12. Kapitel

A

m Wörthersee regnete es in Strömen. Nebelschwaden zogen, getrieben von einem starken Südwind, über die Wälder an den Hängen bei Mariawörth. Die barocke Kapelle auf dem Hügel vor dem kleinen Ort war kaum zu erkennen. Dunkle Regenwolken hingen über den Berggipfeln um den See herum.

Marie-Claire war beeindruckt. Gregors Haus lag an einem bewaldeten Hang einige hundert Meter oberhalb von Mariawörth. Der Blick hinab auf den mittleren Teil der drei miteinander verbundenen, mit Inseln und Halbinseln durchsetzten Seen war grandios. In der einbrechenden Dunkelheit konnte sie die romantisch im Wald versteckte Villa nur schemenhaft erkennen. Es war ein idyllisches Anwesen, dominiert von einer dreigeschossigen Fachwerkvilla mit schiefergedeckten Türmchen und Erkern und einem Park, so groß wie ein Fußballfeld. Uralte Bäume säumten die Zufahrt. Kein Namensschild oder irgendein anderer Hinweis verriet, wem diese herrschaftliche Villa gehörte. Sie war sehr lange nicht mehr am Wörthersee gewesen. Mit ihm verband sie viele Erinnerungen. Als Kind hatte ein Sommeraufenthalt am See zu den alljährlichen Pflichtveranstaltung ihrer Eltern gehört. Mal waren es Seminare, zu denen ihr Vater geladen worden war, mal Einladungen zu rauschenden Festen der hier etablierten High Society oder Besuche bei Verwandten in Klagenfurt, die sie bisher geführt hatten. Für Marie-Claire waren es meist sehr langweilige Tage gewesen. Wer in Osterreich was auf sich hielt, hatte hier am Wörthersee eine Villa. Die Reichen lockten die Massen an wie Speck die Mäuse. Die Zauberformel der Gegenwart hieß Event-Tourismus. Fernsehsendungen wie Das Schloss am Wörthersee kreierten einen lärmenden Bustourismus. Heerscharen von Gaffern und Hunderttausende Kaffeefahrtenbesucher eilten seither an die Ufer des Sees. In Pörtschach prägten längst grauenhafte Betonsilohotels, Souvenir- und Würstchenbuden die einst so romantische Uferpromenade. Die Grundstückspreise waren in astronomische Höhen geschnellt. Von einem ihrer Freunde wusste sie, dass eine der kaum mehr erhältlichen Lizenzen für ein Motorboot auf dem See jetzt rund siebzigtausend Euro im Jahr kostete. Es gab genug Leute, die willens und in der Lage waren, diese horrende Summe zu bezahlen.

Mit den seit einigen Jahren stattfindenden Beach-Volleyball-Weltmeisterschaften am Strandbad in Klagenfurt pilgerten nun allerdings auch jugendliche Partyjünger und Sportfreaks nach Kirnten. Die da einst dieses landschaftliche Juwel knapp vier Stunden südlich von Wien als Deluxe-Wochenend- und Sommerrefugium auserkoren hatten, stöhnten unter dem Szenen-Hype des Jungvolkes, das in der Diskothek »Fabrik« mit der Fête Blanche das Party-Highlight des Sommers feierte, während das selbst ernannte Establishment am See mit dem Weißen Fest auf der Moosburg eine dekadente Variante dagegensetzte. Der Dresscode war für alle gleich: Es musste ein weißes Outfit sein.

Die Massen standen an den Würstchenbuden Schlange, während Österreichs Crème de la Crème im Restaurant Leon auf Schloss Leonstain bei Pörtschach schlemmte. Oder in der Orangerie des Tophotels am See überhaupt: dem Fünf-Sterne-Relais & Chateau-Etablissement Seefels, wohin, wer Rang und Namen hatte, mit dem Boot zum Dinner fuhr. Gregor schien beides zu haben. Als sie mit seinem gut zehn Meter langen, mit Mahagonitäfelung und weißen Ledersesseln ausgestatteten Motorboot vom West- zum Ostufer schipperten und am Seefels anlegten, erwartete sie ein smarter Hotelangestellter bereits mit einem »Grüß Gott, gnädige Frau schön, Sie wieder einmal zu sehen, Herr von Freysing«. Weil das Seerestaurant Porto Bello nur im Sommer geöffnet war, führte der weiß livrierte Angestellte sie an den im Restaurant bereits reservierten Tisch mit Blick auf den See. Sie hatten kaum Platz genommen, als der Küchenchef, ein etwa fünfunddreißigjähriger Mann mit Brille und relativ langen, mittelblonden Haaren, herbeieilte. Er begrüßte Gregor sehr vertraulich, machte Marie-Claire eine widerwärtig schleimig wirkende Aufwartung und schlug ein Menü vor, bei dem sie begriff, dass sie schon seit zwei Tagen nicht mehr richtig gegessen und daher einen unvorstellbaren Hunger hatte.

»Der Jahreszeit entsprechend, verehrte gnädige Frau «, parlierte der Küchenchef wie auswendig gelernt, »würde ich Ihnen als Entrée den Yellow-fin-Tunfisch mit Wasabi-Panna-Cotta oder den Kefir-Limonen-Cappuccino mit Seeteufel und schwarzem Sesam empfehlen. Als Spezialität des Wörthersees kann ich Ihnen danach nur zu der Lasagne vom Bachsaibling mit Blattspinat, Forellenkaviar und Karottenschaum raten. Der lauwarme Hummer mit Eierschwammerln und Junglauch wird diese Vorspeisen exzellent abrunden und sich fraglos mit einem Rohmilchbrie mit Nussbrot, Apfelspalten und Rucola hervorragend kombinieren lassen.«

Marie-Claire war plötzlich bedrückt. Das hier war nicht ihre Welt! Gregor dagegen fühlte sich sichtlich wohl. Es saßen nur wenige Gäste in dem von orangefarbenen Stühlen und Vorhängen dominierten Restaurant. Was dieses empfohlene Menü kosten würde, konnte sie nur erahnen. Über Preise sprachen aber weder der Küchenchef noch Gregor, der einen trockenen 82er Riesling aus dem Rheingau zum Essen bestellte und nicht auf die Idee zu kommen schien, dass sie vielleicht lieber einen Rosé getrunken hätte. Unauffällig schaute Marie-Claire sich um. Die drei alten Damen zwei Tische weiter waren teuer-elegant gekleidet. Die eine trug Schmuck, den sie mit einem Blick als Cartier-Kollektion erkannte. Zwei weitere Frauen saßen in der Nische am Fenster und schienen soeben von einer Modenschau in Mailand zurückgekehrt zu sein.

Gregor trug eine elegante Kombination aus blauem Blazer und hellgrauer Hose. Verlegen räusperte sie sich. Sie selbst hatte nur Jeans und einen eher sportlichen, schwarzen Rollkragenpullover an und kam sich sehr deplatziert vor. Sie fühlte sich hier wie auf dem Präsentierteller, denn sie spürte die Blicke der anderen Gäste und war sich sicher, dass man sie für eine Geliebte, eine attraktive, aber keinesfalls standesgemäße Wochenendgespielin von Gregor hielt.

Gregor schien das zu bemerken, doch er wirkte seltsam steif. Schon während der Fahrt hatte er sich sehr schweigsam gegeben. Er war wortkarg, aber wie immer sehr höflich.

»Wenn du möchtest, können wir uns auch ein Dinner zusammenstellen und drüben in der Bar servieren lassen. Da ist es gemütlicher.«

Das stellte sich als sehr gute Idee heraus, und es sah so aus, als habe Gregor mit diesem Vorschlag den Abend gerettet. In der großen, aber kaum besuchten Bar nahmen sie in einem sehr anheimelnden Erker Platz. Die beiden Couchen waren sehr bequem, das Interieur geschmackvoll, und die Atmosphäre war plötzlich wie ausgewechselt. Sie fühlte sich befreit und lächelte. Gregor schien auf diesen Moment gewartet zu haben.

»Du bist keine Fotografin und arbeitest auch nicht an einem Bildband über deutsche Ritterorden, richtig?«

Marie-Claire errötete. Es blieb ihr keine Zeit, über ihre Antwort nachzudenken. Gregor schaute sie sehr freundlich, aber auch fordernd an. Sie wusste, dass es wenig Sinn haben würde, zu lügen. Daher entschied sie, den direkten und ehrlichen Weg zu gehen.

»Nein, bin ich nicht«, gab sie zu. »Ich arbeite für das Auktionshaus Christies. Ich bin Expertin für historischen Schmuck und war auf Recherche. Da habe ich dich dann gesehen. Ich fand dich sehr attraktiv. Du hast mich interessiert! Deswegen habe ich dir diese Geschichte erzählt. Ich hatte nicht genug Selbstvertrauen, das gleich zuzugeben. Welche Frau sagt so etwas schon.«

Sie hatte sehr spontan geantwortet. Dennoch war es nur die halbe Wahrheit. Doch Gregor war mit dieser Antwort zufrieden.

»Schön, dass du ehrlich bist. Ja, doch, das ist sehr schön. Das ist eine gute Basis!«

Er sprach sehr leise, ruhig besänftigend. Die bisher eher steife Konversation zwischen ihnen lockerte sich auf. Das Knistern des Kaminfeuers, die dezente Musik, das warme Licht, das exzellente Essen, der Wein und Gregors Lachen ließen sie alles um sie herum vergessen. Die Ereignisse der vergangenen Tage und Nächte fielen von ihr ab, die Flut der Gedanken und marternden Verdachtsmomente waren wie weggewischt. Eine seit vielen Jahren nicht mehr erlebte Leichtigkeit überkam sie. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sie bereit war, ihm zu vertrauen. Marie-Claire, sagte sie zu sich selbst, warum musst du dein Leben immer so kompliziert gestalten? Warum musst du hinter den schönen Dingen des Lebens stets noch etwas anderes vermuten? Warum nimmst du nicht, was ist, was sich anbietet warum lebst du nicht unbeschwerter? Er ist ein sehr interessanter Mann! Warum machst du es nicht wie deine Freundin Chrissie, deren Wahlspruch »Take it easy but take it« ihr zwar manchen Ärger, aber auch unendlich viele schöne Erlebnisse eingetragen hatte?

»Du bist geschieden und hast Kinder?« Die Frage war provokativ, denn sie hatte mittlerweile in Erfahrung gebracht, dass es den moralischen Vorstellungen und wahrscheinlich auch den Statuten des Ordens vom Goldenen Vlies entsprechend undenkbar war, dass ein Vlies-Ritter nochmals heiraten konnte und durfte. Marie-Claire wunderte sich, wie ehrlich er war.

»Ja, ich bin geschieden. Ich habe drei Kinder. Sie leben bei der Mutter. Und ich würde dir gerne sehr gerne mehr Vertrauen entgegenbringen können! Doch seit wir uns kennen, stellst du sonderbare Fragen. Und du hast mich mehrmals belogen! Kleine Lügen mögen es gewesen sein, vielleicht, aber ich finde es sehr bedauernswert. Eigentlich bin ich traurig darüber. Ich würde dir lieber mehr von mir erzählen – und zuhören, wie du von dir erzählst! Mein Leben ist kompliziert. Es ist bestimmt von sehr viel Rücksichtnahme, von gesellschaftlichen Verpflichtungen, beruflichen Vorgaben, familiären Zwängen und einem anerzogenen Misstrauen fremden Menschen gegenüber.«

»Aber du belügst mich auch, und ich kann auch dir nicht trauen. Du weißt also, dass ich für Christies arbeite. Du sagst mir aber nicht, dass du vor geraumer Zeit bei Christies vorgesprochen und dich für den Florentiner-Diamanten interessiert hast. Wie soll ich da Vertrauen haben?«, unterbrach Marie-Claire ihn. Sie sah in seinen Augen, dass er mit dieser Direktheit nicht gerechnet hatte. Doch Gregor überlegte nicht lange.

»Ich bin von Freunden des Hauses Habsburg beauftragt worden, den Verbleib diverser Kunstgegenstände und Preziosen aus dem Familienbesitz zu klären und, wenn möglich, diese mit den Geldern von honorigen Mäzenen zurückzukaufen. Die österreichische Republik hat damals einen Großteil des Vermögens des Hauses Habsburg konfisziert. Nicht nur den Familienbesitz, sondern auch das ganze private Vermögen des Exkaisers, das sich in Österreich befand. Und zwar mit der Begründung, dass zuerst der Familienschmuck aus der Schatzkammer, der bekanntlich im Auftrage des Kaisers in die Schweiz geschafft wurde, zurückgebracht werden müsse. Das konnte Kaiser Karl damals nicht. Viele Schmuckstücke waren in der Schweiz verkauft oder beliehen worden. Entsprechend mittellos waren der Exkaiser und sein Gefolge plötzlich. Auch später konnte die strittige Frage, was denn nun in der Schatzkammer Privatschmuck und was Staatsschmuck gewesen sei, nie endgültig geklärt werden. Fest steht nur: Würden all die damals aus der Wiener Schatzkammer in die Schweiz verbrachten Schmuckstücke und dazu gehörte bekanntlich auch der Florentiner-Diamant wieder zurück nach Wien kommen und an die österreichische Regierung übergeben werden, müssten die Enteignungen von damals überdacht werden. Und das versuchen gewisse Leute nun nach fast achtzig Jahren. Ich bin beauftragt, diese Schmuckstücke zu suchen, also auch den Florentiner. Das ist alles. Es ist kein großes Geheimnis. Es bedarf nur einer gewissen Diskretion, die zu wahren ich mich verpflichtet habe!«

Marie-Claire merkte, wie ihr Herz pochte. Es pochte, weil sie jetzt endlich den Grund für Gregors Interesse an dem Florentiner kannte. Der Florentiner! Deshalb also war Gregor in London gewesen war. Er wollte den Diamanten zurückkaufen. Wenn das stimmte, hatte er damals in London in der Zentrale die Wahrheit gesagt. Ungewöhnlich war ein solches Anliegen auf dem Kunstmarkt nicht. Francis Roundell würde wahrscheinlich jubeln, wenn sie ihm das mitteilen würde. Er würde sich sicherlich in seiner Einschätzung bestätigt sehen. Wie hatte er damals gesagt? »Es ist immer gut, wenn man weiß, dass es auf einer Auktion mehrere Interessenten gibt.«

Plötzlich gefiel ihr die Vorstellung, den heutigen Abend mit Gregor hier am Wörthersee zu verbringen. Eigentlich stand jetzt kein Geheimnis mehr zwischen ihm und ihr. Jeder wusste, was der andere wollte. Jedenfalls was den Florentiner betraf. Ihr Herz schlug schneller, auch weil sie wusste, dass er ihr Vertrauen gewinnen wollte. Seine Stimme klang sehr erotisch, als er sie aus ihren Gedanken riss.

»Dieses permanente Misstrauen zwischen uns würde ich heute Abend sehr gern über Bord werfen. Und zwar ohne weiter darüber zu reden.«

»Ich auch«, flüsterte Marie-Claire de Vries aufgeregt. Sie freute sich auf diesen Abend. Und mehr noch auf die Nacht.

 

Noch immer lag Nebel über dem Wörthersee. Irgendwo in der dichten Wolkendecke, die sich an den Hügeln um den See herum wie Watte auf die Wälder legte, lugte die Morgensonne hervor, wich dann aber wieder neuen Regenwolken. Marie-Claire lag auf dem Rücken, ohne sich zu bewegen. Seit Stunden lag sie schon so in seinem Bett im zweiten Stock der Villa über Mariawörth und starrte an die Zimmerdecke. Sehnsüchtig wartete sie auf das erste Tageslicht, wartete auf eine Bewegung von ihm, um so schnell wie möglich aus diesem Bett verschwinden zu können. Aber sein Atem war noch immer gleichmäßig. Er schließ tief und fest. Ihn schienen die Geschehnisse der Nacht überhaupt nicht tangiert zu haben. Vorsichtig richtete sie sich auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Kopfteil des Betts. Sie wollte zu ihm hinüberschauen, spürte aber einen inneren Widerstand, ihn schlafend neben sich zu sehen. Seine Nähe hatte nichts Beruhigendes, sie empfand es nunmehr als unangenehm, dass er nur eine Hand breit neben ihr lag.

Erst jetzt sah sie, welch einen fantastischen Blick man von der Villa über den See hinüber zu den Wäldern und auf die kleine Insel mit dem gelblichen Schloss zur Rechten hatte. In der Nacht waren es nur die vereinzelten Lichter auf der anderen Seeseite gewesen, die sie hatten erahnen lassen, welch grandiosen Blick man von hier oben haben würde. Doch ihr stand der Sinn nicht nach euphorischen Gedanken. Zu sehr war sie mit den zurückliegenden Stunden beschäftigt. Was da geschehen war, konnte sie sich nicht so recht erklären. Anfänglich hatte sie geglaubt, der permanente Stress und der wenige Schlaf der letzten Wochen seien der Grund, dass sich ihr Körper verweigert hatte, mit ihm zu schlafen. Doch mit dem ersten Tageslicht wusste sie, warum es zu dieser eher peinlichen Situation gekommen war. Es war sehr romantisch und kurzweilig gewesen mit ihm in der Bar des Hotels. Sie hatten geplaudert, gelacht, geflirtet, waren fast ehrlich zueinander gewesen und hatten auf den Barkeeper sicherlich wie Verliebte gewirkt. Dennoch. Sie hatten eben nur so gewirkt. Immer wieder waren die Momente der Unbeschwertheit von nachdenklichen Gedanken zerstört worden, die ihr ihren Selbstbetrug vor Augen führten. Trotzdem war sie mit ihm nach der sehr romantischen Fahrt mit dem Motorboot um den See herum in sein Schlafzimmer gegangen, statt sich in den Gästetrakt zurückzuziehen. Er hatte sie nicht gedrängt, ganz im Gegenteil, eigentlich hatte er ihr keine Avancen gemacht. Nein, sie hatte es gewollt. Vielleicht, weil sie beschwipst war. Oder weil die Ruhe des Hauses inmitten des Waldes, das flackernde Kaminfeuer in seinem Salon und die beruhigende Musik von Brahms sie in einen tranceähnlichen Zustand versetzt hatten. Vielleicht! Oder weil sie sich seit langer Zeit nach Zärtlichkeit, nach Nähe und Vertrauen sehnte. Er zog sie körperlich an. Sein Selbstbewusstsein und sein Charme gefielen ihr, sie war beeindruckt von seiner Bildung. Im Lauf des Abends war eine Vertrautheit entstanden, von der sie geglaubt hatte, es sei tiefe Sympathie eine sehr schöne Basis für eine gemeinsame Nacht. Wie sehr hatte sie sich getäuscht. Ihr Körper hatte sie schnell in die Schranken verwiesen, wahrscheinlich, weil sie ihm letztendlich doch misstraute. Er war nicht wirklich offen, es gab Widersprüche. Während sie ihm erzählt hatte, worin ihre Aufgaben bei Christies bestand, ihm ehrlich sagte, dass sie die Historie des Florentiners recherchierte, hatte er sich über seine Familie, seine Rolle im Orden der Ritter vom Goldenen Vlies mit eher kryptischen Andeutungen um eine klare Aussage herumgedrückt. Der Terminus »Diskretion« wurde in diesem Zusammenhang von ihm überstrapaziert. Dabei hatte doch er selbst für uneingeschränktes Vertrauen plädiert! Ihr Verstand entschied nach kurzem Zwiespalt, mit Gregor ins Bett zu gehen. Sie wollte einen männlichen Körper spüren und lechzte nach Berührung und Lust.

Schon nach wenigen Minuten hatte sie gewusst, dass sie zwar nach all dem verlangte, sich danach sehnte, aber nicht mit ihm! Während er ihr behutsam den Pullover über den Kopf gestreift hatte, war ihr Blick über seine entblößte Brust gehuscht und hatte nach einem Anhänger, nach einer Kette gesucht. Nicht dem männlichen Körper, nicht seinem Körper galt ihr Interesse. Nein, sie wollte wissen, ob er unter seinem T-Shirt ein Kettchen mit dem Anhänger der Ritter vom Goldenen Vlies trug. Ihre Freundin Christiane hatte ihr vor zwei Tagen per E-Mail einige Informationen über die Vlies-Ritter geschickt. Darin stand unter anderem, dass jeder Vlies-Ritter verpflichtet war, neben den prachtvollen, nur für besondere Festlichkeiten gedachten Gold-Collanen auch immer einen kleinen Orden zu tragen. Am Revers oder unter dem Hemd. Nach diesem Zeichen hatte sie heimlich Ausschau gehalten, als er erst sich und dann sie auszog. Und selbst als er schon mit seinen Lippen über ihren Halsansatz hin zum Nacken und zu ihrem Busen geglitten war, war sie in Gedanken bei diesem Anhänger! Er trug keinen! Wieso nicht? Wieso tat er so, als gehöre er zum Orden der Ritter vom Goldenen Vlies? Wieso gab er sich zärtlich, liebevoll und log sie dennoch an? Als sie schließlich seinen Mund auf ihrem Busen und Bauch gefühlt hatte, spürte sie, dass es nicht ging. Nein, ihr Körper verweigerte dem Verstand den Gehorsam. Ihre Ratio signalisierte tief in ihr »Tu es, du willst es, du liebst es«, aber ihr Körper sprach eine andere Sprache. Er war erstarrt, in Abwehrhaltung. Ihr Körper wollte sich nicht von ihm liebkosen lassen.

 

»Guten Morgen.«

Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sanft legte er seine Hand auf ihre Schulter. Die Gänsehaut, die ihr über den nackten Rücken kroch, bestätigte, dass es heute Nacht richtig gewesen war, sich zu verweigern. Sie war froh, dass sie ihren nackten Busen mit dem Satintuch bedeckt hatte.

»Guten Morgen«, versuchte sie sanftmütig zu klingen. »Tut mir Leid, was heute Nacht passiert ist. Ich kann einfach nicht abschalten! Seit Wochen laufen mein Kopf und auch mein Körper auf Hochtouren. Rien ne vas plus! Ich bin urlaubsreif. Oder ich brauche einen Psychiater!«

»Ist doch kein Problem«, entgegnete er ruhig. »Ich kenne das. Sehr gut sogar «

Sie hörte den Unterton, die Enttäuschung in seinen Worten. Oder war es Misstrauen? Seine Hand lag noch immer auf ihrem Rücken. Sie hoffte, dass er sie nicht streicheln würde. Trotzdem strengte sie sich an, nett zu sein. In Wirklichkeit hatte sie nur einen einzigen Gedanken: raus aus diesem Bett!

»Ich habe ein riesiges Verlangen nach einer Tasse Kaffee und nach einem schönen, gemütlichen Frühstück«, belog sie ihn und auch sich und räkelte sich vermeintlich wohlig als Zeichen dafür, aufstehen zu wollen. Er deutete ihre Körpersprache richtig.

»Ich habe gestern Abend gesehen, dass kein Kaffee im Haus ist, aber das ist kein Problem. Ich fahre schnell nach Velden, da ist ein Café, das schon morgens geöffnet hat. Dauert aber sicherlich eine halbe Stunde, bis ich zurück bin. Wo das Bad ist, weißt du ja.«

 

Eine Viertelstunde später wusste Marie-Claire, warum sie sich heute Nacht, nur Bruchteile von Sekunden vor seinem Versuch, mit ihr zu schlafen, anders entschieden hatte. Ja, ihre Intuition hatte sie wieder einmal vor einer falschen Entscheidung bewahrt!

Nach einer schnellen Dusche war sie vom Gästetrakt wieder zurück in den Salon gegangen, hatte sich erst im Kaminzimmer und dann in der angegliederten Bibliothek umgeschaut. Das Haus selbst war riesig und wirkte kalt und unpersönlich. Es hatte keinerlei Charme. Die Bibliothek war so groß wie ihre gesamte Wohnung in Wien. Prächtige Schweinslederbände standen in einer Vitrine. Ein Hondius-Atlas aus dem 17. Jahrhundert lag daneben. Die vielen, teils mehrere hundert Jahre alten katholischen Lexika in der Vitrine zogen sie an. Dann fiel ihr Blick auf den Schreibtisch. Sie wollte nicht wirklich in seinen Unterlagen stöbern. Sie konnte jedoch nicht widerstehen, als sie in einer Ablage neben der Couch ein Manuskript mit einem wunderschönen Wappen sah, dessen heraldische Details sie weder kannte noch zu deuten wusste. Hastig blätterte sie in dem Manuskript, das offensichtlich die Vorlage einer Rede war, die er gehalten hatte oder noch zu halten gedachte. Es war eine Laudatio für eine Organisation, deren Namen sie noch nie gehört hatte, die aber allem Anschein nach in London ansässig war und zu der er sich laut Titel Seis Panier in Treue ergeben fühlte. Verwundert las sie die ersten Seiten quer. Die Diktion ließ sie aufmerken. Da war die Rede von Geschwüren am Leib der Kirche und von London als einer so wenig katholischen, hedonistischen Stadt. Irritiert blätterte sie weiter, überflog insbesondere die mit Farbstift markierten Passagen: » denken wir nur an diesen Kult des Hässlichen, Bösen, Abstoßenden, der heute in so vielen Subkulturen gepflegt wird bis hin zu so genannten Kunstwerken, wo man versucht, uns Sudeleien aus Körpersäften und Fäkalien als Malerei zu verkaufen setzen wir dem Gott entgegen! Gott, den Schöpfer des Guten, des Wahren und des Schönen!« Verwirrt schaute sie nochmals auf das Deckblatt. Ja, das hatte offensichtlich Gregor geschrieben unglaublich! Ihre Augen blieben an Schlagwörtern hängen, die sie bislang noch nie gelesen hatte: »Realpräsenz Jesu Christi in den gewandelten Gestalten des Altarsakraments der allein selig machende Charakter der katholischen Kirche.« Was sollte das heißen? Sie schüttelte den Kopf. Weiter stand da: » es wäre scheinheilig, sich katholisch zu nennen und nicht gleichzeitig gegen die höllischen Pervertierungen zu kämpfen und uns vor dem fanatischen Liberalismus zu hüten «

Marie-Claire konnte nicht glauben, dass diese Termini aus dem Mund jenes Mannes stammten, der heute Nacht neben ihr im Bett gelegen hatte. War das Gregor? War das sein zweites, sein wirkliches Ich? War er das, was sich in diesem Text »milites christiani« christliche Soldaten nannte? Was wollte er, was wollten diese Leute, für die er diese Rede hielt? Sie las die markierte Zeile nochmals: »Die Demokratie hat wieder gesiegt! Nein, lautet unsere Antwort!«

Marie-Claire zuckte zusammen. Sie hatte ein Geräusch gehört. Kam Gregor bereits zurück? Nein, sie hatte sich getäuscht. Mit zitternden Händen blätterte sie vor, zurück, vor, schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Diese Rede war der verbale Rundumschlag eines ultrakonservativen, in gewisser Hinsicht sogar antidemokratischen Menschen! Kein Zweifel: Hier schrieb ein christlicher Fanatiker. Und ein Neo-Monarchist!

»Nicht zu fassen, so ein abstruses Zeug«, murmelte sie vor sich hin. Schließlich fand sie eine Passage, aus der sie glaubte entnehmen zu können, um was es bei diesem Vortrag eigentlich ging: »Der Staat, in dem sich diese Idee verkörpert, ist die alte habsburgische Doppelmonarchie Und wie das Reich Gottes sein himmlisches Jerusalem hat, hat das Heilige Römische Reich sein irdisches Jerusalem. Das ist Wien die dortige Karlskirche ist der neue Tempel Salomons und Wien das kaiserliche Jerusalem die Idee einer europäischen Eidgenossenschaft Österreich als deren Zentrum denn Österreich ist zum irdischen Exil des in Transzendenz entrückten, verklärten Reichs geworden.«

»Er ist verrückt!«, presste Marie-Claire entsetzt hervor. Das war das extremistisch-monarchistische Gedankengut eines Ewiggestrigen, absurde Fantasien von einer »Österreich-Idee«, von einem Orbis Europaeus Christianus. Marie-Claire konnte ihre Blicke nicht von dem Manuskript wenden. Sie war völlig außer sich. Gregor und mit ihm diese Leute waren irre Fanatiker! Was waren das für Menschen, die solch wahnwitzige Ideen hatten? Ihr wurde schlecht. Plötzlich erinnerte sie sich seines seltsamen Gesichtsausdruckes, als sie am vorherigen Abend gemeint hatte, dass sie ihre Position als Frau in einer Beziehung nicht als Kinder hütende Mutter, sondern als berufstätige, gleichberechtigte Partnerin definiere. Er hatte recht verdutzt dreingeschaut, aber nichts gesagt. Jetzt wusste sie, warum. Jetzt ahnte sie, wer Gregor Friedrich Albert von Freysing wirklich war, was sich hinter seiner Fassade aus Reichtum, Charme und Koketterie wirklich verbarg. Er war ein Machtmensch! Er war wie ihr Vater: machtbesessen, skrupellos und gefühlskalt. Ihr Vater konnte ebenfalls wie ein galanter, feinfühliger, weltoffener und liberaler Mensch wirken. Doch das tat er nur, wenn er es wollte und wenn es ihm etwas nutzte. Gänsehaut lief ihr über den Rücken und breitete sich über ihren ganzen Körper aus. Noch vor wenigen Stunden hatte dieser Mann sie ausgezogen, hatte ihren Körper berührt, sie liebkost. Beinahe hätte sie mit ihm geschlafen! Er hatte sie vorgeführt wie ein kleines Mädchen! Er hatte mit ihr gespielt und ihr in kürzester Zeit entlockt, worin ihre wahre Aufgabe bei Christies bestand. »Verfluchter Scheißkerl!«, artikulierte sie ihre tiefe Enttäuschung und Wut.

Heftig atmend legte sie das Manuskript zur Seite. Sie wollte nur noch weg, weg vom Wörthersee, weg von Gregor. Nein, sie brauchte nicht weiterzulesen. Oder doch? Schnell las sie die letzten drei Seiten der Rede nach auffälligen Passagen durch. Sie fand, was sie hoffte zu finden! »Burgund« stand dort in großen Lettern, gedacht als Stichwort für das Resümee der Rede.

»Nein …!«, entfuhr es ihr so laut, dass sie ängstlich aufschaute, ob sie wirklich noch alleine in der Bibliothek sei. Dann las sie flüsternd vor sich hin, was Gregor geschrieben hatte: » Damit ist ein wichtiges Stichwort gefallen: Burgund! Aus Burgund kommt der Orden vom Goldenen Vlies. Seit einigen Jahren ist die Funktion des obersten Bandinhabers unserer ehrenwerten Bruderschaft untrennbar mit der des Führers und Souveräns des Ordens vom Goldenen Vlies verbunden! Die Idee, die dem Orden zugrunde liegt, war die Schaffung einer internationalen Ritterschaft, die dem Ideal des Chevalier sans peur et sans reproche des Ritters ohne Furcht und Tadel entspricht Feuerstrahl und Feuerstein versinnbildlichen den Wahlspruch des Ordens: Ante ferii quam flamma micet man muss ihn schlagen, ehe die Flamme lodert! Welch edles Bild des Rittertums! Lassen wir unser Feuer lodern! In diesem Sinne sage ich mit den Worten Karls des Kühnen: Je lai empris ich habe es gewagt!«

 

Entsetzt starrte Marie-Claire aus dem Fenster. Sie hatte das Gefühl, in eine irreale Welt entführt worden zu sein. Das konnte nicht wahr sein! Er war verrückt, machtgierig, ein Fantast ein Mann mit gefährlichen Ideen! Wie konnte ein halbwegs gebildeter Mensch solche konfusen und antidemokratischen Gedanken haben? Die Vorstellung, dass es in dieser dubiosen Vereinigung viele Männer gab, die in einflussreichen Positionen in Österreich und ganz Europa saßen, ließ sie erschaudern. War das eine Geheimloge? Drehten diese Männer an den Schrauben der Macht heimlich, aber beharrlich? Waren die Intentionen der Ritter vom Goldenen Vlies identisch mit den Zielen dieser Bruderschaft? Oder suchten hier Männer nur die Nähe zu einem mächtigen Orden? In diesem Pamphlet stand ganz eindeutig, dass die Funktion des obersten Bandinhabers dieser katholischen Bruderschaft untrennbar mit der des Führers, des Souveräns des Ordens vom Golden Vlies verbunden war! War Gregor der oberste Bandinhaber? Was bedeutete diese Verbundenheit in der Praxis? Plötzlich erinnerte sie sich, was sie bei ihrem Besuch in der Schatzkammer in Wien im Saum der Ordensornate der Ritter vom Goldenen Vlies eingenäht gelesen hatte: »Je lai empriss.«

 

Ja, das war es! Was Karl der Kühne einst gewagt hatte, das wollte Gregor, das wollten diese Männer, für die er diese Rede geschrieben hatte, auch. Diese Männer identifizierten sich mit den Rittern vom Goldenen Vlies. Was aber, schoss es ihr durch den Kopf, wollten sie wagen? Warum interessierte sich Gregor, warum interessierten sich die Leute dieser Bruderschaft oder gar die Vlies-Ritter für den Florentiner-Diamanten?

 

»Hallo, Marie-Claire!«

Gregor war eingetreten. Sie hatte seinen Wagen nicht vorfahren hören. Er musste ihn außerhalb des Grundstücks geparkt haben und die Holztreppe lautlos heraufgeschlichen sein. Wie lange war er schon im Haus? Hatte er sie absichtlich bis zum Ende lesen lassen? Was würde er jetzt tun? War er gefährlich? Hatte sie ein streng gehütetes Geheimnis, eine Geheimloge enttarnt? War das hier eine politische Verschwörung? Auf einmal hatte sie Angst.

Gregor wirkte sehr gelassen, aber jede Wärme und Güte, die sie gestern Abend noch zu erkennen geglaubt hatte, war aus seinen Augen gewichen. Er ballte die Fäuste. So wie er jetzt da stand, war erschreckend deutlich zu sehen, dass er die Ideen, die er in seiner Rede vertrat, tatsächlich in sich trug. Seine Worte waren wie Dolchstöße.

»Schnüffelst du immer in anderer Leute Unterlagen herum? Schade, wirklich schade! Für kurze Zeit hatte ich tatsächlich geglaubt, du hättest ein persönliches Interesse an mir. Ja, das dachte ich Idiot wirklich! Aber dann merkte ich, dass du eine verkorkste Feministin bist, die hinter meinem Geld her ist. Und du hast nur deinen Job im Kopf, suchst diesen Florentiner aus welchen Gründen auch immer! Bedauerlich ist eigentlich nur, dass ich dich heute Nacht nicht vernaschen konnte! Du kennst ja jetzt meinen Wahlspruch: Je lai empris! Na ja, einen Versuch war es allemal wert. Aber jetzt ist es wohl besser, wenn du mein Haus verlässt. Und zwar sofort! Ich rufe dir ein Taxi zum Bahnhof.«

Als sie zum Gästetrakt gehen wollte, hielt er sie zurück.

»Noch eins: Du solltest dir sehr genau überlegen, wem du etwas über mich und meine Freunde erzählst.«

13. Kapitel

A

bdel Rahman war verärgert. Sein Gepäck war verschwunden. Die Formalitäten am Lost & Found-Schalter in der Ankunftshalle des Flughafens Wien-Schwechat hatten sich über fast eine Stunde hingezogen. Nur mit seinem Handgepäck, einem kleinen Aktenkoffer, und einem Einkaufsgutschein der Austrian Airline über zweihundert Euro in der Hand stand er nun vor dem Flughafen und fror. Wenn er die Stewardess richtig verstanden hatte, würde der nächste Flieger aus Marokko erst in zwei Tagen eintreffen. Dann würde der vermutlich in Casablanca verloren gegangene Koffer in sein Hotel in Wien nachgeliefert werden. Das Problem war nur, dass er nicht genau wusste, ob er dann noch in Wien sein würde.

»Merde, Merde!«, fluchte er laut. So etwas war ihm noch nie passiert. Der Blick der Bodenstewardess hatte ihm wieder einmal bestätigt, wie hilflos ein Mensch in Europa war, wenn er keine Kreditkarte besaß. Man sah, dass sie ihm nicht so recht glauben wollte, dass er seine Kreditkarten versehentlich in den Koffer gesteckt hatte. Wer packt seine Kreditkarten schon in den Koffer! Auch er würde in einem solchen Fall stutzig werden. Glücklicherweise hatte er in seinem Handgepäck sowohl eine Kopie seines Passes als auch der Kreditkarte auf den Namen Abdel Rahman. Das hatte seine Haut gerettet.

Die ganze Sache war ihm mehr als peinlich, zumal er sehr wohl eine Kreditkarte besaß, sie aber nicht benutzen konnte. Mit Schrecken war ihm am Schalter in allerletzter Minute aufgefallen, dass er versehentlich die falsche Kreditkarte, jene mit seinem syrischen Aliasnamen, eingesteckt hatte. Die Situation beunruhigte ihn. Er hatte kaum Geld in der Tasche. Einen warmen Pullover und ein T-Shirt konnte er sich damit kaufen, mehr nicht. Wie sollte er aber das Hotel bezahlen?

Noch immer wütend, stellte er den Kragen seines Jacketts hoch. Der kalte Abendwind ließ ihn frieren. Als er losgeflogen war, hatte das Thermometer in Marrakesch am Flughafen noch zwanzig Grad angezeigt. Hier waren es kaum mehr als fünf Grad. Missmutig zog er sein Handy aus der Tasche und wartete, bis er Empfang hatte. Die Vorwahl 0044 war ständig besetzt. Schließlich gelang es ihm nach zehn Minuten, jene Nummer in London zu wählen, die er auswendig kannte. Er war sehr erleichtert, als sein Kontakt sich sofort meldete.

»Its me! Ich stecke in einer blöden Situation. Ich bin in Wien am Flughafen, mein Koffer ist weg. Ich brauche dringend Geld«, erklärte er dem Mann am anderen Ende seine missliche Situation und bat ihn, dringend das auf den Namen Abdel Rahman im Hotel Imperial in Wien gebuchte Zimmer per Kreditkarte im Voraus zu zahlen. Der Mann in England tobte. Seine Stimme überschlug sich fast, als er seinen Gesprächspartner am Wiener Flughafen einen Dilettanten schimpfte. Abdul Rahman gab ihm insgeheim Recht, doch das Problem musste gelöst werden, und zwar schnell. Seine Finger waren klamm. Er fror erbärmlich. Wieder wählte er eine Nummer, diesmal mit der Vorwahl 0021244. Eine arabische Stimme meldete sich. Wieder erklärte er seine peinliche Situation. Erschrocken stellte er fest, wie schwer es war, eine solche Lage und seine Bitte um Übersendung seiner Kreditkarte auf den richtigen Namen durchs Telefon hindurch zu erklären und sich dabei an die Vorsichtsmaßnahmen zu halten. Das war wirklich schwer! Aber er musste immer davon ausgehen, dass sein Handy oder der Anschluss in Marrakesch von der Polizei oder von Nachrichtendiensten abgehört wurde. Nach welchen Kriterien die unzähligen Spionage-Satelliten der westlichen Geheimdienste programmiert waren, wusste kein Mensch. Er war zwar ziemlich sicher, dass sie noch unentdeckt waren, aber es galt, vorsichtig zu sein. Die Operation war jetzt in einer sehr kritischen Phase. Was sollte er machen? Zurückfliegen ging nicht. Also musste er an seine Kreditkarte herankommen, an jene mit dem richtigen Namen, also jenem Namen, der jetzt in seinem Pass stand und auf den er eine Aufenthaltserlaubnis im Pass eingetragen hatte.

Zehn Minuten dauerte das Telefonat. Dann war er sich sicher, dass Faisal wusste, was er zu tun hatte, damit seine Kreditkarte schnellstmöglich per Kurierdienst nach Wien gelangen würde. Völlig durchgefroren steckte er sein Handy ein und ging in Gedanken versunken in der Dunkelheit zu dem gegenüberliegenden Taxistand. Plötzlich hörte er Autoreifen quietschen. Der dunkle Wagen, ein Van, stand nur wenige Zentimeter von ihm entfernt auf dem Zebrastreifen. Eine Frau saß hinter dem Steuer. Sie hupte wie wild, zeigte ihm zornig einen Vogel. Im Wagen saßen noch ein Mann und drei Kinder. Er konnte sie nur schemenhaft erkennen. Völlig verstört signalisierte er durch eine Handbewegung, dass es ihm Leid täte. Dann ging er auf ein Taxi zu, stieg im Fond ein und wies den Taxifahrer an, zum Hotel Imperial zu fahren.

»Bokra Insch Allah«, murmelte er genervt und war sehr erstaunt, dass der Fahrer ihm in perfektem Arabisch mit türkischen Akzent antwortete: »Hier in Wien hilft dir Allah nicht sehr. Ist besser, mein Freund, wenn du dir im Klaren darüber bist, dass Ausländer und vor allem Moslems in diesem Land nicht bei allen Menschen sonderlich beliebt sind.«

Demonstrativ deutete der Fahrer an der Auffahrt zur Autobahn in Höhe der Tankstelle auf ein zerfranstes Werbeplakat. Abdel Rahman blickte aus dem Fenster. Ein Mann mit auffallend blauen Augen blickte von dem Plakat herab, auf dem in großen Lettern geschrieben stand: »Deutsch statt Nix verstehen«. Hundert Meter weiter war der gleiche Mann vor dem Hintergrund eines historischen Gemäldes, das einen martialisch dreinblickenden Mann auf dem Pferd zeigte, zu sehen.

»Worum geht es auf diesem Plakat?«, fragte Abdel Rahman den Fahrer.

»Die sind von der letzten Wahl hier hängen geblieben«, erklärte dieser. »Der Mann auf dem Pferd ist Prinz Eugen. Der hat vor ein paar hundert Jahren die Türken besiegt und vertrieben. Und das will dieser Politiker da mit den blauen Augen wohl auch.«

Abdel Rahman fühlte sich zwar irgendwie belästigt von dem redseligen Türken, und als »Freund« mochte er auch nicht bezeichnet werden. Dann aber dachte er sich, dass es vielleicht für seinen Aufenthalt in Wien hilfreich sein könnte, einen ortskundigen und Arabisch sprechenden Menschen, zudem noch einen Taxifahrer zu kennen. In der misslichen Situation, in der er sich ohne Kreditkarte und mit nur wenig Bargeld befand, waren solidarische Helfer sicher von Nutzen. Widerwillig signalisierte er seine Kommunikationsbereitschaft.

»Du bist Türke?«

»Ja, mein Freund, ich bin Türke Kurde! Schon seit zehn Jahren hier. Aber ich weiß nicht, ob ich hier bleiben will. Ist eine schöne Stadt. Aber die Menschen viele mögen keine Ausländer. Der da mit den blauen Augen hat das zu seinem Wahlkampfthema gemacht und fast fünfzehn Prozent der Wiener scheinen seiner Ansicht zu sein, was Ausländer betrifft. Das ist kein gutes Gefühl, mein Freund! Fünfzehn Prozent von zwei Millionen Wienern das sind dreihunderttausend Menschen in dieser Stadt, die gut finden, was dieser Politiker und seine Partei denken. Sie haben Angst vor Fremden und vor Fremdem. Sie wissen nichts über uns Moslems. Seit es Osama bin Laden gibt, sehen sie, glaube ich, in jedem Moslem einen Terroristen! Sehe ich etwa aus wie ein Terrorist, hm? Ich habe vier Kinder. Alle sind sie hier geboren, haben die österreichische Staatsangehörigkeit. Es sind gute Kinder «

Der Fahrer schaute durch den Rückspiegel seinen Fahrgast in dem eleganten Anzug an, an dessen Handgepäck er den Anhänger der ersten Klasse der Austrian Airlines bemerkt hatte.

»Na, und du, mein Freund, siehst ja nun auch nicht gerade wie ein Terrorist der Al Kaida aus.«

 

Richard Kristoffs hatte die Situation nicht mitbekommen. Er war mit seinen Töchtern hinten im Fond des Wagens beschäftigt gewesen, als seine Frau mit aller Kraft auf die Bremse getreten hatte. Er prallte mit seinen Knien gegen das Armaturenbrett. Es tat höllisch weh. Schmerzerfüllt starrte er erst seine Frau an, erkannte dann die Zusammenhänge und wollte dem Mann auf dem Zebrastreifen unflätige Schimpfworte zubrüllen. Aber er tat es nicht. Völlig entsetzt starrte er den ungefähr fünfundvierzigjährigen Mann in dem sommerlichen Jackett durch die Windschutzscheibe hindurch an. Er erkannte ihn sofort. Er sah dessen eigentümliche Schulterhaltung, etwas nach vorne gebeugt, den Arm leicht angewinkelt. Ja, er war es!

»Wahnsinn! Absoluter Wahnsinn «, flüsterte er so leise, als könne der da draußen ihn hören. Seine Frau schaute ihn fragend an. Richard Kristoffs wühlte hektisch in seiner Jackentasche, zerrte sein Handy hervor. Zitternd ging er den Nummernspeicher durch und fluchte dabei. »Scheiße, Scheiße wo habe ich nur diese Nummer gespeichert. Wie hieß dieser Typ bloß noch mal?«

Schließlich fand Richard Kristoffs, was er suchte. Nervös drückte er die automatische Wahltaste. Eine Frauenstimme meldete sich.

»Hier ist Kristoffs, Flugkapitän Richard Kristoffs. Ich muss dringend Herrn Poll, Dr. René Poll von der Terrorismusfahndung sprechen. Es ist eilig. Sehr eilig Mist, verfluchter! Dann sagen Sie ihm, dass ich angerufen habe. Sagen Sie ihm, dass ich eben am Flughafen Wien den Terroristen Faisal Ben Ait Haddou gesehen habe! Sagen Sie ihm, dass ich absolut sicher bin. Absolut! Der Araber steigt jetzt in ein Taxi mit dem Kennzeichen W 32221 TX.«

Eine halbe Stunde später saß Richard Kristoffs in dem startklaren Learjet. Das Flugzeug hob ab und stieg in den Nachthimmel über Wien. Als Richard Kristoffs die hell erleuchtete Innenstadt Wiens sah, konnte er nicht ahnen, dass dort unten soeben ein Mann aus dem Taxi stieg und in das schräg gegenüber der Oper gelegene Hotel Imperial ging. Und Flugkapitän Richard Kristoffs konnte auch nicht ahnen, dass nicht unweit der Oper und des Hotels in einem Büro des ehemaligen Palais Modena Dr. René Poll von der Abteilung II des österreichischen Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung zusammen mit gut einem Dutzend Kollegen aus ganz Europa eine Einsatzbesprechung führte. Wenige Minuten zuvor hatte seine Sekretärin ihn über den Anruf des Flugkapitäns Richard Kristoffs informiert. Der österreichische Sicherheitsbeamte unterbrach das Gespräch für einen Augenblick.

»Das ist ja eine nette Überraschung! Der Flugkapitän, der damals unseren Mann nach Marrakesch geflogen hat, hat ihn vor wenigen Minuten zufälligerweise am Flughafen Wien gesehen!« Zu dem neben ihm sitzenden Beamten von Interpol Lyon, dem deutschen Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann gewandt, ergänzte Dr. René Poll süffisant: »Gute Arbeit, Kollege Kleimann! Ohne Ihren Riecher würden wir jetzt ganz schön ins Schleudern geraten. Aber so wussten wir ja bereits, dass Faisal Ben Ait Haddou alias Jilani Rezaigui alias Abdel Rahman uns in Wien besuchen wird. Die alte Regel gilt eben noch immer, auch für Araber: Mit Speck fängt man Mäuse.«

*

Faisal Jawda war sich nicht ganz sicher, aber er hatte das Gefühl, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben. Heute Morgen, ganz in der Nähe des Djemaa el Fna. Beschwören wollte er es nicht, liefen doch am Vormittag Hunderte von ausländischen Touristen über den großen Marktplatz am Rande der Medina. Europäer sahen sich in seinen Augen oft sehr ähnlich; er konnte sie nur schwer auseinander halten. Die oftmals sehr dicken Männer trugen fast immer diese hässlichen, wadenlangen Baggyhosen und ärmellose T-Shirts, eine Baseballkappe und die obligatorische Kameratasche. Dazu eine Sonnenbrille. Viele von ihnen sahen geradezu lächerlich und vor allem nicht gerade männlich aus. Und lächerlich benahmen sie sich zumeist auch, wenn sie über den »Platz der Gehenkten« von Marrakesch schlichen, um Schlangenbeschwörer, Akrobaten, Marktweiber und vor allem die Wasserträger mit ihren roten Pluderhosen und den Messingkannen auf dem Rücken zu fotografieren.

Dieser Mann heute Vormittag hatte ebenfalls eine kurze Hose und ein ärmelloses Shirt getragen. Auffällig war lediglich seine große Tasche gewesen, in der Faisal schließlich einen Laptop vermutet hatte. Er hatte den dicklichen Mann nur für Bruchteile von Sekunden gesehen. Das war wenige Minuten nachdem er von der Avenue de la Ménaa durch das Bab el-Djedid in die kleine Seitengasse an der Kutubiya-Moschee gegangen war. Hier ließ sich Faisal regelmäßig bei seinem Stammfriseur rasieren, trank dabei einen Tee und las die Zeitung. Meistens hielt er danach noch ein kleines Schläfchen. Heute war er zunächst jedoch zu beschäftigt gewesen, hatte er doch dringend zum Postbüro am Place du 16 Novembre gehen müssen, um dafür zu sorgen, dass sein Freund diese verdammte Kreditkarte per DHL oder Fedex schnell bekommen würde. Auf dem Rückweg war ihm dieser Europäer erneut aufgefallen. Vielleicht weil sich der Mann nicht so ängstlich durch die Medina bewegte. Faisal hätte nicht weiter darüber nachgedacht, wenn er diesen Mann mit dem südländischen Teint und der schwarzen Umhängetasche soeben nicht ein drittes Mal gesehen hätte. Auffällig war auch, dass dieser Mann jetzt, zur Mittagszeit, durch die Medina ging. In einer Zeit, in der kaum ein Tourist unterwegs war. Die saßen um diese Uhrzeit meist beim Lunch im Luxushotel La Mamounia oder an den Swimmingpools in den modernen Hotels drüben in Marrakesch Nouvelle. Es waren nur einige Augenblicke gewesen, dann war der Fremde mit der ungewöhnlich selbstbewussten Haltung in einer Seitengasse verschwunden.

Kurz darauf stand Faisal Jawda wieder vor dem Friseurgeschäft. Wie erwartet hatte Moussa in der Mittagszeit nichts zu tun. Er war nicht da, aber sein Laden war auf. Die drei Sessel in dem kleinen Raum mit den blauen Türen und Fenster waren unbesetzt, und auch die beiden Sessel unter dem großen Eukalyptusbaum waren frei.

Faisal Jawda freute sich. Er saß sehr gerne hier draußen im Schatten des riesigen Baumes, las Zeitung, trank seinen Chai und nutzte die halbe Stunde der Rasur, um sich zu entspannen. Danach stand ihm heute der Sinn. Im Moment lief nicht alles nach Plan. Ständig geschah etwas, das ihren Zeitplan durcheinander brachte. Vorgestern noch hatte ihr guter Freund und Bruder Ismail vom Innenministerium in Rabat für große Aufregung gesorgt, weil er sie darüber informiert hatte, dass auffällige Aktivitäten bei Interpol in Lyon zu beobachten seien. Eine Terrorismus-Sonderkommission war dort eingerichtet worden, die strengster Geheimhaltung unterlag, und daher kam ihr Verbindungsmann auch an keinerlei Information.

Trotz dieser beunruhigenden Nachricht sah es jedoch ganz so aus, als ob ihre Aktion schon in Kürze abgeschlossen werden würde. Und zwar erfolgreich! Was sollte schon noch passieren? Sobald die anderen wieder aus Wien zurück in Marrakesch wären, würden vermutlich kaum mehr als zwei Wochen vergehen, bis sie die Stadt verlassen konnten mit viel Geld auf einem Schweizer Bankkonto.

Faisal Jawda setzte sich auf den bequemen Friseursessel unter dem Baum, kippte ihn nach hinten, kramte eine alte Zeitung aus seiner Jackentasche und legte sie sich aufs Gesicht. Die Dezembersonne ließ ihn schläfrig werden. Er nahm den Ruf des Muezzin von der nahen Kutubya-Moschee nur noch im Unterbewusstsein wahr, fühlte sich mit einem Mal sehr entspannt und entschied gerade, einen Mittagsschlaf zu halten, als kräftige Männerhände sich plötzlich von hinten um seinen Hals legten und zudrückten. Panisch riss er die Augen auf. Er wollte sich aufrichten, aber die Hände pressten ihn mit enormer Kraft zurück in den Sessel. Der Druck um seinen Hals verstärkte sich. Seine Angst artikulierte sich in einem furchterregenden, kehligen Schrei. Mit aller Kraft stürzte er nach vorne. Der Druck um den Hals war weg. Er wirbelte herum und ging geduckt in Angriffsstellung, bereit, den Angreifer abzuwehren.

»A Salemaleikum, du Schurke! Was fällt dir ein, dich hier mit deinem von Allah gestraften Körper und Geist so einfach auf meinen edlen Liegesitzen niederzulassen!«

Faisal Jawda verdrehte ungläubig die Augen. Es fiel ihm schwer zu lachen. Noch immer zitterten seine Hände. Vor ihm stand sein Freund Moussa, der fettleibige und stets grinsende Besitzer des Ladens. Ein gutmütiger Riese, der keiner Fliege der Welt etwas zuleide tun konnte, der aber eine höchst eigentümliche Vorliebe für Scherze dieser Art hatte. Faisal atmete tief durch. Warum bist du bloß so panisch?, fragte er sich. Es ist doch alles in Ordnung. Weit und breit war kein Fremder zu sehen, nichts Ungewöhnliches war geschehen. Als er sich wenige Minuten später wieder in den Sessel legte und schließlich tief und fest einschlief, löste sich aus dem Schatten eines nahen Torbogens eine männliche Gestalt und verschwand blitzschnell in einer Nebengasse. Der Mann trug helle Baggyshorts und ein T-Shirt.

Zehn Minuten später stieg derselbe Mann aus einem Renault-4-Kastenwagen auf dem Parkplatz nahe des Bab Douckala. Er war nicht wiederzuerkennen. Er trug jetzt die weiten, stahlblauen Gewänder der hommes bleus der Wüste. Kopf und Gesicht waren mit einem schwarzen Tuch umwickelt, so wie es die Tuareg in den Wüsten der Sahara im Süden Marokkos zu tun pflegten. Nur seine Augen waren noch zu sehen. Es waren die dunklen, unergründlichen Augen, die viele Sarden haben.

Für einen Targi war Carlo Frattini allerdings verhältnismäßig klein, aber er fühlte sich wie einer dieser »Söhne des Windes«, wie diese Wüstennomaden in jenem Buch genannt wurden, das er sich vor seinem Abflug von Rom nach Marrakesch gekauft hatte. Er liebte dieses Buch, verschlang es geradezu, sog jede Zeile in sich auf. Zweimal hatte er den Roman Tuareg von Alberto Vasquez-Figuera bereits gelesen. Viele Tipps hatte er sich aus diesem Buch geholt. Auch die Idee, sich in Marrakesch wie ein Targi zu verkleiden, war ihm durch dieses Buch gekommen. In einem Souvenirladen in der Altstadt hatte er sich alle erforderlichen Kleidungsstücke gekauft, ein großes Schwert und auch ein kleines Messer, das, so hatte er gelesen, jeder Targi versteckt im Ärmel seines Gewandes trug. Selbst Sandalen mit Lederriemen hatte er dort kaufen können. Jetzt fühlte er sich fast wie Gacel Sayah, die Hauptfigur aus dem Roman.

Noch nie in seinem Leben hatte er ein Buch gelesen, das den Hass eines Menschen und die daraus resultierenden Rachegefühle auf so nachvollziehbare Weise beschrieb. Dieser Targi hatte alles aufgegeben, seine Heimat verlassen, war bereit, sein Leben zu geben, um die besudelte Ehre seiner Familie, den Tod seiner Frau zu rächen. Ja, der Targi in diesem fantastischen Buch dachte, fühlte und handelte wie er, Carlo Frattini aus dem kleinen sardischen Ort Lu Fraili, Sohn des von diesen hier in Marrakesch lebenden Männern getöteten Leonardo Frattini einem alten Museumswärter im Palazzo Pitti von Florenz.

Von heute an würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis er die Vendetta vollenden könnte. Die Täter hatte er ausgemacht. Die Angaben des kleinen Araberjungen hatten sich als sehr genau und wahr erwiesen. Alles andere hatte er über seine Kollegen und Freunde in Erfahrung gebracht. Drei der vermutlich insgesamt sechs Araber hatte er gestern gesehen. Sie wohnten etwa zehn Kilometer außerhalb von Marrakesch in zwei Wohnungen auf dem Terrain einer noblen Wohnanlage nahe eines Golfclubs. Der Mann, den er heute observiert hatte, war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einer derjenigen, die in Deutschland mit dabei gewesen waren. Die vorliegenden Personenbeschreibungen ließen diesen Verdacht zu. Drei Araber waren gestern verreist. Wohin, das hatte er nicht herausfinden können. Wann sie zurückkommen würden, war ihm egal. Er hatte Zeit. Und Geduld. Für jeden einzelnen dieser Mistkerle würde er, der Targi Gacel Sayah alias Carlo Frattini, sich Zeit nehmen. Wenn es sein musste, ein ganzes Leben lang. Alle würden sie sterben ohne zu wissen, wer sie getötet hatte.

*

Freiherr Georg Ludwig von Hohenstein rieb sich zufrieden die Hände. Vor ihm auf dem Tisch lagen vier Pakete. Zu seiner großen Überraschung waren sie alle ohne Probleme angekommen. Keines der Pakete sah so aus, als sei es vom Zoll oder einem Unbefugten geöffnet worden. Die Sicherheitsfäden, die er beim Verschließen in die Kordeln jedes einzelnen Paketes spiralförmig eingewickelt hatte, waren alle unbeschädigt. Dieser Trick gefiel ihm. Ein Freund vom militärischen Abschirmdienst hatte ihm das einmal gezeigt und vorgemacht, wie man ein Paket mit den Kordeln so umschlingt, dass es absolut unmöglich ist, sich heimlich Zugang zu dem Paketinhalt zu verschaffen, ohne dabei die hauchdünnen Sicherheitsfäden zu zerreißen. Nein, an allen vier Päckchen waren die Fäden intakt. Und nirgendwo war ein kleines Loch zu sehen, das darauf hätte schließen lassen, dass der Inhalt mittels Sonde überprüft worden war. Perfekt! Jedes Teil war da! Endlich!

Das erste Paket war ihm schon vor einigen Tagen unter der Anschrift der Jagdhütte von Ousmane, des Provinzgouverneurs von Ouarzazate, zugestellt worden. Die zweite Sendung war vor vier Tagen in der Post in der Avenue Mohammed V. postlagernd angekommen. Nur eine Woche hatte es von München nach Marrakesch gedauert. Das dritte Päckchen war per DHL an seine Adresse hier in Marrakesch gegangen und auch das vierte, dessen Inhalt sicherlich bei jeder Kontrolle die Aufmerksamkeit eines marokkanischen Zollbeamten erweckt hätte, war per internationalem Kurierdienst in Ouarzazate zugestellt worden. Er ging zwar davon aus, dass einige der Pakete routinemäßig geröntgt worden waren, aber bis auf Paket Nummer vier war das bei keinem ein Problem. Die Metallteile konnte man in einem Röntgenbild absolut nicht als das erkennen, was sie letztendlich waren. Das hatte er in Deutschland extra bei einem befreundeten Arzt in dessen Röntgengerät getestet. Nur das Super ZF 4-12 x 50 mit dem beleuchteten MilDot-Absehen und Paralexenausgleich, das mit dem vierten Paket ankam, war ein wenig kritisch gewesen. Deswegen hatte er als Adressat absichtlich den Namen, Titel und die Anschrift des marokkanischen Provinzgouverneurs angegeben und diesen auch über das zu erwartende Paket informiert. Ein Zielfernrohr war für den Provinzgouverneur als Waffenscheinbesitzer und leidenschaftlicher Jäger nichts Verfängliches. Die fünf wie Kugelschreiber aussehenden Metallstäbe im gleichen Paket wiederum konnten nur nachdenklich machen, wenn man wusste, was in den anderen Paketen war.

Georg von Hohenstein war jetzt endlich entspannt. Die Vorbereitung der ganzen Sache hatte viel Zeit und auch Nerven gekostet. Die Waffe in so viele Einzelteile zu zerlegen, dass jedes Teil für sich völlig nichts sagend war, hatte eine echte Herausforderung dargestellt. Er hatte das Problem mit Hilfe eines Jagdfarmers in Namibia gelöst, bei dem er schon mehrfach als Jagdgast gewesen war. In Namibia wurde mit solchen Waffen gejagt. Ansonsten war ein solches Gerät als Jagdwaffe überall auf der Welt entweder verboten oder verpönt. Er selbst hatte auch lange Zeit Ressentiments gehabt. Dann aber, während eines Aufenthalts in Namibia, war die Ablehnung in grenzenlose Begeisterung umgeschlagen. Pieter, der Besitzer der Jagdfarm, hatte ihn mitgenommen, hatte ihn mit der Handhabung dieser ungewöhnlichen Waffe vertraut gemacht und ihn davon überzeugt, dass die gängigen Vorurteile durch nichts zu begründen waren.

»Die Schockwirkung ist die gleiche wie die eines Gewehres. Das Tier verspürt weder außergewöhnliche Schmerzen, noch leidet es lange. Vorausgesetzt, du triffst richtig. Und, vorausgesetzt, du kommst nahe genug an das Tier heran«, hatte er geschwärmt und ergänzt: »Genau darin liegt die wahre Herausforderung dieser Form des Tötens: Du musst gut sein als Jäger, musst nahe herankommen an das, was du töten willst. So gesehen hat bei dieser Jagd das Opfer eine größere Chance als bei der Jagd mit dem Gewehr samt Zielfernrohr, wo du auf eine Distanz von mehreren hundert Metern anonym schießen und töten kannst. Mit dieser Waffe hier bist du nahe dran, siehst, fühlst und riechst deine Beute. Und umgekehrt! Zwischen Opfer und Jäger existiert eine Verbindung. Es kann sein, dass du in die Augen jenes Wesens blickst, das du zu töten bereit bist. Das ist Jagd! So wie in den Zeiten des Urmenschen. Und sie ist lautlos! Wenn du ein guter Schütze bist und da triffst, wo der Tod im Körper lebt, wird das Röcheln des getroffenen Opfers das Einzige sein, was du hörst.«

Diese Worte Pieters hatte er nie vergessen. Niemals in seinem Leben zuvor hatte er ein derart ausgeprägtes Verlangen verspürt, seiner Beute so nahe zu sein, wenn er sie tötete. Mit dieser Waffe würde er ihn töten! Bald. Er musste nur Geduld haben. Er wusste bereits, wo sie sich versteckten. Die Waffe brauchte nur zusammengebaut zu werden. So, wie sie jetzt vor ihm lag, in mehr als dreißig Teile zerlegt, sah sie unscheinbar und harmlos aus nicht wie eine Waffe. Gelöst lehnte Georg von Hohenstein sich zurück. Er verließ seine Suite über die Terrasse und ging dann zu einer Couch nahe dem Swimmingpool und ließ sich eine Flasche Rotwein bringen. Die späte Nachmittagssonne kolorierte die beiden Seitenflügel der Villa in zarten Pastellfarben. Der Swimmingpool erstrahlte in kristallklarem Blau. Das in einer ebenso beeindruckenden wie auch eigenwilligen Architektur einer römischen Villa nachempfundene Palais Rhoul gefiel ihm außergewöhnlich gut. Er war begeistert. Ein Freund aus Paris, der seit langer Zeit in Marrakesch lebte, hatte ihm dieses auf fünf Hektar Land erbaute Juwel marokkanischer Lebenskunst empfohlen. Es entsprach geradezu perfekt Georgs persönlichem Lebensstil wie auch den Erfordernissen seines Vorhabens.

Wenngleich er nach seiner Ankunft von Ouarzazate im Palais Rhoul sehr versucht gewesen war, das im Garten aufgebaute, extrem luxuriöse Royale-Zelt mit seinen hundert Quadratmetern, mit einem kleinen Pool im Schlafzimmer, mit Kamin und Deluxe-Plüsch-Ambiente zu nehmen, hatte er sich letztendlich für eine Suite im Haupthaus entschieden. So geschmackvoll und luxuriös dieses Royale-Zelt auch war, so wenig sicher schien es ihm für sein Vorhaben. Die Suiten in dem U-förmig um den Pool herum gebauten Haupthaus waren abschließbar und schalldicht. Hier konnte er ungestört telefonieren und seine vier Pakete auspacken, ohne dabei überrascht zu werden.

Georg Ludwig von Hohenstein atmete tief durch. Er fühlte sich wohl, war aber auch von sich selbst überrascht. Dafür, dass er mit der Planung eines Mordes an einem Menschen befasst war, fühlte er sich außergewöhnlich entspannt. Moralische Bedenken bedrückten ihn nicht. Sein Unrechtsbewusstsein war durch sein Verlangen nach Rache, nach gerechtfertigter Rache verdrängt worden. Was er vorhatte, musste er tun. Es war weder gesetz- noch rechtmäßig, aber es war gerechtfertigt. Und es war die einzige Möglichkeit, zumindest zu versuchen, sein Leben wieder erträglich zu machen. Und das von Klara. Gestern hatte er mit der Klinik am Chiemsee telefoniert. Sie lag noch immer in diesem medizinisch schwer einzuschätzenden Tod-Leben-Wach-Tiefschlafzustand. Sie lebte, aber sie war tot.

Georg von Hohenstein betrachtete die Anlage des Palais Rhoul. Sein Versteck lag auch unter logistischen Kriterien optimal. Zum Zentrum von Marrakesch waren es kaum mehr als zwanzig Minuten. Der Flughafen war in dreißig Minuten zu erreichen. Und das Versteck der Araber lag, so wie das Palais Rhoul, in der Palmeraie also ganz in seiner Nähe! Alles war absolut perfekt!

Dass er sich so sonderbar zufrieden und wohl fühlte, hatte aber auch andere Gründe. Es war das Bewusstsein, seit langer Zeit wieder einmal etwas zu tun, das nicht mit Geld, mit dem Mehren des Vermögens, der Verwaltung der Güter und Wertpapiere und mit dem Gieren nach mehr zu tun hatte. Er war sich an diesem Abend im Palais Rhoul in der Palmeraie von Marrakesch absolut sicher, dass sein Plan gelingen würde. Sein Opfer hatte er bereits lokalisiert. Es wohnte im Palmeraie Golf Palace, einer noblen Hotelanlage.

Für die Araber war dieser Komplex ein ideales Versteck, das war ihm bei der ersten Besichtigung klar geworden. Das Gelände war riesig, unüberschaubar und von vielen Tagesgästen frequentiert. Niemand achtete hier auf unbekannte Gesichter.

Was für die Araber von Vorteil war, das erwies sich jetzt auch für ihn als idealer Ort, seinen Plan zu realisieren. Das Palais Rhoul lag nur wenige Minuten entfernt. Eine Golfausrüstung hatte er sich bereits gekauft. Die Waffe passte ohne Probleme in den Golfbag samt Golfschlägern. Nahe genug rankommen würde er auch. Er hatte sich als vermeintlicher Golfspieler bereits für zwei Wochen ein Zimmer auf der anderen Seite des Pools, direkt gegenüber ihren Wohnungen gemietet. Jetzt galt es, die Aktivitäten der Araber zu beobachten, ihren Tagesablauf auszukundschaften, die Fährten zu verfolgen, zu warten, bis das Wild müde war und ein gutes Ziel abgeben würde. Seine Rache würde lautlos sein.

14. Kapitel

U

m neun Uhr morgens war der Anruf ihres Verlagsfreundes Peter gekommen. Das Gespräch hatte nicht dazu beigetragen, dass Marie-Claire de Vries ruhiger wurde. Seit ihrer Rückkehr vom Wörthersee fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Die Geschehnisse dort setzten ihr sehr zu. Millionen Fragen schossen ihr durch den Kopf. Warum nur hatte Gregor sie so rüde behandelt? Hatte er das, was er gesagt hatte, wirklich so gemeint? Oder war er menschlich von ihr so enttäuscht, weil sie in seinen Unterlagen herumgeschnüffelt hatte, dass er ihr nur wehtun wollte?

Marie-Claire war völlig aufgelöst. Sie hatte das Gefühl, durch ihr Leben zu taumeln. Sie reagierte auf Impulse von außen, aber sie agierte nicht. Und das schadete vor allem ihrer Arbeit. Sie arbeitete nicht so, wie Francis Roundell es von ihr erwartete. Es war ihr noch nie während ihres gesamten Berufslebens passiert, dass sich private Befindlichkeiten auf ihre beruflichen Pflichten ausgewirkt hatten. Die Konflikte zeichneten sich bereits so drastisch ab, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie Francis all das erklären sollte. Francis! Natürlich hatte er sich wieder gemeldet, hatte telefonisch nach dem Stand der Dinge gefragt und angedeutet, dass entweder er nach Wien oder sie nach London kommen müsse. Glücklicherweise konnte sie ihn wegen des anstehenden Gesprächs mit Peter etwas vertrösten. Heute Abend jedoch musste sie ihn anrufen. Weder wusste sie, welche Fakten und nur um die ging es sie ihm mitteilen sollte, noch hatte sie einen blassen Schimmer, was sie ihm überhaupt sagen wollte und konnte! An ihrem Misstrauen ihm gegenüber hatte sich nichts geändert. Ihr Leben hatte sich komplett verändert. Ihr spukten nur noch Bilder und Fakten von Vlies-Rittern, absurde Philosophien einer christlich-fundamentalistischen Organisation, indische Mythen und aberwitzige Theorien über den Florentiner durch den Kopf. Nachts hatte sie eigentümliche erotische Träume.

War das Zufall? Gab es solche Zufälle? Gab es hinter dem Geflecht der kleinen Geschehnisse eine Bestimmung, die vorgab, was geschah geschehen würde? Warum, und diese Frage beschäftigte sie seit dem Anruf von Peter am frühen Morgen, warum kam dieser dubiose Araber ausgerechnet jetzt nach Wien? Wieso hatte ihre Freundin Chrissie ausgerechnet heute Vormittag angerufen und ihr mitgeteilt, dass Gregor kein Vlies-Ritter aber oberster Bandinhaber dieser ultra-katholischen Bruderschaft war? Was hatte Chrissie gesagt? »Vielleicht legt dieser Gregor von Freysing sich ja so ins Zeug mit der Suche nach dem Florentiner, weil er sich für die Aufnahme in den Vlies-Orden qualifizieren will. Vielleicht ist er ein Profilneurotiker.«

All diese Geschehnisse, die sich um den Florentiner rankten, verwirrten sie und beeinträchtigten ihre Disziplin, die sie sonst stets bei der Arbeit zeigte. Zumal sie Gregor noch immer nicht richtig einzuschätzen wusste. Seit dem Besuch am Wörthersee versuchte sie jegliche Gedanken an ihn zu verdrängen. Doch es gelang ihr nicht so recht. Sie wusste jedoch, dass ihre anfängliche Begeisterung für Gregor einer tiefen Nachdenklichkeit gewichen war. So, wie sie jetzt empfand, konnte sie sich kaum vorstellen, Gregor jemals wieder sehen zu wollen. Und jetzt dieser Araber! Wie war noch einmal sein Name? Abdel Rahman? Sie fand das sehr hilfreich von Peter, dass sie diesen Mann am späten Nachmittag kennen lernen würde, auch wenn es ganz sicher bedeutete, weitere Verflechtungen bei ihrer Recherche berücksichtigen zu müssen. Denn der Araber interessierte sich ebenfalls für den Florentiner. Sein Interesse war so ausgeprägt, dass er dem Verlag, bei dem Peter arbeitete, jetzt sogar offiziell angeboten hatte, das Originalmanuskript des Buches über die Vitrine XIII in der Wiener Schatzkammer für zweihunderttausend Euro abzukaufen. Peter hatte auch keinen Hehl daraus gemacht, dass dies für den Verlag eine enorme Summe war, zumal dieses Buch bereits vor fast fünfzig Jahren veröffentlicht worden war. Da sich niemand mehr für das Buch interessierte, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Verlag das Manuskript an den Araber verkaufen würde. Das hatte Peter am Telefon angedeutet. Die Entscheidung würde im Laufe des Tages fallen. Daher hatte man sich mit dem Araber auf ein erneutes Treffen um achtzehn Uhr geeinigt.

Marie-Claire schaute auf die Uhr. Zum Mittagessen hatte sie sich mit ihrer Schwester Cathrine verabredet, und vermutlich würde ihre Freundin Christiane Schachert ebenfalls kommen. Mit Neuigkeiten, wie sie am Telefon gesagt hatte. Entsprechend gespannt stieg Marie-Claire an der Urania in die Straßenbahn. Zehn Minuten später betrat sie das Eck-Café im Gebäude der Börse am Inneren Ring. Cathrine ging hier regelmäßig hin, weil ihr Mann Christoph beruflich an der Börse zu tun hatte.

Womit Christoph letztendlich sein Geld machte, konnte Marie-Claire nicht so recht sagen. Wann immer er davon sprach, überschüttete er sie mit einem derart verwirrenden Fachchinesisch, dass sie es längst aufgegeben hatte, irgendetwas davon verstehen zu wollen. Sie wusste nur eins: Christoph schwamm in Geld und seine Ehefrau Cathrine somit auch. Das aber war seit Jahren das Einzige, was die beiden noch gemeinsam hatten. Die Ehe von Cathrine und Christoph war kaum mehr als ein Interessenverband. Er war fast sechzig Jahre alt, und er war wirklich alt. Cathrine war erst einundvierzig und sah noch sehr jung und attraktiv aus. Ihr Mann interessierte sich für Geld und zwar ausschließlich dafür. Cathrine hatte mit den Jahren gelernt, dass sie mit Geld ihre Interessen befriedigen konnte. Davon gab es nicht viele: Kleider, Schmuck und Reisen. Auf ihren Reisen holte Cathrine das nach, was Christoph ihr weder geben wollte noch geben konnte. Ein bisschen Liebe, Zärtlichkeit, Sex. Cathrine saß im hinteren Raum des Tri-Café. Wie immer war das Café in der Mittagszeit mit Börsianern überfüllt. Sie sahen alle gleich aus. Die Männer im Alter zwischen dreißig und vierzig Jahren trugen dunkle Anzüge und schienen ein Faible für rosafarbene Hemden und glänzende Gel-Frisuren zu haben. Die Frauen hatten entweder Hosenanzüge oder viel zu kurze Röcke an. Alle besaßen mindestens zwei Handys, die selbst in der Mittagszeit ständig rappelten. Cathrine trug ein umwerfend schickes Kleid, das ihre schlanke, feminine Figur unterstrich. Da sie Cathrines Lieblingsboutiquen in der Stadt kannte, ahnte Marie-Claire, dass dies eins der Dreitausend-Euro-Kleidchen war, von denen die Kleiderschränke ihrer Schwester in der Villa im dreizehnten Bezirk überquollen.

»Schwesterchen, du siehst umwerfend aus!«, begrüßte sie Cathrine und umarmte sie liebevoll. Sie freute sich wirklich, Cathrine wieder einmal zu sehen. In der Hektik der letzten Wochen hatten sie fast nur noch telefonisch Kontakt gehalten. Cathrine wusste zwar so ziemlich alles, was geschehen war, aber ihre Neugierde entlud sich sofort.

»Hat er dich noch mal angerufen?«

Marie-Claire stutzte: »Wen meinst du?«

»Na, dieser Gregor der reiche Herr von Freysing! Der mit dem netten Häuschen am Wörthersee!«

Marie-Claire lächelte zwar, aber es fiel ihr schwer, Cathrine nicht anzufauchen. Kaum hatte sie ihr damals von Gregor auch nur im Ansatz erzählt, hatte ihre Schwester sofort begonnen, sich mit der Geschichte der von Freysings zu beschäftigen. Adel übte auf Cathrine eine grenzenlose Faszination aus. Sie war eine wandelnde Enzyklopädie europäischer Adelsgeschlechter. Was sie nicht über Bücher und das Internet herausbekam, suchte und fand sie in den Klatschspalten der Yellow-Press-Magazine. Ja, Cathrine wusste alles über die vermeintliche High Society Wiens und Österreichs. Und fraglos war es schon immer ihr großer Traum gewesen, auch ein »von« in ihrem Namen zu tragen.

»Nein, er hat nicht angerufen! Und ich glaube auch nicht, dass er das tun wird, liebe Schwester! Gregor ist emotionslos. Er hat von mir etwas gewollt, hat es nicht gekriegt und hat mich dann fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Das wars!«

»Ich kann dich wirklich nicht verstehen.« Cathrine schüttelte verständnislos den Kopf. »Dieser Mann steht mit beiden Beinen im Leben, siehst gut aus, hat Geld und ist geschieden! Du warst doch so grenzenlos begeistert am Anfang. Wieso angelst du dir den nicht? Musst du immer nur deinen Job im Kopf haben?«

»Der wollte nichts von mir, jedenfalls nichts außer meinem Hintern. Das war von Anfang an nichts anderes als der Versuch einer Affäre! Allerdings geschickt und auch stilvoll eingefädelt, das muss ich schon sagen. Hätte er es offen gesagt, dass er mich nur bumsen will, hätte ich wahrscheinlich sogar Ja gesagt. Ich weiß nämlich schon nicht mehr, wie das überhaupt geht «

Marie-Claire war sich im Klaren darüber, das es nicht so ganz stimmte und ziemlich pathetisch klang, was sie da sagte. Jedenfalls was Gregor betraf. Die Bemerkung zu ihrem Liebesleben stimmte jedoch: Ihr war bewusst geworden, dass sie in Sachen Streicheleinheiten und Sex enorme Defizite hatte. Lange hatte sie das perfekt verdrängen können, aber seit dem Intermezzo am Wörthersee begriff sie, wie sehr sie sich danach sehnte. Gregor hatte sie sehr wohl angezogen, schließlich war er ein attraktiver Mann. Und er war zärtlich gewesen. Als er sie gestreichelt und liebkost hatte, war da eine fast erloschene Flamme in ihrem Inneren kurz aufgeflammt. Nur leider war sie sofort wieder verschwunden, weil sie mehr wollte als nur ein flüchtiges Abenteuer. Doch das hatte sich wieder einmal als eine Illusion herausgestellt. Daher hatte sie in den letzten Tagen für sich die Entscheidung getroffen, zumindest in Bezug auf Sex auf ihre Kosten zu kommen.

Sie wollte Cathrine soeben bitten, das Thema Gregor endgültig fallen zu lassen, als Christiane kam. Schon von Weitem war ihr anzusehen, dass sie bester Laune war. Chrissie war einfach eine Lebenskünstlerin, eine Frohnatur. Sie schaffte es immer wieder, dem Leben die positiven Aspekte abzugewinnen.

»Mein Gott, ihr beiden seht euch heute mal wieder so verblüffend ähnlich, dass selbst ich euch kaum auseinander halten kann! Wenn ihr jetzt noch das gleiche Kleid anhättet, möchte ich den Mann sehen, der weiß, wer Cathrine und wer Marie-Claire ist.«

Christiane wandte sich an Marie-Claire. »Du, ich habe tolle Nachrichten für dich! Dass dieser Gregor tatsächlich der oberste Bandträger dieser katholischen Bruderschaft ist, habe ich dir ja schon am Telefon gesagt. Und ich kann dir als beste Freundin eigentlich nur raten, dir diesen Typen zu angeln! Vergiss doch seine Feierabendspielchen mit dieser Bruderschaft! Vergiss sie! Männer brauchen ihre Träume! Die einen spielen Fußball am Wochenende, die anderen träumen davon, ein edler Ritter zu sein und wiederum andere sehen sich als milites christiani im Kampfe für einen Orbis Europaeus Christianus! Ist eh nur Fantasterei. Also schnapp dir diesen Mann. Er sieht gut aus, hat Geld, will dich und ist geschieden!«

Marie-Claire lachte lauthals los. Chrissie war so unglaublich süß mit ihren pragmatischen Lebensweisheiten. Dennoch stimmten sie die Worte der Freundin nachdenklich, denn Chrissie hatte ihr praktisch den gleichen Rat gegeben wie Cathrine.

»Ihr beide seid unmöglich! Lasst mich doch in Ruhe mit euren Ratschlägen. Schaut einfach mal ehrlich in den Spiegel. Dann erkennt ihr, dass meine Einsamkeit nicht nur ehrlicher, sondern auch verträglicher ist. Ich muss mir nicht im Abstand von wenigen Monaten die Birne zusaufen, um das Wissen, wie fad und inhaltslos mein Leben ist, zu ertränken. Und ich bekomme auch nicht in regelmäßigen Abständen Krisen, die mit der Erkenntnis enden, dass man nichts ändern kann und es deswegen besser ist, alles so zu lassen, wie es ist! Also lasst mich in Frieden! Sag mir lieber, was du so Sensationelles in Sachen Florentiner herausgefunden hast.«

Die Stimmung war kurz davor zu kippen. Cathrine de Vries blinzelte ihre Schwester verärgert an. Sie mochte es nicht, wenn Marie-Claire ihr Dinge sagte, die sie selbst wusste. Christiane Schachert hingegen schaute verwundert drein. Für Momente herrschte betroffenes Schweigen. Dann kramte Christiane Schachert einige Notizen aus ihrer Handtasche. »Also gut, betrachten wir das hier eben als rein geschäftliches Meeting. Ist wohl besser so. Unsere liebe Marie-Claire scheint mir derzeit nicht in der besten Stimmung zu sein. Also, ich war so frei, in der Nationalbibliothek für dich einige Recherchen zu machen. Langsam finde ich die vielen Geschichten um den Florentiner-Diamanten nämlich wirklich sehr interessant. Die Informationen, die ich vom Kustos der Wiener Schatzkammer bekommen habe, werden dich umhauen. Pass auf, ich lese dir mal was vor «

Christiane Schachert blätterte in ihren Unterlagen. Schließlich schien sie gefunden zu haben, was sie suchte. Sie räusperte sich. »Auszug aus den Allerneusten Nachrichten vom Römisch-Kaiserlichen Hofe nebst einer ausführlichen historischen Beschreibung der Kaiserlichen Residenzstadt Wien «

Christiane Schachert blickte Marie-Claire triumphierend an: »Das ist ein Buch, das im Jahre 1730 von einem Johann Basilii Küchelbeckers in Hannover veröffentlicht wurde. Und was, glaubst du, steht da auf zwei Seiten geschrieben, was wird da als vermeintliches Prunkstück der Wiener Schatzkammer en detail beschrieben?«

Marie-Claire de Vries musste lächeln. Ihre Freundin lachte triumphierend, und ihre Augen blitzten auf.

»Der Florentiner?«

Christiane Schachert schüttelte den Kopf. »Daneben geraten, meine Liebe! Absolut daneben! Hör zu « Wieder blätterte sie und las dann vor: » ein Modell von dem Florentinischen großen orientalischen Diamant, in der Größe einer Welschen Nuss Solches aber ist nur ein Böhmischer Diamant, und nebst anderen Präsenten der Spanischen Kaiserin ehemals aus Spanien nachgeschickt worden «

Marie-Claire de Vries starrte erst Chrissie und dann ihre Schwester Cathrine an. Zunächst wusste sie das Gehörte gar nicht einzuordnen. Dann aber begriff sie, was Christine da ausgegraben hatte.

»Ein böhmischer Diamant? Also eine Kopie …?« Sie zitterte innerlich, wartete auf Chrissies Antwort.

»Richtig! Das war eine Kopie. Eine originalgetreue Kopie des Florentiner-Diamanten. Und zwar in der Wiener Schatzkammer!«

Marie-Claire wollte etwas sagen, aber Christiane unterbrach sie. »Wahrscheinlich war es eine Kopie aus Quarz. Aber sie muss täuschend echt gewesen sein, was für sich schon eine Sensation ist. Das Verrückte daran ist was ganz anderes. Diese Kopie war in Wien, bevor der wirkliche Diamant, also der echte Florentiner nach Wien kam. Und zwar bereits Jahre vorher! Jetzt frage ich mich mit meinem kleinen Kunsthistorikerhirn, was Seine Durchlaucht, der Kaiser zu Wien, mit der Kopie eines schon damals weltbekannten Diamanten macht. Vor allem in der Schatzkammer! So eine Quarzkopie ist gerade mal den Arbeitslohn des Schleifers wert gewesen. Ein solches Steinchen muss man nicht in der Schatzkammer bewachen lassen! Oder was denkst du?«

Marie-Claire brauchte eine Weile, um diese höchst eigentümliche Situation einzuschätzen. Ihre Schwester Cathrine kam ihr zuvor.

»Ist doch ganz einfach! Entweder die kaiserlichen Hoheiten haben sich mit einem Diamanten geschmückt, den sie gar nicht besaßen, haben also unglaublich angegeben, quasi vorgegeben, diesen unvorstellbar wertvollen Diamanten zu besitzen. Oder die wussten überhaupt nicht, dass es eine Kopie war, und sind vielleicht beim Kauf betrogen worden. Sie haben Ramsch gekauft und haben den Ramsch dann vielleicht auch noch beliehen, wenn die Kassen knapp waren! Wer hätte sich schon damals getraut, dem Kaiser zu sagen, dass es eine Kopie ist, die er als Sicherheit für ein Darlehen anbietet?«

»Kann schon sein«, schaltete sich Christiane Schachert wieder ein. »Es gibt da schon einige ähnliche Geschichten. Hinzu kommt, dass unser werter Herr Kustos der Schatzkammer freimütig zugibt, dass kein Mensch weiß, was mit dieser Kopie später passiert ist. So akribisch die Bücher der Schatzkammer stets geführt wurden, so verwunderlich ist, dass in den Jahren und Jahrhunderten danach diese Kopie nie wieder erwähnt wurde. Weg ist er der Florentiner äh, die Kopie! Einfach weg.«

 

Eine Stunde später fuhr Marie-Claire de Vries zurück nach Hause. Statt mehr Klarheit zu haben über die Historie des Florentiners, zeichnete sich nun doch das ab, was sie seit dem Gespräch mit Sanjay Kasliwal befürchtete: ein Skandal, eine Sensation. Es gab tatsächlich zwei Kopien eines der berühmtesten Diamanten des Abendlandes! Eine hatte in der Schatzkammer in Wien gelegen und war verschwunden. Eine andere Kopie lag, wie sie bereits wusste, in dem Museum in Mailand. Dort wusste niemand, woher sie stammte. Aber das Original, der echte Florentiner, war seit 1920 verschwunden! Der Schmuckhändler Alphonse de Sondheimer hatte ihn vermutlich über Mittelsmänner vom letzten österreichischen Kaiser bekommen, um ihn zu verscherbeln. Plötzlich fiel ihr eine Passage aus dem Buch Vitrine XIII ein. »Das kann doch wohl nicht wahr sein, das ist unmöglich «, murmelte sie in der Straßenbahn vor sich hin. Jetzt wollte sie nur noch nach Hause und lesen, lesen, was Sondheimer damals geschrieben hatte. Aber sie kam nicht zum Lesen. Kaum dass sie ihre Wohnung betreten hatte, läutete das Telefon. Peter bat sie ohne Angabe von Gründen, eine Viertelstunde vor dem verabredeten Termin in das Café zu kommen. Wenige Minuten später klingelte ihr Telefon erneut. Diesmal war es Francis Roundell. Auffällig kühl, kurz und knapp bat er sie für den nächsten Morgen um ein ausführliches Telefonat, bei dem sie ihm den aktuellen Stand ihrer Recherchen darlegen sollte. Einen schriftlichen Bericht, den er der Geschäftsleitung von Christies vorlegen wollte, erwartete er spätestens Anfang kommender Woche. Gegen Ende ihres Gespräches fragte er beiläufig, wann sie plane, nach Grandson zu reisen. Am Wochenende, hatte sie geantwortet. Ja, am Wochenende wollte sie in die Schweiz, auch wenn sie noch nicht wusste, wie sie das zeitlich schaffen wollte.

Der recht barsche Ton von Francis beschäftigte sie noch, als sie geduscht und dem Anlass entsprechend elegant-adrett gekleidet das Kaffeehaus gegenüber dem Hotel Imperial betrat.

Peter erwartete sie bereits. Er wirkte ungewöhnlich nervös und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er sah übernächtigt und sehr fahl aus und sprach geradezu gehetzt.

»Hallo, Marie-Claire. Schön, dich mal wieder zu sehen. Ist sicherlich schon gut ein Jahr her. Immer noch auf der Spur der verschwundenen Preziosen reicher Menschen?«

»Grüß dich, Peter! Na, du schaust mir aber sehr urlaubsreif aus! Gehörst wohl auch zu jenen Menschen, die für ein Taschengeld den Beruf zu ihrem Leben machen so wie ich.«

»Da hast du freilich Recht. Gestern hatten wir Vertretertagung, vorgestern waren zwei Autoren bei mir, morgen werde ich nach Berlin fliegen und den heutigen Tag habe ich mit nichts anderem verbracht als mit diesem blöden Manuskript eines Buches, das fünfzig Jahre alt ist, ein Ladenhüter war und jetzt dem Verlag zu unerwartetem Reichtum verhelfen würde, wenn Interpol nicht dagegen wäre.«

Marie-Claire betrachtete ihren alten Freund. Warum er diesen Beruf gewählt hatte, war ihr stets schleierhaft gewesen. Er las nicht sonderlich viel und gerne, aber er liebte es, sich mit Literaten und Künstlern zu umgeben. Sie gaben seinem ansonsten recht farblosen Leben einen Inhalt, wie er einmal freimütig eingestanden hatte. Peter, sie wusste das, weil er ihr eine Zeit lang Avancen gemacht und damals seine Lebensgeschichte erzählt hatte, war ein Konglomerat aus Komplexen. Und er war ein sehr unsicherer Mann. Obwohl er recht fesch aussah, glaubte er, für Frauen ein Antityp zu sein. Sie hatte das nie so gesehen, auch wenn aus ihnen beiden nichts geworden war. Seither waren sie Freunde, und daher wusste er, dass sie Verständnis für eine so emotionslose Begrüßung hatte.

»Jetzt mal schön langsam, Peter«, versuchte sie seinen Redefluss ein wenig zu stoppen. Sie verstand nichts von dem, was er gerade gesagt hatte. Aber er hörte ihr nicht wirklich zu. Nervös kramte er in seiner Aktentasche und holte ein dickes Bündel Papiere hervor.

»Das hier ist eine Kopie des handschriftlichen Originalmanuskripts von Alphonse de Sondheimer. Einige Seiten seiner persönlichen Notizen sind ebenfalls dabei. Es weicht in vielen Teilen von dem ab, was wir später in dem Buch gedruckt und veröffentlicht haben. Der Typ hat damals so wirres Zeug geschrieben, dass der Verlag Angst hatte, das Haus Habsburg würde ihn von einem Gericht zum nächsten zerren, wenn das alles so gedruckt werden würde, wie es in dem Manuskript steht. Du wirst sicherlich bemerkt haben, dass wir seitens des Lektorats viele Textpassagen im Buch mit Kommentaren und Fußnoten versehen haben. Das geschah aus rein juristischen Gründen, quasi um seine Tatsachenbehauptungen zu entschärfen. Denn es ist schon unglaublich, was Sondheimer über den Verkauf des Schmucks aus der Wiener Schatzkammer behauptete. Da er jetzt tot ist, kann es mir egal sein, was nun geschieht. Nimm es, Marie-Claire, lies es und mach damit, was du willst aber versprich mir, dass kein Mensch jemals erfährt, dass du es von mir bekommen hast! Diese ganze Kiste ist so heiß und seltsam, dass es mein Dasein viel zu sehr durcheinander bringt, als dass ich mich damit wirklich beschäftigen möchte.«

Marie-Claire war irritiert. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Das ist unglaublich lieb von dir, Peter. Ich weiß dein Vertrauen zu schätzen. Natürlich werde ich absolut diskret damit umgehen. Es ist ja nur dazu gedacht, mir eine Vorstellung davon machen zu können, was damals in den Jahren in der Schweiz mit den Habsburger Kronjuwelen – vor allem mit dem Florentiner – wirklich geschehen ist. Aber was hast du da eben von Interpol gemurmelt? Das habe ich nicht ganz verstanden.«

Ihr Freund schaute noch nervöser als zuvor im Café umher. Seit sie hier zusammen saßen, hatte er mehrere Tassen Kaffee getrunken und eine Zigarette nach der anderen geraucht.

»Ich habe dir ja gesagt, dass dieser Araber, dieser Abdel Rahman, der gleich hierherkommen wird, angeblich im Auftrag einer arabischen Gesellschaft zur Rückführung entwendeter arabischer Kulturgüter damit betraut ist, den Verbleib von Kunstgegenständen und Schmuckstücken zu eruieren, um sie dann zurückzukaufen. Eine höchst dubiose Sache, wie ich finde! Zweihunderttausend Euro hat er dem Verlag für das Manuskript geboten, weil diese seltsame Gesellschaft davon ausgeht, dass in den Aufzeichnungen detaillierte Angaben über den Verbleib bestimmter Schmuckstücke enthalten sind. Natürlich wollten sie erst einmal quer lesen, quasi kostenlosen Einblick in das Manuskript bekommen, bevor sie das Geld auf den Tisch legen. Mensch, Marie-Claire! Zweihunderttausend Euro! Das ist viel Geld. Unsere Verlagsleitung ist vor Freude über die Tische gehüpft, als dieses Angebot kam. Und natürlich wollten sie es verkaufen. Kann ja niemand mehr was mit diesem uralten Kram anfangen. Wer traut sich heute schon noch, diese mehr als suspekte Sache damals in der Schweiz neu aufzurollen? Seit sie Kaiser Karl seliggesprochen haben, ist er hier in Österreich ein Heiliger. Keiner traut sich an dieses Thema ran. Weißt ja, dass die Familie Habsburg seit ewigen Zeiten im Zwist mit allen österreichischen Nachkriegsregierungen lag, weil es Leute gab, die behaupten, der Kaiser hätte damals Staatsbesitz versilbert. Und die Familie Habsburg sagt natürlich, dass es Privatbesitz, also Familienschmuck gewesen sei. Nein, das Thema will keiner mehr anfassen. Insofern hätte der Verlag den Text sicherlich gern abgestoßen. Aber nun wird er doch nicht verkauft.«

Erstaunt sah Marie-Claire de Vries ihren Freund an. Peter sah ziemlich fertig aus.

»Warum nicht?«

»Weil heute Vormittag ein hohes Tier vom österreichischen Innenministerium im Haus war und unseren Chef bat, wie es so schön in dieser verquirlten Staatsschützersprache heißt, aus übergeordneten staatlichen Interessen von einer Weitergabe des Manuskripts an Dritte abzusehen‹. De facto ist es so: Interpol, ja, Interpol bittet freundlichst, dem Herrn Abdel Rahman mit fadenscheinigen Gründen klarzumachen, dass er das Manuskript nicht bekommen kann! Für mich ist das jetzt eine echte Gratwanderung, dich diesem Araber auch noch vorzustellen. Ich habe ihm gesagt, dass du eine Edelsteinexpertin bist, die für uns an einem Buch über berühmte Diamanten arbeitet. Ich habe so getan, als hätten wir zwei hier ein Treffen, um über das Manuskript deines Buches zu sprechen. Er wird es also als Zufall deuten, dass er dich hier trifft. Verdammter Mist, da kommt er schon!«

Marie-Claire sah, wie das Gesicht ihres Freundes noch blasser wurde. Was er mit dem letzten Satz gemeint hatte, verstand sie nicht. Peters Gesicht verzog sich zu einem künstlichen Lächeln. Er stand auf und streckte seine Hand aus. Marie-Claire drehte sich um und erstarrte.

*

Eine Stunde später hatte sich Marie-Claire de Vries noch immer nicht wirklich erholt. Sie zwang sich zu einem Höchstmaß an Selbstbeherrschung, aber in Wirklichkeit war sie mit den Nerven am Ende. Nur zeigen durfte sie es nicht. Peter war längst gegangen. Die Unterredung mit dem Araber hatte kaum mehr als zehn Minuten gedauert. Peter hatte im Auftrag der Verlagsleitung sein Bedauern zum Ausdruck gebracht, hatte um Verständnis gebeten dafür, dass die Rechtsabteilung des Verlages zu dem Schluss gekommen war, dass eine Weitergabe des aus handschriftlichen Aufzeichnungen bestehenden Manuskripts die Persönlichkeitsrechte des Autors verletzen würde. Der Autor sei zwar verstorben, aber die Sorgfaltspflicht des Verlages müsse auch eventuelle Interessen der Erben und im Manuskript genannter Dritter berücksichtigen. Daher sei es leider unmöglich, das Manuskript zu verkaufen.

Er hatte das perfekt gemacht. Wirklich professionell. Marie-Claire war maßlos beeindruckt gewesen. Das hatte sie ihm nicht zugetraut. Und sich selbst hatte sie auch nicht zugetraut, mit der danach entstandenen Situation fertig zu werden. Denn der Mann, der gekommen war und der ihr nun gegenüber saß und freundlich mit ihr plauderte, war niemand anderes als jener andere Mann von den beiden, den die Sicherheitsleute von Christies vor geraumer Zeit beim Verlassen der Zentrale in London heimlich fotografiert hatten. Ebenso wie Gregor von Freysing hatte sich dieser Abdel Rahman für die Auktion aus dem Jahre 1981 interessiert. Jene Auktion, bei der ein ungewöhnlich großer Diamant zur Versteigerung gelangen sollte. Nach ihrem jetzigen Kenntnisstand war Marie-Claire davon überzeugt, dass Christies damals der legendären Florentiner angeboten worden war.

Jetzt saß dieser Araber vor ihr. Ja, er war es. Ohne Zweifel. Sie hatte ihn sofort erkannt. Doch das war nicht der einzige, der wirkliche Grund für ihre Verwirrung. Nein. Dass um den Florentiner herum andauernd mysteriöse Dinge geschahen, Dinge, die ihre Welt auf den Kopf stellten, hatte sie im Laufe der letzten Wochen begriffen. Sie hatte sich fast schon daran gewöhnt und rechnete damit, ständig mit etwas Neuem konfrontiert zu werden. Das Problem, das sie nun hatte, war ein ganz anderes: der Mann, von dem sie nicht einmal genau wusste, wer er wirklich war und ob er wirklich Abdel Rahman hieß. Hatte Francis ihr nicht gesagt, dass er sich damals in London als Jilani oder so ähnlich vorgestellt hatte? Doch das war ihr ebenso gleichgültig wie die Frage, warum er sich für den Florentiner interessierte. Der Mann, den sie nun schon seit einer Stunde betrachtete, dieser Mann verwirrte sie aus einem ganz anderen Grund: Sie hatte schon lange nicht mehr einem so gut aussehenden Mann gegenübergesessen. Er sah aus wie Omar Sharif in jungen Jahren. Sein Gesicht war fast ebenmäßig und doch extrem männlich und markant. Er hatte kräftige und doch schlanke, schöne Hände. Seine tiefdunklen Augen sprühten vor Lebenskraft und Elan. Und er war sympathisch, unendlich sympathisch.

Weit mehr als Gregor stellte er ihre Gefühlswelt auf den Kopf. Sie verlor sich in seinen Augen, sein Charme umhüllte sie und gleichzeitig riet ihr der Verstand zu extremster Vorsicht. Als sie vor wenigen Minuten von der Toilette zurückgekehrt war, hatte sie gesehen, dass sie einen fatalen Fehler begangen hatte. Unter ihrem Mantel auf dem Stuhl neben ihr lag das Originalmanuskript von Alphonse de Sondheimer, und sie hatte es dort liegen lassen. Sie glaubte, den Mantel beim Aufstehen leicht gestreift zu haben, so dass der Stapel Papier jetzt deutlich zu sehen war.

Marie-Claire saß nun wieder am Tisch, lächelte und schielte auf den Nachbarstuhl. Die Hälfte des Titelblattes schaute unter dem Mantel hervor. Der Name Alphonse de Sondheimer war in großen Lettern deutlich zu lesen. Hatte der Araber es gesehen und in ihrer Abwesenheit darin geblättert? Marie-Claire wusste es nicht, und zu ihrer eigenen Beschämung hielt sie sich auch nicht bei diesem Gedanken auf

Marie-Claire wachte mit schlechter Laune auf. Die Nacht war für sie ein einziges Martyrium gewesen. Mit allem hatte sie gestern gerechnet, aber nicht damit, dass sich der Araber kurz darauf von ihr verabschiedete. So charmant und unglaublich leutselig, wie er mit ihr in dem Café geplaudert hatte, war sie schnell davon ausgegangen, dass er sie zu einem gemeinsamen Abendessen einladen würde. Sie hätte sofort Ja gesagt! Doch er hatte nicht einmal eine Andeutung gemacht. Zuvorkommend-galant war er gewesen, sie hatten viel gelacht, sich über ihre früheren Reisen nach Marokko und Syrien unterhalten auf Französisch! Sie hatte es unglaublich genossen, mit ihm auf Französisch zu plaudern. Sie liebte diese Sprache. Im Lycée Français wurde ausschließlich in Französisch unterrichtet. Französisch war für sie wie ihre Muttersprache. Sie konnte es besser als Deutsch und träumte sogar in dieser Sprache. Während ihrer Aufenthalte in Tunesien und Marokko hatte sie es geliebt, sich mit den Menschen dieser Länder auf Französisch zu verständigen, zumal sie Französisch sprechende Araber schon immer sehr erotisch gefunden hatte. Das war schon im Lycée so gewesen. Unter ihren Freunden an der Schule befanden sich stets Jungen aus arabischen Ländern. Sie hatten etwas, was ihren österreichischen Klassenkameraden fehlte. Diese eigentümliche Faszination, die orientalische Männer für sie hatten, zog sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Auf ihrer ersten Ägyptenreise, zusammen mit ihren Eltern, hatte sie sich im Alter von fünfzehn Jahren in einen jungen Ägypter verguckt und mit ihm heimlich geschmust. In Syrien war sie dann während ihres Studiums zum ersten Mal den männlichen Verlockungen Arabiens erlegen. Später hatte sie mehrere Jahre eine Beziehung mit einem Mann aus Tunesien geführt und auch die Grenzen einer solchen Verbindung, die in der Einstellung arabischer Männer zu Frauen bestanden, kennen gelernt. Jahrelang hatte sie nicht mehr darüber nachgedacht, warum sie arabische Männer so unglaublich erotisch fand bis Abdel Rahman gestern aufgetaucht war.

Er hatte mit ihr geflirtet und dabei heimlich nach ihrem Körper geschielt. Sie war sich absolut sicher, dass er sie begehrte. Vieles hatte dieser Abdel Rahman getan und gesagt, was sie schnell glauben ließ, er würde sie bitten, den Abend mit ihm zu verbringen. Doch nach einem kurzem Telefonat entschuldigte er sich aus dringenden geschäftlichen Gründen und war verschwunden. Und mit ihm ihre wilden Fantasien! Ungläubig hatte sie ihm ihre Telefonnummer gegeben, ohne jedoch im Gegenzug seine zu erhalten. Illusion ade, hatte sie beim Verlassen des Cafés noch gedacht.

Draußen hatte er ihr, um ihr über ein unebenes Stück Weg zu helfen, die Hand gereicht und ihre dann länger festgehalten als nötig. Die Gänsehaut, die sie in diesem Moment verspürt hatte, verging die ganze Nacht nicht. Es war eine grausige Nacht gewesen. Wirres Zeug hatte sie geträumt. Erinnerungsfragmente einten sich im Halbschlaf mit Empfindungen, die tief in ihr schlummerten und nach neuem Leben lechzten. Wie ein in Zeitlupe rückwärts laufender Film ihres Leben während des Arabistikstudiums verbanden sich Traumbilder aus der wunderschönen altrömischen Wüstenstadt Palmyra in Syrien mit den Stimmen der Sprecher der Son-et-Lumières-Show im Tempel von Karnak in Oberägypten. Da ging die Sonne hinter den Ruinen von Karthago in Tunesien unter und stieg am frühen Morgen aus denen im tunesischen Sbeitla wieder empor. In den Sanddünen des Erg Chebbi und in der Sandwüste von Chigaga sah sie sich neben dem Lagerfeuer auf dem Wüstenboden liegen und die kristallklaren Sterne über sich funkeln. In allen Traumbildern huschten Gesichter durch die Erinnerungen. Gesichter von Männern. Sie waren zu schemenhaft, als dass Marie-Claire sie hätte benennen können, aber sie wusste, wer sie waren und was sie bedeuteten, welche Sehnsucht sich in ihnen verbarg. Ja, das war ihr Leben, wie sie es sich immer vorgestellt und auch über viele Jahre gelebt hatte. Deswegen hatte sie Arabistik studiert. Dann hatte sie dieses Leben aus den Augen verloren. Doch heute Nacht hatte es tief in ihr rumort. Heute Nacht war es wieder erwacht, zusammen mit Gesichtern arabischen Gesichtern. Was sie etwas schockiert hatte, war, dass sowohl Sanjay Kasliwal aus dem indischen Jaipur als auch Abdel Rahman darin aufgetaucht war. Eines hatte sie darüber komplett vergessen ihren Auftrag und Francis Roundell. Das Klingeln des Handys riss sie zurück in die Gegenwart. Marie-Claire stolperte durch ihre Zweizimmerwohnung am Donaukanal. Draußen schien es sehr kalt zu sein. Der durch Abwässer erwärmte Kanal dampfte. Das Handy lag im Badezimmer, aber es klingelte nicht mehr. Die Nummer auf dem Display kannte sie nicht, aber als sie sie wählte, hoffte sie. Und wirklich, er war es. Seine Stimme am anderen Ende der Leitung klang ihr unglaublich vertraut.

»Oui quelle surprise gerne, ja, es ist sehr schönes Wetter. Ich habe eine gute Idee! Treffen wir uns doch um vier Uhr heute Nachmittag am Eingang des Burgtheaters und gehen wir zum Weihnachtsmarkt.«