entlud sich im Fall. Der Schuss traf Francis Roundell in den Unterkiefer und schleuderte ihn in den Flur. Beide Männer waren tot, bevor ihre Körper auf dem Boden aufschlugen.
Oben in der ersten Etage explodierte das Haus. Scherben klirrten. Türen flogen aus den Angeln. Staub wirbelte auf. Lichtblitze schossen durch das schummrige Licht im Zimmer. Das Wasser des Aquariums schoss in einem mächtigen Schwall in den Raum. Das Fenster in der Essecke flog wie von unsichtbarer, mächtiger Hand eingedrückt ins Zimmer. Das Licht flackerte, ging aus und wieder an. Überall waren Lichtblitze, Lärm, Getöse und Qualm. Sie schrie. Da waren noch andere Stimmen. Hinter und vor ihr. Arabische Befehle hallten von oben herab. Sirenen heulten draußen vor dem Haus.
Marie-Claire sprang auf. Sie war taub. Der Lärm um sie herum drang nur noch gedämpft zu ihr vor. Sie wusste nicht, was um sie herum geschah. Sie wollte leben. Und sie wollte, dass Cathrine lebte.
Im Zimmer war es plötzlich dunkel. Nur die kleine Lampe in dem zertrümmerten Aquarium leuchtete noch. Sie sprang auf, stolperte über den zersplitterten Tisch vor sich direkt auf das zertrümmerte Aquarium zu. Das Funkeln der beiden Steine im Sand zog sie magisch an. Die beiden Sancys! Sie tastete sich mit der Hand durch den Sand, fühlte das harte, leblose und doch so energiereiche Gestein. Dann war um sie herum noch mehr Rauch und Gestank. Gestalten rannten umher. Sie sahen wie Feuerwehrmänner aus, aber da waren Gewehre, Pistolen, Schreie. Und da war die Treppe nach oben – zu Cathrine. Plötzlich fiel ihr der Pass ein. Sie sprang über die Couch, zerrte den Reisepass unter der Zeitung hervor und hastete zurück. Die Stufen der Treppe waren voller Schutt. Ein dumpfer Schlag riss sie zur Seite. Ihre Bluse war zerfetzt. Die Schulter blutete, aber sie spürte keinen Schmerz. Keinen körperlichen Schmerz. Sie wankte weiter die Treppe hoch – zu ihrer Zwillingsschwester. Beißender Rauch schlug ihr entgegen. Sie fühlte sich wie betäubt. Sie musste Cathrine retten.
Aber Cathrine war nicht mehr da. Marie-Claire starrte auf das Bett – auf das, was davon noch übrig war. Da war nur ein Torso: ein Oberkörper, Arme an Bettpfosten. Ein Bein. Der Unterleib fehlte. Da war viel Blut. Überall. Aber kein Mensch mehr. Keine Cathrine. Irgendetwas hatte das Bett zerfetzt. Alles roch nach Tod.
Sic sprang, ohne zu wissen, was unterhalb des aus den Angeln gerissenen Fensters sein würde. Sie sprang, weil der Schmerz in ihrer Seele sie gefühllos hatte werden lassen. Sie hörte nichts mehr, aber sie roch Feuer und Tod und Gas. Dann spürte sie im Fall den Abendwind.
Mit zwei wunderschön glitzernden, sich seltsam beruhigend anfühlenden Edelsteinen in ihrer aus Todesangst zur Faust geballten Hand schlug Marie-Claire de Vries in einem großen Strauch hinter dem Haus auf. Es war stockdunkel. Sie lag wie paralysiert auf dem Rücken inmitten des Busches. Sie sah nichts, und niemand schien sie zu sehen. Niemand stürzte sich auf sie. Niemand schoss auf sie. Dann war es plötzlich unnatürlich ruhig. Auf allen vieren kroch sie aus dem Busch, blickte nach rechts und nach links in die Dunkelheit, sah die kleine Mauer, weinte und lief schluchzend los. Sie lief um ihr Leben. Sie wusste nicht wohin, und das Warum spielte an diesem Dezemberabend in Marokko keine Rolle mehr. Sie war tot.
Oberst Khalid Semouri vom marokkanischen DST-Geheimdienst tobte. Ein Dutzend Abteilungsleiter der marokkanischen Polizei und der Geheimdienste saßen schweigend in dem Raum.
»Ich will, dass alle Flughäfen, Häfen, Busbahnhöfe und Taxizentralen informiert und überwacht werden. An allen Ausfallstraßen rund um Marrakesch werden Straßensperren errichtet. Ich will, dass niemand mehr aus diesem Land rauskommt, ohne dass ich vorher die Genehmigung dazu gegeben habe. Findet diese Frau! Tot oder lebendig, das ist mir scheißegal! Aber findet sie!«
Khalid Semouri stapfte wütend aus dem Raum. Er wusste, dass es nicht sonderlich viel Sinn hatte, was er da gesagt hatte. Er war nicht in der Position, ganz Marokko quasi von der Außenwelt abzuschneiden. Er war ganz einfach nur unglaublich verärgert. Die Aktion war letztendlich doch noch schief gelaufen und würde ihm wahrscheinlich seine Laufbahn vermasseln. Dabei lag die Schuld daran nicht bei ihm. Die Männer des Sondereinsatzkommandos hatten das Ding versaut. Es war ein perfekter Plan gewesen. Alles hatte so gut angefangen. Aufgrund der abgehörten Telefonate waren sie den Tätern immer um einen Schritt voraus gewesen. Erst war diese Frau gelandet, war unter Observation vom Flughafen ins Hotel Palmeraie gefahren, wo sie, zu aller Erstaunen, erst ein Zimmer reserviert und dann dort Umschläge deponiert hatte, um anschließend zu Abdel Rahman zu gehen. Als sie schließlich über ein Richtmikrofon erfuhren, dass die beiden geraubten Diamanten tatsächlich in der Wohnung von Abdel Rahman waren, hatte er bereits innerlich triumphiert. Schließlich war auch noch Francis Roundell aufgetaucht. Bis dahin lief alles perfekt. Nichts hatte mehr schief gehen können. Die gesamte Anlage war im Rahmen der fingierten Feuerwehrübung abgesperrt worden. Die Hälfte der Feuerwehrleute waren Beamte des Antiterror-Sondereinsatzkommandos, Spezialisten, gut getarnt mit Feuerwehruniformen. Scharfschützen waren positioniert und die benachbarten Wohnungen klammheimlich geräumt worden. Von Anfang an hatte der Befehl gelautet, Abdel Rahman durch einen gezielten Todesschuss zu liquidieren. Roundell sollte festgenommen werden. Und die Frauen auch. Der Befehl zum Zugriff war schließlich erfolgt, als Abdel Rahman angefangen hatte, mit der Pistole wild herumzufuchteln. Der Scharfschütze hatte ihn gleich mit dem ersten Schuss ausgeschaltet. Der zweite Schuss war in das Aquarium gegangen. Drüben, in der anderen von den Terroristen angemieteten Wohnung, war ebenfalls alles gut verlaufen. Zwei Terroristen, wahrscheinlich Handlanger von Abdel Rahman, einer aus Marokko und der andere aus Tunesien, hatten versucht, zu ihren Waffen zu greifen. Die Männer der Sondereinheit hatten aus Notwehr schießen müssen.
Und dann ging alles schief. Offensichtlich hatte Abdel Rahman diesen Roundell erschossen. Bewusst oder unbewusst spielte dabei keine Rolle. Roundell war tot. Bedauerlich, aber nicht wirklich tragisch. Wieder ein Zeuge, der keine Fragen mehr aufkommen ließ. Aber was danach geschehen war, würde noch viel interne Probleme und sicherlich auch diplomatische Querelen nach sich ziehen. Warum nur hatten die beiden Beamten vom Sondereinsatzkommando die beiden Blendgranaten gleichzeitig in das Fenster in der ersten Etage geworfen? Die erste Granate hatte den Fensterladen samt Fenster weggesprengt. Und daher flog die zweite Granate durchs offene Fenster direkt in das Bett dieser Frau. Wer konnte ahnen, dass die Frau gefesselt und bewegungslos in diesem Bett lag? Niemand konnte das wissen, und es war daher auch niemandem anzulasten, dass die gefesselte Frau dabei getötet wurde. Wie es aber der anderen Frau hatte gelingen können, aus dem Fenster zu springen und im Schutz der Dunkelheit zu fliehen, war ihm persönlich schleierhaft. Ebenso wie es nicht zu erklären war, wie sie bei ihrer Flucht noch in den Besitz der beiden gestohlenen Diamanten gelangen konnte. Fest stand nur, dass die beiden Diamanten weg waren. Und diese Frau auch. Jetzt hieß es, sie so schnell wie möglich zu finden. Tot oder lebendig. Am besten tot. Ihm persönlich waren diese blöden Edelsteine völlig gleichgültig. Das war ein Problem der europäischen Kollegen und das von Interpol. Ihn interessierte nur die terroristische Seite des Ganzen, die die innere Sicherheit Marokkos tangieren konnte. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten, war eine Frau, die als Zeugin vor europäischen Gerichten aussagte. Dann würde wahrscheinlich die Sache mit dem italienischen Kommissar, der als Targi verkleidet zwei Menschen getötet hatte, wieder aufgerollt werden. Und dann kämen schnell Fragen auf, wie dieser Carlo Frattini ums Leben gekommen war. Peinliche Fragen würden es werden. Vermutlich würde dann auch ihre seit Jahren in Spanien heimlich durchgeführte Operation, die dem Bruder von Abdel Rahman galt, auffliegen. Und damit ihr Informant. Hier ging es also um übergeordnete staatliche Interessen. Nein, plappernde Zeugen konnte man da nicht gebrauchen. Alle waren sie tot: Abdel Rahman, Francis Roundell, Commissario Frattini und diese Frau im Bett.
Nur die andere lebte noch und war auf der Flucht. Ob es nun Marie-Claire de Vries war oder Cathrine de Vries, war ihm egal. Diese verworrene Sache mit den Zwillingsschwestern, mit der ihn die Kollegen von Interpol dauernd genervt und damit ständig seine Einsatzpläne durcheinander gebracht hatten, interessierte ihn nicht. Sein Befehl aus Rabat lautete, das Problem zu lösen. Für immer. Dem stand jetzt nur noch diese flüchtige Frau im Wege. Eine europäische Frau mit auffällig langen blonden Haaren. Es würde nicht zu schwierig werden, eine solche Europäerin in Marokko zu finden. Viele Möglichkeiten hatte sie nicht, aus Marrakesch rauszukommen. Der Flughafen wurde bereits überwacht. Die wenigen Ausfallstraßen nach Fes und Meknes, Casablanca und Agadir waren abgesperrt. In den Süden, Richtung Ouarzazate, würde sie kaum fliehen. Der Tizi N’Tichka als einziger von Marrakesch aus mit dem Auto erreichbare Pass war in dieser Jahreszeit kaum zu überqueren. Oben in den Bergen des Hohen Atlas hatte es geschneit. Ohne Allradfahrzeug kam da momentan niemand rüber. Er hatte keine Zweifel: Seine Leute würden diese einzige noch lebende Zeugin aufspüren. Wahrscheinlich würde sie dann bei der Vernehmung aus dem Fenster in den Tod springen, um einer Verurteilung zu lebenslanger Haft in einem stinkenden marokkanischen Gefängnis irgendwo in der Wüste zu entgehen. Verzweifelte Täter taten so etwas manchmal …