Und also werden die Edelsteine von Feuer und Wasser

erzeugt, deshalb haben sie auch Feuer und Wasser und

viele Kräfte und Wirkungen in sich

 

»Physica« von Hildegard von Bingen (1098-1179)

1. Kapitel

F

reiherr Georg Ludwig von Hohenstein kannte den Mann in seinem Traum nicht. Weder hatte er jemals zuvor die Stimme gehört, noch diese Augen schon einmal gesehen. Ein komplettes Gesicht hatte der Mann nicht, aber er wirkte bedrohlich. Seine Augen zeigten einen Schimmer von Hass und sein französischer Befehl hallte wie ein Peitschenschlag durch Georgs Traum.

 

»Reveillez!«

Freiherr von Hohenstein drehte sich mürrisch auf die Seite, zog die Bettdecke über die Schulter und versuchte den Traum zu verdrängen. Dann hörte er Klara hinter sich sprechen. Ihre Hand lag auf seiner Schulter. Sie sprach mit gepresster Stimme, angsterfüllt und panisch. Plötzlich wusste er, dass es kein Traum war.

»Georg «, stotterte sie.

Er versuchte sich aufzurichten, aber etwas presste ihn mit einem kalten Gegenstand auf das Kopfkissen zurück. Aus dem Augenwinkel sah er, dass der Mann mit den hasserfüllten Augen Wirklichkeit geworden war. Er stand direkt vor ihm am Bett und richtete eine Pistole auf ihn. Die Mündung zeigte genau zwischen Freiherr von Hohensteins Augen. Im diffusen Morgenlicht des Schlafzimmers waren noch andere Gestalten zu erkennen. Sie huschten umher und trugen alle Kapuzen. Der Mann vor ihm sprach diesmal sehr leise.

»Guten Morgen, Monsieur Freiherr von Hohenstein « Es klang seltsam. Er strengte sich an, das H auszusprechen, aber es gelang ihm nicht. Als sei ihm das peinlich, räusperte er sich kurz. Dann sprach er in exzellentem Deutsch mit einem sehr eigentümlichen Akzent.

»Ich bedaure, Ihre Nachtruhe so rüde unterbrechen zu müssen, Monsieur, aber ich muss Sie und Ihre werte Gattin bitten, mir Ihre geschätzte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Wir müssen über unaufschiebbare geschäftliche Belange sprechen.«

Freiherr Georg von Hohenstein wunderte sich über die gewählte Ausdrucksweise des Mannes mit der Pistole.

»Was wollen Sie?«, presste er hervor. Er versuchte bei seiner Gattin nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, er habe Angst. Aber er hatte Angst. Panische Angst. Und seine Stimme verriet ihn: »Ich habe nicht viel Bargeld im Hause. Nehmen Sie «

»Ich will Ihr Geld nicht. Ich will den Sancy!«

Freiherr von Hohenstein stockte der Atem. Die Hand seiner Frau, die auf seiner Schulter lag, zuckte merklich. Der Sancy! Woher wusste dieser Einbrecher, dass der Sancy im Haus war? Woher wusste er, dass der Brillant morgen zu einer Ausstellung über den Schmuck der preußischen Könige ins Schloss Charlottenburg nach Berlin gebracht werden sollte und nur deswegen am Tag zuvor aus der Panzerglasvitrine herausgenommen worden war und zusammen mit den anderen Schmuckstücken im Safe lag allein durch die Stahltür geschützt?

»Alle Wertsachen sind in einem Tresor mit Zeitschloss. Der Sancy auch. Der Tresor ist erst wieder am Montag zu öffnen«, log er.

Der Mann mit der Pistole nickte einem seiner Begleiter zu. Er schien verärgert zu sein. Die Morgensonne schien jetzt in den Raum. Aus den Umrissen der anderen Männer wurden große, klar erkennbare Gestalten, die alle blaue Overalls trugen. Einer war kleiner, fast schmächtig, die beiden anderen waren muskulös. Sie schienen keine Waffen zu haben. Der Schmächtige trat an das Bett.

»Drehen Sie sich langsam um«, befahl der scheinbare Anführer Georg von Hohenstein. Mit dem Pistolenlauf drückte er ihn unmissverständlich zu jener Seite hin, wo seine Frau lag. Langsam drehte sich Freiherr von Hohenstein um. Seine hellen Stirnhaare fielen ihm ins Gesicht. Er erschrak. Klara lag auf dem Rücken. Die Bettdecke hatte sie bis zum Mund hochgezogen. Mit panischen Augen schaute sie ihn an. Schweißperlen rannen ihr über das Gesicht. Todesangst verfärbte ihren ohnehin fahlen Teint grau-weiß. Der Schmächtige trat an ihr Bett heran und riss die Bettdecke weg. Klara schrie lautlos-entsetzt auf. Ihr von Furcht erfüllter Blick verriet, wovor sie Angst hatte. Ohne die Reaktion seines in Angst erstarrten Opfers abzuwarten, presste der Mann Klara seine Hand auf den Mund und riss ihr brutal das Nachtkleid vom Leib. Freiherr von Hohenstein bäumte sich kurz gegen den Druck der Pistole in seinem Nacken auf, aber er wusste, dass das sinnlos war. Seine Frau lag wie gelähmt auf dem Bett mit dem dunkelroten Seidenbezug. Tränen rannen ihr über die Wangen.

Im Raum herrschte plötzlich eine eigentümlich angespannte Atmosphäre. Der Schmächtige taxierte Klara von Hohenstein ungeniert.

»Bitte tun Sie ihr nichts «, wollte Freiherr von Hohenstein seine Bereitschaft, den Tresor zu öffnen, artikulieren, aber der Mann hinter ihm steckte ihm den Lauf der Waffe von der Seite her in den Mund.

»Los, beeil dich«, herrschte der Anführer den Kleinen an. Der Schmächtige beugte sich über das Bett. Die Frau zitterte am ganzen Körper. Sie atmete jetzt sehr schnell, weinte aber nicht mehr. Der Mann streifte den Handschuh von seiner rechten Hand ab. Freiherr von Hohenstein starrte wie gebannt auf die Finger des Mannes. Solche Hände hatte er schon einmal gesehen. Nein, er hatte sie schon sehr oft gesehen. Damals, in Ägypten. Fast alle Menschen in Ägypten hatten solche Hände: braun gebrannt, mit helleren Handinnenflächen, sehr weißen Fingernägeln und sehr hellem Nagelbett. Ja, schoss es ihm durch den Kopf, ein Araber! Der Kleine genoss seine Macht. Sein Atem ging jetzt sehr schnell. Die Brust hob und senkte sich sichtbar unter seinem Overall. Er fingerte an dem Reißverschluss seines Overalls und zog ihn ostentativ langsam herunter. Klara von Hohenstein schloss die Augen. Sie weinte jetzt wieder.

»Die Nummernkombination zum Tresor«, forderte der Anführer.

Freiherr von Hohenstein schielte zu seiner Frau hinüber. Sie lag wie aufgebahrt, mit starrem Blick und aschfahlem Gesicht auf dem Bett.

Der Druck des Pistolenlaufs in seinem Nacken nahm zu. Er wusste, dass er keine Wahl hatte, dass es aussichtslos war, mit diesen Männern zu verhandeln. Aber würden sie ihn und seine Frau nicht sowieso umbringen, hätte er erst einmal den Code des Tresors verraten? Im Tresor lagen derzeit Schmuckstücke von unschätzbarem Wert! Die Versicherungsprämie belief sich alleine für den Transport der Schmuckstücke auf über zehntausend Euro bei einem Versicherungswert aller Preziosen von acht Millionen Euro! Vom ideellen Wert dieses jahrhundertealten Schmucks ganz abgesehen. Erst gestern waren die schönsten und wertvollsten Diademe, Armreifen, Halsketten und Ringe, besetzt mit Diamanten, Smaragden, Saphiren und Perlen, mithin also die schönsten Stücke des Familienschmucks, durch eine Sicherheitsfirma aus den Vitrinen des Museums geholt und für den Transport verpackt worden. Morgen sollten sie mit einem Hubschrauber nach Berlin gebracht werden. Wie hatten diese Männer davon wissen können? Alles war in höchster Geheimhaltung arrangiert worden. Nur die Versicherung und das Museum, in dem der Schmuck ansonsten ausgestellt war, wussten davon. Aus Sicherheitsgründen war sein gesamtes Hauspersonal über das Wochenende in Urlaub geschickt worden. Nur zwei Sicherheitsbeamte hielten sich unten im Erdgeschoss auf. Sie waren bewaffnet und für solch brisante Aufträge extra geschult worden. Aber wo waren sie? Waren sie bereits tot? Und wieso wollte der Anführer den Sancy? Ausgerechnet den Kleinen Sancy, einen der berühmtesten Diamanten des Abendlandes? Ein vierunddreißig-karätiger Brillant, der zum Kronschatz deutscher Kaiser gehört hatte und dessen Versicherungswert bei drei Millionen Euro lag?

Die Stimme des Mannes neben ihm ließ Georg von Hohenstein aus seinen Gedanken hochfahren. Er schämte sich, dass seine Gedanken bei dem Schmuck gewesen waren und er seine Frau darüber völlig vergessen hatte. Klara starrte voller Angst auf den schmächtigen Mann, der sie nicht aus den Augen ließ.

»Komm, wir vergnügen uns ein wenig mit ihr«, forderte er den Anführer auf.

»Lass sie in Ruhe«, herrschte dieser ihn an und wischte sich mit der freien Hand Schweißperlen aus dem Nacken.

»Abu Farez, du bist ein Spielverderber!« Bevor er weiter redete, richtete der Anführer plötzlich seine Waffe mit gestrecktem Arm auf den Kopf des Kleinen.

»Mach weiter!«, fuhr er den anderen an. Er klang aufgebracht und schien seine Drohung ernst zu meinen. Der Schmächtige griff in seinen geöffneten Overall und zog ein kleines, schwarzes Gerät aus Plastik, kaum größer als eine Zigarettenschachtel, heraus. Er schien irgendwie erstaunt, dass am Rande des Gerätes ein rotes Lämpchen in Intervallen aufleuchtete. Fragend blickte er für Bruchteile von Sekunden den Anführer an. Dann wandte er sich wieder der Frau im Bett zu. Er nahm das kleine Gerät, steckte es ihr in den Slip, drehte an einem Knopf des Gerätes und zog den Slip hoch, so dass das Gerät stecken blieb. Nur der obere Teil schaute heraus. Das rote Lämpchen leuchtete in kurzen Intervallen auf.

»Nicht bewegen«, zischte der Bewaffnete. Freiherr Georg von Hohenstein konnte sich die Motive der Männer noch immer nicht erklären. Er hatte nicht alles verstanden, was die beiden Männer miteinander gesprochen hatten. Sie sprachen manchmal auf Arabisch. Ihm war klar, dass er es hier nicht mit schnöden Kriminellen zu tun hatte, diese Männer wussten genau, was sie wollten: den Sancy! Aber warum wollten sie nur diesen einen Diamanten? Und würden sie ihn und seine Frau dafür tatsächlich umbringen?

»Nein, wir werden Sie nicht umbringen«, schien der Anführer seine Gedanken erraten zu haben. »Ich will den Diamanten. Sonst nichts!«

»Sieben links, vier rechts, fünf links«, presste Freiherr Georg von Hohenstein die Nummernkombination des Tresors hervor.

»Sie sind sehr klug, Monsieur! Ihre Frau wird es Ihnen danken, dass Sie sie mit Ihrer Weisheit aus ihrer misslichen Situation befreit und Schlimmeres verhindert haben. Warum sollten Sie auch Ihr Leben und das Ihrer so attraktiven Gattin aufs Spiel setzen für etwas, das Ihnen sowieso nie gehört hat und nie wieder gehören wird! Der Sancy gehört nicht ins christliche Abendland. Dieser wunderschöne Diamant ist legitimes Eigentum des arabischen Volkes. Was die Kreuzritter einst raubten, werden wir jenen zurückgeben, denen es gehörte.«

Als habe er zu viel gesagt, richtete sich der Anführer plötzlich auf. Seine Waffe zielte nicht mehr auf den Nacken seines Opfers.

»Schauen Sie sich dieses kleine Gerät an. Das ist ein Zeitzünder mit ein paar Gramm Sprengstoff. Er ist mit einem Vibrationszündmechanismus versehen. Wir werden Sie und Ihre Frau jetzt zusammenbinden und den Diamanten aus dem Tresor im Keller holen. Bleiben Sie ganz einfach zwei Stunden lang völlig regungslos liegen. Dann geschieht Ihnen beiden nichts. Nach zwei Stunden schaltet sich das Gerät automatisch ab. Bewegen Sie sich bis dahin nicht zu heftig! Versuchen Sie nicht, sich zu drehen. Atmen Sie ruhig. Jede zu schnelle Bewegung aktiviert den Mechanismus. Dann zerreißt die Sprengladung den Unterleib Ihrer Frau. Und Sie mit «

Der Mann ging um das Bett herum zu Klara von Hohenstein. Sie starrte ihn hass- und angsterfüllt an.

»Wie war die Kombination noch einmal?«, fragte er, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen.

»Sieben links, vier rechts, fünf links «

»Ich hoffe in Ihrem Interesse, dass diese Kombination stimmt. Und ich hoffe sehr, dass Sie sich nicht für einen schnöden Diamanten, der ohnehin überversichert ist, irgendwelche anderen Tricks einfallen lassen. Genießen Sie das Leben, Monsieur von Hohenstein! Wäre doch höchst bedauerlich, wenn Sie für einen durchsichtigen kleinen Stein aus dem fernen Morgenland in die Luft fliegen würden, oder?«

Die vier Männer gingen zur Tür. Freiherr Georg von Hohenstein und seine Frau lagen jetzt Bauch an Bauch eng aneinander gepresst auf der Seite, die Hände hinter dem Rücken des anderen mit Klebeband festgebunden und an den Füßen gefesselt. Zwangsweise Auge in Auge, nur wenige Zentimeter voneinander getrennt, starrten sie sich panisch an. Der Anführer blieb an der Tür stehen und schaute auf seine Armbanduhr.

»Es ist jetzt 6.32 Uhr. In genau zwei Stunden, um 8.32 Uhr, schaltet sich der Mechanismus der Sprengladung automatisch ab. Versuchen Sie, das zu erleben «

Zu dem Schmächtigen gewandt, befahl er: »Du bleibst hier und passt auf die beiden auf. Wir gehen runter und holen den Diamanten. Und lass die Finger von der Frau.«

Als er die Tür langsam hinter sich schloss, hielt Klara von Hohenstein den Atem an und blickte ihren Mann aus nächster Nähe fragend und doch wissend an. Tränen liefen ihr über die Wange. Ihr Mann schlug verschämt die Augen nieder. Er wusste, wovor seine Frau Angst hatte.

Fünfzehn Minuten später, Freiherr Georg von Hohenstein hatte das Aufheulen zweier Automotoren gehört und daraus geschlossen, dass die Täter davongefahren waren, klingelte bei Oberkommissar Friedhelm Sauer, Leiter des Frühdienstes der Kriminalwache Sigmaringen, das Telefon. Drei Minuten später rasten zwei Streifenwagen mit Blaulicht aus der Tiefgarage der Polizeiwache. Weitere sieben Minuten später hatten die Polizisten eine provisorische Straßensperre kurz vor der Einmündung der kleinen Privatstraße, die von Schloss Hohenstein auf die Bundesstraße führte, errichtet. Zwei Nagelbretter lagen quer versetzt über der Straße. Die beiden Polizeifahrzeuge standen kurz dahinter nebeneinander auf der Fahrbahn. Zwei Polizisten standen einige Meter seitlich von den Fahrzeugen entfernt hinter Bäumen. Sie hielten MP-5-Maschinenpistolen im Anschlag. Die beiden Kriminalbeamten hatten sich hinter einem Felsbrocken neben der Straße geduckt. Auch sie waren schwer bewaffnet. Gebannt starrten alle vier in den Wald hinein.

»Die können noch nicht unten sein«, murmelte Oberkommissar Sauer seinem Kollegen zu. »Von Schloss Hohenstein bis zu dieser Abzweigung braucht man mindestens fünfunddreißig Minuten. Ich bin die Strecke schon oft gefahren.«

Während er es sagte, hoffte er insgeheim, dass das alarmierte Sondereinsatzkommando noch rechtzeitig eintreffen würde. Er hatte das untrügliche Gefühl, dass vier Beamte zu wenige waren, um diese Männer zu stoppen. Soeben wollte er weitere Anweisungen geben, als das Dröhnen von Fahrzeugmotoren aus dem Wald heraus zu ihnen herabhallte. Reifen quietschten.

»Sie kommen!«, brüllte er den anderen Polizisten zu. Hektisch entsicherte er seine Waffe, richtete sie mit gestreckten Armen in Kombattstellung auf das, was da jeden Augenblick um die Kurve aus dem Wald herauskommen würde: zwei Fahrzeuge mit Männern, die Freiherr von Hohenstein beraubt hatten. Männer, Araber, die skrupellos und bewaffnet waren

 

Freiherr Georg von Hohenstein saß im Schlafanzug in seinem Range Rover. Neben ihm auf dem Beifahrersitz lagen eine Schrotflinte und ein großkalibriges Jagdgewehr mit Zielfernrohr. Im Schoß lag ein Trommelrevolver. Der Motor des Achtzylinders heulte auf. Mit quietschenden Reifen schoss der Geländewagen aus dem Innenhof des Schlosses. Die Augen des Vierzigjährigen glänzten unnatürlich. Er zitterte am ganzen Leib.

»Ich bringe euch um«, schrie er aus dem geöffneten Seitenfenster hinaus und raste talwärts, den Fluchtfahrzeugen hinterher. Die Reifenspuren auf der nassen Fahrbahn zeigten ihm, dass die Araber über die kleine Privatstraße, die durch die Wälder ins Tal führten, geflohen waren. Nervös fingerte er nach der 44er Magnum zwischen seinen Oberschenkeln. Sein Vater hatte ihm die Waffe geschenkt. Sie war extrem schwer, klobig und unhandlich. Sechs Patronen waren in den Kammern der Trommel. Jedes dieser Projektile war tödlich. Fast egal, wie und wo man traf.

Wer mit solcher Munition schoss, wollte töten. Und genau das wollte er! Er wollte und er musste töten! Den einen dieser Männer, der ihn die erniedrigendsten Momente seines Lebens hatte erleben lassen. Momente, die er nie würde vergessen können. Und Klara? Wie würde sie das Geschehene jemals verkraften können? Den Überfall würde sie vielleicht verdrängen können, aber was dann geschehen war, als die drei Männer hinunter in den Keller gegangen waren und den Schmächtigen zurückgelassen hatten, um auf sie aufzupassen, nein, das würde Klara niemals vergessen. Wie tot hatte sie auf dem Bett gelegen und nicht reagiert, als er davonstürzte. Dafür würde er ihn umbringen. Wenn er ihn kriegte.

 

Der Range Rover raste durch ein idyllisches Tal. Freiherr Georg von Hohenstein merkte, dass er zu schnell fuhr. Die Novembersonne stand milchig-gelb über den bewaldeten Hügeln vor ihm und blendete ihn. Morgentau, Laub und Lehm machten den Asphalt zu einer glitschigen Rutschbahn. Er wusste, dass er den schweren Geländewagen nicht halten konnte, wenn dieser seitlich ausbrach. Ein Reh wechselte plötzlich nur wenige Meter vor ihm von rechts aus dem Wald kommend in das Dickicht der anderen Straßenseite. Es war ein sehr junges Tier. Es verharrte für Momente, hatte panische Angst, starrte mit seinen wunderschönen, dunklen Augen zu ihm ins Fahrzeug hinein.

Es war der gleiche Augenausdruck, den Klara gehabt hatte, als der kleine Araber, kaum dass die anderen das Zimmer verlassen hatten, sie vergewaltigt hatte. Ihre Seele hatte aus ihren Augen herausgeschrien.

Als er den gequälten Augenausdruck seiner Frau, das schmerzerfüllte Gesicht von Klara nicht mehr hatte sehen können, hatte er die Augen geschlossen und hemmungslos geweint. Er wäre in diesem Moment am liebsten gestorben, weil er ahnte, dass es nach diesem Tag keine Zukunft mehr für ihn und Klara geben konnte. Ein einziger Gedanke hielt ihn am Leben. Rache! Denn plötzlich war ihm durch den Kopf geschossen, dass der Araber die Sprengladung in Klaras Slip gar nicht deaktiviert hatte. Er hatte ihr den Slip einfach zerrissen.

Das kleine schwarze Gerät war aufs Bett gerutscht, ohne zu explodieren. In diesem Augenblick hatte Georg von Hohenstein mit Entsetzen erkannt, dass dieses Gerät eine Attrappe war. Mehr nicht. Und von diesem Moment an wollte er wieder leben leben, um sich zu rächen.

Mit diesem Hass, mit dem unbändigen Wunsch zu töten, raste er nun in seinem Range Rover hinter den Männern her. Er hoffte, dass er sie einholen würde, bevor die von ihm telefonisch alarmierten Polizisten auftauchten.

»Ich töte dich ich töte euch!«, schrie er erneut. Dann sah er hinter der nächsten Kurve die beiden Fahrzeuge. Keine dreihundert Meter entfernt. Sie fuhren waghalsig schnell, aber er war schneller. Der Range Rover schlidderte bedrohlich aus der Kurve heraus über den Grünstreifen am Fahrbahnrand. Das Allradfahrzeug fing sich und schoss talwärts. Die Fahrzeuge vor ihm gerieten plötzlich ins Schlingern, blieben abrupt fast quer auf der schmalen Straße stehen. Er sah die Reifen qualmen. Dann sah er die zwei Polizeifahrzeuge, die Straßensperre, sah, wie das hintere Fluchtfahrzeug den Rückwärtsgang einlegte, dann aber wieder scharf bremste, weil der Fahrer wohl den Range Rover hinter sich gesehen hatte.

Erstaunt stellte Freiherr Georg von Hohenstein fest, dass er nicht aufgeregt war. So wie auf der Jagd. Auf der Pirsch war er nie aufgeregt. Er war ein guter Jäger.

Jetzt war er nahe genug an den Fahrzeugen, um erkennen zu können, dass in dem hinteren Wagen, einem BMW, nur ein Mann saß. Davor war das Heck eines japanischen Geländewagens zu sehen. Er ahnte wusste es plötzlich. In dem BMW saß der schmächtige Araber! Langsam manövrierte er seinen Range Rover seitlich auf die Straße, griff nach seinem Jagdgewehr, richtete es auf den hinteren Wagen. Er atmete ruhig durch, visierte über das Fadenkreuz des Zielfernrohrs den Hinterkopf des Mannes am Steuer an. Der Fahrer trug keine Kapuze mehr. Ja, er war es! Groß und klar konnte er das Profil des Mannes sehen. Der Mann in dem anderen Fahrzeug wandte sich jetzt nach hinten, blickte durch das getönte Heckfenster und sah den Range Rover. Freiherr Georg von Hohenstein sah ihn, sah das Gesicht des Vergewaltigers groß, blass und matt inmitten des Fadenkreuzes, sah seine Augen und sah, dass der Araber wusste, was geschehen würde.

 

Ein Schuss hallte durch das Tal. Kurz, bellend, trocken tödlich. Der BMW schoss mit aufheulendem Motor über den Straßenrand, überschlug sich am Hang mehrmals und blieb auf dem Dach liegen. Der japanische Geländewagen davor raste davon, querfeldein, über die Wiese in Richtung des Waldrandes.

Es dauerte lange, unendlich lange, bis die nächsten Schüsse durchs Tal hallten, bis die Männer hinter den Polizeifahrzeugen hervorsprangen. Die Polizisten schossen. Aber sie trafen den über die Felder davonrasenden Wagen nur am Heck. Freiherr Georg von Hohenstein folgte dem Fluchtfahrzeug durch das Zielfernrohr hindurch. Er sah die wenigen Einschläge der Polizeikugeln am Heck des Fahrzeugs, wusste, dass die Neun-Millimeter-Geschosse auf diese Entfernung keinen großen Schaden anrichten konnten. Sein Zielfernrohr schwenkte hin zum Fahrerfenster. Er sah einen der breitschultrigen Araber am Lenkrad. Die anderen zwei Männer hatten sich im Fahrzeug weggeduckt.

Sein Zeigefinger tastete nach dem Abzug des Jagdgewehrs. Die linke Schläfe des Arabers am Lenkrad war jetzt mitten im Fadenkreuz. Aber Freiherr Georg von Hohenstein schoss nicht. Tränen rannen auf das Glas des Zielfernrohrs. Die Silhouette des Fahrers verschwamm vor seinen tränenerfüllten Augen, wurde kleiner und verschwand im Wald.

*

Vor dem Tod hatte Leonardo Frattini keine Angst. Doch dass sein missratenes Leben jetzt in Florenz, fern seiner Heimat Sardinien, enden würde, gefiel ihm nicht. Und es enttäuschte ihn maßlos, dass es so schnell gehen würde. Andererseits, dachte er sich, so schlecht ist es nun auch wieder nicht, als verarmter sardischer Hirte im weltberühmten Palazzo Pitti zu sterben.

Seine allerletzten Gedanken, jene Augenblicke, die zwischen dem erstaunten Blick auf den davonlaufenden Jungen und der Explosion lagen, kreisten daher nicht um das Entsetzen über den Tod. Er hatte in seiner Zeit bei der französischen Fremdenlegion im Krieg in Algerien so viel Totes, tote Menschen, verendete Tiere, leblose Landschaften und abgestorbene Gefühle gesehen, dass ihn das nicht mehr entsetzen konnte.

Vielmehr bereute er in diesen wenigen ihm noch verbleibenden Sekunden seines Lebens, die eine Sache mit seiner Enkelin Francesca nicht geregelt zu haben. Die Kleine sollte sein winziges Landhaus bei San Teodoro auf Sardinien erben. Ebenso wie das Segelboot und die Ersparnisse. Sie sollte alles bekommen. Dieses Vorhaben war mit dem Wissen um die Unabwendbarkeit seines baldigen Todes gereift. Die Entscheidung, seinen Sohn Carlo zu enterben und alles der kleinen Francesca zu vermachen, war gefallen, als er erfahren hatte, dass Carlo bereits mit dem Erbe kalkulierte. Carlo brauchte wieder einmal Geld für eine seiner absurden, seit jeher schon im Ansatz zum Scheitern verurteilten Geschäftsideen, und er stand unter Druck bei seinen Gläubigern. Banken, Freunde und suspekte Geldverleiher. Folglich hatte er sein zu erwartendes Erbe bereits verpfändet. So gesehen wartete Carlo sehnsüchtig auf den Tod seines Vaters. Das wusste Leonardo Frattini. Doch sein Sohn hatte nicht damit gerechnet, dass Leonardo ihm einen Strich durch seine zynische Rechnung machen würde. Er lebte länger als erwartet, denn die Metastasen vermehrten sich langsamer als von den Ärzten prognostiziert. Daher hatte Leonardo Frattini auch geglaubt, noch Zeit genug zu haben für die Änderung des Testaments. Die Schmerzen waren in den letzten Wochen seltsamerweise nicht so grauenhaft wie zuvor. Zwar wuchs der Tumor in der rechten Schädelseite, aber die Schmerzen ließen nach. Das hatte Leonardo zu der fatalistischen Erkenntnis geführt, dass der Tod wohl auch etwas Gutes habe, da mit seinem Herannahen die Schmerzen wichen. Und weil dem so war, hatte er sich bei der Personalabteilung des Palazzo Pitti wieder zur Arbeit gemeldet. Er hatte erfahren, dass man im Palazzo wegen einer Sonderausstellung zusätzliche Mitarbeiter benötigte. Seine Arbeit als Wärter in jenem Gebäudetrakt des Museums, in dem unter anderem die Schätze der Medici ausgestellt waren, machte ihm Spaß. Für Glanz und Glorie dieses italienischen Herrschergeschlechts hatte er sich schon als kleiner Junge begeistert. Die prachtvollen Schätze der Medici im Palazzo Pitti zu bewachen, sah er als ehrenvolle Aufgabe an, auch wenn es manchmal langweilig war, den ganzen Tag durch den linken Flügel des Palazzo zu gehen und zu warten, bis Besucher ihn etwas fragten. Andererseits hatte er seit Monaten ohnehin nichts anderes getan als gewartet. Auf den Tod. Die Arbeit machte das Warten auf das Ende kurzweiliger, und eine Sonderausstellung brachte Abwechslung in seinen Tagesablauf. Daher hatte er sich sehr darauf gefreut, als am heutigen Morgen die Sonderausstellung über Maria de Medici im Palazzo Pitti eröffnet worden war. Aus aller Welt waren prachtvolle Exponate eingetroffen und in den Vitrinen ausgestellt. Unter den Exponaten befanden sich auch viele Gemälde von Michelangelo, der eng mit den Medici befreundet gewesen war. Schon am frühen Morgen hatten sich Besucherschlangen vor dem Palazzo auf der Piazza dei Pitti bis in die Via Guicciardini und auf die Piazza San Felice gebildet. Der Ansturm war überwältigend. Jetzt, am frühen Nachmittag, waren die Salons der zweiten Etage noch immer überfüllt.

Dass du dich freiwillig zur Arbeit gemeldet hast, schoss es ihm in diesen letzten Momenten seines Lebens durch den Kopf, war eine tödliche Entscheidung gewesen. Hätte er weiterhin nicht gearbeitet, würde er noch ein wenig länger leben und hätte Zeit, sich um diese leidige Erbsache zu kümmern.

Das Letzte, was der sechsundsechzigjährige Museumswärter Leonardo Frattini an diesem frühen Novembernachmittag dachte, war, dass es eigentlich ein zynischer Seitenhieb des Schicksals sei, von einem ungefähr zwölfjährigen kleinen Jungen getötet zu werden, wo er doch gerade entschieden hatte, seiner ebenfalls zwölfjährigen Enkelin alles zu vererben und der Kleinen damit ein angenehmes Lebens zu garantieren. Er starrte bei diesem Gedanken auf die graue, von Kinderhand geformte Knetmasse an der linken unteren Ecke der Glasvitrine. Eine kleine Hülse steckte in der Masse, und aus der Hülse schaute ein blaues Kabel hervor. Das Ganze sah sehr unscheinbar aus, fast so wie die Knetmassen, mit denen er als Kind im Kindergarten von San Teodoro gespielt hatte. Aber er kannte diese Masse mit der Hülse aus dem Krieg und wusste, dass es Plastiksprengstoff war. Vielleicht dreißig Gramm. Das war nicht sehr viel, aber dennoch genug, um die Vitrine aus Panzerglas in Millionen kleine Teile zu zerfetzen. Er sah den Zeitzünder und war sich todsicher, dass irgendjemand hier im Palazzo Pitti gleich auf einen Knopf drücken und die funkgesteuerte Sprengladung zünden würde. Er verstand nur nicht, warum. Denn von den kostbaren Schmuckstücken in der Vitrine, von den unvorstellbar wertvollen goldenen Colliers, Broschen, Armreifen, Haarnadeln und Ringen, den goldenen Insignien des Herrschergeschlechts der Medici und anderer abendländischer Fürsten, würde nichts übrig bleiben. Nur deformiertes Metall, das nichts wert sein würde. Nein, er verstand nicht, was da direkt vor seinen Augen gleich geschehen würde.

Leonardo Frattini hörte wie aus weiter Ferne das unsagbar grelle Schrillen der Alarmanlage, ausgelöst durch die abrupten Bewegungen des Jungen, der sich über die rote Absperrkordel gebeugt und blitzschnell die Knetmasse an die Vitrine geklebt hatte. Er hörte das Hallen der schnellen Schritte des davonlaufenden Jungen auf dem Marmorboden. Er vernahm verwundert murmelnde Besucher, sah erstaunte Gesichter und sah seinen Kollegen Vincenzo aus dem Nebenraum hereineilen. Vincenzo sah wie immer sehr lächerlich aus mit seinem dicken Bauch in der viel zu engen Uniform und mit der leger in den Nacken geschobenen Schirmmütze. Der sardische Hirte und Exfremdenlegionär Leonardo Frattini sah in diesen Sekunden viel, hörte alles, verstand aber nicht, was da vor sich ging. Den kleinen, arabisch aussehenden Jungen hatte er zwar kurz beobachtet, als dieser vor wenigen Minuten in den Raum gekommen war. Er hatte irgendwie hilflos ausgesehen, als suche er Rat oder seine Eltern. Mit großen Augen der Begeisterung hatte der Kleine mit dem Unschuldsblick eines Kindes im Ausstellungsraum herumgeschaut und war dann vor der Vitrine, in der rechten Ecke des Salons, nahe dem Fenster stehen geblieben. Warum sollte man als Wärter im Palazzo Pitti einem Kind Misstrauen entgegenbringen? Ein Kind im Alter seiner Enkelin Francesca würde wohl kaum auf die wahnwitzige Idee kommen, Ausstellungsstücke aus den Königsgemächern, Bilder aus der palatinischen Galerie, Preziosen der Medici oder Gemälde von Michelangelo, der Maria de Medici so wunderschön gemalt hatte, zu stehlen. Zumal das ohnehin schier unmöglich war. Die Alarmanlagen des Palazzo Pitti galten unter Experten als perfekt. Bewegungsmelder, Infrarotsensoren, Überwachungskameras, Panzerglasvitrinen: Nein, jeder Versuch, diese kostbaren Schätze zu stehlen, war zum Scheitern verurteilt. Auch das war ein Grund, warum Leonardo Frattini nicht begriff, was da um ihn herum geschah.

Er ärgerte sich vielmehr ein wenig darüber, dass er wie zu einer Salzsäule erstarrt vor der Vitrine mit dem Plastiksprengstoff stand: unfähig sich zu bewegen, unfähig etwas zu unternehmen. Er fühlte sich so, wie sich ein Soldat fühlt, der auf eine jener Landminen getreten ist, die nicht explodieren, wenn man auf sie tritt, sondern erst dann, wenn der Fuß sich hebt und der tödliche Mechanismus ausgelöst wird. In solchen Momenten wird einem bewusst, dass es völlig egal ist, was man selbst tut. Man kann nur warten und hoffen. Genau so fühlte Leonardo Frattini sich in jenem Moment, einen Schritt entfernt von der mit Goldschmuck und Edelsteinen so prachtvoll dekorierten Vitrine im Palazzo Pitti, unterhalb des Giardino di Boboli von Florenz. Die Alarmanlage schrillte noch immer. Irgendwie klang sie erbärmlich mickrig. Sein Kollege Vincenzo stand ebenfalls vor der Vitrine und starrte auf die Knetmasse. Fragend blickte er dem arabischen Jungen hinterher. Dann drehte er sich zu seinem Kollegen um. Leonardo blickte Vincenzo an. Und beide wussten, dass es Sprengstoff war, der jeden Augenblick explodieren würde.

 

In jenem Moment befand sich der kleine Araber bereits vor dem Fenster rechts neben der Zwischentür. Blitzschnell fuhr seine Hand in die Tasche seines Kaftans, zuckte hervor, streckte sich in Richtung des abgedunkelten Fensters, von dem man ansonsten von der zweiten Etage herab einen wunderschönen Blick über die hinter dem Palazzo liegenden Boboli-Gärten hatte. Der Junge zog seine Hand zurück. An dem mit Panzerglas und Alarmanlagen gesicherten Fenster in der zweiten Etage klebte plötzlich ebenfalls eine graue Masse mit einem kleinen Metallröhrchen darin.

Der Junge rannte los und verschwand durch die Verbindungstür zum Nebenraum.

Bruchteile von Sekunden später war Leonardo Frattini aus dem kleinen Dorf Lu Fraili in Sardinien, seit fünfzehn Jahren Museumswärter im Palazzo Pitti in Florenz, tot. Glasfragmente der explodierenden Vitrine trennten seinen Kopf ab. Die zweite Detonation am Fenster schleuderte seinen Rumpf quer durch den Raum, neben eine japanische Touristin. Sie war jung und sehr schön. Auch sie war tot. Leonardo Frattinis Kollege Vincenzo lebte noch, weil er sich nicht über die Vitrine gebeugt, sondern sich auf den Boden hatte fallen lassen. Ihm fehlte nur der rechte Arm. Die Alarmanlage schrillte nicht mehr, dafür schrien die Menschen umso mehr. Überall war Blut und Glas und Gold. Ein wunderschönes Diadem mit vielen blau und rot funkelnden Steinen lag nahezu unbeschädigt auf einer toten dicken Frau, die sehr ärmlich gekleidet war. Riesige Gemälde mit goldenen Prunkrahmen hingen zerfetzt von den Wänden herab. Zwischen den kreischend und stöhnend umherirrenden Menschen und inmitten der Trümmer kullerten schöne, bunte Edelsteine auf dem Marmorboden herum. Deformiertes Geschmeide türmte sich zu kleinen Haufen auf. Dutzende haselnussgroße Perlen rollten wie Murmeln durch den Raum. Ohne Fassung sahen sie irgendwie wertlos aus. Der Museumswärter Vincenzo di Lucca lag am Boden und fühlte nichts. Sein zweiter Arm baumelte ziemlich skurril an seinem Oberkörper. Seine Beine waren seltsam verdreht. Er fühlte sich wie tot, aber er lebte. Und daher konnte er am Boden liegend sehen, dass der arabische Junge plötzlich wieder da war. Der sehr unschuldig aussehende Knabe wühlte zielstrebig in dem Schutt herum und fingerte aus dem Schatzmüll einen walnussgroßen, schön geschliffenen gelblichen Stein hervor. Vincenzo di Lucca wusste, dass es ein Brillant war. Er war erst vor wenigen Tagen als Leihgabe eines Privatsammlers nach Florenz gekommen. Ein berühmter Brillant: der in Form eines Pfirsichkerns geschliffene Große Sancy. Kardinal Mazarin hatte ihn einst König Ludwig XIV. geschenkt. Maria de Medici trug ihn vor dreihundert Jahren besonders gerne zusammen mit dem Kleinen Sancy und dem Florentiner. Der arabische Junge hielt den funkelnden Edelstein hoch, begutachtete ihn vermeintlich wissend, schritt zum zerborstenen Fenster, lehnte sich über die Brüstung und winkte irgendjemandem auf dem Lieferantenparkplatz am Ende der Via de Bardi zu. Bedächtig griff der Junge unter seinen Kaftan, zog eine Steinschleuder mit schwarzem Gummizug und lederner Lasche hervor, legte den Großen Sancy ein, zog die Schleuder und katapultierte den Brillanten aus dem Fernster hinaus und hinab in den Park vor dem Palazzo Pitti. Dann setzte sich der Kleine mit dem Rücken zur Wand auf den Boden, ließ die Steinschleuder fallen und schaute hinüber zu Vincenzo. Es sah nicht so aus, also tue ihm der Museumswärter, der nur noch einen Arm hatte, Leid. Den Anblick des toten Leonardo Frattini, aus dessen Torso noch immer Blut im abflachenden Rhythmus des Herzens hervorquoll, vermied er jedoch.

2. Kapitel

D

as Telefon klingelte, kaum dass Marie-Claire de Vries ihr Büro betreten hatte. Sie schaute auf die Uhr. Punkt neun. Die Durchwahlnummer auf dem Telefon-Display zwang ihr einen Fluch auf die Lippen.

»Merde, was will die Sicherheitsabteilung aus London schon so früh am Montagmorgen …?«

Missmutig griff sie nach dem Hörer. Nur wenige Minuten später wusste sie, warum Francis Roundell sie angerufen hatte. Vier kurze Sätze hatte der für internationale Sicherheitsfragen im Auktionshaus Christies zuständige Deputy Chairman im Direktorium der Zentrale in London ihr am Telefon gesagt.

»Sorry, Marie-Claire, aber Ihr Urlaub ist tatsächlich zu Ende! Ich bin zum Lunch bei Ihnen in Wien. Lassen Sie alle anderen Termine streichen. Bestellen Sie für halb eins einen ruhigen Tisch im Landtmann.«

Warum Francis jedes Mal, wenn er nach Wien kam, in dieses ihrer Meinung nach an wienerischer Arroganz, ewiggestrigem K.u.k.-Dünkel und Biedermeiermobiliar erstickende Café wollte, war ihr schleierhaft. Das mit Kirschbaumholz getäfelte, grauenhaft enge und dennoch permanent überfüllte Lokal neben dem Burgtheater war ihr persönlich zuwider. Manchmal glaubte sie, Francis beharre nur auf diesem Café als Treffpunkt für dienstliche Gespräche, weil er hier all seine Vorurteile gegen die ihm nicht sonderlich sympathischen Wiener bestätigt bekam. Er mochte Österreich, aber die Wiener mochte er nicht. Vielmehr schien er geradezu auf eine Gelegenheit zu warten, seine Aversionen gegen den arrogant-wienerischen Dünkel kundzutun. Dafür war das Café Landtmann ein idealer Ort. Dort traf sich jenes Wien, das gesehen werden wollte und im Bewusstsein lebte, gesehen werden zu müssen. Die Nähe zur Hofburg, zum Rathaus und die unmittelbare Nachbarschaft zum Burgtheater zog die vermeintliche Hautevolee der Stadt an wie Honig die Bienen.

Auch an diesem sonnigen Novembermittag war die Terrasse des Cafés überfüllt. Wie überall in der Stadt hatte der extrem milde November die Kaffeehausbesitzer veranlasst, Tische und Stühle draußen stehen zu lassen. Marie-Claire blieb einen Moment stehen, warf einen Blick über die Schar der Besucher. An einem Tisch saß ein ihr oberflächlich bekannter Feuilleton-Journalist der Kronenzeitung. Die Frau neben ihm war sehr dick und hatte sich wie ein Pfau aufgeplustert. Irgendwie war ihr anzusehen, dass sie am Abend zuvor im Burgtheater auf der Bühne gestanden hatte. Sie tat sehr wichtig, was sie aber offensichtlich nicht war, denn der verschwitzte Kellner mit dem pomadigen Haar und jener eigentümlichen, Wiener Kellnern scheinbar angeborenen Borniertheit ignorierte ihr Winken. Stattdessen ließ er einer alten Frau mit nur noch wenigen grauen Haaren auf dem Kopf über drei Tische hinweg ein schleimiges »Grüß Gott, Frau Kommerzialrätin wie ist das werte Wohlbefinden, gnädige Frau « zukommen.

Zwei Tische weiter saß eine fürs Landtmann viel zu provokant gestylte Frau in einem sehr weit über ihre Oberschenkel hochgerutschten, hautengen Kostüm. Sie schielte in Richtung eines am Nebentisch Sekt-Orange schlürfenden Beaus mit zartrosa Hemd und einem perfekt dazu passenden, leger über die Schultern gelegten, eierschalfarbenen Pullover.

Marie-Claire lächelte süffisant. Von ihrem Büro in der Herrengasse Nummer 17 bis hierher waren es nur wenige Schritte. Wann immer ihre Zeit es erlaubte, ging sie bei schönem Wetter vorbei am Palais Lichtenstein, weiter zum Café Landtmann und von dort in den Volksgarten. Oder sie schlenderte hinüber in den idyllischen Park vor dem Rathaus, wo sie unter den prachtvollen, uralten Bäumen Zeitung las oder sich auf die Wiese legte und döste.

Marie-Claire schaute auf die Uhr. Es war schon Viertel vor eins. Francis Roundell sollte kurz vor zwölf planmäßig in Schwechat landen. Wahrscheinlich saß er schon im Café. Ihr Blick wanderte noch einmal zu der ein wenig ordinär aussehenden Frau in dem engen Kostüm mit dem waghalsigen Dekolleté. Sie hielt jetzt einen Zigarillo zwischen Zeigefinger und Mittelfinger und wühlte ostentativ in ihrer Handtasche. Der Beau am Nebentisch ahnte offensichtlich, dass sie hoffte, er würde ihr Feuer geben. Er tat ihr den Gefallen nicht. Stattdessen versteckte er sich hinter der Speisekarte, ignorierte die Blicke der Gucci-Schönheit und zeigte nur noch seine perfekt manikürten Finger am Zeitungsrand. Seine braun gebrannten Hände und Unterarme ließen Marie-Claire de Vries erahnen, dass er zu lange unter der Höhensonne gelegen hatte. In Wien, so hatte sie mit Genugtuung nach der Rückkehr aus ihrem Urlaub am gestrigen Abend erfahren, hatte es in den letzten zehn Tagen fast nur geregnet. Sie schmunzelte vor sich hin und wollte gerade zum Eingang des Cafés gehen, als Francis Roundell mit einem Taxi vorfuhr. Er stieg aus, zog einen kleinen Handkoffer hinter sich aus dem Fond und schritt zielstrebig auf sie zu.

»Marie-Claire«, ließ er seine markante Stimme über die Terrasse hallen, »Sie sehen umwerfend aus! Sie werden immer schöner.«

Die Köpfe von gut zwei Dutzend Gästen auf der Terrasse flogen herum. Marie-Claire de Vries errötete. Francis war ein unverbesserlicher Charmeur, was vielleicht mit seiner französischer Abstammung zu erklären war. Seine Komplimente waren schnörkellos und ehrlich. Was er sagte, meinte er.

»Sie wissen, Francis, dass Sie mich verunsichern, wenn Sie so flirten«, lächelte Marie-Claire de Vries und streckte dem Mann mit den Augen eines Jagdterriers ihre Wange entgegen. Diese braunen, lebhaften Augen waren Francis Roundells Markenzeichen. Jeder bei Christies nannte ihn deshalb den »Terrier«, denn das war er, zumindest in seinem Beruf als Sicherheitschef: ein Terrier. Gertenschlank, groß gewachsen und mit eingefallenen Wangen wirkte er zwar stets ein wenig kränklich, aber Francis Roundell war unglaublich zäh und beharrlich. Er hatte einen ausgesprochen analytischen Verstand und war ein passionierter Edelsteinexperte. Das hatte ihm den Karrieresprung vom Beamten bei Interpol zum Sicherheitschef im Auktionshaus Christies ermöglicht. Seit mehr als zehn Jahren leitete er nun die internationale Abteilung für Sicherheitsfragen. Francis war die perfekte Symbiose aus Kunstsachverstand und kriminalistischem Spürsinn, sprach Deutsch und vier andere Fremdsprachen nahezu fließend. Und Francis war ein Gentleman des alten Schlages. Nie gab sich der Endfünfziger einer Frau gegenüber »anlassig«, wie man in Wien sagt. Sie erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen. Galant und charmant, wie er es stets war, hatte er ihr damals die Tür zum Restaurant aufgehalten und ihr den Vortritt gelassen. Ein wenig verunsichert hatte sie geflüstert: »Das ist sehr nett – aber nicht nötig.«

Daraufhin hatte er lapidar geantwortet: »Meine gute Erziehung, Mademoiselle de Vries, die ich, das sei nebenbei bemerkt, meinen hoch geschätzten Eltern zu verdanken habe, verbietet mir, eine außergewöhnlich attraktive Frau wie Sie anzustarren. Auch wenn es mir meine darwinistisch-soziologisch erklärbare Veranlagung als Mann nahe legt, es zu tun! Da kollidieren dann freilich Gene mit guter Erziehung! Meine Eltern konnten mir bei all ihren gut gemeinten Ratschlägen jedoch nicht vermitteln, wie ich einer Dame die Tür aufhalten kann, ohne ihr beim Passierenlassen auf ihre dem Antlitz abgewandten Körperpartien zu schauen. Der Stillose stiert und der Gentleman genießt, was an ihm vorbeidefiliert! Sie sehen also, Marie-Claire, eine gute Erziehung ist manchmal der wahre Schlüssel zu den kleinen wie auch großen Erfolgserlebnissen des Lebens.«

Das war Francis Roundell, wie sie ihn kannte. Und er wäre nicht der, den alle bei Christies schätzten und ihn ob seiner Wortgewandtheit verehrten, hätte er damals nicht noch in seiner köstlichen britisch-überheblichen Manier als Wortspielerei hinzugefügt: »Die niedrigen gallischen und alemannischen Völker vom europäischen Kontinent nennen solche Gesten der Höflichkeit einer Dame gegenüber ja schließlich nicht ohne Hintergedanken rücksichtsvoll‹. Schließlich kann die rückwärtige Ansicht einer Dame den Gentleman aufs Höchste begeistern! Was für ein Glück, dass wir jene barocken Zeiten hinter uns haben, da die Herren an den Türen einen Bückling machten und auf den Boden starrten, wenn eine Dame an ihnen vorbei in den Salon tänzelte. Nichts außer zarten Füßchen und vorbeirauschenden Röcken bekamen die Gentlemen damals als Gegenleistung für ihre Galanterie zu sehen.«

Francis Humor war grandios. Marie-Claire mochte ihn sehr. Und er war der einzige Mann aus der Zentrale in London, den sie herzte‹, wie man die Küsschen auf die linke und rechte Wange in Wien nannte. Doch so unscheinbar der eher schläfrige Sicherheitschef auch aussah und so unkompliziert er sich auch geben mochte, Francis war sehr scharfsinnig. Man durfte ihn nicht unterschätzen.

Am Eingang des Cafés blieb Francis stehen, so wie er das jedes Mal tat. Den vier hölzernen Säulen mit den eingravierten Aphorismen und Sprüchen schenkte er bei jedem Besuch seine besondere Aufmerksamkeit. Immer wieder starrte er auf die Säulen, suchte und fand.

»Schauen Sie, Marie-Claire! Köstlich, wahrlich ein vortrefflicher Spruch.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Säule. »Was ist Ehre, ein Wort?«, stand dort geschrieben. Marie-Claire lächelte. Sie wusste, dass Francis jetzt sicherlich eine halbe Stunde laut über diesen Spruch nachdenken und sie mit seinen philosophischen Anwandlungen malträtieren würde.

In dem wie immer gegen Mittag von lärmenden Schauspielern, Künstlern und mehr oder minder hochrangigen Beamten des gegenüberliegenden Rathauses und der nahen Hofburg gefüllten Nobelcafé stank es fürchterlich nach Zigarre und nach frischer Druckerschwärze von den herumliegenden Zeitungen. Der Lärm war unerträglich. Die weiße Tischdecke in dem reservierten Separee wies hässliche Kaffeeflecken auf. Ein halb volles Glas Wein stand noch auf dem Tisch. Ein Kellner huschte zweimal vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Marie-Claire sah in Francis Augen, was geschehen würde, als der Kellner schließlich kam.

»Grüß Gott«, nuschelte dieser, blieb im Türrahmen gut einen Meter entfernt von ihrem Tisch stehen und fragte eher missmutig: »Was wünschen die Herrschaften?«

»Die Herrschaften wünschen, dass Sie den lieben Gott tatsächlich freundlich grüßen und ihm von einem britischen Besucher mit einem ausgeprägten Sinn für Ästhetik ausrichten lassen, er möge sich doch freundlichst entweder für braune oder für weiße Tischdecken entscheiden. Diese hier, die weiß-braun getüpfelte im Kaffeeflecken-Look, passt so gar nicht zum Kostüm meiner charmanten Begleiterin! Und falls es nicht der liebe Gott sein sollte, der in Ihrem altehrwürdigen Etablissement für solch schnöde Dinge wie saubere Tischdecken zuständig ist, bitte ich höflichst, die Hausdame zu involvieren.«

Marie-Claire atmete tief durch. Das war der andere Francis! Der Terrier. Wenn er sich an etwas festgefressen hatte, konnten seine verbalen Tiraden wie Bisse schmerzen. Der Kellner verdrehte ungläubig die Augen. Sein volles Tablett geriet ins Wanken. Er wollte antworten, aber Francis wies ihn in perfektem Deutsch in seine Schranken.

»Es ist zwar sehr nett und fraglos Ausdruck der hinlänglich bekannten österreichischen Gastfreundschaft, dass Sie mir das Glas mit dem Weißwein von meinem letzten Besuch vor einem Monat auf dem Tisch haben stehen lassen, Herr Ober, aber meine charmante Begleiterin und auch meine Wenigkeit haben umdisponiert und uns für eine Flasche Ihres köstlichen Wachauer Federspiel-Rieslings entschieden.«

Marie-Claire glaubte für Momente, der Oberkellner würde wagen, das zu sagen, was er offensichtlich auf der Zunge hatte. Doch der Dickbäuchige räusperte sich nur kurz, schluckte konsterniert, räumte das Glas und die zerfledderten Zeitungen ab und murmelte im Weggehen ein halbherziges »schuldigens! Selbstverständlich, wie die Herrschaften wünschen «

Francis Roundell würdigte den Kellner keines Blickes mehr, wühlte stattdessen in seinem Aktenkoffer, zog einige Dokumente und Zeitungsausschnitte hervor und lächelte Marie-Claire an.

»Teuerste, erzählen Sie, wie war Ihr Abenteuerurlaub? Mit Verlaub gesagt: Erholt sehen Sie nicht gerade aus, was mich nicht sonderlich wundert. Wer durchquert schon freiwillig in einem holprigen Geländewagen die Wüste und nächtigt, umlauert von skrupellosen, wahrscheinlich sogar lüsternen Arabern, in einem Schlafsack unter freiem Himmel, verzehrt verschimmelte Lebensmittel aus Dosen und «

»Ach, Francis«, lachte Marie-Claire de Vries lauthals los. »Sie sind und bleiben ein unverbesserlich dekadenter Zivilisationsfanatiker. Ich habe nicht die ägyptische Wüste durchquert, sondern nur die Oase Fayoum besucht. Und das auch nicht im Geländewagen, sondern in einem klimatisierten Bus begleitet von sehr gebildeten und netten ägyptischen Reiseleitern.«

Kaum, dass Marie-Claire ihrem Sicherheitschef ein wenig von ihrem Urlaub in Ägypten erzählen wollte, änderte sich dessen Ton jedoch. In Bruchteilen von Sekunden schwenkte Francis von der erwarteten jovialen Plauderei auf eine berufliche Unterredung um.

»Da Sie ja tunlichst auf die Mitnahme Ihres Handys im Urlaub verzichten und, wie mir bekannt ist, jeglichen Kontakt zur Außenwelt während Ihrer Urlaube verweigern, werden Sie wohl kaum die Zeitungen gelesen haben, Marie-Claire, oder?«

»Nein, Zeitungen habe ich zwei Wochen lang nicht gelesen. Und auch keine Nachrichten gehört oder gesehen. Im Urlaub bin ich weg, weg von zu Hause und weg vom Job. Nur so kann ich wirklich entspannen. Ich bin erst gestern spät am Abend zurückgekommen. Was ist denn so Wichtiges geschehen, dass Sie mich gleich am ersten Tag besuchen?«

»Gestern früh wurde einer unserer renommierten Kunden auf seinem Schloss in Bayern überfallen, beraubt und seine Frau vergewaltigt. Die Täter haben einen der berühmtesten Diamanten des Abendlandes entwendet und zwar nur diesen einen Diamanten: den Kleinen Sancy!«

Marie-Claire de Vries starrte den Sicherheitschef ungläubig an.

»Das ist ja grauenhaft. Sie sprechen von Freiherr von Hohenstein und seiner Frau?«

»Ja, Marie-Claire. Was da geschehen ist, ist grauenhaft. Es waren sehr brutale Täter. Und sie wussten ganz genau, was sie wollten. Weder Bargeld noch andere Wertsachen haben sie geraubt. Dabei hätten sie Schmuck für gut acht Millionen Euro mitnehmen können. Ihr Interesse galt jedoch nur einem einzigen Brillanten dem Kleinen Sancy!«

»Die haben Schmuck im Wert von acht Millionen Euro nicht angetastet? Das ist aber höchst sonderbar!«

»Sie sagen es, Marie-Claire, Sie sagen es. Aber es kommt noch verrückter! Nur wenige Stunden später wurde eine Vitrine im Palazzo Pitti in Florenz in die Luft gejagt.«

»Was?« Maria-Claire schüttelte entsetzt den Kopf und starrte ihren Sicherheitschef an. »Da ist doch an diesem Wochenende die wunderbare Ausstellung über Maria de Medici eröffnet worden. Ich wollte eigentlich zur Eröffnung nach Florenz fliegen.«

»Seien Sie froh, dass Sie es nicht getan haben. Es gab drei Tote bei der Sprengung der Schmuckvitrine: einen Museumswärter und zwei Besucherinnen. Der Sprengstoff hat zwei Salons sowie unschätzbare Preziosen und wertvolle Gemälde zerstört. Aber es wurde nur ein Schmuckstück geraubt der Große Sancy!«

Marie-Claire de Vries war sprachlos. Während Francis Roundell sie ausführlich über die dramatischen Geschehnisse informierte und ihr Zeitungsausschnitte mit Bildern von den beiden Tatorten in Florenz und Bayern vorlegte, überschlugen sich ihre Gedanken. Die Brutalität, mit der die Täter vorgegangen waren, schockierte sie. Das Motiv war ihr völlig rätselhaft. Doch im Moment war Marie-Claire mehr damit beschäftigt, dass nur die Verschiebung ihrer Urlaubsreise nach Ägypten ihre Anwesenheit bei der Eröffnung der Ausstellung verhindert hatte. Der Gedanke, dass sie nur durch Zufall nicht auch Opfer dieses Sprengstoffanschlages geworden war, schlug ihr auf den Magen. Dein Karma! Ja, es ist dein Karma gewesen, das dich an diesem Tag weg von Florenz nach Ägypten geführt hat. Sie erinnerte sich der Worte ihrer Freundin, die sich seit langem mit vermeintlich göttlichen Fügungen, mit Schicksalsfragen und astrologischen Themen beschäftigte. »Der Fluss der Dinge, des Lebens ist vorgegeben«, sagte sie stets und meinte, dass es völlig sinnlos, kaum mehr als Ausdruck menschlicher Verzweiflung sei, zu versuchen, auf die wirklich großen, bedeutsamen Geschehnisse des Lebens Einfluss zu nehmen. Francis Roundells Worte rissen sie aus ihrer Nachdenklichkeit. Er klang ungewöhnlich angespannt.

»Die beiden Raubüberfälle, Marie-Claire, sind eine Sache. Weswegen ich zu Ihnen nach Wien gekommen bin, ist jedoch eine ganz andere. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen diesen beiden spektakulären Aktionen und gewissen Geschehnissen bei uns im Auktionshaus gibt.«

Marie-Claire blickte ihn fragend an. »Das verstehe ich nicht, Francis.«

»Vor einigen Monaten tauchten innerhalb von drei Wochen zwei Männer bei uns in der Zentrale auf, die sich beide für eine unserer Auktionen in Genf im Jahre 1981 interessierten. Im Versteigerungskatalog wurde damals auf Position siebenhundertzehn ein Diamant mit hundertsiebenunddreißig Karat aufgeführt. Der außergewöhnlich schöne, gelbliche Stein war uns von dem Verkäufer anonym über ein Anwaltsbüro offeriert worden.«

»Hundertsiebenunddreißig Karat? Ein gelblicher Diamant?«, unterbrach Marie-Claire ihn. »Das hört sich an, als sprächen wir hier über den Florentiner.«

»Richtig, Sie haben es erraten, Marie-Claire!« Francis Roundell machte keinen Hehl aus seiner Anerkennung für die schnelle Auffassungsgabe und die Kompetenz seiner Kollegin.

»Es ging wahrscheinlich tatsächlich um den berühmten Florentiner. Leider wurde das Verkaufsangebot kurz vor der Auktion aus uns nicht bekannten Gründen zurückgezogen. Bilder haben wir nie zu sehen bekommen. Lediglich die Expertise eines renommierten Edelsteinexperten. Wir haben nie wieder etwas von diesem Hundertsiebenunddreißig-Karäter gehört, bis nun plötzlich diese beiden Männer vor einigen Monaten auftauchten und sich für die knapp fünfundzwanzig Jahre zurückliegende Auktion interessierten. Sie sprachen ganz offiziell bei uns vor und baten darum, dass wir ihr Interesse an diesem Hundertsiebenunddreißig-Karat-Edelstein an den Anwalt des damaligen Anbieters weiterleiten.«

»Ein höchst ungewöhnliches Anliegen, nicht wahr?«

»Mehr als ungewöhnlich! Das ist mir in meinen vielen Jahren bei Christies noch nie passiert. Zumal es bekanntlich zu den unantastbaren Geschäftsprinzipien unseres Auktionshauses gehört, keine Informationen über Käufer beziehungsweise Verkäufer an Dritte weiterzugeben. Die beiden Männer haben uns mit ihrem Anliegen so irritiert, dass unsere Sicherheitsabteilung sofort aktiv wurde. Beide Männer wurden beim Verlassen der Christies-Zentrale in London heimlich fotografiert. Fingerabdrücke existieren ebenfalls von beiden. Von einem der Männer haben wir ein Autokennzeichen, von dem anderen eine Telefonnummer.«

Marie-Claire de Vries schwirrte der Kopf. Sie war noch keine vierundzwanzig Stunden aus dem Urlaub zurück, hatte bislang keine Gelegenheit gehabt, ihre nicht ganz unproblematische Ägyptenreise und die sich für sie daraus abzeichnenden Konsequenzen für ihr Privatleben zu überdenken und zu verarbeiten, und schon wurde sie von Francis mit einer Flut von Informationen über brutale Raubüberfälle und suspekte Geschehnisse überrollt.

»Sehen Sie es mir bitte nach, Francis«, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen, »warum erzählen Sie mir all diese Dinge aus dem Jahre 1981? Was hat das mit den Raubüberfällen von gestern zu tun?« Erwartungsvoll sah sie den Sicherheitschef an. Francis Roundell nippte nachdenklich an seinem Wein. Seine Augen glänzten wieder. Mit der linken Hand fuhr er sich durch sein lichtes, ergrautes Haar. Er sprach plötzlich auffallend leise.

»Wenn mich nicht alles täuscht, Marie-Claire, gibt es da eine geheimnisvolle Verbindung zwischen den beiden spektakulären Diebstählen des Kleinen und des Großen Sancy und jenem Diamanten, der 1981 über uns in Genf zur Versteigerung gelangen sollte also eine Verbindung zu dem Florentiner. Diese drei Diamanten waren vor mehr als fünfhundert Jahren im Besitz eines Mannes: Karls des Kühnen. Er hatte diese Edelsteine von seinem Vater, Philipp dem Guten, geerbt. Er nannte diese Diamanten damals die drei Brüder‹, was erahnen lässt, dass es einen mystischen Zusammenhang zwischen diesen Edelsteinen gab. Auch andere Parallelen sind höchst ungewöhnlich: Sowohl Philipp der Gute als auch sein Sohn Karl der Kühne waren Souveräne, also die führenden Köpfe des geheimnisumwitterten Ordens der Ritter vom Goldenen Vlies. Es wurde durch alle Jahrhunderte hindurch immer wieder über eine Verbindung dieses Ordens zum sagenumwobenen Schatz der Templer gemunkelt. Außerdem gibt es da noch eine höchst mysteriöse indische Legende. Demnach sollen drei ungewöhnlich große Diamanten vor langer Zeit als Augen eine riesige Götterstatue geziert haben. Die Legende besagt, dass diese Diamanten als die göttlichen drei Brüder über Macht, Erleuchtung und ewiges Leben wachen!«

Marie-Claire de Vries war sich im Klaren darüber, wie verdutzt sie ihren Sicherheitschef anschaute. Und sie war auch mehr als überrascht. Francis war bei all seinem Charme und seiner Neigung zu weit ausschweifenden verbalen Exkursen dafür bekannt, dass er extrem analytisch und emotionslos denken und handeln konnte. Er war ein kühler Kopf, wenn es um seine Aufgabe als Sicherheitschef des weltberühmten Auktionshauses ging, zu dessen Klientel der internationale Hochadel ebenso gehörte wie Multimillionäre und vermögende Neureiche. Francis Roundell konnte sich Gefühle in seinem Job nicht erlauben. Wenn es irgendwo bei Christies ein Problem gab, wenn die Herkunft oder Echtheit wertvoller Gemälde, Schmuckstücke oder anderer Kunstgegenstände nicht zweifelsfrei waren, wenn die Seriosität oder die Bonität von Kunden überprüft werden mussten oder gar der Verdacht im Raum stand, dass auch nur ein Hauch von Illegalität in Verbindung mit einem Kauf oder Verkauf im Raum stand, waren Francis und seine Leute gefragt. Für sicherheitstechnische Aspekte der Mitarbeiter des Auktionshauses war er ebenfalls zuständig. Die Sicherheitsabteilung operierte extrem verschwiegen, war direkt dem Vorstand des Auktionshauses unterstellt und nur einigen wenigen ausgewählten Personen auskunftsberechtigt. Was die Sicherheitsabteilung tat, war ebensosehr strenger Geheimhaltung unterworfen wie die Frage, wie sie es taten. Eigentlich, dachte Marie-Claire in diesem Moment, ist die Sicherheitsabteilung wie ein interner Geheimdienst. Niemand wusste, was da in der Kings Street im Londoner Stadtteil St. James vor sich ging. Vielmehr kursierte das Gerücht, es gebe außerhalb der Zentrale noch versteckte Büros des Sicherheitsdienstes, so genannte Secret Offices, in denen höchst diffizile Angelegenheiten des Auktionshauses mit größter Diskretion erledigt würden. Marie-Claire schaute Francis Roundell voller Hochachtung an. Ja, er war ein Perfektionist, wenn es sein musste berechnend und völlig emotionslos. Wenn ein solcher Mann plötzlich anfing, von Legenden und Mythen zu sprechen, musste das einen Grund haben. Sie war sich sicher, dass Francis nicht eigens aus London zu ihr nach Wien gekommen war, um ihr Geschichten aus Tausendundeiner Nacht zu erzählen. Die Gedanken an ihren Urlaub waren verflogen, und ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem, was Francis erzählte.

»Francis, Sie nehmen mir das bitte nicht übel, wenn ich sage, dass mich solche Märchengeschichten aus Ihrem Mund höchst nachdenklich machen? Was wollen Sie mir wirklich sagen? Was haben diese Legende von der Götterstatue, die Mär von dem Schatz der Templer, die Ritter vom Goldenen Vlies und diese beiden Raubüberfälle mit dem Auktionshaus Christies zu tun?«

Der Sicherheitschef wühlte in den mitgebrachten Dokumenten, vertiefte sich für Momente in die Kopie eines Dokuments mit Schriftzeichen, die Marie-Claire de Vries nicht einzuordnen wusste. Dann holte er tief Luft.

»Marie-Claire, mir ist natürlich bewusst, dass sich all das höchst wirr anhört, quasi wie eine Weltverschwörungstherorie. Ja, das weiß ich! Alles in allem sind das tatsächlich höchst verwunderliche Zusammenhänge! Unser Auktionshaus ist es ja gewohnt, dass sich bei wertvollen Edelsteinen und Schmuckstücken Mythen und Fakten zu kaum mehr verifizierbaren Geschichten verquicken. Aber diese Angelegenheit hier ist außergewöhnlich! Wie auch immer: Diese Männer, die bei uns in London vorstellig wurden, leben offensichtlich im Bewusstsein, dass damals in Genf der Florentiner zur Versteigerung gelangen sollte. Sie interessieren sich für diesen Diamanten. Aus welchen Gründen auch immer! Vielleicht gibt es ja sogar eine Verbindung zwischen diesen Männern und den Tätern von Florenz und Bayern. Überlegen Sie einmal, Marie-Claire. Innerhalb weniger Tage dreht sich auf einmal alles um drei der berühmtesten Diamanten des europäischen Abendlandes: den Großen Sancy, den Kleinen Sancy und der Florentiner. Diamanten, um die sich unzählige Mythen und Legenden ranken. Der Florentiner ist seit langer Zeit nicht mehr gesehen worden! Genau gesagt, seit zirka 1920! Plötzlich zeigen höchst suspekte Männer Interesse an dem weltberühmten Edelstein und einer Versteigerung, die mehr als zwanzig Jahre zurückliegt. Kurz darauf verschwinden zwei weitere berühmte Diamanten, sie werden geraubt. Solche Zufälle, Marie-Claire, gibt es nicht! Und meine Einschätzung wird vom Christies Board of Directors in London geteilt. Wir wollen wissen, was da los ist.«

Erneut zog Francis Roundell ein mehrseitiges Dokument aus seinem Aktenkoffer hervor und überflog die Seiten.

»Einer der Männer, die vor einigen Monaten in London Interesse am Florentiner zeigten, war ein Österreicher namens Gregor von Freysing aus Wien. Ein Privatsammler, wie er behauptete. Der andere war ein Araber namens Jilani Resaigni. Er gab vor, für eine arabische Organisation zur Rückführung entwendeter arabischer Kulturgüter zu arbeiten. Und nun, Marie-Claire, kommt die Sensation! Laut der Aussage des Freiherrn von Hohenstein waren alle Täter bei dem Überfall auf ihn und seine Frau Araber! Laut von Hohenstein faselte der Anführer irgendetwas davon, dass der Stein nicht ins Abendland gehöre. In Florenz wiederum wurde einer der Täter festgenommen. Es war ein zwölfjähriger Junge! Ein Araber! Das alles ist kein Zufall, Marie-Claire! Meine Intuition sagt mir, dass es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Männern und den spektakulären Diebstählen im Palazzo Pitti und in Bayern gibt und damit auch eine Verbindung zum Florentiner. Irgendwann in nächster Zeit, das ahne ich, wird etwas mit diesem Florentiner-Diamanten auf uns zukommen. Wenn dieser Diamant auf dem Markt auftauchen würde, wäre das eine Sensation. Und es wäre ein unvergleichlicher ideeller wie auch finanzieller Erfolg für Christies, wenn wir es wären, die diesen Stein versteigern könnten. Sein materieller Wert lässt sich auf nahezu acht Millionen Euro schätzen. Aber sein ideeller Wert als ein von Legenden umrankter Edelstein, der über Jahrhunderte europäischen Königen und Kaisern gehörte, macht ihn unschätzbar und lässt fantastische Dimensionen bei einer eventuellen Versteigerung erahnen. Es ist immer gut zu wissen, Marie-Claire, dass bereits potenzielle Käufer existieren!«

Marie-Claire de Vries bestellte sich bei dem nun merklich aufmerksameren, aber nicht gerade sonderlich freundlichen Kellner einen Cappuccino. Es war bereits drei Uhr. Sie war müde und nach dem Urlaub von all diesen Informationen und Thesen überfordert. Francis hatte ihr ein umfangreiches Dossier übergeben, und sie hatte die Unterlagen kurz überflogen. Diese Basisinformationen zeigten ihr, dass der Auftrag außergewöhnlich war. Trotz ihrer Müdigkeit faszinierte sie diese höchst mysteriöse Angelegenheit maßlos.

»Francis, jetzt sagen Sie mir bitte, was ich mit all diesen Dingen zu tun habe. Ich platze ja bald vor Neugier!«

»Ganz einfach, Marie-Claire! Sie sind unsere Expertin für historische Schmuckstücke. Sie sind reiseerfahren, sprechen mehrere Sprachen fließend darunter auch Arabisch –, und Sie genießen mein Vertrauen. Uneingeschränkt! An diesen drei Diamanten hängt mehr, als wir alle ahnen. Bitte wahren Sie strengstes Stillschweigen über das, was Sie tun. Niemand, Marie-Claire, und ich betone: niemand außer Ihnen und mir darf wissen, wonach Sie suchen. Und absolut niemand darf erfahren, dass wir in unseren Unterlagen Informationen zu dem damaligen Auktionsanbieter von Genf, dem vermeintlichen Besitzer des Florentiners haben. Niemand! Es könnte sein, dass dieser Besitzer in großer Gefahr schwebt, weil gewisse Leute wissen, warum diese drei Edelsteine irgendwie zusammengehören. Diese mysteriösen drei Brüder oder, wie die indische Legende sie tituliert, die göttlichen drei Brüder‹, bergen ein Geheimnis in sich. Marie-Claire, finden Sie heraus, was es ist «