9. Kapitel

D

as Buch war um acht Uhr per Eilboten mit der Post gekommen. Eine Stunde später saß Marie-Claire de Vries bereits im Flugzeug nach Berlin. Am Flughafen waren ihr wieder einmal die Veränderungen der letzten Jahre in Wien bewusst geworden. Die Osterweiterung der EU hatte die Stadt mit ihren traditionellen historischen Verbindungen nach Ungarn, Tschechien, Rumänien und den Balkanstaaten binnen kürzester Zeit zu einem wirtschaftlichen, aber auch kulturellen Zentrum Europas werden lassen. Das hatte sich auch auf die Flugverbindungen niedergeschlagen. Allein die Air Berlin flog dreimal täglich von Wien nach Berlin, was, wie sie erst kürzlich gelesen hatte, die ohnehin boomende Tourismuswirtschaft Wiens extrem beflügelte. Die Hoteliers der Stadt waren bei Auslastungen bis zu achtundneunzig Prozent glücklich. Gleiches galt für die Museen. Und für die Fiaker. Nur die Einwohner Wiens litten mittlerweile unter den Millionen Besuchern, die sich im Sommer wie im Winter vornehmlich durch die zum Weltkulturerbe deklarierte Innenstadt bewegten. Die Mieten explodierten, die Verkehrsstaus waren längst unerträglich, ebenso wie die Feinstaubbelastung. Ja, Wien hatte sich gewandelt wie auch Berlin, wo sie diesen leidigen Vortrag halten musste.

Sie mochte Berlin, das neue, quirlige, ungeteilte Berlin, und reiste gern dorthin. Doch dieses Mal machte sie sich geradezu missmutig auf in die deutsche Hauptstadt. Schlecht gelaunt schlang sie das Frühstück im Flugzeug herunter. Sie war müde und fühlte sich ausgelaugt. Auch die letzten beiden Nächte hatte sie kaum geschlafen. All ihre früheren Aufträge für Christies waren ihm Vergleich zu diesem geradezu lächerlich gewesen. Wann immer ihr Wissen als Expertin für historischen Schmuck gefragt gewesen war, hatte es sich zumeist um eher nüchterne Schreibtischrecherchen oder Nachforschungen in Bibliotheken und in den Privatarchiven namhafter Adelshäuser gehandelt. Um für das Auktionshaus Expertisen zu Schmuck- und Kunststücken erstellen zu können, sammelte sie alle nur verfügbaren Informationen, holte Sachverständigengutachten ein, ließ Preziosen taxieren und legte ihre Einschätzung dann den für Auktionen verantwortlichen Experten bei Christies vor. All das machte ihr sehr viel Spaß, es war aber alles andere als spannend. Aus diesen Zeiten kannte sie auch die Familie des Freiherrn von Hohenstein, jene Adelsfamilie, die in Bayern auf ihrem prachtvollen Schloss residierte, und die nun durch den brutalen Überfall ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit gerückt war. In deren Privatbesitz befanden sich unvorstellbar wertvolle Preziosen, Schmuckstücke, Bilder und Edelsteine. Viele dieser einmaligen Kunstwerke hatten in der Geschichte Europas eine große Rolle gespielt und wurden daher immer wieder von Museen für Ausstellungen angefordert. So wie jetzt in Berlin.

Marie-Claire lehnte sich in ihrem Flugzeugsessel zurück. Die Reise nach Berlin passte überhaupt nicht in ihre Pläne. Ihr Auftrag, sich mit dem Florentiner-Diamanten zu beschäftigen, lief nicht wie geplant. Immer, wenn sie begann, sich auf ihren eigentlichen Auftrag zu konzentrieren, wenn sie sich zu rationalen, professionellen Vorgehensweisen zwingen, Strukturen in ihre Recherche bringen wollte, geschahen unvorsehbare Dinge, die all ihre Pläne durcheinander wirbelten. Ständig kamen neue Aspekte, verwunderliche Zusammenhänge und Querverbindungen zustande. So wie jetzt mit diesem Buch, das vor ihr auf der Ablage lag. Glücklicherweise hatte sie es noch vor ihrem Abflug bekommen und konnte vom Taxi aus ihren Freund Peter anrufen, der in einem Wiener Verlag arbeitete. So wenig sie bislang von diesem Buch gewusst und gehört hatte, so überrascht war sie nämlich gewesen, als sie in der Titelei des Buches einen höchst ungewöhnlichen Vermerk entdeckt hatte.

Marie-Claire griff nach dem Buch und blätterte erneut darin. Schon die Aufmachung und der Buchtitel selbst fielen auf. Auf schwarzem Untergrund prangte in lilafarbenen und weißen Lettern der Titel: VITRINE XIII Geschichte und Schicksal der österreichischen Kronjuwelen herausgegeben von XXX. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. Ein Buch, bei dem der offensichtlich anonyme Herausgeber mit den Buchstaben »XXX« firmierte. Als sie dann beim Lesen des Umschlagtextes auf viele interessante Details zum Florentiner gestoßen war, rief sie kurz entschlossen ihren Freund an. Er wusste sofort, um welches Buch es sich handelte. Das hatte sie sehr gewundert, immerhin waren seit seinem Erscheinen vierzig Jahre vergangen. Obendrein war das Buch nicht sonderlich bekannt zumindest ihr hatte der Titel nichts gesagt.

Peter war sehr hilfsbereit gewesen. Nachdem sie ihm gesagt hatte, dass ihr Interesse an diesem Buch in Zusammenhang mit dem Florentiner-Diamanten stehe, hatte er um kurze Bedenkzeit gebeten, sie dann aber bereits zwanzig Minuten später, als sie schon im Wartesaal am Flughafen saß, angerufen. Was sie dann von ihm erfahren hatte, war mehr als spannend. Wie sie mittlerweile wusste, schilderte dieses Buch das mysteriöse und Aufsehen erregende Verschwinden eines Teils der österreichischen Kronjuwelen aus der Wiener Schatzkammer im Jahre 1918, kurz vor der Flucht der österreichischen Kaiserfamilie in die Schweiz. Sensationell für sie war die Tatsache, dass zu den seither fast ausnahmslos spurlos verschwundenen Preziosen auch der Florentiner gehörte. Der Hundertsiebenunddreißig-Karat Diamant hatte im dritten Raum der Wiener Schatzkammer in der Vitrine XIII gelegen. Daher auch der Titel des Buches, das auf den Memoiren des Schweizer Juwelenhändlers Alphonse de Sondheimer basierte. Er war es gewesen, der wahrscheinlich im direkten Auftrag des im Exil weilenden österreichischen Kaisers von Genf aus Juwelen, Schmuck und Kunstgegenstände von unvorstellbarem Wert verscherbelte. Ganz offensichtlich hatte auch Sondheimer als Letzter einen der berühmtesten Diamanten des Abendlandes, den Florentiner, gesehen. Hastig blätterte Marie-Claire in dem Buch herum. Sie schüttelte fasziniert den Kopf.

»Unglaublich, unfassbar Wahnsinn!«, murmelte sie so laut vor sich hin, das der vor ihr sitzende Passagier sich zu ihr umdrehte und sie verwundert anschaute. Was sie da an Zahlen und Details bereits erfahren hatte, ließ ihr Gänsehaut über den Rücken laufen. Hier hatte sie die akribischen Aufzeichnungen über einen der spektakulärsten Kunst- und Edelsteinhandel der letzten Jahrhunderte in der Hand. Es tauchten Summen auf, bei denen ihr schwindelig wurde. Absoluter Wahnwitz war die Schilderung, wie eines der berühmtesten Herrscherhäuser der Welt im Exil aus Geldnot Gold, Edelsteine, Schmuck und andere Wertgegenstände über dubiose Mittelsmänner verschleudert und verpfändet hatte. Prachtvolle Edelsteine waren aus Fassungen gebrochen, teils auf barbarische Weise zerstückelt und auf dem schwarzen Markt weltweit verkauft worden. Aus unschätzbar kostbaren Schmuckstücken, deren Namen seit Jahrhunderten die Inventarlisten königlicher und kaiserlicher Schatzkammern in Europa geziert hatten, waren Rubine, Saphire und Diamanten herausgeschlagen, zerteilt und an suspekte Zwischenhändler verkauft worden. Und das alles offenbar von diesem Schmuckhändler Sondheimer im persönlichen Auftrag des letzten Kaisers von Österreich!

Marie-Claire fragte sich, ob das alles stimmte, was in diesem kleinen Büchlein geschrieben stand. Warum der Herausgeber anonym geblieben war? Und warum war dieses sensationelle Buch nie bekannt geworden? Was hatte ihr Freund gesagt? Sie überflog ihre handschriftlichen Notizen, die sie sich während des Telefonats gemacht hatte: » es beruht auf den handschriftlichen Aufzeichnungen von Sondheimer ging an den Bestsellerautor Robert Neumann hat für eine Veröffentlichung gesorgt von der Familie Habsburg dementiert gerichtliche Auseinandersetzungen Sondheimer ins Gefängnis gekommen emigriert eine handschriftliche Abschrift des Originalmanuskripts existiert noch «

Marie-Claire atmete tief durch. Ob in diesem Originalmanuskript vielleicht stand, wohin der berühmte hundertsiebenunddreißig-karätige Florentiner damals in der Schweiz, im Jahre 1920, verschwunden war und vor allem wer ihn gekauft hatte? War dieses geheimnisvolle Manuskript vielleicht der goldene Schlüssel zu ihren Recherchen? Stand darin vielleicht sogar, worin die Verbindung zwischen dem Florentiner und den beiden Sancy-Diamanten tatsächlich bestand? Welches Geheimnis verbarg sich hinter den einst im Besitz von Karl dem Kühnen befindlichen »drei Brüdern«? Existierte dieser legendäre Florentiner tatsächlich noch? Oder war er damals in der Schweiz zerstückelt worden? Jagte sie einer Legende hinterher?

Plötzlich wurde es Marie-Claire heiß und kalt, denn eine wichtige Frage drängte sich ihr auf: Wusste Gregor von dem Buch und von diesem Manuskript?

 

Kaum in Berlin gelandet, schaltete Marie-Claire de Vries ihr Handy wieder an. Während sie auf ihren Koffer wartete, starrte sie nervös auf das Display. Eine Mailbox-Nachricht und eine SMS wurden angezeigt. Die SMS war von Gregor.

 

»Fahre am Wochenende ins Haus an den Wörthersee. Kommst du mit? Gästezimmer zugesichert «

»Auch das noch«, entfuhr es ihr. Das war das Letzte, womit sie gerechnet hatte. Seit dem Abendessen mit Gregor hegte sie zwiespältige Gefühle für ihn. Sie brauchte Zeit, Abstand und Ruhe, um sich über ihre Empfindungen für Gregor klar zu werden. Stattdessen kam nun diese Einladung! Mit zitternden Händen drückte sie die Taste zum Abfragen ihrer Mailbox. Schon die Nummernansage ließ sie erahnen, dass das Verwirrspiel noch kein Ende gefunden hatte. Es war die Nummer ihres Freundes Peter. Der Lärm in der Ankunftshalle war fast unerträglich und machte sie unendlich nervös. Mit der linken Hand hielt sie sich das Ohr zu, während sie der Nachricht ihres Freundes lauschte. Peter schien sehr aufgeregt zu sein.

»Hallo, Marie-Claire. Ich würde vorschlagen, dass wir uns nach deiner Rückkehr aus Berlin sofort treffen. Du musst mir reinen Wein einschenken, weshalb du dich für diesen Diamanten interessierst. Komische Dinge passieren hier! Kaum warst du weg, da habe ich erfahren, dass sich vor einigen Wochen ein Mann für das Originalmanuskript dieses Buches Vitrine XIII interessiert hat. Es war ein Österreicher mit Namen Freiling oder so ähnlich! Und ob du es nun glaubst oder nicht, vor einer halben Stunde ging hier ein Fax aus Marokko ein. Da will ein Araber nach Wien kommen und mit dem Verlag über die Einsichtnahme oder gar den Kauf dieses Originalmanuskripts sprechen. Schreibt irgendwas von einer Organisation für die Rückführung arabischer Kulturgüter. Komische Sache! Sehr komisch! Das, meine liebe Marie-Claire, ist mir ein bisschen zu viel der Zufälle! Also, melde dich und sag mir, wann wir uns treffen können. Bussi.«

 

*

Der Wintergarten im Erdgeschoss des Grand Hotel Esplanade in Berlin war am späten Abend bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Stimmung unter den Gästen des Auktionshauses Christies war ungewöhnlich gut und ausgesprochen locker. Die Idee ihrer Berliner Kollegin Viktoria, die Veranstaltung nicht wie üblich in einem der kleinen Konferenzräume, sondern auf der MS Esplanade, dem Schiff des Hotels, durchzuführen, war ein riesiger Erfolg gewesen. Mehr als einhundert Gäste waren der Einladung von Christies in Berlin gefolgt.

Das Interesse an diesem Vortrag über berühmte Edelsteine im Schmuck der preußischen Könige war groß. Selbst aus Hamburg waren gut ein Dutzend Gäste angereist. Ihre Kollegin Martina, Deputy Chairman der Hamburger Niederlassung, war mächtig stolz gewesen, dass sie die renommierten Hamburger Kunden nach Berlin hatte einladen können. Ja, Viktorias Idee war grandios gewesen. Statt in der zumeist sterilen Atmosphäre eines Konferenzsaals zu tagen, hatte man das Ganze auf dieses sehr stilvolle Schiff verlegt. Vielen Gästen war anzumerken, dass sie die maritime Seite Berlins noch nicht kannten. Die anfänglichen Befürchtungen, das Konzentrationsvermögen der Zuhörer würde unter den draußen vorbeigleitenden Sehenswürdigkeiten leiden, hatten sich schnell gelegt. Begeistert folgte man dem mit Dias unterlegten Vortrag. Nicht nur Marie-Claire war sich im Klaren darüber, dass dies ohne Frage auf die Geschehnisse in Bayern und Florenz zurückzuführen war. Schließlich hatte der in Bayern auf Schloss Hohenstein geraubte Kleine Sancy zu den berühmten Edelsteinen im Besitz preußischer Könige gehört. Ja, sie war sich sicher, dass diese dramatischen Geschehnisse maßgeblich zum Erfolg dieses Abend beigetragen hatten. Einige der Zuhörer schienen geradezu darauf zu warten, dass sie auf den Kleinen Sancy zu sprechen kam. Dafür aber hatte sie sich Zeit gelassen. Nach der Abfahrt an der vis-à-vis des Hotels gelegenen Landungsbrücke hatte sich das Tagungs- und Restaurantschiff zu einer Fahrt durch die Berliner und Brandenburger Kanäle, über Flüsse und kleine Seen aufgemacht. Man war auf dem Landwehrkanal Richtung Tiergarten und Berliner Zoo geschippert. Unter der Charlottenburger Brücke hindurch auf der Spree waren sie an Schloss Bellevue, vorbei am Bundeskanzleramt, dem Reichstagsgebäude, der Museumsinsel hin zum Berliner Dom gefahren. Berlin bei Nacht an Bord eines Schiffes, dazu der exzellente Service und ein hervorragender Vortrag, ja, es war ein perfekter Abend gewesen. Und das Wetter hatte ebenfalls mitgespielt. Es war zwar empfindlich kühl, aber in den Pausen konnten die Gäste an Deck Luft schnappen und die Skyline von Berlin bei Nacht genießen.

 

Marie-Claire hatte ihre Zuhörer kurzweilig, nicht zu detailliert und angereichert mit allerlei kleinen Geschichten begeistert. Sie konnte in den Gesichtern der gebannt lauschenden Gäste genau ablesen, wo deren Interesse angesiedelt war. Als sie erzählte, dass von der einst mit einhundertzehn Diamanten, acht Brillanten, acht tropfenförmigen Perlen und dreiundachtzig runden Perlen besetzten goldenen Kronprinzenkrone nicht einmal mehr die Karkasse übrig sei, weil der »Soldatenkönig« sie im Jahre 1737 aus dem Krontresor im Berliner Schloss genommen und sie mittels Schere schlichtweg in Stücke geschnitten hatte, um die Juwelen an sich zu nehmen, ging ein Raunen durch die Zuhörerschaft. Erst auf dem Rückweg, nach gut zwei Stunden, hatte sie schließlich mit einem Dia das angesprochen, worauf alle warteten: der Kleine Sancy mit vierunddreißig Karat einer der schönsten Edelsteine im Besitz preußischer Könige.

 

»Meine sehr verehrten Damen und Herren, und nun zu einem der fraglos weltbekannten Schmuckstücke aus dem Besitz preußischer Kaiser«, hatte sie die Aufmerksamkeit ihrer Gäste kurz vor dem Anlegen am Hotel Esplanade nochmals geweckt. »Die Königin verwendete den Stein in einer Zusammenfassung von vier großen und fünf kleinen Brillanten als Bouquet, an dem der Kleine Sancy als Pendeloque befestigt war. In derselben Verbindung wurde der Stein auch von Königin Luise öfter getragen. Bei den Vermählungen der Töchter Friedrich Wilhelms III., zuerst bei der Prinzessin Alexandrine im Jahre 1822, wurde der Kleine Sancy wiederholt im Brautschmuck benutzt, und zwar als Pendeloque an einem Collier von zweiundzwanzig und mehr Rosetten. In Verbindung mit einer Brillantenkette hat ihn auch die Kaiserin getragen. Wie Sie sicherlich der Presse entnommen haben, befand sich dieser prachtvolle Brillant bis vor kurzem in privatem Besitz. Er wurde bei einem spektakulären Raubüberfall gestohlen und ist seither verschollen.«

Wie elektrisiert hatten nahezu alle Gäste an Bord auf diesen Satz reagiert. Ein seltsames Schweigen machte sich breit, als Marie-Claire die Historie des Kleinen Sancy kurz skizzierte. Seltsamerweise stellte niemand nach Beendigung des Vortrages Fragen, was den Sancy betraf. Erst jetzt, nachdem das Ausflugsboot vor dem Hotel angelegt und alle Gäste zum abschließenden Empfang in den Wintergarten gegangen waren, kamen erste, sehr dezente Fragen. Die meisten der honorigen Gäste hielten sich jedoch extrem zurück, brachten lediglich ihr Entsetzen über die Geschehnisse in Bayern und Florenz zum Ausdruck.

Marie-Claire war nach dem Vortrag völlig erschöpft. Am liebsten hätte sie sich in ihr Hotelzimmer zurückgezogen, auch um endlich das Buch über Alphonse de Sondheimer zu lesen. Mit der Nachricht von Peter stand für sie nun außer Frage, dass in diesem Buch die Klärung des Geheimnisses um das Verschwinden des Florentiners versteckt war. Das Buch wimmelte von Zahlen und Fakten, und sie musste es jetzt dringender denn je lesen jetzt, wo klar war, das sich auch Gregor für dieses Buch und das Originalmanuskript interessierte. Wie hatte Peter gesagt? Ein Mann namens »Freiling oder so ähnlich«? Ein Österreicher? Nein, das konnte kein Zufall sein! Sie war sich absolut sicher, dass es Gregor von Freysing war, der zu dem Verlag Kontakt aufgenommen hatte! Gregor! Warum, zum Teufel, interessierte sich Gregor für das Originalmanuskript des Buches? Wer war er wirklich? Sie wusste immer noch nicht ganz sicher, ob er ein Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies war. Warum hatte er sie zu einem Wochenende am Wörthersee eingeladen? Und wer war dieser Araber, der sich plötzlich beim Verlag gemeldet und sein Interesse an dem Originalmanuskript des Buchs bekundet hatte? Ein Araber! Araber hatten die Familie von Hohenstein auf ihrem Schloss überfallen. Und Araber hatten offensichtlich auch den Überfall auf den Palazzo Pitti verübt. Marie-Claire plauderte soeben im Wintergarten des Hotels unbedarft mit einer Gräfin aus Potsdam, einer sicherlich fast achtzigjährigen Dame mit weißem Haar und einem herrlichen Rubincollier, als sie den Mann plötzlich wieder sah. Schon auf dem Schiff war er ihr aufgefallen. Sein ganzes Auftreten hatte sie zu dem Schluss kommen lassen, dass dies jener Mann sein musste, der auf der Gästeliste als VIP besonders hervorgehoben worden war. Ihre Berliner Kollegin Viktoria hatte sie nachdrücklich darum gebeten, sich um diesen Ehrengast zu kümmern. Denn Sanjay Kasliwal, Mitinhaber des weltbekannten »Edelstein-Palastes« von Jaipur im indischen Bundesstaat Rajasthan, hatte sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem außergewöhnlich wichtigen Geschäftspartner von Christies entwickelt. Die Kasliwal-Dynastie führte seit dem Jahre 1852 ein exklusives Edelsteinimperium, in das Söhne, Brüder und Cousins eingebunden waren. Einerseits waren sie alle geradezu fanatische Kunstsammler und gehörten zu den renommiertesten Einkäufern bei Christies; anderseits hatten sie die Veränderungen auf dem weltweiten Schmuckhandel binnen weniger Jahre in den Blickpunkt des internationalen Edelsteinmarktes gerückt. Denn in den Werkstätten des Edelstein-Palastes in Jaipur wurden nicht nur Edelsteine ge- und verkauft, sondern auch geschliffen. Zudem hatten sie sich einen Namen gemacht mit der Kreation von Schmuckstücken, die sich an traditionellen Vorlagen aus der indischen Mogulzeit orientierten. Dabei wurden Diamanten und andere Edelsteine mit Halbedelsteinen kombiniert. Nicht die Reinheit und damit der Wert von Diamanten alleine, sondern die Kombination mit leuchtenden Türkisen, fliederfarbenen Amethysten, wasserblauen, brandybraunen oder blassgelben Topasen oder auch zart gefärbten Rosenquarzen gaben diesen im Hause Kasliwal geschaffenen Schmuckstücken ihre Einzigartigkeit. Der Familienklan konnte von sich behaupten, Juweliere der Maharadschas, der Könige, Aristokraten und seit einigen Jahren auch der Hollywoodstars zu sein.

Bei Christies war man auf diese Veränderung auf dem internationalen Schmuckmarkt aufmerksam geworden, als 1977 bei einer Auktion in London indische Juwelen außergewöhnliche Beachtung seitens der Kunden erlangten. Im September 2003 wechselte eine mit Smaragden und Diamanten verzierte Brosche aus der Mogulzeit für spektakuläre 1,5 Millionen Euro den Besitzer. Und so hatte es nicht lange gedauert, bis sich auch Cartier mit der Opulenz von Maharadscha-Juwelen beschäftigte und sich mit der Linie »Delice de Goa« dem neuen Kundengeschmack anpasste. Seither erlebten die indischen Brüder einen ungeheuren Zuspruch aus aller Welt. Schmuckliebhaber, die nicht nur den Wert, sondern auch das Sinnliche in einem Schmuckstück zu schätzen wussten, kauften bei ihnen.

Neugierig verfolgte Marie-Claire mit ihren Blicken den etwa fünfundvierzigjährigen Inder. Sanjay Kasliwal unterhielt sich mit einem Landsmann. Sein Gesicht war durch eine Palme hindurch nur teilweise zu erkennen, und doch erregte irgendetwas an seiner Mimik und Körpersprache Marie-Claires Aufmerksamkeit. Dieser Mann bewegte sich anders als alle anderen männlichen Gäste. Es lag eine gewisse Geschmeidigkeit, eine eigentümliche Ruhe in seiner Art, sich zu drehen. Sprach er, verharrten seine Arme ruhig hinter seinem Körper. Lachte er, schien das offene Lachen seinen ganzen Körper zu durchströmen. Hörte er seinem Gesprächspartner zu, hing sein Blick an den Lippen des anderen.

»Madame de Vries, Sie hören mir ja gar nicht zu!«, hörte sie plötzlich die Gräfin sagen. Die alte Dame lächelte sehr warmherzig, drehte sich um und schaute nun ebenfalls hinüber zu Sanjay Kasliwal. »Oh, ich verstehe«, lächelte sie und sagte verschmitzt: »Dem orientalischen Reiz eines solch blendend aussehenden Mannes kann ich als alternde Lady natürlich nichts entgegensetzen!«

Marie-Claire errötete. Sie spürte, dass die alte Dame es ihr nicht übel nehmen würde, wenn sie sich dem Inder widmen würde.

»Sehen Sie es mir bitte nach, Gräfin«, entschuldigte sie sich, »der Herr mit dem, wie Sie so treffend feststellten, orientalischen Reiz ist ein renommierter Schmuckhändler aus Jaipur, ein Geschäftspartner des Hauses Christies. Ich werde nicht umhin kommen, mich ein wenig mit ihm zu unterhalten.«

Marie-Claire nahm sich ein Glas Champagner, wandelte durch den Flur, begrüßte mit einem freundlichen Lächeln einen ihr als Kunden bekannten Baron aus Schleswig-Holstein, machte einer jungen Dame in Begleitung eines greisenhaften Mannes ihre kurze Aufwartung und schlenderte dann zu den beiden indischen Männern hin. Erst wenige Schritte von den beiden entfernt sah sie, dass Sanjay Kasliwal sich auf einen Stock stützte. Dennoch strahlte er Eleganz aus. Sein tiefschwarzes Haar war kurz geschnitten. Der braune Teint seiner Haut unterstrich seine orientalische Aura. Marie-Claire ging mit direktem Blickkontakt auf ihn zu. Sie war bestrebt, selbstbewusst zu wirken, doch die Ausstrahlung dieses Mannes verwirrte sie. Bestrebt, akzentfrei Englisch zu sprechen, begrüßte sie die beiden Männer: »Guten Abend, die Herren! Es ist mir eine Ehre, zwei der renommiertesten Edelsteinexperten Indiens als unsere Gäste begrüßen zu dürfen! Ich gehe doch recht in der Annahme, dass ich das Vergnügen mit den Herren Kasliwal habe, oder?«, lächelte sie zunächst den ihr von Fotos bekannten Inder an. Der etwas jüngere Mann neben ihm verbeugte sich respektvoll, während Sanjay Kasliwal ihr ein wenig schüchtern und doch mit unglaublicher Herzlichkeit direkt in die Augen schaute.

»Mrs. de Vries, ich war grenzenlos begeistert von Ihrem kurzweiligen und doch so unglaublich aufschlussreichen Vortrag«, antwortete Sanjay Kasliwal in nahezu perfektem Deutsch. Marie-Claire war überrascht. Ein wenig verunsichert reichte sie ihm ihre Hand. So kräftig dieser breitschultrige Manne wirkte, so einfühlsam nahm er ihre Hand und hielt sie fest umklammert, lehnte seinen Stock an sein Bein, verlagerte sein Gewicht, umfasste nun mit der zweiten Hand ebenfalls ihre rechte Hand und schaute ihr so unglaublich tief in die Seele, dass sie erschauerte. Er hatte tiefdunkle Augen. Ihr Glanz irritierte sie. Sein Lächeln war so unvorstellbar gewinnend, dass sie in Bruchteilen von Sekunden wusste, dass dieser Mann etwas in sich trug, was sie nie zuvor an und in einem Mann gesehen und gefühlt hatte.

»Ihr perfektes Deutsch verdient meine grenzenlose Hochachtung, Mr. Kasliwal! Ich fürchte, mein Englisch ist nicht annähernd so gut.«

»Die entscheidende Frage, verehrte Mrs. de Vries, ist nicht, wie sich Menschen verständigen! Viel bedeutsamer ist, wie sie sich verstehen. Dort, wo die Seele Gemeinsamkeiten findet, bedarf es keiner Worte!«

Marie-Claire war zum ersten Mal seit langer Zeit sprachlos. Es war nicht nur diese ruhige, wie Wellen auf einem Sandstrand sanft auslaufende Stimme, die sie verwirrte. Da war etwas anderes. Etwas, was sie nicht kannte, nicht beschreiben und schon gar nicht einzuordnen wusste. Dieses Timbre, die Sanftheit und diese Tiefsinnigkeit seiner Worte einten sich auf solch wunderbare Weise, dass sie ihre Sprachlosigkeit nur dadurch kaschieren konnte, dass sie den anderen Inder ansah.

»Gewisse Ähnlichkeiten lassen mich vermuten, dass Sie einer der Brüder von Mr. Sanjay Kasliwal sind, richtig? Sudhir oder Pappu?«

»Richtig, verehrte Mrs. de Vries!«, antwortete der Mann.

»Aber unglücklicherweise spreche ich nicht so gut Deutsch wie mein Bruder Sanjay. Dennoch bin ich sehr erfreut, Sie kennen zu lernen. Ich bin Pappu Kasliwal. Aber bitte verstehen Sie es nicht als Unhöflichkeit, wenn ich mich jetzt auch gleich wieder verabschiede. Ich muss Sie leider mit meinem Bruder alleine lassen. Mein Taxi zum Flughafen geht in zehn Minuten. Aber ich bin mir sicher, dass Sie den Abend mit meinem Bruder Sanjay genießen werden. Er wird Ihnen fraglos sehr unterhaltsame Geschichten erzählen können «

10. Kapitel

E

ine Stunde später hatten alle geladenen Gäste das Grand Hotel Esplanade verlassen. Marie-Claire dagegen war noch immer mit Sanjay Kasliwal ins Gespräch vertieft. Die beiden saßen in einer Nische in Harrys New York Bar, nur wenige Schritte vom Hotel entfernt.

Für Marie-Claire war das Zusammentreffen mit diesem Inder ein in jeglicher Hinsicht außergewöhnliches Erlebnis. Sie kannte Sanjay Kasliwal erst seit zwei Stunden, aber sie wusste über ihn bereits unendlich viel. Sie konnte sich nicht erklären, woher diese seltsame Vertrautheit rührte. Der Gleichklang, der sich zwischen ihnen in so kurzer Zeit entwickelt hatte, war die Basis wunderbar offener Gespräche. Sie plauderten und lachten, versanken in philosophische Betrachtungen und trieben durch die Nacht. Sie spürte, dass er sie als Mensch schätzte. Sein Interesse galt allein ihr, jenseits jeglicher gesellschaftlicher oder geschäftlicher Intentionen. Sanjay Kasliwal erzählte von sich, seinem Leben in Indien, seinen Wünschen, Träumen und Illusionen. Sein Bruder und er waren begeisterte Polospieler, er hatte sich jedoch vor Jahren beim Polo am Bein schwer verletzt und brauchte daher jetzt einen Gehstock. Sie erfuhr, dass sein Bruder im Januar zum Winter-Poloturnier nach St. Moritz reisen würde, und er selbst hatte sich in Europa mit mythologisch-religiösen Themen im Zusammenhang mit Edelsteinen beschäftigen wollen. Deshalb war er zu dieser Abendveranstaltung von Christies gekommen.

Marie-Claire fühlte, dass sie diesem Mann vertraute, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben einem Fremden, und schon gar nicht einem Mann, vertraut hatte. Irgendetwas verband sie tief in ihren Seelen, und das Schöne daran war, dass weder er noch sie wissen wollten, was es war.

Das war vielleicht der wahre Grund ihrer unbedarften, von Lachen, Witz und doch so erfrischender Tiefsinnigkeit geprägten Gespräche. Dieser Mann mochte sie, und sie mochte ihn. Sanjay war fraglos ein attraktiver Mann. Groß, schlank und ehemals sehr sportlich hatte er sich lässig-selbstbewusst zwischen all den adligen Gästen des Abends bewegt. Seine sehr angenehme Zurückhaltung verlieh ihm eine ganz besondere Aura. Seine Augen sprühten vor Leben, sein dezenter Charme war umwerfend, sein Lächeln gewinnend. Und doch verspürte Marie-Claire keinerlei sexuelles Verlangen. Nur zögerlich, fast schon widerwillig sprach er über seine Ausbildung an einem Elite-Internat in der Schweiz. Er hatte Philosophie, Wirtschaftswissenschaften und Jura studiert, natürlich an den renommiertesten Universitäten. Auch dazu äußerte er sich kaum. Und über Geld sprach er schon gar nicht. Den Erzählungen ihrer Kollegin Viktoria, die aus beruflichen Gründen die Vita eines jeden ihrer Kunden kannte, hatte sie entnommen, dass sein Reichtum geradezu legendär war. Er hatte längst jene Dimension erreicht, die nicht mehr mit Zahlen zu vermitteln war. Daher glaubte sie Sanjay sofort, als er erzählte, niemand in seiner Familie wisse genau, welchen Wert all die in ihrem Edelstein-Palast in Jaipur in Kisten und Vitrinen aufbewahrten Edelsteine und Schmuckstücke hätten.

»Marie-Claire«, hörte sie ihn plötzlich sagen, während im Hintergrund ein Pianospieler Beethovens Mondscheinsonate zu spielen begann, »Sie sollten wissen, dass viele Menschen in Indien zu den materiellen Seiten unseres irdischen Daseins eine eher metaphysische Einstellung haben! Der wahre Wert eines Edelsteins liegt für uns daher tief verborgen. Für mich entscheidet nicht der materielle Wert über dessen Schönheit, sondern die Farbe des Steins und sein Verschmelzen mit der Fassung, mit den irdischen Gegebenheiten bringen seine Einzigartigkeit hervor! Daher freue ich mich auch, dass sich die Zeiten in Europa und in Amerika allmählich wandeln. Diamanten werden hier zwar nach wie vor wegen ihres Wertes und der Wertbeständigkeit gekauft, faktisch ist es jedoch so, dass immer mehr Menschen Schmuck unter Modeaspekten erwerben. Und Mode ist nun einmal eine Frage von Stil und Design, also eine Frage der Schönheit.«

Marie-Claire atmete tief durch. Sanjay katapultierte sie schon den ganzen Abend mit solchen Aussagen in neue geistige Dimensionen. Und das gefiel ihr. Es entsprach ihrem persönlichen Denken und Fühlen, ihren Neigungen, was er so perfekt auszudrücken verstand. Bei ihrer Arbeit hatten solche Aspekte freilich kaum Bestand.

»Aber Sie handeln mit diesen Steinen, Sanjay! Für Sie als Schmuckhändler werden Edelsteine nach realen Kriterien eingeschätzt und in ihrem Wert bestimmt! Sie orientieren sich doch daran, ob es nun ein lupenreiner Diamant ist, also einer ohne nur mittels Zehnfach-Lupe erkennbare Einschlüsse, oder ob es ein VS2, also einer mit schwer erkennbaren Einschlüssen ist. Und da Gewicht und Größe eines Diamanten nun mal in einer berechenbaren Abhängigkeit zueinander stehen, so dass von dem Durchmesser auf das Karat-Gewicht geschlossen werden kann, bleibt letztendlich nur noch die Frage nach dem Cut, also dem Schliff, der den Wert des Steins für den Händler ergibt. In den Händen des Diamantenschleifers wird dann aus dem Diamanten entweder ein quadratischer Princess, ein ovaler Marquise, ein runder Brillant oder ein perlenförmiger Pear. Das sind doch die Kriterien, die den Wert eines Diamanten für Sie ausmachen! Für Sie sind sie eine Ware, leblose Materie oder?«

»Das ist nicht ganz richtig, Marie-Claire. Immer mehr Menschen kommen zu uns und bitten um die Anfertigung eines Schmuckstücks, bei dem es nicht um die Frage Diamant, Rubin, Saphir oder Smaragd geht. Diese Menschen orientieren sich an Farben. Sie sehen in dem unverwechselbaren Licht, das in jedem Halb- oder Edelstein verborgen liegt, eine größere Bedeutung als in dem Wert eines Diamanten, dessen Preis sich letztendlich an Details orientiert, die sich erst unter der Lupe zeigen, also für das menschliche Auge mehr oder minder unsichtbar sind. Mir gefällt es, wenn Kunden sagen, sie möchten eine Halskette mit Steinen in einer bestimmten Farbe oder ein Arrangement bestimmter Farben, akzentuiert mit einem Edelstein, dessen Schönheit sich nicht allein an seiner Reinheit orientiert. Sich der Schönheit und Einmaligkeit dieses Schmuckstücks bewusst zu sein ist bedeutsamer als das Benennen eines Preises. Solche Menschen sind mir lieber als jene, die kommen und einen Einkaräter in slightly tinted white wollen.«

Die Natürlichkeit dieses Mannes begeisterte Marie-Claire. Er hatte nichts Kapriziöses. So, wie er sich gab, so sprach er auch über Edelsteine. Sanjay hielt regelmäßig Schmuckstücke von unvorstellbarem Wert in der Hand und besaß sie auch. Dennoch schien er völlig immun gegen weltliche Werte, war ganz Ästhet und gestand Edelsteinen offensichtlich eine Art inneren Wert und Bedeutung zu.

Plötzlich wirkte Sanjay sehr ernst. Fast unangenehm lange schaute er ihr in die Augen.

»Marie-Claire, Sie sind eine Frau, die weiß, was ich denke, was ich fühle. Sie wissen es und Sie verstehen es! Denn auch Sie haben mit Ihrem Beruf etwas zum Inhalt Ihres Lebens gemacht, das neben den schnöden materiellen Aspekten viel Seele in sich trägt. Das, und nicht nur das, verbindet uns. Deswegen möchte ich Ihnen von einer indischen Überlieferung erzählen, die Ihnen helfen möge, mich noch besser zu verstehen. Denn das, Marie-Claire, würde meiner Seele sehr schmeicheln «

Fasziniert von der Ruhe, mit der Sanjay Kasliwal sprach und sie dabei so unglaublich tiefgründig anschaute, glaubte Marie-Claire für Momente, sie müsse erröten. Aber sie fühlte, dass das nicht geschah. Sie hatte nur eine Erklärung dafür: Vertrauen! Ja, zu diesem Menschen hatte sie Vertrauen, etwas, das sie noch nie in ihrem Leben gehabt hatte. Schon gar nicht zu einem Mann

Sanjay lächelte. Sie hatte das Gefühl, er habe ihre Gedanken gelesen. Sie lehnte sich im Sessel zurück und signalisierte damit, dass Sie ihm zuhören wollte.

»In meiner Heimat, Marie-Claire, sagt man, dass Diamanten die Tränen Gottes sind. Denn nur so ist für uns dieses einzigartige, unverwechselbare und in seinem Farbspektrum kosmisch-schöne innere Feuer, das ein jeder Diamant in sich trägt, zu erklären. Und weil dem so ist, wurden Diamanten immer wieder als Augen von Götterstatuen verwendet.«

Marie-Claire stockte der Atem. Sie ahnte, ja wusste, was jetzt kommen würde.

»Beim Untergang der Maharadscha-Reiche versteckten meine Vorfahren ihre heiligen Schätze, den Familienschmuck, Edelsteine und uns heilige Insignien, im Inneren einer hohlen Statue. Sie war mehrere Meter hoch, aus dem Fels herausgeschlagen und somit auf immer mit dem Fels verbunden. Die Statue war so schwer, dass selbst fünfzig Männer sie nicht hätten wegtragen können. Drei Augen hatte diese Statue drei große, ungewöhnlich reine Diamanten. Diese drei Tränen Gottes waren mit einem nur wenigen Familienangehörigen bekannten Mechanismus kombiniert. Nur wenn die Sonne an einem ganz bestimmten Tag im Jahr in einem bestimmten Winkel über dieser Statue stand, wenn das Licht der Sonne durch die drei Diamanten hindurch ins Innere der Statue fiel, ließ sich dieses Heiligtum öffnen. Denn jeder Diamant hat, wie Sie selbst ja wissen, ein unverwechselbares inneres Feuer, das sich aus dem Licht des Tages nährt. Und so war vorbestimmt, dass nur die Träger dieses Geheimnisses, ehrwürdige Männer unserer Familie, in der Lage sein würden, dieses Heiligtum zu öffnen, wenn Gottes Zeichen ihnen kundtun würde, es zu tun. Und damit keine Schurken, keine Unwürdigen sich mit Gewalt Zugang zum Inneren dieser Statue verschaffen konnten, war diese Statue mit einem zweiten Mechanismus versehen, der alles Irdische zerstört, würde der Steinkoloss gewaltsam geöffnet werden.«

Marie-Claire wurde von Gefühlen und Gedanken übermannt. Sie hatte von dieser Götterstatue schon gehört vor wenigen Wochen erst. Francis Roundell hatte bei ihrem Treffen im Café Landtmann in Wien davon gesprochen und diese Geschichte als Legende bezeichnet. Und er hatte sie im Zusammenhang mit dem Florentiner erzählt! Nun saß ein Mann vor ihr, dessen Aura sie völlig verwirrte, und erzählte ihr genau diese Legende, die ganz offensichtlich keine Legende war. Zaghaft fragte sie: »Warum erzählen Sie mir all das, Sanjay?«

»Weil ich spüre, nein, ich weiß, Marie-Claire, dass Ihr und mein Karma in einer wundersamen Weise dazu auserkoren sind, den Willen des Schöpfers mit Leben zu erfüllen, seinen Wunsch zu erfüllen!«

»Seien Sie mir bitte nicht böse, Sanjay«, flüsterte Marie-Claire de Vries, »Ihr Vertrauen, Ihre Herzlichkeit und Ihre Worte verwirren mich. Ich verstehe all das nicht!«

Sanjay Kasliwal lächelte sie voller Herzenswärme an.

»Ich kann, ich darf Ihnen leider nicht alles erklären, Marie-Claire. Es hat mit einem Traum, mit einer Prophezeiung zu tun, die mein Großvater, der Allmächtige sei seiner Seele gnädig, hatte. Träume sind Geschenke Gottes. Man darf nicht darüber reden, denn dann verflüchtigen sie sich. Aber man muss ihnen folgen. Sie, Marie-Claire, müssen dieser Prophezeiung nicht folgen, aber Sie könnten es, Sie können mir helfen, den Traum, die Prophezeiung zu erfüllen wenn Sie es wollen.«

»Was muss ich tun?« Marie-Claires Stimme zitterte ebenso wie ihre Hände.

»Grabräuber, seelenlose Schurken haben dieses Heiligtum unserer Familie und unseres Volkes entweiht, sie haben die drei Diamanten, die göttlichen drei Brüder, die Augen, die Tränen Gottes aus der Statue herausgeschlagen. Das geschah vor vielen hundert Jahren. Seither ist der Zugang zu dem Schatz und zu den heiligen Insignien unseres Volkes für immer verhindert. Ich weiß, wo diese Statue versteckt ist! Und ich weiß, dass ich dazu auserkoren bin, diese Tränen Gottes, die Diamanten zu finden. Ich suche die göttlichen drei Brüder. Deswegen bin ich in Europa. Sie gehören meinen Vorfahren, meinem Volk. Es ist ein nationales Heiligtum. Nicht der Schatz, nicht der materielle Wert der Diamanten, der Juwelen, des Goldes und Silbers interessiert mich. Ich will, dass mein Volk das zurückbekommt, was ihm seit Jahrtausenden gehört. Es schien mir in den letzten Jahren ein schier aussichtsloses Unterfangen. Die Spuren dieser drei prachtvollen Diamanten haben mich rund um die Welt geführt. Ich glaube zu wissen, dass sie von Indien in den Nahen Osten gelangt sind. Dort, so vermute ich, gingen sie in den Besitz der Kreuzritter, höchstwahrscheinlich der Templer. Es geht die Sage um, dass die drei Diamanten zum legendären Schatz der Templer gehörten, wobei ich mittlerweile der festen Überzeugung bin, dass es diesen Schatz der Templer so, wie man sich ihn gemeinhin vorstellt, gar nicht gab. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Templer wussten, dass die drei Diamanten zu jener Götterstatue gehörten, in deren Innerem unvorstellbare Schätze lagen und noch immer liegen. Das, Marie-Claire, ist meine Vermutung. Und ich habe es mir zur Lebensaufgabe gemacht, die Steine zu finden um meinem Volk dieses heilige Eigentum zurückgeben zu können!«

Sanjay Kasliwal schwieg für einen Moment. Er schien höchst konzentriert. Sein Blick war fest auf Marie-Claire de Vries gerichtet. Mit ernsthafter Miene sprach er weiter: »Edelsteine von solch ungewöhnlicher Größe und Schönheit hinterlassen Spuren, weil sie Begehrlichkeiten wecken. Die Gier der Menschen nach solchen Edelsteinen hinterlässt Spuren. Zumal diesen Diamanten nachgesagt wird, dass sie seit der Entfernung aus der Statue mit einem Fluch belegt sind, der Unheil über ihre neuen Besitzer bringt. Wir beide wissen, dass dem so ist, denn dieser Fluch hat Spuren hinterlassen. Ich bin ihnen gefolgt hier im Abendland. Was das Ganze schwierig macht, ist die Tatsache, das es von zumindest einem dieser Edelsteine eine Kopie gibt. Die Ähnlichkeit dieser Kopie mit dem Original ist so frappierend, dass ich nicht immer sicher bin, ob ich nun der Spur einer Kopie folge oder jener des Originals.«

Marie-Claire zitterte nicht nur innerlich. Was Sanjay ihr in geradezu erschreckender Offenheit mitteilte, war in seinen Dimensionen so unglaublich, dass es nicht alleine mit seinem Vertrauen zu ihr zu erklären war. Warum erzählte er ihr das? Warum offenbarte er Details über ein Geheimnis, das mit schier unvorstellbaren materiellen Werten verknüpft war? Er kannte sie doch überhaupt nicht! War es Taktik? Wollte er ihr Informationen entlocken? Oder war er einfältig? Nein, das war dieser Mann ganz sicher nicht! Aber man erzählte doch einem fremden Menschen nicht solche Dinge! Oder doch?

Nervös nippte sie an dem Rotwein und zündete sich eine Zigarette an. Sie entschied sich, vorsichtig und doch ehrlich zu sein.

»Einer jener drei Diamanten, von denen Sie sprechen, Sanjay, wird jetzt der Florentiner genannt, richtig?«

Gebannt starrte sie ihn an. Er antwortete, ohne lange zu überlegen und sehr ruhig. Sie sah, dass er die Wahrheit sagte.

»Ja, das stimmt!«

»Und Sie sagen, es gibt eine Kopie?«

»Ja! Und das wissen Sie, Marie-Claire! Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie als Wienerin und als renommierte Expertin für historischen Schmuck nicht wissen, dass in der Wiener Schatzkammer eine solche Kopie dieses Diamanten, den Sie Florentiner nennen, existierte.«

»Nein, davon weiß ich wirklich nichts!« Marie-Claire riss die Augen weit auf. Ihre Überraschung war nicht gespielt.

»Ja, es existierte eine! Und vielleicht gibt es sie noch immer«, sprach Sanjay Kasliwal weiter. »Die Wiener Schatzkammer hatte meines Wissens Mitte des 18. Jahrhunderts unter Leitung eines Mannes mit Namen Joseph Angelo de Frances den Charakter einer Kunstkammer bekommen. Später wurde dann sogar ein eigenes Juwelenzimmer eingerichtet. In dieser Zeit lag eine Kopie in diesem Juwelenzimmer und zwar zusammen mit dem auch damals schon Florentiner genannten Original, ein Hundertsiebenunddreißig-Karäter mit gelblichem Schimmer. Sowohl das Original als auch die Kopie sind aber verschwunden.«

Dieser Mann aus Indien, das war Marie-Claire klar, war ein absoluter Kenner von Edelsteinen, ein Experte und auch ein Experte, was den Florentiner betraf. Nein, sie hatte nichts von einer Kopie in der Wiener Schatzkammer gehört. Sie wusste lediglich, dass der Florentiner im Jahre 1919 zusammen mit anderen Edelsteinen, Schmuck und Preziosen von der kaiserlichen Familie aus der Vitrine XIII der Schatzkammer entnommen und als Habsburger Privatschmuck in die Schweiz geschafft worden war. Siedend heiß fiel ihr plötzlich eine Passage aus jenem Buch ein. Der Schmuckhändler Alphonse de Sondheimer hatte sich maßlos enttäuscht über die mindere Qualität des Florentiners ausgelassen. Mein Gott, durchzuckte es Marie-Claire. Hatte der österreichische Kaiser bei seiner Flucht in die Schweiz etwa gar nicht den Florentiner, sondern eine Kopie mitgenommen? Hatte über Jahrhunderte hinweg nur eine Kopie dieses legendären Diamanten in der Wiener Schatzkammer gelegen? Konnte das sein? War es möglich, mit den damals verfügbaren technischen Mitteln eine täuschend echte Kopie eines solch großen Diamanten herzustellen? Wenn das aber nur eine Kopie gewesen war, wo war dann das Original?

Sanjay Kasliwal beobachtete Marie-Claire de Vries. Er sah, wie verwirrt sie war und dass ihre Gedanken sich überschlugen. Leise räusperte er sich.

»Es tut mir Leid, Marie-Claire, dass ich Sie solchen Irritationen aussetze. Ist die Sache mit der Kopie denn für Sie so bedeutsam?«

»Mehr als das, Sanjay! Es ist eine Sensation! Denn wenn zutrifft, was Sie sagen, müssen wir die ohnehin sehr verwirrende Geschichte dieses Florentiners neu schreiben! Es gibt nämlich noch eine Kopie!«

Zum ersten Mal, seit sie Sanjay Kasliwal kannte, sah Marie-Claire ihn nun staunen. Er war erstaunt oder schockiert. Dessen war sie sich nicht ganz sicher. Es stand jedoch fest, dass er von dieser Information maßlos beeindruckt war.

»Sind Sie sich sicher?«, fragte er. Es gelang ihm nicht, seine Erregung zu verbergen.

»Ja, absolut sicher! Ich weiß es seit gestern. Diese Kopie liegt im Museo Nazionale della Scienza e della Tecnologia Leonardo da Vinci in Mailand, in der Abteilung Arte Orafa. Ich habe gestern ein Fax erhalten und ein digitales Foto dieser Kopie. Es ist eine zumindest optisch beeindruckend schöne und täuschend ähnliche Kopie. Die Frage ist nun, ob sie jene Kopie ist, die einst in der Schatzkammer in Wien lag oder ob es eine zweite Kopie ist. Des Weiteren stellt sich die Frage, ob es eigentlich jemals ein Original in der Schatzkammer in Wien gegeben hat. Wenn nicht, wäre das die Sensation des Jahrhunderts!«

Marie-Claire erschrak über sich selbst: Warum hatte sie das gesagt? All das wusste sie selbst erst seit gestern und hatte diese Information bislang weder verifizieren noch in ihrer Auswirkung auf ihren Auftrag richtig einschätzen können. Jetzt hatte sie ein Geheimnis preis gegeben. Dabei hatte Francis Roundell sie in aller Eindringlichkeit gebeten, über ihren Auftrag absolutes Stillschweigen zu wahren. Warum nur hatte sie Sanjay soeben all das verraten?

Sanjay schien ebenso fasziniert wie verwirrt zu sein. Seine Reaktion zeigte jedoch nichts davon.

»Sehen Sie, das ist ein Grund, warum die Suche nach den Tränen Gottes so irritierend und doch so spannend ist. Legenden, Mythen, Sagen und Fakten einen sich zu einem Konglomerat von Informationen. Keiner weiß so richtig, wo zumindest dieser Florentiner, also das Original ist! Seit 1920 ist er angeblich spurlos verschwunden «

»Und die beiden anderen Tränen Gottes?«

Marie-Claire war sich im Klaren darüber, wie provokant diese Frage war. Sanjay wich ihr nicht aus. Fast mystisch lächelte er sie an. »Marie-Claire, warum sollten wir uns mit taktischen, von Misstrauen bestimmten Spielchen das Leben schwer machen? Sie wissen ebenso wie ich, dass wir von den seit Jahrhunderten als der Große und der Kleine Sancy bezeichneten Steinen sprechen. Und die wurden leider vor kurzem geraubt! Der Fluch bewahrheitet sich also. Der Fluch des Florentiners wird die Räuber einholen. Dessen bin ich mir absolut sicher. Ich ahne, aber ich weiß noch nicht ganz sicher, wo die Diamanten jetzt sind. Und ich glaube und hoffe, Marie-Claire, dass Sie mir dabei helfen werden, die Tränen Gottes, die göttlichen drei Brüder, wieder nach Indien zurückzubringen. Dieser Fluch wird nur zu durchbrechen sein, wenn wir die Originale haben und sie dahin zurückbringen, wo sie hingehören: nach Indien! Ich glaube übrigens nicht, dass der Mechanismus der Statue auch mit Kopien funktioniert. Es gibt ja in Amerika einen Mann namens Carter Clarke, einen ehemaligen US-General. Er fertigt künstliche Diamanten an, die mit herkömmlichen Methoden nicht von echten Diamanten zu unterscheiden sind. Sie haben sicher schon von ihm gehört?«

Marie-Claire nickte. Der umtriebige Exgeneral sorgte seit einiger Zeit mit seinem Unternehmen in Sarasota, Florida, für erhebliche Turbulenzen auf dem milliardenschweren internationalen Diamanten- und damit auch auf dem Schmuckmarkt. Der Amerikaner hatte sein Wissen, künstliche Diamanten herzustellen, von einem russischen Wissenschaftler erworben. So revolutionär sich das Ganze anhörte, so simpel war im Prinzip der Herstellungsprozess. Letztendlich wurden in Reaktoren die Bedingungen im Bauch der Erde vor vielen Millionen Jahren, als die meisten Diamanten unter extremsten Temperatur- und Druckverhältnissen aus Kohlenstoff entstanden, nachgeahmt. In den USA wurden dabei echte Diamantsplitter zusammen mit Graphit in einem Reaktor unter dreitausend Grad Celsius und einem Druck von fünfzigtausend Atmosphären zu Diamanten geformt. Kaum mehr als drei Tage dauerte die Herstellung eines Rohdiamanten. Vor allem die begehrten gelben Diamanten, so wie der Florentiner, wurden dort hergestellt. Kostete ein echter Diamant auf dem internationalen Markt zirka zwanzigtausend Euro pro Karat, verkaufte die Firma Gemesis sie für rund viertausend Euro. Da diese synthetischen Edelsteine von einem echten fast nicht zu unterscheiden waren, beunruhigte diese Entwicklung die Edelsteinexperten von DeBeers, dem größten Diamantenkonzern der Welt. Der Monopolist hatte sofort reagiert und ein neuartiges Prüfgerät entwickelt. Im Prüflabor IGI in Antwerpen wurden seither alle Diamanten im »Diamond View System« mit ultraviolettem Licht bestrahlt. In starker Vergrößerung zeigt sich die unregelmäßige Wachstumsstruktur eines echten Diamanten, während der synthetische Diamant durch seine Ebenmäßigkeit entlarvt werden kann aber nur für Experten. Ein Laie ist selbst mit Lupe nicht in der Lage, Original von synthetischer Ware zu unterscheiden. So gelassen DeBeers sich vermeintlich gab und damit warb, dass ein Konsument stets das Echte haben wolle, so viele Turbulenzen zeichneten sich längst auf den Edelstein- und Schmuckmärkten ab.

Für Marie-Claire setzten enorme Gewissens- und Interessenkonflikte ein. Sollte sie Francis Roundell von diesem Gespräch berichten? Wieso zögerte sie eigentlich, ihren Sicherheitschef zu informieren? Traute sie ihm nicht? Aber wieso traute sie Sanjay? Sollte sie diesem Inder sagen, dass sie selbst ebenfalls auf der Suche nach dem Florentiner war? Sollte sie ihm trauen, misstrauen oder gar mit ihm kooperieren? Sollte sie ihre persönlichen Empfindungen für diesen faszinierenden Mann aus Indien unterdrücken und rational vorgehen? Sie wusste nicht, wie sie handeln sollte, als sie antwortete: »Ja, ich weiß natürlich, welche Perspektiven durch diese Produktionsverfahren von künstlichen Diamanten für die Zukunft entstehen werden! Allerdings sind diese Leute in den USA derzeit nur in der Lage, Diamanten bis zu etwa viereinhalb Karat herzustellen. Eine täuschend echte Kopie des Florentiners mit seinen hundertsiebenunddreißig Karat wird es also aus den USA nicht geben. Und die beiden Sancys können dort aus dem gleichen Grund nicht reproduziert werden noch nicht!«

Der indische Edelsteinexperte aus Rajasthan nickte wissend mit dem Kopf. »Ich teile Ihre Einschätzung, Marie-Claire! Für mich ist ohnehin klar, dass das Geheimnis der Götterstatue erst dann entschlüsselt und der Fluch des Florentiners durchbrochen werden kann, wenn das Original des Steines wieder nach Indien zurückkehrt. Diamanten haben eine Seele. So sehe zumindest ich das. Die Seelen dieser göttlichen drei Brüder müssen geeint werden, denn gemeinsam wachen sie über Macht, Erleuchtung und ewiges Leben «

 

Knapp eine Viertelstunde später verließ Marie-Claire de Vries Harrys New York Bar. Die Uhr in der Hotelrezeption zeigte bereits fünf Uhr am Morgen an. Sie war völlig erschöpft und zugleich aufgedreht. Dieser Mann in der Bar wer war das gewesen? Litt sie schon unter Halluzinationen, unter Verfolgungswahn?

»Du hast einen Knall, Marie-Claire de Vries«, murmelte sie im Hotelaufzug vor sich hin und versuchte, ihre wahnwitzigen Gedanken zu verdrängen. Doch irgendetwas stimmte da nicht! Etwas an diesem Mann mit dem schütteren Haar und der Krücke in der Bar war seltsam gewesen. Mit Sanjay Kasliwal war sie so verblieben, dass er sich in Kürze bei ihr in Wien melden würde. Er hatte ihr von seinen Reiseplänen erzählt.

»Ich folge der Seele des Florentiners«, hatte er gesagt und von Besuchen in Grandson, Florenz und Paris gesprochen. Sie war sich einerseits im Klaren darüber, dass diese in der Historie des Florentiner-Diamanten einst so bedeutsamen Orte und Städte für ihre Aufgabe nicht wirklich von Relevanz waren, andererseits spürte sie ein sehr ausgeprägtes Verlangen, Sanjay wiederzusehen. Der Gedanke, mit ihm zu diesen Orten zu fliegen, mit ihm zu diskutieren und ihm zuzuhören, reizte sie maßlos. Ja, sie wollte mehr über ihn wissen, denn sie genoss seine Gegenwart. Das für sie wirklich Faszinierende daran war, dass sie spürte, dass es keines jener üblichen Verlangen nach der Nähe eines Mannes war. Aber was war es? Und wer war dieser Mann in der Bar gewesen? Er hatte den ganzen Abend in der Bar verbracht und war zur selben Zeit wie sie dort aufgetaucht. Eigentlich hatte sie ihn ständig registriert, ihm aber keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Zudem hatte er sich ihnen gegenüber sehr desinteressiert gezeigt. Nur für Bruchteile von Sekunden hatte sie Blickkontakt mit ihm gehabt, als sie die Bar verlassen wollten. Beim Aufstehen hatte sie ihm und er hatte ihr ganz kurz in die Augen geschaut, und genau dieser Moment hatte bei ihr ein eigentümliches Gefühl ausgelöst. Ein Satz von Francis Roundell war ihr in den Sinn gekommen: »Der Verräter verrät sich durch das Gedankengut des Verräters und seine Augen sind seine Lippen.« Wie wahr! Wer log, verriet sich schnell durch eine ungewöhnliche Reaktion seines Körpers. Manche wurden rot bei der Lüge, andere hüstelten, wiederum andere Menschen kratzten sich am Kopf oder glaubten, sich durch das Verschränken der Arme vor verräterischen Reaktionen zu bewahren. Und manchen Menschen konnte man die Lüge in den Augen ablesen. So wie diesem Mann. Doch was war an ihm so auffällig? Der vielleicht Fünfundvierzigjährige hatte nur da gesessen, einige Bier getrunken und geschwiegen. Er hatte einen Gipsfuß. Seine Krankenhauskrücke lag die ganze Zeit quer über seinen Oberschenkeln. Seine Aktentasche stand neben dem Sessel.

Der Aufzug hielt in der fünften Etage des Hotels. Die Türen öffneten sich. Plötzlich lief Marie-Claire ein Schauer über den Rücken. Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Ihre Müdigkeit war wie weggefegt. Die Erkenntnis war wie ein Schock, der den Körper in Alarmbereitschaft versetzte. Ja, natürlich! Die Krücke! Die Krücke dieses Mannes hatte über nahezu vier Stunden quer auf seinem Schoß gelegen. Nicht ein einziges Mal war er aufgestanden, hatte sich nicht um einen Millimeter bewegt. Und das, obwohl er sicherlich sechs bis acht Glas Bier getrunken hatte. Der Mann war dort wie eine Statue sitzen geblieben. Mit einer Tasche neben sich. Und mit einem Krückstock, der keinen Gummipfropfen am unteren Ende hatte. Ein Krückstock, der die ganze Zeit mit dem unteren Ende in ihre Richtung gezeigt hatte. Ja, das war es! Zehn Minuten später lag Marie-Claire de Vries im Bett. Sie war hellwach. Um acht Uhr würde Francis Roundell in seinem Büro sein. Dann würde sie ihn anrufen und fragen. Ja, sicherlich würde er es wissen. Er mit seiner beruflichen Vergangenheit als Kriminalbeamter wusste bestimmt, ob es technisch möglich war, in eine solche Krücke ein Richtmikrofon einzubauen. Ein Richtmikrofon, mit dem man das Gespräch am Nebentisch abhören konnte. Francis wusste so was. Aber sollte sie Francis wirklich fragen? Wieso, dachte sie plötzlich, musst du eigentlich darüber nachdenken, ob du ihn fragst? Wieso hast du Zweifel? Erklären konnte sie sich das nicht wirklich. Sie wusste nur, dass eine innere Eingebung ihr nahe legte, vorsichtig zu sein. Auch gegenüber jenem Mann, der ihr den Auftrag gegeben hatte, den Verbleib des Florentiner-Diamanten zu recherchieren. Wie auch immer: Um acht Uhr würde sie ihn anrufen.

11. Kapitel

K

riminalhauptkommissar Bernhard Kleimann jubelte innerlich und war zugleich sehr irritiert. Die Abendsonne traf auf das Fenster seines Büros in der Interpol-Zentrale in Lyon. Er atmete tief durch. Seine Intuition hatte sich als richtig erwiesen. Dennoch, das, was sich nun aus den neuen Erkenntnissen an Schlussfolgerungen aufdrängte, überforderte seine Fantasie. Nochmals überflog er die Mitteilung, die er vor wenigen Minuten über das interne I-24/7-System vom Deutschen Bundeskriminalamt erhalten hatte:

Fingerabdrücke und genetische Merkmale des von Ihnen vorgelegten Datenträgers (Glas) und der Zigarettenreste sind zweifelsfrei identisch mit der von Ihnen benannten Person. Die von Ihnen übermittelten Personaldaten stimmen überein mit den hier beim BKA vorliegenden Erkenntnissen. Die Person wurde im Rahmen eines Einstellungsverfahrens bei Interpol Paris erkennungsdienstlich behandelt. Weitere Daten und Informationen können Ihnen aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht übermittelt werden, da die benannte Person nicht mehr Angehörige von Interpol ist.

Des Weiteren können wir jedoch bestätigen, dass diese Person vor drei Jahren im Rahmen einer Observation der BKA-Staatsschutzabteilung in Zusammenarbeit mit den Kollegen von der BKA-Abteilung Rauschgift sowie marokkanischen Exekutivbehörden in Rabat festgestellt und fotografiert worden ist. Zielperson war der tunesische Staatsangehörige

Jilam REZAIGUI

geb. 07.12.1960 in Tunis/Tunesien

Rezaigui besitzt zudem amtliche Personaldokumente auf unterschiedliche Aliasnamen aus Marokko, Syrien und dem Irak, darunter legale diplomatische Pässe und Dienstausweise. Jilani Rezaigui stand und steht im dringenden Verdacht, Mitglied zu sein bzw. zum Führungskader einer irakisch-marokkanisch-libanesisch-syrischen Gruppierung zu gehören. Diese Gruppe hat direkte Verbindungen zu islamisch-fundamentalistischen Terrorzellen und finanziert sich vornehmlich durch Rauschgifthandel (Heroin/Haschisch) aus dem libanesischen Bekaa-Tal. Erkenntnisse zu anderen Varianten der Beschaffungskriminalität dieser Gruppierung (u.a. Schutzgelderpressung, Waffenhandel und Kunstraub) liegen hier vor. Alle staatsschutzrelevanten Erkenntnisse sind als STRENG GE-HEIM klassifiziert. Wir bitten diesbezüglich um eine formelle Erkenntnisanfrage an die zuständige Abteilung des BKA. Ein Zugriff konnte in Rabat nicht erfolgen, weil Jilani Rezaigni einen exterritorialen Status als Mitglied der Kulturabteilung der irakischen Botschaft in Rabat innehatte. Die konkrete Verbindung zwischen Jilani Rezaigui und Francis R. konnte nicht zweifelsfrei verifiziert werden. Die Vermutung stand im Raum, dass Francis R. sich im Rahmen des Rückkaufs eines geraubten Kunstgegenstandes zu Verhandlungen im Auftrag einer Versicherungsgesellschaft in Marokko aufhielt. IPOL Neu-Delhi meldete im Jahre 2004 auffällig intensive Reisebewegungen des Jilani R. in Indien.

MfG

Meyer-Müllndorf, KHK Bundeskriminalamt

 

Bernhard Kleimann stand auf und ging in seinem Büro umher. Viele Fragen drängten sich ihm auf. Diese Angelegenheit war hoch brisant. Und wieder einmal war Zufall mit im Spiel gewesen. Hätte er vor zwei Wochen nicht im Rahmen seiner Tätigkeit bei der Interpol-Sonderermittlungsgruppe Mraksch in einigen alten Akten über marokkanische Terrorgruppierungen zufällig diese Observationsfotos gesehen, wäre er nie über diese höchst eigentümliche Verbindung zwischen seinem alten Freund und Exkollegen Francis Roundell und der nun anhängigen Ermittlung gestolpert. Es war nur ein Verdacht gewesen, denn das Observationsfoto zeigte zwar den Araber Jilani Rezaigui ganz klar, der Mann im Hintergrund war jedoch nur unscharf abgebildet. Dennoch war Kleimann die Ähnlichkeit sofort aufgefallen. Zunächst hatte er seinen ersten Verdacht als geradezu aberwitzig abgetan. Als sich dann wenige Tage später völlig unerwartet Francis Roundell bei ihm gemeldet und um ein persönliches Gespräch unter »alten Freunden« gebeten hatte, war ihm das nach zwanzig Dienstjahren doch als zu viel des Zufalls erschienen. Und nun lag dieses Schreiben des Bundeskriminalamtes auf seinem Schreibtisch. Es bestand absolut kein Zweifel: Sein alter Freund und Kollege Francis Roundell hatte vor einigen Jahren direkten Kontakt zu diesem Jilani Rezaigui gehabt. Warum, das war nicht ganz klar. Vielleicht war er tatsächlich als Kunstexperte mit dem Rückkauf gestohlener Kunstgegenstände beschäftigt gewesen. Solche Deals zwischen Kunsträubern und Versicherungsgesellschaften liefen immer unter extremster Geheimhaltung ab, zumal sie letztendlich illegal waren, von den Ermittlungsbehörden jedoch mehr oder minder stillschweigend geduldet wurden. Die Versicherungsgesellschaften zeigten sich im Gegenzug manchmal sehr kooperativ und übermittelten nach einem heimlichen Rückkauf die ihnen vorliegenden Erkenntnisse. Zu Festnahmen kam es dennoch höchst selten.

Ja, dachte Hauptkommissar Bernhard Kleimann, eigentlich sprach einiges dafür, dass Francis Roundell einer dieser heiß begehrten Vermittler war, die im Graubereich zwischen Legalität und Illegalität arbeiteten. Seine berufliche Vita sprach dafür. Als Exkriminalbeamter und Interpol-Beamter mit viel Erfahrung im Betrugsdezernat und nun Sicherheitschef eines Kunst-Auktionshauses hatte er eigentlich all das Know-how, das solche Versicherungsagenten haben sollten. Sie brauchten diese Erfahrungen, wenn sie Dieben und Räubern die gestohlene Ware abkaufen wollten, für die Versicherungen ansonsten viel Geld an den Versicherungsnehmer zahlen müssten. In diesem Zusammenhang war der Diebstahl der so genannten »Saliera«, des goldenen Salzfasses von Benvenuto Cellini, das im Mai 2003 aus dem Kunsthistorischen Museum Wien gestohlen worden war, in die Schlagzeilen geraten und auch Thema einer Sonderkonferenz bei Interpol geworden. Der Versicherungswert dieses unersetzbaren Kunstwerkes, das hatte er als Mitarbeiter der damaligen Interpol-Sonderkommission erfahren, war nicht einmal konkret zu beziffern. Fest stand lediglich, dass die involvierte UNIQA-Versicherung im Höchstfall eine Summe von zirka sechsunddreißig Millionen Euro im Einzelschadensfall zahlen müsste, würde das gestohlene Objekt nicht nach drei Jahren wieder auftauchen. Da war viel Spielraum für die Kunstagenten! Wenn es ihnen beispielsweise gelänge, die Saliera für einen Bruchteil der Versicherungssumme, also erfahrungsgemäß zirka zwanzig Prozent, von den Dieben zurückzukaufen, dann würde die Versicherung eine unvorstellbare Summe sparen. Diebe wie Kunstagenten wären gleichermaßen glücklich, denn die Erfolgsprämie läge sicherlich bei zehn Prozent des Versicherungswerts. Ein solcher Agent könnte dann bei einem Deal wie bei der Saliera schnell mal einige Millionen einstecken plus der ohnehin ausgelobten siebzigtausend Euro Belohnung!

So etwas wusste Francis Roundell natürlich. Er war ein alter Fuchs und ein erfahrener, sehr cleverer Ex-Bulle. Fakt aber war jetzt, dass Francis offensichtlich sehr engen Kontakt zu höchst gefährlichen Leuten gehabt hatte. Oder noch hatte. Denn dieser Jilani Rezaigui, mit dem zusammen Francis heimlich fotografiert worden war, galt als die Hauptzielperson der Interpol-Sonderkommission Mraksch! Seine Rolle bei den beiden Raubüberfällen war noch nicht geklärt. Offen war ebenfalls, ob er einer der beiden Männer war, die in Ambulanzflügen aus Europa entkommen waren. Fest stand lediglich, dass sich mehrere Männer in ein und demselben Haus in Marrakesch aufhielten, und unter ihnen befand sich auch Jilani Rezaigni. Wie aber sollte Kleimann nun mit diesen brisanten Informationen über Francis umgehen? Francis war sein Freund, ein guter Freund. Der Raub der beiden Diamanten machte die Situation nicht einfacher. Ständig geschahen eigentümliche Dinge. So konnte er sich zum Beispiel nicht erklären, warum sich ein Staatssekretär aus dem Bayrischen Innenministerium über das BKA ständig nach dem aktuellen Ermittlungsstand erkundigte. Was hatte dieser Staatssekretär mit der Sache zu tun? Erkenntnisse über ihn lagen Kleimann nicht vor. Über das Internet hatte er lediglich herausgefunden, dass der Beamte mit Freiherr von Hohenstein in München Jura studiert hatte. Die beiden kannten sich also. Dennoch, Kleimann wurde aus diesem großen Interesse an der Soko Mraksch nicht schlau. Wahrscheinlich ist das wieder einmal so eine Gefälligkeitsklamotte, dachte er sich.

Bernhard Kleimann kehrte in Gedanken zurück zu seinem alten Freund und seinen merkwürdigen Verabredungen. Was, so schoss es ihm durch den Kopf, würde passieren, wenn er den Leiter der Soko Mraksch über diese dubiose Sache mit Francis Roundell informieren würde? Er hatte nicht vor, Francis Ärger zu bereiten, aber die Sonderkommission zur Klärung der Raubüberfälle von Bayern und Florenz war mit Topleuten und Kriminalbeamten aus vielen Staaten besetzt. Darunter befanden sich auch Marokkaner. Sie waren es gewesen, die auf die Bezeichnung für die Soko gekommen waren. Denn »Mraksch« hieß auf Arabisch »Stadt«. Und in Marokko gab es eine Stadt, die ihren heutigen Namen davon ableitete – Marrakesch! Genau dort hielt sich jetzt dieser Jilani Rezaigui auf. Zufall?

»Die Frage ist letztendlich«, murmelte Bernhard Kleimann an diesem Dezemberabend in Lyon vor sich hin und entschied, seine Karriere nicht für einen alten Freund zu riskieren, »… die Frage ist, wo Francis Roundell jetzt steckt!«

 

»Viktoria … grüß dich! Ich bin’s!« Marie-Claire de Vries war froh, ihre Berliner Kollegin noch so spät am Abend telefonisch zu erreichen. »Du, ich habe im Hotel Esplanade meinen Schminkkoffer stehen lassen. Könntest du dich bitte darum kümmern und ihn mir, wenn ihr ihn gefunden habt, per Post schicken?«

Genüsslich streckte sich Marie-Claire auf ihrem Bett aus. Sie fühlte sich pudelwohl. Schon die letzte Nacht hatte sie ausgezeichnet geschlafen, gemütlich gefrühstückt und zum ersten Mal seit langem wieder Zeit gehabt, all ihre Gedanken und die neuesten Erkenntnisse zu ordnen. Längst hatten sich ihr E-Mail-Postfach und der Briefkasten mit Informationen und Dokumenten von der Sicherheitsabteilung in London, von Universitätsbüchereien und Antiquariaten gefüllt. Sie brauchte dringend Zeit, das Puzzle um den Florentiner zusammenzusetzen. Morgen würde sie für Francis Roundell einen Zwischenbericht erstellen. Jetzt, nach dem Abendessen und einem herrlichen Bad, wollte sie nur noch einige Telefonate erledigen. Es wunderte sie nicht, dass sie ihre Schminkutensilien in Berlin vergessen hatte. Das nächtliche Gespräch mit Sanjay war bis in die frühen Morgenstunden gegangen. Beinahe hätte sie sogar ihren Rückflug verschlafen. Sie hatte nicht einmal die Zeit gehabt, sich zu schminken, sie war vielmehr in großer Eile zum Flughafen gefahren. Ihre Kollegin Viktoria, die gern plauderte und für die der Job bei Christies ein wahrer Segen war, plapperte am anderen Ende des Telefons wie ein Wasserfall. Als sie den Namen ihres Sicherheitschefs beiläufig erwähnte, kam Marie-Claire plötzlich ein Gedanke.

»Sag mal, Vicki, wer hat eigentlich diese beiden Inder, die Brüder Kasliwal, auf die Einladungsliste für diesen Abend gesetzt? Das sind ja keine Berliner oder Hamburger Kunden, meines Wissens sind sie in der Regel auf den Auktionen in London und in Genf anzutreffen.«

Neugierig lauschte Marie-Claire den Worten ihrer Kollegin. Abrupt richtete sie sich auf. Jede Antwort hatte sie erwartet, nur nicht diese!

»Bist du sicher?«, unterbrach sie Viktoria. »Francis Roundell? Das ist aber sehr ungewöhnlich. Die Einladungen werden doch von der Verkaufs- oder Marketingabteilung rausgeschickt. Francis hat überhaupt nichts damit zu tun «

Gespannt hörte sie ihrer Kollegin zu. So wohlig müde sie nach dem heißen Bad gewesen war, so hellwach war sie jetzt. Nach zwei, drei weiteren Fragen an Viktoria legte sie den Hörer auf, holte sich einen Cognac, zündete sich völlig in Gedanken eine Zigarette falsch herum an, überlegte und wählte dann die Handynummer von Francis Roundell. Sie wusste, dass er Wert darauf legte, rund um die Uhr erreichbar zu sein. Und das war er eigentlich schon immer. Von seinen persönlichen Lebensumständen wusste sie nichts. Er erzählte nie freiwillig von sich. Das war ihr vorher nie aufgefallen. Eigentlich kannte sie ihn kaum. Genau in dem Moment meldete er sich am anderen Ende der Leitung. Er klang hellwach, obwohl es spät in der Nacht war.

»Hallo, Francis! Tut mir Leid, dass ich Sie noch so spät störe, aber ich war den ganzen Tag über so fix und fertig, dass ich es einfach nicht früher geschafft habe. Ich wollte Sie nur telefonisch vorab über den derzeitigen Stand meiner Recherchen informieren. Einen ausführlichen Bericht bekommen Sie dann morgen per E-Mail.«

Marie-Claire bemühte sich, ruhig zu wirken, aber eigentlich war sie sehr nervös. Da war es wieder, dieses untrügliche Gefühl, ihre Intuition, die ihr schon so oft im Leben geholfen hatte.

Sie berichtete ihm, dass es ihr gelungen war, Kontakt zu Gregor von Freysing aufzunehmen. Sie erzählte von ihrer Lektüre diverser Bücher, den höchst interessanten Aspekten, die sie dem Buch Vitrine XIII entnommen hatte und die sie nun nachzurecherchieren gedenke. Schließlich stellte sie die Frage, die sie am meisten beschäftigte.

»Bei meinem Vortrag in Berlin waren zwei Inder anwesend, ein Sanjay Kasliwal und sein Bruder Pappu, beides Kunden von Christies und renommierte Schmuckhändler aus Jaipur. Ich habe mit ihnen sehr aufschlussreiche und interessante Gespräche geführt, wobei ich mich gefragt habe, wie diese beiden Männer eigentlich auf die Einladungsliste gekommen sind. Wissen Sie das, Francis?«

Nervös nippte Marie-Claire an dem Cognac und zog hektisch an der Zigarette. Francis Antwort kam prompt. Obwohl sie ein wenig damit gerechnet hatte, war sie doch so überrascht, dass ihr das Glas aus der Hand rutschte und der Cognac sich über ihren Bauch ergoss.

»Ach so, die Marketingabteilung aus London ja, klar doch, die hatten erfahren, dass die beiden in Berlin sind ich verstehe, ja, hätte ich mir auch denken können.«

Zehn Minuten dauerte das Telefonat mit Francis Roundell. Es kam ihr unendlich lange vor. Kaum, dass sie den Hörer aufgelegt hatte, schenkte sie sich einen weiteren Cognac ein. Wieder griff sie zu einer Zigarette. Sie ging unruhig im Zimmer auf und ab, blieb am Fenster stehen, schaute hinunter auf den Donaukanal und dachte nach. Warum hatte Francis sie angelogen? Warum hatte er nicht gesagt, dass er bei der PR-Abteilung in London darauf bestanden hatte, dass diese beiden Männer aus Jaipur unbedingt eingeladen wurden? Marie-Claire hatte genau das von Viktoria erfahren. Die Kollegen der PR-Abteilung hatten Viktoria extra telefonisch davon in Kenntnis gesetzt und dabei keinen Hehl aus ihrer Überraschung gemacht, dass der Sicherheitschef persönlich sich um eine Einladungsliste kümmerte. Niemand im Hause Christies hatte davon gewusst, dass die Brüder Kasliwal überhaupt in Europa waren! Warum auch, dachte Marie-Claire, der eine war gekommen, um Polofreunde in Hamburg zu besuchen und mit ihnen dann in St. Moritz auf dem gefrorenen See Winterpolo zu spielen. Und der andere, Sanjay, war auch nicht in Europa unterwegs, um an Auktionen teilzunehmen. Aber warum, zum Teufel, hatte Francis ihr die Unwahrheit gesagt und die beiden Männer nach Berlin einladen lassen? Eine weitere Frage drängte sich Marie-Claire auf, die sie selbst betraf. Seit Berlin gab es eine Sache, die sie permanent beschäftigte, und dazu hatte sei Francis eigentlich befragen wollen: zu dem Mann in der Bar. Dieser Mann in Harrys New York Bar ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Dieser Krückstock auf seinem Schoß! Kein Mensch lässt seinen Krückstock stundenlang quer über seinem Schoß liegen und bewegt sich gleichzeitig nicht einmal einen Millimeter! Es war geradezu unnatürlich, wie starr dieser Mann dort, zwei Meter von ihnen entfernt, gesessen hatte. Alleine. Mit einem Krückstock ohne Gummipfropfen unten dran. Aber ein Loch hatte dieser Stock am unteren Ende gehabt, ein Loch, in das ein Metallteil eingearbeitet gewesen war. Danach hatte sie Francis Roundell eigentlich fragen wollen, hatte wissen wollen, ob es technisch möglich sei, in einem solchen Krückstock ein Mikrofon, ein Richtmikrofon einzubauen. Eines, das man unerkannt und perfekt auf die Teilnehmer eines Gesprächs am Nebentisch richten konnte. Seine Lüge hatte Marie-Claire von ihrer Frage abgehalten.

Marie-Claire war fassungslos und zugleich verwirrt. Ihr Misstrauen gegen Francis Roundell, den Sicherheitschef von Christies und ihren Auftraggeber, hatte sich als richtig erwiesen. Wem konnte sie jetzt noch vertrauen? Doch vor allem fragte sie sich, was diese Lüge zu bedeuten hatte. Sie blätterte lustlos in ihren Unterlagen. Ein Merkzettel fiel heraus. Es war eine Notiz, die sie sich am Berliner Flughafen gemacht hatte. Einen Moment lang überlegte sie, dann nahm sie das Handy und tippte eine SMS. »Freue mich auf den Wörthersee! Wann, wo? Bitte Rückruf morgen Vormittag. Gruß, Marie-Claire.«