3. Kapitel

C

ommissario Franco Manzoni war außer sich vor Wut. In wenigen Sekunden entlud sich all seine Frustration aus den zurückliegenden fünfunddreißig Dienstjahren. »Porca miseria«, presste er hervor, sprang mit hochrotem Kopf und blitzenden Augen vom Stuhl hoch und schritt wild mit den Händen gestikulierend durch sein Büro hin zum Fenster. Laut und schnell atmend starrte er für Momente hinunter auf die Straße, drehte sich dann abrupt um und blickte Staatssekretär Alberto Pellini aus dem Justizministerium mit unverhohlener Verachtung an.

»Bei allem gebotenen Respekt, Herr Staatssekretär: Was Sie fordern, ist ein Unding, ein Skandal! Das ist eines Rechtsstaates nicht würdig! Seit fünfunddreißig Jahren bin ich nun im Dienst, und wenn es das Letzte ist, was ich vor meiner anstehenden Pensionierung tun werde: Das werde ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mittel zu verhindern wissen! Mit mir, Herr Staatssekretär, ist das nicht zu machen basta!«

Der Staatssekretär schien völlig unberührt von den Worten des Kommissariatsleiters. Hinter seiner dickglasigen Nickelbrille blickte er mit grenzenloser Arroganz den noch immer aufgebracht in seinem Büro auf und ab laufenden Commissario an. Er kannte Franco Manzoni seit vielen Jahren. Ein exzellenter Kriminalbeamter, der sich in den Hochzeiten der Roten Brigaden in den siebziger Jahren bei einem Sonderkommando in Rom einen hervorragenden Ruf als Terroristenfahnder erworben hatte. Aber das lag nun schon viele Jahre zurück. Seit der Commissario aus privaten Gründen als Kommissariatsleiter für Eigentumsdelikte nach Florenz versetzt worden war, war es ruhig geworden um den legendären Terroristenfahnder. Nein, aus dem einst mit höchst unkonventionellen Mitteln unglaublich effektiv und erfolgreich agierenden schlanken Terroristenjäger war ein dickleibiger, träger Pensionist geworden. In sechs Monaten würde er aus dem Dienst ausscheiden, und daher war sich Staatssekretär Pellini sicher, dass dieser cholerische Anfall des Commissario nicht lange anhalten würde. Außerdem war Manzoni weisungsgebunden. Der Innenminister hatte entschieden, dass der arabische Junge abgeschoben werden würde. Daran konnte Commissario Manzoni kaum etwas ändern.

»Franco«, suchte er den aufgebrachten Kriminalbeamten zu besänftigen, »Sie sprechen von Rechtsstaatlichkeit, führen sich selbst aber auf wie ein Ignorant, dem jegliches Feingefühl für das Recht fehlt! Unsere Gesetze sagen nun einmal unmissverständlich, dass ein zwölfjähriges Kind nicht strafmündig ist. Das vorläufige Gutachten unseres Psychologen attestiert diesem kleinen arabischen Knirps einen IQ, der eher im Grenzbereich zum Schwachsinn angesiedelt ist. Der wird nicht einmal nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden können! Wollen Sie ein Kind, das, mit Verlaub gesagt, auch noch blöde ist, ins Gefängnis sperren?«

»Dieses angeblich blöde Kind hat drei Menschen umgebracht!«, fauchte Commissario Manzoni ungehalten. »Es ist ein kleiner, abgerichteter Killer!«

»Ohne jegliches Unrechtsbewusstsein «, unterbrach ihn der Staatssekretär.

»Quatsch, absoluter Quatsch ist das«, echauffierte sich Franco Manzoni. Er spürte, dass er in der Stimmung war, seinen ganzen angestauten Unmut rauszukotzen. Diesen aufgeblasenen Staatssekretär mit seinem Hühnerhabichtgesicht mochte er sowie nicht. Ihm war heute alles egal. In sechs Monaten würde er pensioniert. Jetzt war die Zeit gekommen, zu sagen, was er zu sagen hatte. »Dieser arabische Knirps ist genauso wenig unschuldig, wie es jene Kinder sind, die in Palästina mit Stein- und Metallschleudern israelische Polizisten beschießen und schwer verletzen, Molotow-Cocktails werfen und dann hinterher von der palästinensischen Propaganda in den Medien weltweit als arme, unschuldige, von brutalen israelischen Soldaten geschundene Kinder präsentiert werden!«

»Ich bitte Sie, Franco «, wollte der Staatssekretär den in Rage geratenen Beamten unterbrechen. Aber Franco Manzoni fühlte sich plötzlich ungemein wohl bei dem, was er sagte.

»Dieser junge Bursche, der einen Museumswächter und zwei Besucherinnen im Palazzo Pitti in die Luft gejagt hat, ist genauso wenig unschuldig, wie es jene Kinder sind, die von Djihad-Fanatikern ausgebildet werden, mit Sprengstoffgürteln um den Bauch Zivilisten zu töten. Das sind keine Kinder, verdammt, das sind junge Menschen, die in einer von abgrundtiefem religiös-fundamentalistischem Hass geprägten Welt aufwachsen. Nach Jahren gezählt sind es Kinder. Richtig! Aber es sind Täter, die genau wissen, was sie tun, weil alle anderen Menschen in diesen Regionen es ohne jegliches Unrechtsbewusstsein auch tun. Und deswegen ist es für sie legitim, zu verletzten, zu töten bei vollem Bewusstsein, dass sie töten. Wenn eines von diesen, wie Sie sagen, Kindern in einem fundamentalistischen, nach den Rechtsprinzipien der Scharia regierten Land eine ähnliche Straftat begehen würde, träfe es die geballte Macht der Gnadenlosigkeit Allahs, Herr Staatssekretär! Einem Kind, das dort klaut, wird die Hand abgehackt. Wenn es zu jung ist, das Kind, wird seinem Vater die Hand abgehackt! Denn er ist es, der verantwortlich ist für das Tun seines leiblichen Zöglings. So ist das mit der Rechtsstaatlichkeit in anderen Ländern!«

Staatssekretär Pellini hätte gerne gesagt, dass vieles stimmte von dem, was Commissario Manzoni sagte, aber das durfte er nicht. Seine Direktiven aus dem Justizministerium waren eindeutig und nicht zu diskutieren. Verlegen räusperte er sich.

»Das unterscheidet eben Rechtsstaatlichkeit in Europa von jener in den von Ihnen benannten Ländern. Für unsere moralisch-ethischen Werte und die daraus resultierenden Rechtsprinzipien hat das christliche Abendland jahrhundertelang gekämpft. Franco, wollen Sie, dass wir zurück in die Zeiten der Barbarei, diktatorischen Unrechtssysteme und despotischen Willkürherrschaft fallen?«

»Das ist absurd, Herr Staatssekretär, völlig widersinnig, was Sie da fragen. Natürlich will ich das nicht! Aber es kann auch nicht sein, dass aus jenen Ländern, die sich unseren Rechtsprinzipien nicht verpflichtet fühlen, dass aus solchen Ländern vermeintliche Kinder von ihren Vätern und Verwandten nach Italien geschickt werden, hier Straftaten begehen, bandenmäßig organisiert klauen, mit Rauschgift handeln oder, wie jetzt im Palazzo Pitti, Menschen mit Sprengstoff in die Luft jagen, um dann als arme, unschuldige Kinderlein völlig straffrei wieder nach Hause geschickt zu werden. Das unterhöhlt unser Rechtsprinzip, degradiert unsere Kriminalbeamten zu Witzfiguren! Es macht mich und die Menschen dieses Landes zu recht- und hilflosen Hampelmännern machtlos gegenüber jenen, die unsere demokratischen Prinzipien für ihr Tun skrupellos ausnutzen. Das, Herr Staatssekretär, kann nicht sein!« Der Commissario holte tief Luft, wandte Alberto Pelini demonstrativ den Rücken zu, schaute aus dem Fenster und sprach weiter. Diesmal jedoch sehr ruhig.

»Politische Entscheidungen wie die Erweiterung der Europäischen Union sind eine wunderbare Sache. Ohne Frage. Aber seit die EU wächst wie ein gutartiges Geschwür, ist die Diskrepanz zwischen dem, was in Brüssel oder Rom entschieden wird, und dem, was wir von der Exekutive draußen auf der Straße mitmachen müssen, zu einem kaum mehr zu bewältigenden Problem mutiert. Zehntausende Flüchtlinge strömen aus Nordafrika und vom Balkan nach Italien. Sie wissen selbst, wie dramatisch die Situation in den Auffanglagern ist! Ein nicht unerheblicher Prozentsatz jener, die da als Flüchtlinge kommen, sind kriminelle Elemente. Die kommen, weil sie hier in wenigen Monaten durch Diebstahl und andere Delikte nicht nur das Geld für die Passage auf den Schiffen professioneller Menschenschmuggler zurückzahlen können. Nein, die verdienen durch kriminelle Aktivitäten hier so viel Geld, wie sie in ihren Heimatländern im ganzen Leben nicht in die Hände kriegen würden. Angst vor dem Gefängnis? Pah, die lachen sich schief. Ein italienisches Gefängnis ist für die ein Drei-Sterne-Hotel mit Vollpension! Angst vor Abschiebung? Nein, haben sie nicht. Sie kommen einfach wieder. Bulgarische Kinderbanden machen die Bahnhöfe Italiens unsicher. Albanische Kinderbanden sind die Straßendealer und Kuriere internationaler Heroin- und Kokaingangs. Die Kids sind manchmal erst zehn Jahre alt! Nehmen wir eins von ihnen fest, sind sie strafunmündig und dürfen nicht einmal verhört werden! Abgeschoben werden können sie auch nicht. Ihre Eltern sagen ganz einfach, dass es Ihnen Leid tut, was ihre Zöglinge da anstellen. Zwei Wochen später sind die Jungen und Mädchen wieder auf der Straße wo sie hingeschickt werden! So wie dieser angeblich marokkanische Junge mit dem geradezu lächerlichen Namen Ibrahim Moulay Idriss! Das ich nicht lache!«

»Was ist mit diesem Namen?«, unterbrach Alberto Pellini ihn. Commissario Franco Manzoni lächelte süffisant. »Es ist der Name einer marokkanischen Stadt, die Grabstätte von Idriss I. also so was wie eine Pilgerstätte! Diese Leute erlauben sich, uns zu verarschen. Sie schicken uns ein Kind, einen Killer mit dem Namen eines vor Hunderten von Jahren verstorbenen marokkanischen Heiligen. Allein das, Herr Staatssekretär, diese maßlose Provokation wäre früher für mich Grund genug gewesen, mich wie ein Spürhund auf die Fährte dieser Leute zu heften. Aber das werde ich wohl nicht mehr tun. Ich denke, in Anbetracht der Tatsache, dass übergeordnete staatliche Interessen, wie es so schön heißt, in diesem Falle jegliche polizeiliche Ermittlungen unterbinden, werde ich wohl die nächsten sechs Monate bis zu meiner Pension fürchterlich krank werden. Ja, ich werde krankfeiern. Das heißt, eigentlich bin ich es schon.«

»Finden Sie nicht, dass Sie ein bisschen pathetisch sind«, versuchte Staatssekretär Pellini die extrem angespannte Stimmung ein wenig zu entkrampfen. Doch mit seiner Bemerkung erreichte er genau das Gegenteil. Der Commissario wirbelte herum, ging auf den Staatssekretär zu, schüttelte den Kopf und lachte hämisch.

»Wer diesen Jungen geschickt hat oder ihn vielleicht sogar durch Erpressung gezwungen hat, die beiden Sprengstoffpäckchen anzubringen, war ein Profi ein eiskalter, skrupelloser Profi. Und wenn mich nicht alles täuscht, wenn mich nicht meine zwanzig Jahre Erfahrung in der Terroristenfahndung täuschen, dann waren das Terroristen. Arabische Terroristen! Denn über eins sind wir uns ja wohl alle im Klaren: Die Täter von Bayern und jene vom Palazzo Pitti sind ein und dieselben Leute. Da wette ich meine Pension drauf! Ich weiß nur noch nicht, wie diese Dinge wirklich zusammenpassen. Aber ich will es jetzt auch nicht mehr wissen.«

Staatssekretär Alberto Pellini schluckte betroffen. Er musste dieses in Grundsatzdiskussionen ausartende Gespräch kraft seiner Autorität abrupt beenden. Und er wollte es auch beenden, denn ihm war klar geworden, dass Franco Manzoni Recht hatte. Der Commissario lag mit seiner Einschätzung, dass arabische Terroristen in die Vorfälle verwickelt waren, genau richtig. Im Innenministerium sah man das ganz genauso, und daher hatte sich der italienische Geheimdienst längst mit dem deutschen Bundesnachrichtendienst in Verbindung gesetzt.

Bedeutungsvoll zog Pellini ein Dokument aus seinem Aktenkoffer hervor. »Wie auch immer, Commissario Manzoni. Der Innenminister hat befunden, dass der zwölfjährige Ibrahim Moulay Idriss in Abstimmung mit dem Botschafter des Königreichs Marokko wegen Strafunmündigkeit und verminderter Schuldfähigkeit abgeschoben wird. Man wird ihn heute gegen sechzehn Uhr einem Bevollmächtigten der Botschaft übergeben. Der Junge darf bis dahin weder polizeilich noch staatsanwaltlich befragt werden.«

Mit sehr leiser Stimme wandte Alberto Pellini sich zu Franco Manzoni. »Ich weiß, dass Sie Recht haben, Franco. Ich weiß es! Aber das ist nun einmal das italienische Recht, das Gesetz. Es ist ein Kind. Wir handeln nur nach Recht und Gesetz.«

 

Gegen fünfzehn Uhr verließ Commissario Franco Manzoni sein Büro. Als er über den Flur zum Treppenaufgang des Polizeipräsidiums ging, trug er keine Dienstwaffe mehr. Er hatte sie seinem Vorgesetzten wortlos auf den Tisch gelegt und sich krank gemeldet.

»Nein«, murmelte er am Haupteingang vor sich hin, »hier wird nicht nach Recht gehandelt nur nach dem Gesetz. Recht und Gesetz sind zwei verschiedene Paar Schuhe an den Füßen einer den aktuellen Geschehnissen hinterherhinkenden Nation.«

Kaum, dass er den Innenhof des Polizeipräsidiums verlassen hatte, holte er sein Handy hervor und rief eine gespeicherte Nummer an.

»Du hast knapp eine Stunde Zeit«, flüsterte er, »um vier Uhr wird der Junge an die marokkanische Botschaft übergeben. Pass auf dich auf! Noch was, Carlo: ich verlasse mich darauf, dass du mich aus dieser ganzen Sache raushältst.«

*

Freiherr Georg Ludwig von Hohenstein hörte dem für die Haftprüfung zuständigen Richter zwar zu, aber seine Gedanken waren woanders. Wie in Trance hörte er die Stimme seines Rechtsanwaltes.

»Natürlich ist meinem Mandanten bewusst, dass er weder den Schuldausschließungsgrund der putativen Notwehr noch den der Erwiderung auf der Stelle geltend machen kann. Mein Mandant stand zur Tatzeit unter Schock. Er war nach den brutalen Geschehnissen mit seiner Frau nicht zurechnungsfähig. Er ist bereit, die Verantwortung für seine Tat zu tragen. Da Sie sein an Eides Statt niedergelegtes Geständnis haben und bei meinem Mandaten fraglos weder die Haftgründe der Flucht- noch der Verdunkelungsgefahr bestehen, stellen wir hiermit den Antrag, meinen Mandanten gegen Kaution aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Er ist ein angesehener, rechtschaffener Mann, Familienvater und seit Jahrzehnten Mitglied dieser Stadtgemeinde. Selbstredend wäre mein Mandant auch bereit, seinen Reisepass abzugeben und sich bis zur Gerichtsverhandlung regelmäßig bei der nächsten Polizeidienststelle zu melden.«

Bei dem Stichwort Reisepass schreckte Freiherr von Hohenstein aus seinen Gedanken hoch. Das wäre schlecht, wenn ich den Reisepass abgeben müsste, schoss es ihm durch den Kopf. Es wird zwar kein allzu großes Problem sein, sich gefälschte Dokumente zu besorgen, sein Geschäftspartner Dimitri in Moskau könnte da sicherlich behilflich sein. Es würde jedoch seine Pläne fraglos sehr erschweren, wenn er sich regelmäßig bei einer Polizeidienststelle melden müsste. Nein, das wäre alles andere als gut. Es war absehbar, dass er längere Reisen unternehmen müsste. Vielleicht in den Nahen Osten, vielleicht nach Nordafrika. Dafür musste er flexibel und mobil sein.

Gespannt starrte er den Richter an. Er kannte Friedhelm Ringmann gut. Seit Jahren spielten sie zusammen Golf und waren beide Mitglieder im Lions Club. Friedhelm schaute ihn an. Ihm war anzusehen, dass ihm die Situation peinlich war. Freiherr von Hohenstein lächelte ihn kurz an und war nicht wirklich überrascht, wie Friedhelm Ringmann, Richter am Landesgericht Sigmaringen, schließlich entschied.

»In Anbetracht der Tatsache, dass Freiherr von Hohenstein sein Geständnis unter Eid bestätigt hat und seitens der Staatsanwaltschaft keine Anhaltspunkte dafür gesehen werden, dass er sich dem Verfahren durch Flucht entziehen wird, ordne ich hiermit an, dass die Untersuchungshaft des Freiherrn Georg Ludwig von Hohenstein gegen Zahlung einer Kaution von einhunderttausend Euro mit sofortiger Wirkung aufgehoben wird.«

Georg von Hohenstein triumphierte innerlich. Nun stand seinem Plan nichts mehr im Wege. Er war auf freiem Fuß. Klara war in der psychiatrischen Privatklinik eines gemeinsamen Freundes gut aufgehoben. Jetzt galt es zunächst, über Freunde bei den Sicherheitsbehörden mehr Details über die Täter und ihre eventuellen Hintermänner in Erfahrung zu bringen. Das würde kein Problem sein. Sein Anwalt hatte Akteneinsicht, auch in die Ermittlungsakten der Kriminalpolizei. Alles Weitere würde er über einen Studienkollegen, der beim bayrischen Innenministerium in leitender Position war, erfahren. Er wollte Rache, Genugtuung! Seit er erfahren hatte, dass der von ihm erschossene Fahrer des BMW keine Narbe am Bauch hatte, folglich nicht der Vergewaltiger gewesen sein konnte, trieb ihn nur noch ein Gedanke an: den Schmächtigen zu finden und ihn zu töten. Georg Ludwig von Hohenstein wunderte sich noch immer darüber, dass es nicht der schmächtige Araber gewesen war, dem er laut Polizeibericht in die Schläfe geschossen hatte. Er war sich absolut sicher gewesen, in dem Fahrer des Wagens den Vergewaltiger seiner Frau erkannt zu haben. Ganz egal, dachte er jetzt. Einer ist tot. Er hat es verdient. Einer ist verwundet. Den hatte die Kugel eines Polizisten erwischt. Und den, der Klara vergewaltigt und mich gezwungen hat, dabei zuzuschauen, den Kleinen mit der Narbe auf dem Bauch, den schnappe ich mir

Gegen Viertel nach drei wurde Freiherr Georg Ludwig von Hohenstein aus der Untersuchungshaft entlassen und stieg in den Wagen seines Anwalts.

 

*

Nahezu zeitgleich betrat der Kriminalbeamte Carlo Frattini vom Betrugsdezernat das Zimmer 323 im dritten Stock des Polizeipräsidiums von Florenz. Seine Kollegin Francesca saß auf dem Stuhl in der Ecke des Büros, unmittelbar neben dem vergitterten Fenster. Der kleine Araber hockte zusammengekauert in einer Ecke und starrte ihn an. In dem Trainingsanzug, den man ihm von der marokkanischen Botschaft gebracht hatte, sah er älter aus.

»Ciao, Francesca«, grüßte Carlo. »Der kleine Killer wird gleich abgeholt. Ich dachte, er will vielleicht noch einmal auf die Toilette, bevor er fährt. Ist eine lange Fahrt von Florenz nach Rom. So wie ich die Araber kenne, wird er kaum mit dir auf die Toilette gehen wollen.«

Die Kriminalbeamtin lächelte ihn an. »Was machst du denn hier? Von mir aus, frag ihn, wenn es dir gelingt. Zu mir sagt er keinen Pieps. Aber du kannst ja perfekt Arabisch. Vielleicht muss er wirklich mal. Aber pass auf, dass er nicht aus dem Fenster springt.«

Der Junge starrte den hünenhaften Mann mit der Waffe im Schulterholster ängstlich an.

»Komm mit! Aber versuch nicht abzuhauen. Du kommst hier nicht raus. Außerdem holen dich deine Landsleute gleich ab. Also komm.«

Der arabische Junge wunderte sich, auf Arabisch angesprochen zu werden. Verunsichert lächelnd ging er langsam auf Carlo Frattini zu. Entsetzt schüttelte er den Kopf, als der Kriminalbeamte ihm Handschellen anlegte.

»Dass machen wir hier in Italien immer so mit Mördern«, zischte Carlo Frattini wütend und schob den Jungen vor sich her aus dem Zimmer.

Zwanzig Schritte den Flur entlang nach rechts lag die Herrentoilette. Der Flur war menschenleer. Carlo Frattini öffnete die Tür. Im Vorraum war niemand. Im hinteren Raum mit den vier Toilettenkabinen schien ebenfalls niemand zu sein. Er bückte sich und schaute unter den Türen hindurch. Nein, keiner da! Sein Blick ging zu dem kleinen Fenster an der Stirnwand. Es war nicht vergittert, weil es nur in den engen Luftschacht führte. Hier konnte kein Festgenommener fliehen. Jedenfalls kein Erwachsener. Der Junge starrte ihn an. Angst lag in seinem Blick. Blitzschnell griff Carlo Frattini mit der rechten Hand nach dem Kopf des Jungen, riss ihn herum, zwang ihn mit seinem Körpergewicht auf den Boden, presste seine Hand auf den Mund des sich wild wehrenden Kindes, zerrte mit der anderen Hand eine Rolle Klebeband aus seiner Jackentasche und verband ihm mit wenigen Handgriffen den Mund. Er spürte die große Angst des Jungen unter sich.

»Hör auf zu strampeln«, fuhr er ihn an und drehte ihn auf den Rücken.

Der Junge riss die Augen weit auf. Er hatte Todesangst. Der Kriminalbeamte huschte zur Eingangstür, verriegelte sie von innen und schloss die Zwischentür hinter sich. Der Junge blieb wie paralysiert liegen. Langsam schritt Carlo Frattini an ihm vorbei zum Fenster, öffnete es, packte das schmächtige Kind mit beiden Händen an der Hüfte, wuchtete es mühelos vom Boden direkt an das Fenster und legte den in Handschellen gefesselten kleinen Körper mit dem Bauch auf das Fenstersims, so dass der Kopf des Kindes aus dem Fenster im dritten Stock hinab in den Lüftungsschacht baumelte. Der Junge hörte schlagartig auf zu zappeln. Die Angst, in den engen Schacht hinabzustürzen, lähmte ihn. Carlo Frattini stöhnte unter der Anstrengung und Aufregung.

»Du hast meinen Vater getötet. Ihr habt meinen Vater getötet! Er war ein gutmütiger Mann, ein kranker alter Museumswärter, der es verdient hätte, friedlich zu sterben und nicht in die Luft gesprengt zu werden «

Der Junge schluchzte. Carlo Frattini empfand kein Mitleid. Stattdessen zuckte er kurz mit beiden Händen, als wolle er das Kind hinabstoßen. Doch er zog den Jungen wieder zurück, ließ ihn auf den Boden gleiten und drehte ihn auf den Rücken. Er erschrak ein wenig, als er die Todesangst in den Augen des Kindes sah.

»In meiner Heimat Sardinien gilt unter sardischen Hirten seit jeher das Gesetz der Vendetta: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Tötest du meinen Vater, töte ich dich oder deinen Vater oder deine Brüder. Ich bin Polizist. Kein besonders guter, nein. Ich habe schon gestohlen, und ich habe schon betrogen. Sarden sind arm. Sie waren es immer. Auch ich war arm, ein Hirte, als Kind so dünn und so unschuldig, wie du es einmal warst. Arm geboren und arm wäre ich krepiert, aber ich wollte nicht arm sterben. Deswegen habe ich Dinge getan, die ein Polizist nicht tut. Das bereue ich nicht. Aber mein Vater hat mich dafür verachtet. Das ändert jedoch nichts daran, dass ich heute ein sardischer bandito per causa di honore sein werde! Ich töte heute als Bandit mit ehrenwerten Gründen, als Sohn meines ehrenwerten alten sardischen Vaters Leonardo Frattini. Er mochte mich nicht sonderlich, aber er war mein Vater. Und du weißt genau, was das für mich bedeutet, denn ihr Araber kennt dieses Denken. Die Ehre der Familie steht über allen irdischen Dingen und Gesetzen. Also töte ich dich oder den, der dich beauftragt hat, den Sprengstoff anzubringen «

Der Junge verharrte völlig regungslos. Seine Augen signalisierten, dass er verstanden hatte.

»Ich werde dir jetzt ein Blatt Papier und einen Bleistift geben. Du schreibst mir deinen Namen auf, den richtigen Namen, den Namen deines Vaters, deiner Mutter und deiner Brüder! Hast du verstanden? Ich will die Adresse deiner Familie und ich will den Namen und alles, was du sonst noch weißt von den Männern, die dich nach Italien geschickt haben. Machst du es, werde ich das Gesetz der Vendetta an den wahren Schuldigen vollstrecken. Ich werde schweigen, wenn du mir alles aufschreibst. Denn auch das gilt auf Sardinien: das Gesetz der Omertá des ewigen Schweigens. Niemandem werde ich sagen, woher ich meine Informationen habe. Du wirst frei sein, wenn du tust, was ich verlange. Wir auf Sardinien verschonen Kinder und Frauen, aber nur, wenn sie unschuldig sind. Beweise, dass du unschuldig bist. Führe mich zu den Schuldigen, zu den Mördern meines Vaters.«

4. Kapitel

W

ien tower, ambulance 101 for start-up and clearance«, nuschelte Flugkapitän Richard Kristoffs in sein Mikrofon. Die Antwort des Lotsen aus dem Kontrollturm am Flughafen in Wien-Schwechat kam schnell.

»Start-up is approved, please confirm destination«, krächzte die Stimme des Lotsen über den Äther.

»Heading for Rheintal, Switzerland«, antwortete Richard Kristoffs und rückte seine Sonnenbrille zurecht. Wieder war der Fluglotse erstaunlich schnell.

»Ambulance 101, you are cleared for take-off runway 29.«

Vorsichtig schob Richard Kristoffs die beiden Gashebel nach vorne, überprüfte mit routiniertem Blick die Triebwerksdaten, löste die Bremsen und gab vollen Schub.

»V1 rotate, V2, positiv rate gear up !«, murmelte er hinüber zu seinem Copiloten. Steil zog der Learjet in die Wolken, dem Himmel entgegen. Mit dem Ende des Steigflugs löste der Pilot seinen Sicherheitsgurt und atmete tief durch. Glück gehabt, verdammtes Glück gehabt, ging es ihm durch den Kopf. Vor knapp einer Stunde hatte er noch im Autobahnstau auf der Südtangente gestanden und gedacht, dass ihn diese Situation seinen Pilotenjob kosten würde. Er wusste, dass er sich während einer Flugbereitschaft immer nur im näheren Umfeld von Wien bewegen durfte und faktisch innerhalb einer Stunde nach Eingang eines Notrufs startklar sein musste. Die Verkehrsverhältnisse in Wien hatten sich in den Jahren nach der Osterweiterung der EU jedoch so dramatisch verschlechtert, dass gewisse Ausfallstraßen und Autobahnen regelmäßig unter dem Blechlawinen erstickten. Die Südtangente Richtung Graz war am schlimmsten. Am frühen Morgen strömten Heerscharen von Pendlern in die Stadt, am Nachmittag wälzten sich die Blechlawinen wieder stadtauswärts. Ausgerechnet diese Strecke musste er nehmen, um seine Töchter zum Reitunterricht zu fahren. Es waren kaum mehr als vierzig Kilometer von seiner Wohnung im fünften Bezirk zu dem Reitstall, aber die Autobahnbauarbeiten verursachten rund um die Uhr Staus. Heute hatte er sich über dieses Wissen hinweggesetzt. Schon nach knapp einer halben Stunde Fahrt hatte das Handy geklingelt. Er wurde zum Flughafen beordert: ein Notfall! Kurz entschlossen war er einfach auf dem Standstreifen zur nächsten Ausfahrt an dem Stau vorbeigefahren. Das war zwar verboten, aber letztendlich war es gut gegangen. Er hatte die Ausfahrt erreicht und war auf der Gegenfahrbahn zurück Richtung Wiener Flughafen gerast. Die Kollegen hatten bereits alle Unterlagen vorbereitet. Das Briefing für die Crew und die Notärztin war kurz gewesen. Jetzt saß er im Cockpit, in knapp einer Stunde würden sie in Rheintal landen. Joachim, sein Copilot, blätterte in den Flugunterlagen. Hinten im Learjet hörte er die Ärztin mit dem Sanitäter sprechen.

»Um was geht es eigentlich genau?«, fragte Richard Kristoffs den Copiloten.

»Ist ein Diplomat, dem bei einem Unfall ein Metallstab in den Bauch gedrungen ist. Allerdings schon vor ein paar Tagen«, antwortete dieser. »Soweit ich es aus den Unterlagen ersehen konnte, möchte er lieber in seinem Heimatland im Krankenhaus behandelt werden. Nichts Ungewöhnliches also, reine Routine.«

 

Das sah Dr. Ulrike Blagus anders. Die Ambulanzärztin wirkte sehr beunruhigt, als sie knapp eine Stunde später auf dem Flugfeld von Rheintal im Dreiländereck Deutschland-Österreich-Schweiz das Cockpit betrat. Der Patient, nach Krankenunterlagen und Aussehen offensichtlich ein Araber, war vor wenigen Minuten auf einer Trage aus dem wartenden Krankenwagen in den Learjet umgelagert worden. Weil sie gesehen hatte, dass die Wunde unterhalb der rechten Rippen unter dem Verband blutete, hatte sie den Patienten untersucht und war erschrocken.

»Das ist keine Unfallverletzung«, flüsterte sie Flugkapitän Richard Kristoffs nun zu, »das ist eine Schusswunde! Ist zwar nur ein Durchschuss, aber es ist keine Unfallverletzung!«

»Sind Sie sich sicher?«, fragte Richard Kristoffs leise und schaute die Ärztin erschrocken an. Er kannte sie von früheren Flügen. »Kennen Sie sich aus mit Schusswunden?«

»Ja, und ob ich mich damit auskenne«, antwortete die Ärztin. »Ich war als Ärztin lange Zeit im Balkankrieg. Schusswunden habe ich genug gesehen. Wenn mich nicht alles täuscht, hat der Mann da hinten einen Durchschuss aus einer Neun-Millimeter-Waffe erlitten. Ist glatt durchgegangen. Eine Infektion kann ich nicht diagnostizieren. Nur ganz leichte Blutungen, die wahrscheinlich durch den Transport bedingt sind. Die Wunde ist relativ gut geheilt, aber wie es in ihm drinnen aussieht, kann ich nicht sagen. Er macht einen ziemlich fitten Eindruck. Daher verstehe ich nicht, warum er mit einem Ambulanzflugzeug ausgeflogen werden muss. Die Wunde wurde professionell versorgt, das zumindest steht fest.«

Flugkapitän Richard Kristoffs blätterte in den Unterlagen, die ihm von den Schweizer Kollegen des Rettungsfahrzeugs übergeben worden waren. Alles war vorschriftsmäßig und komplett. Die Schweizer Sicherheitsbehörden am Flughafen hatten dem Patienten eine Ausreisegenehmigung erteilt. Das ärztliche Dossier war von einem Krankenhaus in Zürich amtlich beglaubigt ins Englische übersetzt und von einem Professor mit arabischem Namen unterschrieben worden. Und dort war ganz eindeutig von einer Unfallverletzung die Rede. Zudem war der Patient ein Diplomat und unterstand somit nicht der Schweizer Jurisdiktion.

Die Sache war ihm suspekt. Aber er sah keine Möglichkeit, den in wenigen Minuten geplanten Start zu verzögern oder gar bei den Schweizer Behörden am Flughafen vorstellig zu werden, zumal ein Beamter des Schweizer Zolls und ein Polizist beim Umladen des Patienten anwesend waren. Nein, nach internationalem Recht konnte er als Pilot eines Ambulanzfluges in einem solchen dubiosen Fall nichts unternehmen. Später, nach der Rückkehr nach Wien, würde er einen Bericht schreiben. Mehr konnte er nicht tun, Wenige Minuten später startete der Learjet vom Flughafen Rheintal. Als der Schweizer Lotse über Funk um Bestätigung des Zielflughafens bat, hatte Flugkapitän Richard Kristoffs allerdings ein mulmiges Gefühl. Der Zielflughafen beunruhigte ihn ebensosehr wie sein undurchsichtiger Fluggast. Glücklicherweise würde er für die Strecke mit dem Learjet kaum mehr als vier Stunden brauchen.

Was solls, dachte er sich. Mach dir keine Gedanken über Dinge, die dich nichts angehen. Wenn alles nach Plan läuft, bist du spätestens morgen Vormittag wieder zu Hause. Seine Antwort über Funk an den Lotsen im Tower war entsprechend kurz: »Ambulanz 101 bestätigt Flug nach Marrakesch.«

 

*

Marie-Claire de Vries konnte sich nicht erinnern, jemals so viele japanische und chinesische Touristen auf dem Heldenplatz vor der Hofburg gesehen zu haben. Die Sonne schien angenehm warm, und auf den Wiesen saßen Hunderte junge Leute. Auffallend viele Grüppchen von Schwarzafrikanern lungerten herum. Seit die Wiener Stadtverwaltung und die Polizeibehörden sich dazu durchgerungen hatten, als Drogenumschlagplätze bekannte Plätze in der Stadt mit fest installierten Videoanlagen zu überwachen, hatte es eine wundersame Völkerwanderung in der Wiener Innenstadt gegeben. Die Dealer und Drogenabhängigen waren vom Karlsplatz und aus den umliegenden U-Bahn-Eingängen verscheucht worden und ins weitaus nettere Ambiente zwischen Parlament, Volkspark, Hofburg und Nationalbibliothek umgesiedelt. Nebeneffekt dieser gleichsam populistischen wie sinnlosen Aktion war, dass nunmehr auch harmlose afrikanische Studenten aus der nahen Universität zu Dealern abgestempelt wurden. An diesem ungewöhnlich milden, sonnigen Novembertag herrschte um die beiden grün patinierten Bronzereiterdenkmäler von Prinz Eugen und Erzherzog Karl herum ein geradezu babylonisches Sprachgewirr. Immer, wenn sie hier vorbeikam, erinnerte sich Marie-Claire an die nette Geschichte, die ihr Großvater ihr als Kind über dieses gigantische Reiterdenkmal von Erzherzog Karl erzählt hatte. Im Gegensatz zu den meisten Reiterstandbildern ruht dieses Monument nur auf den Hinterbeinen des Pferdes und benutzt nicht, wie die meisten Reiterstandbilder der Stadt, den Pferdeschweif als dritte Stütze. Die Angst, diese wagemutige Konstruktion könne in sich zusammenstürzen und damit seinen Ruf ruinieren, hatte den Künstler namens Anton Dominik von Feinkorn so gequält, dass er geisteskrank geworden und daran gestorben war. Lächelnd ging sie weiter. Die wehende Staatsfahne auf dem Leopoldinischen Trakt der Hofburg signalisierte, dass der Bundespräsident im Hause war. Die zwei Polizisten vor dem mächtigen Holztor des Bundeskanzleramts streckten ihre Gesichter der wärmenden Sonne entgegen. Die Droschkenkutscher auf der Straße zwischen den beiden Reiterdenkmälern schienen angesichts des außergewöhnlich milden Novemberwetters zufrieden. Sogar einige Terrassenplätze des Cafés im Innenhof der Hofburg waren besetzt.

Zielstrebig ging Marie-Claire über die Straße auf das prächtige, dunkelrot-grau-schwarze Schweizer Tor zu. Sie hatte sehr unrühmliche Erinnerungen aus der Schulzeit an dieses Tor. Bei ihrem ersten Schulausflug in der vierten Klasse des Lycée Français de Vienne hatten sie mit ihrer Kunstlehrerin vor diesem Tor gestanden. Weil sie gewagt hatte, die fünf Halbreliefs über dem Tor als »grausige Totenschädel« zu bezeichnen, hatte ihr Madame Babites eine Strafarbeit aufgebrummt. Bis zum nächsten Unterricht hatte sie einen zehnseitigen Aufsatz über die Inschrift am linken Tor der Hofseite schreiben müssen, wo geschrieben steht: Si deus pro nobis quis contra nos‹. Seither wusste sie, dass dieser Spruch, »Wenn Gott mit uns ist, wer kann gegen uns sein?«, aus dem Brief des Paulus an die Römer stammte, aber auch der Lieblingsspruch der Gattin des Erzherzogs Johann und der ihrer Kunstlehrerin, der erzkonservativen und streng religiösen Madame Babites, war!

Sie würdigte das herrliche Groteskenfresko und die Wappen verschiedener österreichischer Provinzen an der Innendecke des Tors nur mit einem kurzen Blick und ging weiter in den Innenhof. Der Gedanke, die Wiener Schatzkammer heute nach so vielen Jahren unter solch eigentümlichen Rahmenbedingungen wieder zu besuchen, gefiel ihr. Seit sie sich intensiv mit den Unterlagen beschäftigt hatte, die sie von Francis Roundell bekommen hatte, drehte sich ihr ganzes Denken nur noch um den Florentiner-Diamanten und um die Ritter vom Goldenen Vlies. Das war der spannendste Auftrag, den sie bei Christies je erhalten hatte! Am gestrigen Abend war sie in der Staatsbibliothek auf Hintergrundinformationen gestoßen, die sie vermuten ließen, dass dieser Auftrag ihr ein Höchstmaß an Kompetenz abverlangen würde. Sich mit dem Florentiner zu beschäftigen hieß letztendlich, sich mit der Geschichte des Abendlandes auseinander zu setzen: von den Kreuzrittern bis zur Gegenwart. Endlich konnte sie ihr Wissen aus ihrem Arabistikstudium und von ihren Reisen in Nordafrika und im Nahen Osten in einen Auftrag einbringen! Ihr Studium der Kunstgeschichte würde ebenso hilfreich sein wie ihre Ausbildung als Goldschmiedin. Ohne Frage hatte Francis Roundell sie deswegen mit diesen Recherchen beauftragt. Zufrieden lächelte sie vor sich hin. In der Schatzkammer war sie schon öfters gewesen, aber die Vitrine mit der Nummer XIII hatte sie bislang noch nie unter solchen Aspekten betrachtet. Seit sie gestern Abend Informationen über die Vitrine und ihren Inhalt zusammen getragen hatte, ahnte sie, dass aufregende Zeiten auf sie zukommen würden. Zum Nachdenken über persönliche Probleme würde sie nur wenig Zeit haben.

Das kam ihr sehr gelegen, denn ihr Ägyptenurlaub hatte sie wieder einmal mit jenen grausamen Realitäten konfrontiert, die sie schon seit Jahren verdrängte. Wie oft hatte sie sich schon geschworen, nicht mehr allein als Single in Urlaub zu fliegen. Doch wie schon in den zurückliegenden Jahren hatte sich auch in diesem Jahr wieder keine Freundin gefunden, die Zeit oder Lust gehabt hätte, sie zu begleiten. Also hatte sie erneut allein gebucht, ahnend und fürchtend, dass sich die Erfahrungen von vielen der vergangenen Reisen wiederholen würden. Und genau das war geschehen. In den Hotels hatte sie die miesesten Einzelzimmerabstellkammern bekommen; in den Restaurants hatte man sie wie eine Aussätzige in die Ecken verbannt; an den Bars und auf den Terrassen war sie permanent von penetranten ägyptischen Männern angequatscht worden. Und den unglaublich schönen Sonnenuntergang in der Oase Fayoum hatte sie schließlich allein bewundern müssen. Sie hasste das Alleinsein, das Reisen als Single. Sie wollte sich mitteilen, ihre Begeisterung teilen, mit einem Partner teilen nicht in sich hinein schweigen.

Sie fragte sich, was sie in ihrem Leben falsch gemacht hatte, dass es so gekommen war. Sie hatte keine Probleme, Männer kennen zu lernen. Ihre Beziehungen mit Männern waren zwar oft langjährige Beziehungen gewesen. Doch ihr wirklich großer Traum von einem Leben mit einem seelenverwandten Mann und mit Kindern hatte sich nicht erfüllt. Das Schlimmste daran war, dass einige ihrer ehemaligen Partner auch heute noch, als Freunde auf platonischer Ebene, beteuerten, dass sie eine tolle, eine attraktive, ja eine außergewöhnliche Frau sei. Aber die das sagten, hatten sie alle verlassen. Keiner von ihnen war in der Lage zu erklären, warum. Oft schon hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, ob vielleicht ihre Kindheit und ihre Erfahrungen als Jugendliche in ihrem von Lieblosigkeit und Streben nach Besitz geprägten Elternhaus ein Grund für das Scheitern ihrer Beziehungen war. Ihr Elternhaus war ohne Frage eine schwere Hypothek. Ihr Vater, ein erzkonservativer Jurist, renommierter Universitätsprofessor und lange Zeit als ÖVP-Mitglied Abgeordneter im Parlament, hatte für Kinderseelen nie Zeit gehabt. Sein Denken galt ausschließlich seiner Karriere. Sein Beruf, die Villa im dreizehnten Bezirk und das Landhaus am Neusiedler See waren seine Lebensinhalte. Von seinen Kindern erwartete er, wie auch von seinen Studenten an der Uni und seiner Ehefrau, Zucht und uneingeschränkten Gehorsam. Seine moralisch-ethischen Prinzipien waren zu Hause Gesetz, sein Erfolg war die Messlatte, an dem er seine beiden Töchter, aber auch deren Freunde und Männer maß. Doch diesen Anforderungen war niemand gewachsen. Alles hatte sie versucht, es ihm recht zu machen, aber es war ihr nie gelungen. Für ihn war sie eine missratene Tochter. Eine Erklärung dafür, warum das so war, hatte sie nie gefunden. Auch nicht dafür, dass all ihre Beziehungen zu Männern letztendlich gescheitert waren. Sie wusste nur, dass ihre biologische Uhr tickte. Sie war über vierzig Jahre alt. Ihren Wunsch nach Kindern hatte sie längst reduziert auf ein Kind. Ja, ein Kind, danach sehnte sie sich. Doch darüber nachzudenken, quälte sie. Deshalb stürzte sie sich seit einigen Jahren in ihre Arbeit. Und deshalb war sie heute froh, keine Zeit zu haben, um über diesen grauenhaften Ägyptenurlaub nachzudenken. Der Florentiner und diese ominösen Ritter vom Goldenen Vlies würden sie ablenken. Das war gut so.

Entsetzt starrte sie auf die Schlange wartender Touristen vor dem Eingang zur Schatzkammer. Ihre Freundin Christiane Schachert, mit der sie sich verabredet hatte, weil sie ihre Dissertationsarbeit als Kunsthistorikerin über das Burgundische Erbe geschrieben hatte, und die seit einiger Zeit in der neu gegründeten Abteilung für Marketing, Sponsoring und Event-Management des Kunsthistorischen Museums arbeitete, saß auf der Treppe der Botschaftsstiege vor der Hofburgkapelle. Sie lächelte ihr gequält zu.

»Grauenhaft, diese Menschenmassen! Hier wird es bald so aussehen wie in Venedig auf dem Markusplatz oder wie im Juli vor den Uffizien in Florenz«, schimpfte Marie-Claire de Vries, umarmte Christiane, küsste sie auf beide Wangen und setzte sich zu ihr auf die gelblichen Steintreppen. Ihre Freundin sah völlig abgearbeitet aus. Das brünette Haar hing ihr strähnig auf die Schultern herab, und sie hatte Schatten unter den Augen.

»Chrissie, du siehst furchtbar aus, wenn ich das einmal so direkt sagen darf! Bist du krank?«

»Nein, meine Liebe, ich bin nicht krank, ich bin bescheuert! Ich arbeite für eintausendvierhundert Euro im Monat vierzehn Stunden am Tag und bin auch noch so blöd, Arbeit mit nach Hause zu nehmen, um sie am Wochenende zu erledigen.«

»Was nichts anderes bedeutet, als dass du mal wieder Liebeskummer hast, richtig?«, unterbrach Marie-Claire sie. Sie ahnte, dass es ihrer Freundin nicht gut ging. Chrissie hatte ein unrühmliches Faible für Männer, die bereits vergeben waren.

»Ich bewundere deinen Scharfsinn«, erwiderte die Freundin. »Mein stressiger Job beim Kunsthistorischen Museum macht mich bei weitem nicht so krank wie dieser verfluchte Beziehungsstress. Aber ich hasse es nun mal, alleine zu sein! Das weißt du doch. Ist ja nichts Neues. Neu ist höchstens, dass ich derzeit einsam bin, obwohl ich gleich zwei Verehrer habe. Der eine hat noch weniger Zeit als ich. Er ist Broker an der Börse, was gleichbedeutend mit einen Achtzehn-Stunden-Job ist. Wenn er mal Zeit hat, schläft er. Leider nicht mit mir! Und der andere ist gerade mit seiner angeblich ach so gehassten Frau und seinen Kindern im Urlaub! Aber was solls, zumindest garantiert mir mein Aktien-Lover, dass ich nicht immer allein aufstehen muss! Aber jetzt erzähl mir lieber, wieso du mit mir in die Schatzkammer willst? Ich habe leider nicht sehr viel Zeit, doch für einen kurzen Rundgang und ne Tasse Kaffee danach wird es reichen. Komm, ich lancier dich an diesen Massen vorbei.«

Vor der Kasse der Schatzkammer im Tiefgeschoss herrschte ein unglaubliches Gedränge. Trotz Klimaanlage war es stickig-heiß. Marie-Claire war froh, dass ihre Freundin ihr es ermöglichte, ohne große Wartezeiten in dieses wundervolle Museum zu gelangen. Schon als Kind hatte sie hier die prunkvollen Schätze aus tausend Jahren europäischer Geschichte, die Insignien und Kleinode des Heiligen Römischen Reiches, die Insignien der österreichischen Erbhuldigung und den Kronschatz des Hauses Habsburg bestaunt. Während ihres Kunstgeschichtestudiums hatte sie viele Tage in dieser Schatzkammer verbracht. Irgendwie freute sie sich darauf, wieder einmal in die mystisch-dumpfe Atmosphäre dieses einzigartigen Museums mit seinem schummrigen Licht einzutauchen. Zumal sie sehr aufgeregt war. Was immer sie früher hier auch bestaunt und bewundert hatte, nie hatte sie einzelne Preziosen und Ausstellungsgegenstände in einem mit der Gegenwart verbundenen Kontext gesehen. Der heutige Besuch war anders. Sie würde vieles mit anderen Augen sehen. Dazu gehörten das Burgundische Erbe und der Schatz des Ordens der Ritter vom Goldenen Vlies. Ihre Tasche musste sie an der Garderobe im Vorraum des Treppenaufgangs abgeben. Der Kontrast zwischen dem modern gehaltenen Foyer mit seinen schlichten grau-blau-weißen Steinböden und dem pompösen Kronleuchter fiel ihr erst auf, als sie auf der Treppe auf halber Höhe stehen blieb.

»Warte einen Moment, Christiane. Bevor wir da reingehen, will ich dir kurz sagen, was mich hierher treibt. Ich mache gerade die Basisrecherche zu einem Projekt, bei dem irgendwie die Ritter vom Goldenen Vlies und der Florentiner Diamant eine Rolle spielen. Ich kann noch nichts Konkretes sagen, im Moment ist es noch reine Schreibtischrecherche. Aber du kennst ja meinen Job. Wie immer ist natürlich alles streng vertraulich.«

Christiane Schachert blieb abrupt auf der Treppe stehen.

»Ups«, brachte sie ihr Erstaunen zum Ausdruck, »der Florentiner? Die legendenumrankte Zierde und der Fluch des Hauses Habsburg? Das ist ja eine nette Überraschung! Vor allem, weil du ihn in Verbindung mit den Rittern vom Goldenen Vlies nennst.«

Marie-Claire de Vries machte keinen Hehl daraus, dass sie alles, nur nicht diese Reaktion ihrer Freundin erwartet hatte.

»Du kennst dich mit dem Florentiner aus?«

»Was heißt auskennen? Als ich meine Dissertation schrieb, bin ich zufällig auf den Florentiner gestoßen. Mich hat dieser Edelstein sofort fasziniert. Ich weiß, dass er einer der legendärsten Diamanten des Abendlandes ist. Und ich weiß, dass Kaiser Franz Joseph ihn aus der österreichischen Staatskrone entnehmen und ihn in ein Diadem für seine Kaiserin Sisi umarbeiten ließ. Sonderlich viel Glück hat ihr das nicht gebracht. Sie hat ihn angeblich nur ein einziges Mal tragen können, bevor sie am 10. September 1898 in Genf mit einer Feile erstochen wurde. Man sagt diesem Florentiner nach, dass er all seinen Besitzern nur Unglück brachte. Ich denke, deswegen hat Kaiser Franz Joseph ihn später auch in eine Brosche umarbeiten und ihn hier in der Schatzkammer verschließen lassen. Und zwar in der Vitrine XIII über die es ein Buch gibt.«

Marie-Claire de Vries lächelte zufrieden. Es war eine kluge Entscheidung gewesen, Christiane in die Recherchen einzuweihen.

»Ich habe von diesem Buch gehört. Was den Florentiner betrifft, kann ich nur sagen, dass sich schon jetzt, am Anfang meiner Recherchen, zu bestätigen scheint, dass dieser Stein eine unglaublich fesselnde Historie hat. Um ihn ranken sich sehr tragische Geschehnisse, und das in geballter Form! Schenkt man all den Mythen und Legenden um diesen Diamanten Glauben, dann ist er tatsächlich mit einem Fluch belegt. Er hat vielen Tod und Verderben gebracht. Die Habsburger scheinen davon extrem betroffen gewesen zu sein. In jenen Zeiten, in denen der Florentiner dem Haus Habsburg gehörte, hat es in der Kaiserfamilie auffallend viel tragische Unfälle gegeben: Der Bruder von Kaiser Franz Joseph ist in Mexiko umgebracht worden; Sisis erstes Kind ist im Alter von zwei Jahren in Ungarn gestorben; Sisis Sohn Rudolph hat sich und seine Geliebte in Mayerling umgebracht; Kronprinz Ferdinand wurde in Sarajewo erschossen! Und nur wenige Jahre später floh die Kaiserfamilie aus Wien in die Schweiz. Die österreichische Monarchie und damit das über Jahrhunderte so mächtige Haus Habsburg waren binnen weniger Jahre von der politischen Landkarte Europas verschwunden. Und damit ist nur ein Teil der blutigen Vergangenheit dieses Diamanten erzählt! Es ist wirklich irrsinnig aufregend, sich mit diesem Edelstein zu beschäftigen. Aber wieso hat dich eigentlich vorhin der Zusammenhang mit dem Ritterorden vom Goldenen Vlies so erstaunt?«

Eine Gruppe von etwa dreißig Chinesen drängte sich lärmend an ihnen vorbei das Treppenhaus hinauf. Ihre Freundin schien von den wenigen Stufen atemlos zu sein.

»Mist! Ist ein schnödes Leben, das ich führe. Zu viel Zigaretten und zu wenige Streicheleinheiten für meine Seele! Mir geht die Puste schon nach zehn Stufen aus. Vielleicht ists besser, dass mein Broker es vorzieht zu pennen, statt mich zu schweißtreibenden Matratzenspielen zu überreden.«

Marie-Claire musste laut lachen. Sie liebte diese unverblümte Direktheit und den schwarzen Humor ihrer Freundin, aber sie wusste auch, dass sich hinter diesen witzigen Bemerkungen ihrer Freundin bittere Wahrheiten verbargen. Christiane holte tief Luft und sprach dann weiter.

»Mich überrascht dieser Zusammenhang zwischen dem Diamanten und dem Orden vom Goldenen Vlies deswegen, weil das jetzt das zweite Mal innerhalb weniger Tage ist, dass ich mit diesem mysteriösen Orden vom Goldenen Vlies zu tun habe. Das ist schon seltsam! Aber das erkläre ich dir später «

Zum Schutze der licht- und umweltempfindlichen Exponate der Schatzkammer, aber auch aus Sicherheitsgründen waren alle Fenster der Schatzkammer verdunkelt. Speziallampen beleuchteten die wenigen Vitrinen, Bilder und Kunstschätze nur spärlich. Marie-Claire brauchte einige Minuten, bis sie sich an das diffuse Licht im ersten Raum gewöhnt hatte. Touristen mit Audiokassetten scharten sich um die Glasvitrinen und lauschten, den Blick auf die Kunstschätze gerichtet, den Stimmen aus den Kassetten. Die gedämpfte Atmosphäre verlieh dem Raum ein gespenstisches Ambiente. Alle Besucher flüsterten nur und schienen bedacht darauf zu sein, sich lautlos durch den Saal zu bewegen.

Schon im zweiten Raum blieb Christiane stehen. Mit einem Kopfnicken deutete sie auf ein riesiges Gemälde an der gegenüberliegenden Stirnwand.

»Da, schau ihn dir an, diesen pausbäckigen Monarchen!«, flüsterte sie. »Da hast du einen jener Männer, die dem Orden der Ritter vom Goldenen Vlies als Souveräne vorstanden: Kaiser Karl VI. im Vliesornat! Und davor in der Vitrine die Krone des späteren Kaisertums Österreich. Eine viel sagende Konstellation! Inbegriff einer Macht, die für uns heute kaum noch vorstellbar ist! Der Monarch und der Orden vom Goldenen Vlies.«

Marie-Claire widmete der prächtigen, mit wunderbaren Perlen und vier überdimensionalgroßen Rubinen besetzten Kaiserkrone nur einen beiläufigen Blick. Ihre volle Aufmerksamkeit galt dem gut zwei mal drei Meter großen Gemälde. Voller Respekt näherte sie sich dem Ölbild. Umgeben von den Insignien seiner Herrschaftstitel, dem österreichischen Erzherzogshut, der böhmischen Wenzelskrone, der Reichskrone und der ungarischen Stephanskrone saß der Monarch lässig, mit nach vorne gestrecktem rechtem Fuß auf einem Sessel. Seine schulterlangen, blondgelockten Haare akzentuierten auf höchst eigentümliche Weise seine geröteten Pausbacken und das Doppelkinn. Sehr majestätisch sah Kaiser Karl VI. nicht gerade aus.

»Das ist das Ornat des Ordens vom Goldenen Vlies«, flüsterte Christiane erneut. »Und schau dir mal diese goldene Kette, diese Collane mit dem goldenen Widder an seinem Hals an! Wer dieses purpurrote, gold- und silberdurchwirkte Samtgewand und eine solche Collane mit dem Widder trug, der gehörte damals zu den mächtigsten Männern des Abendlandes! Am Anfang, also als Herzog Philipp der Gute von Burgund diesen Orden im Jahre 1430 gründete, waren es einunddreißig honorige Mitglieder, die dem Orden angehörten und die diesen Chaperon, diesen Hut da mit der langen Schleife, trugen.«

Marie-Claire schaute ihre Freundin verwundert an.

»Warum zeigst du mir ausgerechnet dieses Bild? Wenn ich richtig informiert bin, sind die meisten Exponate des Hauses Burgund und der Ritter vom Goldenen Vlies am anderen Ende der Schatzkammer untergebracht in Raum fünfzehn und sechzehn, richtig?«

»Das ist richtig, meine liebe Marie-Claire. Aber ich dachte mir, der Name Kaiser Karl VI. habe doch eine gewisse Symbolkraft. Immerhin heißt der jetzige Souverän dieses legendären Ordens auch Karl! Sein adliges von haben sie ihm ja bekanntlich abgesprochen. Im Nachkriegsösterreich sind Adelstitel ja verpönt. Der Souverän der Ritter vom Goldenen Vlies ist dieser Karl aber dennoch! Was ich recht bizarr finde ist die Tatsache, dass es ohne den Einfaltsreichtum dieses pausbäckigen Mannes hier auf dem Gemälde die letzten dreihundert Jahre überhaupt keine Habsburger Monarchie mehr gegeben hätte! Wer weiß, vielleicht hätte es dann auch keinen Orden vom Goldenen Vlies, keine Sisi, keinen Florentiner und damit kein so großes Leid in der Familie der Habsburger gegeben!«

Marie-Claire riss verwundert die Augen auf. Dass ihre aus Hamburg stammende, über ihre Heirat nach Wien gekommene Freundin gelegentlich zu sehr eigenwilligen Interpretationen historischer Fakten tendierte, zudem gelegentlich sehr radikal-feministische Ambitionen hatte, wusste sie. Sie waren immerhin schon seit fünfzehn Jahren befreundet. Sie wusste auch, dass Christiane eine exzellente Historikerin war. Diese These und der Mystizismus aus Chrissies Mund verblüfften sie jedoch sehr.

»Du musst dich nicht wundern, wenn du als Piefke als Deutsche mit solchen Thesen hier in Österreich einen Sturm der Entrüstung auslöst!«

»Aber es ist nun mal so, meine Liebe«, triumphierte Christiane Schachert und grinste. »Um es deutlicher auszudrücken: Kaiser Karl VI. war der letzte männliche Habsburger! Wäre er trotz der ihm wohl eigenen aristokratischen Borniertheit nicht so unglaublich clever gewesen, hätte das Haus Habsburg im 18. Jahrhundert das Ende seiner glanzvollen Zeiten erleben müssen. Du weißt ja: Ohne männlichen Erbfolgen lief damals nichts! Mit einem eigenen Erbfolgegesetz, der so genannten Pragmatischen Sanktion, bestimmte er im Jahre 1713 einfach so den Vorrang der Erbfolge seiner Kinder und zwar auch der Töchter! Das hat ihm jahrelange zähe diplomatische Verhandlungen und viel Zwist eingebracht, aber er hat es durchgesetzt. Auch wenn seine Tochter und Erbin, Maria Theresia, nach seinem Tod um die Gültigkeit dieses Gesetzes kämpfen musste, ohne dieses Erbfolgegesetz wäre das Haus Habsburg mangels männlicher Erben mehr oder minder in die Bedeutungslosigkeit versunken! Ergo hätte es auch, das vermute ich jetzt einmal, keinen direkten männlichen Souverän des Ordens vom Goldenen Vlies aus dem Hause Habsburg gegeben. Erst durch die Heirat von Maria Theresia mit Franz I. von Lothringen kam faktisch ein neuer männlicher Souverän ins Spiel: ein Habsburg-Lothringischer! Du siehst, dem Mammon Macht opfert die herrschende Klasse schnell mal ein schnödes Gesetz oder schafft ein neues! Das war damals so und ist heute nicht viel anders. So gesehen kann ich dir also nur raten, liebe Marie-Claire: Schau zu, dass du schnell schwanger wirst und Jungs auf die Welt bringst! Mädchen können leicht den Untergang einer Dynastie herbeiführen. Und zum Ritter dieses edlen Ordens werden sie bekanntlich auch nicht geschlagen.«

Wieder musste sie so laut lachen, dass ein Museumswärter sie mit grimmiger Miene zur Ruhe ermahnte. Marie-Claire war von ihrer Freundin restlos begeistert. Chrissie war einfach genial! Sie konnte mit wenigen Worten Dinge unglaublich prägnant auf den Punkt bringen. Wie Giftpfeile schossen Wahrheiten manchmal aus ihrem Mund. Wenngleich sie den historischen Wahrheitsgehalt dieser These ihrer Freundin nicht wirklich beurteilen konnte, so merkte sie doch, dass Christiane sich mit den Verknüpfungen des Vlies-Ordens mit dem Hause Habsburg sehr gut auskannte. Da ihre bisherigen Recherchen schon gezeigt hatten, dass die Historie des Florentiner-Diamanten sehr eng mit der Geschichte der Habsburger verknüpft war, ahnte sie, dass sie das Wissen ihrer Freundin noch oft in Anspruch nehmen würde. Christiane war mittlerweile schon einige Schritte weiter gegangen. Sie wirkte plötzlich sehr nervös.

»Komm, ich habe nicht mehr viel Zeit«, wandte sie sich um. »Ich denke, ich habe noch eine sehr große Überraschung für dich.«

Marie-Claire fühlte sich von der Pracht der Schatzkammer überwältigt, merkte, wie sie fast geduckt und unterwürfig, von grenzenloser Ehrfurcht erfüllt die nächsten Räume durchschritt. Nur kurz verharrten sie in Raum fünf vor einem Gemälde des berühmten französischen Porträtisten des europäischen Hochadels, Jean Baptiste Isabey, das Kaiser Napoleon zeigte.

»Der hat den Florentiner ebenfalls besessen«, sinnierte Marie-Claire laut und ergänzte: »Hat ihm scheinbar auch kein Glück gebracht.«

So eilig ihre Freundin Christiane es auch hatte, so stur war Marie-Claire, als sie Raum acht betraten.

»Warte, du hektische Pressetante«, zischte sie. »Hier kann ich nicht so einfach vorbeirasen. Das hier ist eines der großen Mysterien dieser Schatzkammer. Es ist ein Wunder für mich jedenfalls!«

Zielstrebig ging sie auf eine in fahlem Licht optisch beeindruckend präsentierte Vitrine zu und blieb davor stehen. Die »Achatschale« zählt zu den beiden als unveräußerlich deklarierten Erbstücken des Hauses Österreich. Das samt Handgriffen sechsundsiebzig Zentimeter breite Kunstwerk war von Meisterhand aus einem mächtigen Achatsteinblock herausgearbeitet worden und gilt als die größte gemmoglyptische Schale der Welt. Ein Prachtwerk, um das sich ebenfalls unzählige Legenden und Mythen ranken. Auch Marie-Claire war immer wieder aufs Neue von der geheimnisvollen Aura der Schale gefangen. Nicht nur die einzigartige Größe des Steins und die meisterhafte Formgebung der Schale hielten sie in Bann. Es waren mehr die vielen Quellen, die von einem Naturwunder, einer rätselhaften Inschrift in der Schale sprachen. Nicht von des Künstlers Hand eingeritzt oder gar aufgemalt, sondern in der Substanz des Steins, in seiner Maserung erscheint unter besonderen Lichtverhältnissen unter anderem das mystische Schriftzeichen KRISTO oder XRISTO! Schon vor Hunderten von Jahren, aber auch in der Neuzeit hatten sich Gelehrte und renommierte Wissenschaftler mit diesem Phänomen beschäftigt. Mal wurde geunkt, die Inschrift sei gar nicht vorhanden. Dann aber war im Jahre 1951 bei Reinigungsarbeiten die Inschrift wieder zu sehen. Dass die Achatschale der Heilige Gral sei, in dem das Blut Christi bei seiner Kreuzigung aufgefangen worden war, wurde ebenso behauptet, wie Mystiker darauf hinwiesen, dass es bei Lukas 19,40 hieß: »Wenn diese schweigen, werden die Steine rufen!«

Marie-Claire erschauerte innerlich. Gänsehaut lief ihr den Rücken hinunter. Für sie stellte sich bei dieser einzigartigen Achatschale nicht die Frage der wissenschaftlichen Beweisführung für die Existenz der Inschrift. Ihr fraglos sehr gläubiger Professor hatte ihr zum Ende ihres Studiums etwas gesagt, was sie nie vergessen hatte und was seither ihre Grundeinstellung zu Kunst und zu dieser mystischen Achatschale maßgeblich prägte: »Das Erkenntnisvermögen muss sich immer an dem orientieren, was es sehen will! Nur ein Auge, das dazu fähig ist, kann das Wunder sehen. Die Natur ist eine Selbstoffenbarung des Schöpfers. Daher kann nur ein von Gott begnadeter Künstler leblose Materie mit den Mächten der Seele einen.«

»Träumst du?«

Die Worte ihrer Freundin rissen sie aus ihren Gedanken.

»Tut mir Leid«, atmete Marie-Claire aus. Christiane schaute sie verwundert an.

»Irgendwie habe ich das Gefühl, diese ganze Sache um den Florentiner herum verwirrt dich sehr! Wie auch immer: Ich muss dich bitten, etwas schneller zu gehen. Ich will dir was zeigen, etwas sehr Seltsames. Es wird dich umhauen «

5. Kapitel

I

n Raum fünfzehn der Schatzkammer herrschte eine wunderbare Ruhe. Seit Marie-Claire eine Tür passiert hatte, auf der Das burgundische Erbe avisiert wurde, war sie noch aufgeregter. In diesen Räumen, das wusste sie aus ihren Unterlagen, befanden sich die prächtigsten Insignien des Ordre de la Toison dOr des Ordens der Ritter vom Goldenen Vlies. Hier, so hoffte sie, würde sie beginnen, die Zusammenhänge zwischen dem Ritterorden und dem Florentiner besser zu verstehen. Ihr Auftrag war, die Geschichte des Florentiners zu eruieren. Hier, dessen war sie sich sicher, würde sie Antworten finden auf die vielen Fragen, die sich ihr in Verbindung mit dem Florentiner und den beiden geraubten Sancys stellten.

Sprachlos und überwältigt von der unglaublichen Pracht in den Ausstellungsvitrinen glitt ihr Blick durch den Raum. Ein unbeschreiblich kunstvolles Ornat, die Festkleidung der Ritter vom Goldenen Vlies, fesselte vor allem ihre Aufmerksamkeit. Der mit weißer Seide gefütterte Mantel aus dunkelrotem Samt war das Schönste, was sie je an burgundischer Hofkleidung gesehen hatte. Er war mit unglaublich prunkvollen Gold- und Silberbordüren gesäumt. Darin waren die Embleme des Ordens eingearbeitet: Feuerstein, Feuereisen und Widderfell. Am Saum des einzigartigen Kunstwerkes stand in goldenen Lettern geschrieben: »JE LAY EMPRINS Ich habs gewagt.« Verwirrt von der Atmosphäre dieses Raumes, von den edlen Gewändern, goldenen Ketten, funkelnden Edelsteinen, dem Heroldstab und der in ihren Ausmaßen und Schönheit im wahrsten Sinne des Wortes unbeschreiblichen Wappenkette für den Herold des Ordens suchten ihre Augen einen Ruhepunkt. Sie fühlte sie erdrückt von der Vielzahl der kostbaren Exponate. Dann sah sie, wonach sie suchte: vier Bilder, vier relativ kleine, unscheinbare Porträts. Ohne näher zu treten, wusste sie einen der Männer mit den sehr markanten Nasen sofort einzuordnen: Herzog Philipp der Gute von Burgund! Gebannt starrte sie auf das Bild.

Marie-Claire war plötzlich erschöpft. Ihre Wahrnehmungsfähigkeit ließ nach. Ihre Gedanken entschwanden und einten sich unter dem Eindruck all dieser sie in diesem Raum umgebenden Pracht zu einem märchenhaften, von imaginären Stimmen erfüllten Traum, in den sie eintauchte an jenem Tag, von dem sie in den alten Archiven gelesen hatte. Es handelte sich um jenen Tag vor sechs Jahrhunderten, den 10. Januar des Jahres 1430. Der Herold von Flandern trat nach Beendigung eines Ritterturniers vor und verkündete den anwesenden Edelleuten: »Mein Gebieter, der durchlauchtigste und großmächtigste Fürst und Herr, Herzog von Burgund, Graf von Flandern, Artois und Pfalzgraf von Namur, erlaubt sich, aus Anlass seiner Vermählung mit Prinzessin Isabella von Portugal einen Orden zu stiften, genannt das Goldene Vlies eine ritterliche Bruderschaft und ein Freundschaftsbund von Edelleuten, geeint zu Ehren des Allmächtigen und der Verteidigung des christlichen Glaubens.«

Als wolle sie sich aus dem tranceähnlichem Zustand herauskatapultieren, schüttelte Marie-Claire den Kopf. Verstohlen schaute sie sich um. Ihre Freundin Christiane war nirgends zu sehen. Wieder wanderte ihr Blick zu den kleinen Gemälden, den Porträts der berühmten Burgunder. Sie stand nur einen Schritt entfernt, nunmehr Auge in Auge jenem Mann gegenüber, dem ihr größtes Interesse galt: Charles le Téméraire in die Geschichte des Abendlandes eingegangen als Karl der Kühne, vierter Herzog von Burgund aus dem Hause der burgundischen Valois! Dieser Mann war vielleicht der Schlüssel zu all jenen Geheimnissen, die sie im Auftrag ihres Arbeitgebers, des Auktionshauses Christies, zu ergründen suchte. Er war der erste urkundlich nachgewiesene Eigentümer des in Deutschland geraubten Kleinen Sancy, des in Florenz entwendeten Großen Sancy und des Florentiners. Dieser legendäre burgundische Herzog, so ging er ihr nun durch den Kopf, ist der erste Besitzer im Abendland all jener Diamanten gewesen, die du jetzt suchst. Und er war ein Ritter vom Goldenen Vlies.

»Kannst du mal aufhören, diese langnasigen Burgunder so anzustarren?«, rissen die Worte ihrer Freundin sie aus ihrer sprachlosen Begeisterung. Sie wandte sich um. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Das viele Gold, all die unschätzbar wertvollen Edelsteine, die atemberaubend schönen Gewänder und die Porträts der burgundischen Herzöge hatten sie in eine andere Welt versetzt. Christiane stand vor einer Vitrine. In der für sie so typischen Trotzhaltung, einen Arm in die Hüfte gestemmt, den Kopf leicht nach hinten geworfen und mit funkelnden Augen, grinste sie Marie-Claire an.

»Schau mal!« Mit einer leichten Kopfbewegung wies sie auf die Vitrine. Marie-Claire de Vries wusste zunächst nicht, um was es ging. Langsam kam sie näher und starrte auf den Glaskasten. Ihre Augen weiteten sich. Ungläubig sah sie Christiane an. Ihre Freundin grinste triumphierend.

»Hier fehlt ja ein Exponat!«

Marie-Claire hauchte die Worte kaum hörbar vor sich hin. Sie starrte dorthin, wo laut Ausstellungskatalog ein Kreuz stehen sollte, ja müsste. Ein etwa vierzig Zentimeter großes, laut Bildern und Beschreibung mit Perlen, Saphiren und Rubinen besetztes goldenes Kreuz. Das Schwurkreuz der Ritter vom Goldenen Vlies. Jenes Kreuz, auf das die Ritter des Ordens seit der Ordensgründung ihren Eid ablegten. Aber das Kreuz war nicht da!

Stattdessen stand auf einem kleinen Schild mehrsprachig zu lesen, dieses Exponat sei wegen Restaurationsarbeiten für kurze Zeit leider nicht verfügbar.

»Schade«, murmelte sie zu ihrer Freundin gewandt. Sie war maßlos enttäuscht. »Hast du eine Ahnung, wann es aus der Werkstatt zurückkommt?«

Verwundert stellte Marie-Claire de Vries fest, wie ihre Freundin sie plötzlich seltsam ernst ansah. Dann grinste sie schelmisch und sprach auffallend leise.

»Das Schwurkreuz wird nicht restauriert! Es ist gestern Abend in einer ziemlich spektakulären Aktion von einem Sicherheitsdienst hier abgeholt worden. Ich habe das eigentlich nur mitbekommen, weil du mich gestern am Telefon auf die Ritter vom Goldenen Vlies angesprochen hast. Deshalb haben bei mir alle Glocken geklingelt, als sich mein Chef heute Morgen darüber echauffierte, dass eins der prächtigsten Kunstwerke der Wiener Schatzkammer auf so seltsame Art und Weise aus dem Museum geholt wurde. Ich habe dann natürlich ein wenig nachgefragt, was da abläuft und wo dieses Ding denn hingebracht wurde.«

Gebannt lauschte Marie-Claire ihrer Freundin. Plötzlich war es wieder da, dieses Gefühl, dieses Kribbeln im Bauch, das sie vor einigen Tagen zum ersten Mal verspürt hatte, als sie sich durch die Unterlagen über den Florentiner und über den Orden vom Goldenen Vlies gearbeitet hatte. Irgendetwas Mystisches, Geheimnisvolles und Außergewöhnliches hing an diesem Auftrag, den sie von ihrer Zentrale bekommen hatte.

»Und?«, fragte sie. »Wo ist das Kreuz jetzt? Wer ist so einflussreich, dass er dieses unvorstellbar wertvolle Kreuz hier aus der Wiener Schatzkammer rausholen darf?«

Christiane Schachert lächelte geheimnisvoll. Sie genoss es zu sehen, wie ihre Freundin Marie-Claire vor Neugierde fast platzte.

»Hm«, zögerte sie die Antwort absichtlich hinaus, »das kostet dich mindestens einen Wochenendaufenthalt in einem Fünf-Sterne-Hotel inklusive Massagen, natürlich! Diese Sache hier ist heiß, sehr heiß «

»Du bist gemein!«, zischte Marie-Claire de Vries und funkelte vermeintlich böse mit ihren blauen Augen. »Also gut, wenn die Information wirklich so toll ist, reiche ich bei Christies in London einen Antrag auf ein Informationshonorar ein, mit dem du dein Wellness-Hotel bezahlen kannst. Aber nur, wenn es eine Topinformation ist. Und jetzt sag schon!«

»Weißt du, was morgen für ein Tag ist?«, flüsterte Chrissie. Marie-Claire de Vries wollte gerade ungehalten auf diese Geheimnistuerei reagieren, als ihre Freundin weiter flüsterte und sich dabei geheimnisvoll im Raum umschaute. »Morgen ist Andreastag der 30. November!«

Marie-Claire schaute verdutzt. Sie verstand nicht.

»Der Geburtstag des heiligen Apostels Andreas!«

Die Historikerin starrte ihre Freundin geradezu vorwurfsvoll an, als sei sie entsetzt, dass diese den Zusammenhang nicht sofort erkannte. Triumphierend meinte sie: »Ach, meine Liebe! Ihr Experten von den Auktionshäusern habt wirklich ein sehr eingeschränktes Allgemeinwissen! Wirklich sehr traurig! Der Apostel Andreas ist der Patron des Hauses Burgundi«

Marie-Claire war sprachlos.

»Also gut, du unwissende Christies-Expertin!«, spielte Christiane sich auf. »Morgen ist der Geburtstag des heiligen Andreas. Und jedes Jahr zum Geburtstag des heiligen Andreas treffen sich die Ritter vom Goldenen Vlies. Das war über sechs Jahrhunderte so und es ist noch immer so! Zudem habe ich gehört, dass da am Vortag, also heute, schon irgendwelche Dinge ablaufen, aber darüber weiß ich nichts.«

»Wo?«, unterbrach Marie-Claire ihre Freundin schroff. Sie konnte kaum reden.

»Hier in Wien!«

»Warum?«

»Weil sie manchmal zu diesem Anlass ein neues Mitglied in ihre edlen Reihen aufnehmen sie schlagen jemanden zum Ritter! Zum Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies!«

»Wo?«, fragte Marie-Claire erneut.

»Weiß ich nicht. Noch nicht.«

»Warum wurde das Schwurkreuz aus der Schatzkammer geholt?«

Die beiden Frauen starrten sich gebannt an. Marie-Claire de Vries registrierte, wie einige der Besucher sie verwundert beobachteten. Einer der Museumswächter schaute irritiert herüber, sah dann jedoch den Ausweis an Christianes Blazer, der sie als Mitarbeiterin des Kunsthistorischen Museums auswies.

»Nun sag schon, was du sonst noch weißt«, flüsterte Marie-Claire ungeduldig. Sie war jetzt sehr aufgeregt. Sie spürte, dass dieser Zufall sie unerwartet schnell bei ihrer Recherche voranbringen würde.

Christiane zupfte sie leicht am Ärmel und zog sie in eine ruhige Ecke des Raum.

»Meine Liebe, sei mir nicht böse, aber ich habe das unrühmliche Gefühl, dass du dich für höchst seltsame Dinge interessierst. Mir ist zwar noch immer nicht ganz klar, was dieser Orden nun wirklich mit deiner Recherche zum Florentiner zu tun hat, aber eins kann ich dir sagen: Wenn du dich mit dem Ritterorden vom Goldenen Vlies beschäftigst, stößt du ins Zentrum der abendländischen Hocharistokratie und das nicht nur hier in Österreich!«

»Was meinst du damit?«, fragte Marie-Claire.

»Ganz einfach. Der jetzige Souverän, also quasi der oberste Ritter dieses ebenso mysteriösen wie auch legendären Ritterordens, ist der Sohn von Erzherzog Otto von Österreich, somit also Enkel des letzten österreichischen Kaisers, Karl I.!«

»Du sprichst von Karl Habsburg?«

»Richtig!«

»Deswegen hast du mich vorhin bei dem Gemälde von Karl VI. so genervt? Damals war ein Karl der Souverän und heute ist es wieder ein Karl? Und beide sind sie Habsburger «

»Du hast es erraten!« Christiane Schachert atmete tief durch. »Meine Liebe, bitte versprich mir, dass du mich da völlig raushältst, ja? Was ich dir sage, sind mehr oder minder Dienstgeheimnisse. Ich riskiere riesigen Ärger, wenn ich solche Dinge erzähle. Die ganze Sache mit der Entfernung des Schwurkreuzes wird hier innerhalb des Kunsthistorischen Museums als Top Secret behandelt. Da kommen morgen sehr einflussreiche Leute zusammen. So viel Blaublütiges auf einen Schlag siehst du nur selten! Es kommen Könige, meine liebe Marie-Claire, wahrhaftige, amtierende Könige aus Europa und sie alle sind Ritter vom Goldenen Vlies.«

 

Marie-Claire de Vries war sprachlos. Was ihre Freundin da erzählte, hörte sich an wie aus einem Mittelalter-Roman, aus einem Cinemascope-Historienschinken: geheimnisvolle Ritter, Hochadel, Könige, Schwurkreuze! Doch all das geschah in der Gegenwart, hier in Wien! Und sie war mitten drin. Was diese geheimnisvollen Geschehnisse letztendlich mit dem Florentiner-Diamanten zu tun hatte, wusste sie nicht. Noch nicht.

»Diese ganze Sache hört sich ziemlich verrückt an. Mittelalterlicher Aristokraten-Mummenschanz im 21. Jahrhundert! Fehlen eigentlich nur noch martialisch dreinschauende Männer in schwarzen, wallenden Umhängen, von diffusem Kerzenlicht erhellte Gewölbe und von Weihrauch getränkte Priester, die geheimnisvolle Liturgien vor sich hin murmeln, während die schwarzen Ritter ihren neuen Ordensbruder mit dem Schwurkreuz in der einen und einem Schwert in der anderen Hand in ihre Geheimloge aufnehmen! Ich kann es nicht glauben! Hast du eine Ahnung, wo sich diese ehrenwerte Gesellschaft der Ritter vom Goldenen Vlies trifft?«

»Nicht wirklich!«

»Was heißt das?«

»Nun ja, mein Chef hat irgendetwas von einer barocken Kirche in der Nähe des Stephansdoms gesagt. Tut mir Leid, Marie-Claire, mehr weiß ich nicht. Aber eigentlich gibt es in der Nähe des Doms keine barocke Kirche. Jedenfalls keine, die ich kenne. Aber eins musst du mir jetzt noch verraten: Was hat dieser Ritterorden heute noch mit dem Florentiner zu tun?«

»Wenn ich das wüsste, Chrissie, wäre ich wahrscheinlich einen großen Schritt weiter. Aber ich weiß es nicht! Wirklich nicht. Ich weiß nur, dass sich all das ein bisschen viel nach einer Geschichte aus Tausendundeiner Nacht anhört. Ich glaube nicht, dass sich mein Sicherheitschef, Francis Roundell, damit zufrieden gibt. Der will Fakten Fakten über den Florentiner.«