6. Kapitel

K

aum hatte Flugkapitän Richard Kristoffs die Turbinen des Learjets bei der Ankunft in Wien abgeschaltet, sah er einen schwarzen BMW mit Blaulicht über das Rollfeld auf sein Ambulanzflugzeug zurasen. Sofort wusste er, dass ihn seine Intuition nicht getäuscht hatte. Er öffnete die Flugzeugtür am Rumpf.

Die Morgensonne blendete ihn. Der Wetterdienst hatte mitgeteilt, dass im Großraum Wien heute Fön mit viel Sonnenschein und Temperaturen bis zu zwanzig Grad erwartet würden.

Zwei Männer traten mit forschem Schritt auf ihn zu. Einer von ihnen hielt ihm einen Ausweis unter die Nase. Flüchtig blickte Richard Kristoffs darauf. Der Doppeladler und der Schriftzug »Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung« darauf überraschten ihn nicht. Er hatte irgendwie damit gerechnet.

»Flugkapitän Kristoffs?«

»Ja, richtig.«

»Wir sind vom österreichischen Innenministerium. Wir müssen Sie bitten, uns einige Frage zu beantworten. Ist Frau Dr. Blagus auch an Bord?«

»Ja, natürlich!«, antwortete er und drehte sich um. Die Notärztin, die mit ihm nach Marrakesch geflogen war, stand bereits hinter ihm am Ausstieg.

»Bitte steigen Sie beide zu uns in den Wagen.«

Fünfundvierzig Minuten später hielt der BMW vor dem ehemaligen Palais Modena, dem Haus Nummer 7 in der Herrengasse im ersten Bezirk von Wien. Die beiden Männer vom österreichischen Sicherheitsdienst hatten während der Fahrt vom Flughafen Schwechat in die Innenstadt kein Wort gesagt. Ulrike Blagus saß noch immer verunsichert im Fond des Wagens. Sie war sichtlich nervös. Flugkapitän Richard Kristoffs signalisierte, dass sie sich keine Sorgen machen solle. In einem Büro in der dritten Etage wurden sie von einem etwa fünfzigjährigen Mann mit lichtem Haar und einem schlecht sitzenden, dunkelblauen Anzug erwartet. Ein Namensschild an der Außentür wies den Zimmerinhaber als Dr. (Jus) René Poll aus, doch der Mann stellte sich nicht vor. Die Einrichtung des Büros war ausgesprochen kärglich. Außer dem Schreibtisch, drei Stühlen und einem Tresor befand sich nichts in dem Raum. Keinerlei persönliche Gegenstände zierten ihn. Nicht einmal ein Bild hing an den Wänden.

»Bitte, Frau Dr. Blagus, Herr Kristoffs, nehmen Sie doch Platz. Darf ich Ihnen einen Kaffee oder etwas Gebäck anbieten?«, gab sich Dr. René Poll sehr freundlich. Er wartete die Antwort nicht ab, blätterte in einem Ordner auf seinem Tisch und sprach, ohne seine beiden Besucher anzuschauen.

»Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie gestern einen Mann, einen Patienten namens Faisal Ben Ait Haddou, am Flughafen Rheintal in der Schweiz abgeholt und ihn von dort nach Marrakesch geflogen, stimmt das?«

»Ja, das ist richtig«, antwortete Richard Kristoffs. »Wir haben diesen Patienten nach Marrakesch geflogen und hätten uns ohnehin nach der Rückkehr bei der Polizei gemeldet«, kam der Pilot der nächsten Frage des Geheimdienstlers zuvor. Der Beamte tat erstaunt.

»Warum das?«

»Weil sowohl ich als verantwortlicher Pilot als auch Frau Dr. Blagus als Ambulanzärztin spätestens nach der Landung in Marrakesch ahnten, dass mit diesem Patienten etwas nicht in Ordnung war.«

Bevor er weiter sprechen konnte, unterbrach ihn der Beamte des Innenministeriums.

»Um es gleich vorwegzunehmen: Sie beide sind lediglich als Zeugen hier, nicht als Beschuldigte! Aber unser Gespräch unterliegt in jeglicher Hinsicht der Geheimhaltung. Bevor Sie mein Büro verlassen, werden Sie schriftlich und unter Strafandrohung verpflichtet werden, über das, was Sie in Verbindung mit Ihrem Flug erlebt und gehört haben, aber auch über alles, worüber wir jetzt sprechen werden, absolutes Stillschweigen zu wahren. Sie beide sind von Berufs wegen in sehr verantwortlichen Positionen. Daher kann ich Ihnen bereits jetzt sagen, dass es bei dieser Sache um hoch brisante Staatsangelegenheiten geht. Es besteht der dringende Verdacht, dass Ihr Patient ein Terrorist ist! Wir wissen nicht, wer er ist, aber wir wissen, dass sein Name, seine Personaldokumente wie auch die gesamten Ihnen vorgelegten Dokumente für den Ambulanzflug perfekte Fälschungen waren. Mehr, das muss ich zu meinem Bedauern sagen, wissen weder wir hier in Wien noch unsere Kollegen von den deutschen Nachrichtendiensten. Das sei also vorweg gesagt. Und nun, werte Frau Dr. Blagus und Herr Kristoffs, seien Sie bitte so nett und erzählen Sie mir so detailliert wie möglich, was Sie von jenem Moment, da Sie den Flughafen Rheintal verlassen und heute hier in Wien wieder gelandet sind, erlebt haben! Erzählen Sie bitte alles. Jedes Detail ist wichtig.«

 

Zwei Stunden dauerte die »vertrauliche Einvernahme«, wie das Gespräch mit dem Geheimdienstmann in den Dokumenten, die sie als Verschwiegenheitserklärungen hatten unterzeichnen müssen, deklariert wurde. Erst hatte Richard Kristoffs als Pilot dem Beamten die Abholprozedur am Flughafen Rheintal bis ins letzte Detail beschrieben, hatte erklärt, dass ihm diese Sache höchst merkwürdig vorgekommen war, er aber keinerlei rechtliche Grundlagen gehabt habe, den Flug und Transport des Patienten zu verweigern. Größte Aufmerksamkeit zeigte der Beamte dann, als Kristoffs beschrieb, wie am Flughafen von Marrakesch nicht, wie üblich und erwartet, ein Ambulanzfahrzeug, sondern zwei schwarze Limousinen direkt aufs Flugfeld gekommen waren und den Patienten ohne Trage und ohne jegliche ärztliche Begleitung abgeholt hatten. Die Begrüßung des Patienten durch zwei der Fahrzeuginsassen, so deutete Richard Kristoffs seine Beobachtungen, sei »geradezu freundschaftlich-vertraut« gewesen.

Dann schilderte die noch immer sehr nervöse Ambulanzärztin das Ganze aus medizinischer Sicht und machte deutlich, dass es sich ihrer Meinung nach nicht um eine Unfallverletzung, sondern um eine Schusswunde gehandelt habe. Eine, die fraglos schon einige Tage alt, gut geheilt und professionell versorgt worden war.

Nach endlos langen, sehr akribischen Fragen des Geheimdienstmannes schilderten Richard Kristoffs und Dr. Ulrike Blagus, wie erstaunt sie gewesen waren, dass der direkte Rückflug nach Wien von den marokkanischen Flughafenbehörden mit höchst fadenscheiniger Begründung immer und immer wieder hinausgezögert worden war, bis es schließlich so spät geworden war, dass angeblich das Nachtflugverbot am Flughafen von Marrakesch einen Start unmöglich machte.

Dann waren sie unter Bewachung zweier Polizisten in einem Hotel nahe dem Flughafen und außerhalb von Marrakesch mehr oder minder festgehalten worden. Das Telefon im Zimmer funktionierte nicht. Kristoffs hatte sein Handy abgeben müssen. Es war ein Skandal, aber sie hatten nichts dagegen unternehmen können. Die Zentrale der Flugambulanz in Wien, so hatte man ihnen erklärt, sei informiert worden, dass der Rückflug aus Witterungsgründen nicht möglich gewesen sei. Erst am heutigen Morgen hatten sie ihr Hotelgefängnis verlassen dürfen.

»Mir fällt da noch etwas ein«, meldete sich nach gut zwei Stunden die Ambulanzärztin zu Wort. »Dieser arabische Patient hatte eine jener Spezialkühltaschen bei sich, in denen Blutkonserven transportiert werden. Diese Tasche ist aber vom Ambulanzfahrer in Rheintal nicht mir als Ambulanzärztin übergeben worden, sondern dem Patienten. Das war sehr ungewöhnlich! Aus medizinischer Sicht gab es keine Veranlassung, Blutkonserven mitzuführen, denn die Wunde war längst gut verheilt. Und wenn, dann wird eine solche Tasche den Ärzten der Flugambulanz ausgehändigt. Der Patient hat diese Kühltasche während des Fluges derart auffällig beobachtet, dass ich nicht widerstehen konnte, einen Blick hineinzuwerfen, als er kurz eingeschlafen war.«

Der Geheimdienstmann schaute wie elektrisiert auf. »Und, waren es Blutkonserven?«

»Nun ja, es waren sehr wohl zwei undurchsichtige Aluminiumbeutel mit Flüssigkeiten. Sie sahen täuschend echt aus wie richtige Blutkonserven, aber als ich den einen Beutel in die Hand nahm, hatte ich das Gefühl, als befände sich außer einer Flüssigkeit auch noch ein harter Gegenstand in dem Beutel. Ungefähr so groß wie eine Walnuss. Aber dann dachte ich mir, dass es, wenn es etwas Verdächtiges wäre, es sicherlich beim Sicherheitscheck am Flughafen Rheintal aufgefallen wäre. Auch Kranke werden in der Sicherheitsschleuse durchleuchtet.«

Richard Kristoffs wurde langsam ungeduldig. Er war müde. Im Hotel in Marrakesch hatte er nicht wirklich schlafen können. Zu sehr war er mit seiner höchst ungewöhnlichen Situation beschäftigt gewesen und damit, alle nur erdenklichen Details wahrzunehmen und zu notieren. Er hatte geahnt, dass er das später brauchen würde.

»Was immer da auch ablief und wer immer unser Patient auch war«, resümierte Richard Kristoffs, »das weiß ich nicht und das geht mich so gesehen auch nichts an. Was ich nicht verstehe, ist, wieso man uns nicht sofort nach Wien hat zurückfliegen lassen.«

Dr. René Poll vom österreichischen Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung und als Leiter der Abteilung II zuständig für internationale Belange des Staatsschutzes stand auf und ging nachdenklich in dem Büro auf und ab. Auch er hatte keine wirklich plausible Erklärung für dieses Verhalten der Behörden in Marokko. Die ganze Angelegenheit war höchst seltsam. Sie tangierte nach dem jetzigen Stand der Dinge zwar nicht direkt österreichisches Sicherheitsinteresse. Vielmehr war es ein Amtshilfeersuchen der Kollegen vom deutschen Bundesnachrichtendienst im bayrischen Pullach gewesen, die ihn um Einvernahme des Piloten und der Ambulanzärztin gebeten hatten. Zusammen mit den wenigen Hintergrundinformationen, die ihm die deutschen Kollegen über den Überfall auf das Schloss in Bayern gegeben hatten, und dem spektakulären Kunstraub von Florenz, der auch seiner Behörde nachrichtlich zur Kenntnis gelangt war, ahnte er bei dem Ganzen, dass da vielleicht doch noch mehr auf ihn und seine Mitarbeiter zukommen würde. Eines hatte er nämlich bereits in Erfahrung gebracht: Angeblich steckte eine arabische Terrororganisation mit dem kryptischen Namen »Heilige Krieger der Tränen Allahs« hinter den seltsamen Aktivitäten. Doch von dieser Organisation hatten die europäischen Geheimdienste bislang noch nie etwas gehört.

Abrupt blieb er stehen und sagte zu Flugkapitän Richard Kristoffs gewandt: »Mag schon sein, dass das Verhalten der marokkanischen Behörden auf den ersten Blick wenig Sinn ergibt. Der ergibt sich allerdings dann, wenn irgendjemand verhindern wollte, dass wir zu früh von diesen Geschehnissen erfahren. Deshalb hat man Sie und Frau Dr. Blagus festgehalten! Da hat vermutlich jemand Zeit schinden wollen. Entweder, weil man jemandem die endgültige Flucht ermöglichen wollte, oder weil man wusste, dass noch ein anderer oder auch mehrere Männer erst aus Europa eintreffen mussten. Vielleicht war dieser Faisal Ben Ait Haddou nicht der Einzige, der aus Europa geflohen ist! Und vielleicht war er nicht der Einzige, der Blutkonserven mit sich führte, in denen etwas versteckt war, was das Röntgengerät durch einen Aluminiumbeutel hindurch nicht so ohne Weiteres entdeckt. Etwas sehr Hartes. Vielleicht etwas aus Kohlenstoff.«

Dr. Ulrike Blagus schaute den Geheimdienstmann verwundert an. »Kohlenstoff? Meinen Sie, in den Blutkonserven war eine Waffe, die aus Kohlenstoff hergestellt wurde?«

»Nein, werte Frau Dr. Blagus«, lächelte der Geheimdienstler, »keine Waffe! Etwas, das vor Millionen von Jahren tief unten in der Erde unter unvorstellbaren Temperaturen und wahnwitzigem Druck entstanden ist. Gepresster, durchsichtiger Kohlenstoff: Diamanten!«

 

*

Marie-Claire de Vries war völlig außer Atem. Sie fühlte sich elend. Ihr Puls raste. Schweiß rann ihr über die Stirn. Keuchend saß sie zusammengekauert mit dem Rücken gegen die Hauswand gelehnt und schaute ungläubig an dem nur wenige Meter entfernten Stephansdom hoch. Klar und schön zeichneten sich die romanischen Türme, das gotische Langhaus aus dem 15. Jahrhundert und die Erker des berühmtesten Wahrzeichens von Wien gegen den metallblauen Fönhimmel des Vormittags ab. Vom Hauptturm war nicht viel zu sehen. Ein riesiges Werbeplakat vor den Baugerüsten verhüllte den schlanken Turm. Die Erste Bank warb darauf in riesigen Lettern: »Der Steffi braucht Hilfe.«

Es war so ungewöhnlich warm für einen späten Novembertag, dass selbst die Pantomimedarsteller in ihren Mozartperücken auf dem Stephansplatz schwitzten. Die drei fünfzackigen, in das Pflaster eingelassenen weißen »Memory-Stars« für Wiens bekannteste Söhne der Musik Strauß, Mozart und Haydn schillerten im hellen Sonnenlicht.

»Ein sehr symbolträchtiges Umfeld haben sich die ehrenwerten Ritter vom Goldenen Vlies da ausgesucht«, murmelte Marie-Claire so laut vor sich hin, dass eine vorbeigehende Passantin sie verwundert anschaute. Ihr Blick wanderte noch einmal hoch zum Werbebanner der Bank am Kirchturm, von dort zu dem Messingschild an der Wand hinter ihr. Es war die Dompfarre St. Stephan. Nur wenige Meter links von ihr befand sich das dort residierende Bankhaus Carl Sprängler & Co., Österreichs ältestes Bankhaus. Ganz in der Nähe hatte sich die Bank Austria Creditanstalt einquartiert. Alles in erstbester Innenstadtlage, dachte Marie-Claire. Wirklich eine sehr symbolträchtige Konstellation! Die Banken scharen sich um den Dom, das Symbol klerikaler Macht, wie Vasallen um ihren wahren Herrscher! Als suche ihr Auge nach weiteren Beweisen, nach Indizien für das, was sie eigentlich seit wenigen Minuten wusste, starrte sie auf ein Plakat am Stephansdom. Für Touristen stand dort erklärt, dass es im Dom eine romanische Empore gab, auf der die Herrscher Messen gefeiert aber auch Regierungsgeschäfte getätigt hatten. Ja, ganz offensichtlich einten sich hier an diesem Dom inmitten Wiens seit Jahrhunderten die Symbole staatlicher wie auch weltlicher Macht. Und dazu gehörte der Orden der Ritter vom Goldenen Vlies!

Aber das wusste sie erst seit einer Viertelstunde. Seit sie es entdeckt hatte, überschlugen sich ihre Gedanken. Sie wusste, wo sich heute Abend die Honoratioren des Ordens vom Goldenen Vlies treffen würden! Ja, sie wusste es!

Zwei Stunden war sie gestern in der Dunkelheit durch die Gassen der Innenstadt nahe des Doms geirrt, aber nirgendwo hatte sie eine Barockkirche ausfindig machen können. Mehr und mehr waren ihr Zweifel gekommen, ob sie sich nicht in etwas verrannte. Denn eine direkte Verbindung zwischen dem Orden vom Goldenen Vlies, dem Florentiner und den Raubüberfällen von Florenz und Deutschland existierte bislang eigentlich nur in ihrem Kopf. Es war Intuition, ihre Intuition mehr nicht! Und mit jedem Schritt durch die Gassen der Wiener Innenstadt war sie sich sicherer, dass ihr Sicherheitschef Francis Roundell ihre Intuition schlichtweg als Spinnerei bezeichnen würde.

Enttäuscht und missmutig hatte sie gegen acht Uhr abends schon aufgeben wollen, als die Glocken des Stephansdoms zu läuten begonnen hatten. Die dumpfen Glockenschläge des von den Wienern liebevoll »Steffi« genannten Doms hatten sie zu einem letzten Blick hinauf zu dem festlich beleuchteten, im tiefdunklen Abendhimmel noch stolzer und noch beeindruckender wirkenden Turm veranlasst. Und plötzlich war ihr der zündende Gedanke gekommen. Ohne Frühstück und extrem aufgedreht war sie schon am frühen Morgen wieder hierher gekommen und hatte triumphiert! Ja, die Tür zur Türmerstube war auf! Die kleine, hölzerne Tür gegenüber der Dompfarre, vor der sie jetzt saß, sie war geöffnet! Ein junger Bursche kauerte unausgeschlafen im winzigen Kassenraum.

»Dreihundertdreiundvierzig Stufen! Eine stolze Leistung am frühen Morgen!« Mehr hatte der Kassierer nicht gesagt, als sie die drei Euro Eintritt zahlte und dann losging den beängstigend engen, eiskalten Wendeltreppengang hinauf zu dem fast in der Mitte des Hauptturms wie ein gotisches Schwalbennest thronenden Türmerstübchen. Von dort oben, so war ihr am Vorabend klar geworden, würde sie einen perfekten Panoramablick über das nähere Umfeld des Doms haben. Wenn es diese Kirche, diese barocke Kirche der Ritter vom Goldenen Vlies, wirklich irgendwo hier gab, dann müsste sie von dort oben zu sehen sein. Denn wo eine Kirche, so hatte sie kombiniert, da ist auch ein Kirchturm, eine Glocke oder ein Kreuz!

Und sie hatte Recht behalten! Nach Minuten strapaziöser Treppensteigerei hatte sie die Aussichtsplattform des Türmerstübchens erreicht. Zweimal hatte sie umkehren wollen, weil ihr Puls ihr bis ins Trommelfell pochte. Den prächtigen, in die grün-weiß-schwarz-goldenen Dachschindeln des Kirchenschiffs eingearbeiteten Doppeladler des österreichischen Kaisertums hatte sie kaum beachtet. Bei Stufe zweihundertfünfzig hörte sie auf zu zählen. Der Sinn des ganzen Unterfangens erschien ihr mit jeder Stufe immer absurder. Zweifel marterten sie. Sie sollte sich mit dem Florentiner beschäftigen, hechelte jetzt aber wie eine Verrückte auf den »Steffi« auf der Suche nach einer Kirche, von der sie nicht einmal wusste, ob es sie überhaupt gab, geschweige denn, was diese Kirche mit dem Florentiner zu tun hatte. Aber sie wollte nicht aufgeben, wollte Recht haben, sich und anderen beweisen, dass sie sich auf ihre Intuition verlassen konnte. So war sie das enge Treppenhaus weiter hinaufgewankt. Drei Stufen vor dem Stübchen mit den gotischen Erkerfenstern musste sie nochmals lange ausruhen.

Und dann sah sie ihn! Zum Greifen nahe, keine fünfzig Meter Luftlinie entfernt. So unglaublich nahe war er, dass sie nicht glauben konnte, dass man ihn in den Straßen unten nicht sehen konnten: ein Kirchturm! Ein kleiner, kaum mehr als zehn Meter hoher Kirchturm mit einem winzigen Kreuz oben drauf und mit einigen kleinen, romanisch wirkenden Fenstern. Ein schlanker Turm mit grünlich patiniertem Metalldach. Die Fassade war so hässlich-stillos mit schnödem Zement verputzt, dass Marie-Claire annahm, dass diese Kirche, die da unten liegen musste, im Zweiten Weltkrieg höchstwahrscheinlich zerstört oder arg in Mitleidenschaft gezogen und bis heute nicht originalgetreu wieder aufgebaut worden war. Das war es! Sie war sich ganz sicher. Da unten hinten den Fassaden eines Tabak- und eines Modegeschäftes verbarg sich eine Kirche. Doch war es eine barocke Kirche?

Sie rannte so schnell sie konnte wieder nach unten. Zweimal stolperte sie in dem engen Treppenhaus, und mehrmals musste sie verschnaufen. Mit wehenden Haaren war sie schließlich an dem verdutzten Kassierer vorbeigerannt, raus auf den Stephansplatz, in die kleine Churhausgasse, dann wieder links in die Singerstraße. Dann starrte sie ungläubig auf die graue, unscheinbare Fassade eines mächtigen, dreigeschossigen Gebäudes mit schnörkellosen, klassizistischen Fensterbögen, das auf den ersten Blick eher wie ein altes Krankenhaus aussah. Sie sah ein mit der rot-weißen Staatsfahne dekoriertes Schild »Mozarthaus«, war völlig verwirrt, weil sie nicht wusste, warum und dass es in Wien ein Mozarthaus gab, suchte mit einem Blick nach oben den kleinen Kirchturm, den sie vom Stephansdom aus gesehen hatte. Doch von hier unten war nichts zu sehen. Im Eckteil des Hauses war eine Buchhandlung, in der ersten Etage ein Frisör untergebracht. Erst spät sah sie die Straße hinunter links die drei Kirchenfenster. Sie jubelte innerlich. Es waren barocke Kirchenfenster! Drei barocke Fenster mit jeweils fünf schwarzen, sehr ungewöhnlichen Kreuzen auf weißem Untergrund. Sie hatte diese Art Kreuze schon einmal gesehen, wusste aber nicht wo und wusste auch nicht, was sie bedeuteten bis sie das unscheinbare, kaum lesbare bronzene Schild an der Fassade las: »Am 1. September des Jahres 1938 lösten die Nationalsozialisten die Ballei Österreich des Deutschen Ordens auf. Am 26. März 1947 wurde die Auflösung von der Republik Österreich als widerrechtlich erklärt.«

Marie-Claire de Vries lächelte unendlich glücklich und zufrieden vor sich hin: Du bist selten dämlich! Wieso bist du nicht gleich darauf gekommen? Dies hier ist die St.-Elisabeth-Kirche, die Kirche eines der berühmtesten Orden des Abendlandes, jenes der »Brüder vom Deutschen Haus St. Mariens« in Jerusalem, kurz Deutscher Orden genannt. Im gesamten Mittelmeerraum, im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen und im baltischen Raum errichtete dieser aus einer Hospitalbruderschaft entstandene Ritterorden seit dem 12. Jahrhundert ein päpstlich anerkanntes, unglaublich mächtiges Gefüge aus weltlichen und kirchlichen »dienenden Brüdern«, dessen Zentrum eine der größten Festungsanlagen der Welt wurde: Marienburg dessen Fahne jenes Kreuz trug, das sie nun in den barocken Kirchenfenstern über sich sah. Plötzlich waren ihr die Zusammenhänge klar: Der Deutsche Orden, einst als Deutscher Ritterorden bezeichnet, war berühmt-berüchtigt geworden als Unterdrückungsinstrument der katholischen Kirche. Und als Instrument des abendländischen Kampfes gegen die Heiden die Moslems. In diesem Orden einten sich einst mächtige Kräfte, die zu den Kreuzzügen aufbrachen. Zur Befreiung Jerusalems und zur Verteidigung des christlichen Glaubens. Und das, so wusste sie mittlerweile, galt auch als eines der wichtigsten Ziele des Vlies-Ordens. Der Orden der Ritter vom Goldenen Vlies war kein Verdienstorden. Er war ein politischer Orden und war ebenfalls eng verknüpft mit der katholischen Kirche.

Marie-Claire ging zurück zu dem unscheinbaren Eingang, in dem ein junger Mann Eintrittskarten für Konzerte im Mozarthaus verkaufte. Sie sah das alte, hölzerne Portal rechts im Durchgang, sah die zwei in die Holztür eingearbeiteten Kreuze des Deutschen Ordens und wusste, dass dies der Ort war, den sie suchte. Dann sah sie das Schild an der Tür: »Diese Kirche bleibt heute geschlossen.«

 

Beinahe hätte sie geweint vor Enttäuschung! Nachdem sie einen flüchtigen Blick in den von der Straße her kaum sichtbaren Innenhof des Gebäudetraktes geworden hatte, beschloss sie, erst einmal ihre Gedanken zu ordnen. Nun saß sie mit dem Rücken an die Wand der Pfarre St. Stephan gelehnt und wusste nicht, was sie tun sollte. Der Wind zerzauste ihr langes, blondes Haar. Sie war nervös, müde und abgespannt. Sie spürte, wie sich die ersten Anzeichen von Migränekopfschmerzen über die Schläfen zur Stirn hin schlichen. Ihre Füße taten weh. Ihre Gedanken überschlugen sich. Deutscher Orden, Ritter vom Goldenen Vlies: Wie hing all das wirklich zusammen? War sie nicht schon längst viel zu weit von ihrem eigentlichen Auftrag dem Florentiner entfernt?

Plötzlich war sie hungrig. Mühsam erhob sie sich und ging in Richtung Café Haas hinter dem Dom. Sie mochte das Haas & Haas das geschmackvoll-modern eingerichtete Restaurant unten im Kellergewölbe ebenso wie den idyllischen Gartenpavillon. Was viele Wiener ins »Haas« trieb, war die Tatsache, dass sich höchst selten Touristen in dieses versteckt und unscheinbar in eine Fassade hinter dem Stephansdom eingebettete Café verirrten.

Heute jedoch war das Café völlig überfüllt. Sie entschied sich, den Hinterhof aufzusuchen, wo im Sommer Tische und Stühle standen. Die fahle Mittagssonne erwärmte den lauschigen Patio ein wenig. Da der Herbst über Wochen herrlich sonnig gewesen war, standen die Bottiche mit den Oleanderbüschen noch immer draußen. Sie rückte einen Korbstuhl, der direkt an dem zugerankten Zaun stand, in die Sonne, setzte sich und schloss die Augen. Ein Motorengeräusch weckte kurz darauf ihre Aufmerksamkeit. Ihr Blick fiel durch die welken Blätter hindurch auf den unmittelbar neben dem Café liegenden Hinterhof. Unglaublich! Nur durch einen Maschendrahtzaum mit gold-gelb verfärbtem wildem Wein getrennt lag dort ein Hof mit einem mächtigen Gebäudetrakt, der ohne Frage zu der Deutschordenskirche gehören musste. Ja, dies war ohne Zweifel der rückwärtige Teil der alten Ordenskommende. Sie hatte hier schon sehr oft gesessen und mit Sicherheit schon oft auf diesen Hinterhof geschaut. Ja, all das hatte sie schon sehr oft gesehen, aber was sich hinter den eher ärmlich ausschauenden Fassaden verbarg, hatte sie erst vor wenigen Minuten herausgefunden!

Nun kam das Fahrzeug, das sie eben gehört hatte, über den Hinterhof auf den Parkplatz gerollt. Neugierig lugte sie durch den wilden Wein hindurch. Es war ein dunkelblauer Jaguar. Die klassische Limousine fuhr fast lautlos auf den Zaun zu, hinter dem sie saß. Ihr Blick heftete sich auf die silberne Jaguarstatue auf der Motorhaube des Fahrzeugs, das jetzt nur noch knapp einen halben Meter von ihrem verborgenen Sitzplatz entfernt stehen blieb. Sie konnte den Fahrer nicht genau sehen, wollte aber wissen, wem diese prächtige Luxuslimousine gehörte. Vorsichtig stand sie auf, bückte sich, stierte durch den wilden Wein hindurch auf die Fahrertür, die sich nun öffnete. Ein Mann stieg aus. Sie erstarrte! Gänsehaut schoss ihr über den Rücken.

Das ist nicht wahr! Nein, das konnte nicht wahr sein. Das war unmöglich! Mit weit aufgerissenen Augen versuchte sie aus ihrem Versteck hinter dem Zaun heraus das Gesicht des Mannes genauer auszumachen. Doch, er war es! Kein Zweifel! Dieses markante Profil, das etwas längere, seidig-glänzende Haar, das ihm über die Stirn fiel und diese Augen! Diese Augen, die selbst auf einem Foto unglaublich ausdrucksstark waren und grenzenloses Selbstbewusstsein ausdrückten. Er war groß, gut aussehend, mit breiten Schultern. Er trug einen perfekt sitzenden Anzug. Der da, und sie zitterte dabei am ganzen Körper, war Gregor Friedrich Albert von Freysing!

 

Der Jaguarfahrer ging zielstrebig auf einen Torbogen auf der rechten Seite des Hofes zu und verschwand darin. Das Echo seiner Schuhe hallte noch lange durch den Innenhof. Hastig sprang Marie-Claire de Vries hinter dem Zaun hervor und rannte ihm hinterher. In dem Torbogen presste sie sich an die Wand und schielte um die Ecke herum in den sich nun vor ihr öffnenden Innenhof. An der ihr gegenüberliegenden Gebäudeseite thronte ein wunderschöner Erkerwintergarten über ihr. Sie konnte Bücher erkennen. Freysing stand links im Hof vor einer grünen Holztür mit Sprossenfenstern, kramte einen Schlüssel aus seinem Aktenkoffer und verschwand in dem Gebäude.

Marie-Claire atmete mehrmals tief durch. Sie zitterte am ganzen Leib. All das war unglaublich! Dieser Innenhof war die Rückseite der Deutschordenskirche! Hier würden sich die Ritter vom Goldenen Vlies heute treffen. Und jetzt war dieser Mann hier aufgetaucht!

Langsam trat sie aus dem Durchgang heraus. Um wie eine Touristin zu wirken, schritt sie langsam über den Innenhof und schaute sich um. Die Hauswände waren partiell mit wildem Wein bewachsen. Die Gebäude wirkten heruntergekommen. Der Hof war sehr idyllisch und irgendwie friedlich. Nur die breite Glastür mit den Oleanderbüschen davor schien neu gestrichen zu sein. Sie ging darauf zu. Das Herz blieb ihr fast vor Schreck stehen, als die Tür sich öffnete. Ein kleinwüchsiger Mann in einem wallenden Priestergewand kam heraus, direkt auf sie zu. Er trug eine Brille und hatte einen sehr gütigen Blick.

»Grüß Gott! Kann ich Ihnen helfen?« Er hatte eine sehr nette Stimme: bestimmt, offen, ehrlich aber nicht einladend.

»Ja, doch vielleicht «, log sie. »Ich bin Fotografin und arbeite an einem Bildband über deutsche Ritterorden.«

»Dann sind Sie hier ja im Garten Eden, meine Liebe!«

Marie-Claire lächelte in sich hinein. Dieser Pater war ein Charmeur! Seine sanfte Stimme und sein gewinnendes Lächeln gefielen ihr. »Meine Liebe« hatte er gesagt! Sie war sich sicher, dass er genau wusste, was er da gesagt hatte. Ungezwungen plauderte der Priester weiter. Er schaute ihr dabei selbstbewusst in die Augen.

»Zugegeben, die Kollekten der letzten Jahre sind nicht mehr ganz so von grenzenloser Großherzigkeit und von Verständnis für die baulichen Nöte unseres netten Kirchleins St. Elisabeth geprägt. Und auch die Spenden halten sich angesichts der schlechten wirtschaftlichen Zeiten sehr in Grenzen. Aber diese wunderschöne Kirche und diese altehrwürdigen Gemäuer aus dem 14. Jahrhundert sind doch fraglos ein außergewöhnliches Kleinod.«

»Ich wäre ja gerne einmal in die Kirche gegangen, Vater«, unterbrach sie ihn, »aber die Tür ist verschlossen. Warum?«

Die Antwort des Paters war lapidar. »Ach, da findet heute Abend eine private Messe statt.«

»Und kann ich dann nicht zur Messe gehen?«, fragte sie und fügte schnippisch hinzu: »Ich gehe eigentlich jeden Abend in die Messe. Schade, wäre gerne heute Abend hier in die Deutschordenskirche gekommen. Was ist denn da so Wichtiges, dass ein Gotteshaus geschlossen bleibt?«

»Ja, liebes Kind«, lachte der Priester schelmisch, warf den Kopf dabei in den Nacken, fasste sie am Arm, zog sie sehr bestimmt zu sich heran und flüsterte geheimnisvoll: »Das ist so geheim, liebes Kind, dass selbst ich, als treuer Diener Gottes in diesem ehrenwerten Haus, nichts Genaues weiß! Ich werde heute Abend zum Lakaien der Hochherrschaftlichen degradiert. Da kommen nämlich honorige, sehr wichtige Leute aus aller Welt! Da darf niemand rein. Und Frauen schon gar nicht! Aber ich kann es Ihnen beim besten Willen nicht sagen, wer es ist. Wirklich nicht. Auch wenn die Versuchung groß ist!«

Sein Griff wurde ein wenig fester. Sie war verwirrt und musste lachen. Dieser Priester war ein Unikum, ein Schelm! Er hatte es faustdick hinter den Ohren.

»Honi soit qui mal y pense«, reagierte sie grinsend auf seine Avancen und war höchst erstaunt, als der Priester nicht nur deutlich machte, dass er das Motto des englischen Hosenbandordens kannte, sondern zudem perfekt Französisch sprach. Akzentfrei parlierte er: »Wie wahr, wie wahr, mein Kind! Ein Schelm ist, wer Böses dabei denkt!«

Marie-Claire war beeindruckt. Ihr gefiel dieser fröhliche, wortgewandte und zugleich tiefsinnige Priester.

»Kann ich nicht wenigstens einen kurzen Blick in die Kirche werfen? Ich komme dann sicherlich in den nächsten Tagen nochmals vorbei und hoffe, dass Sie mir als Führer zur Verfügung stehen können.«

Wieder funkelten die lebhaften Augen des Gottesmannes. Und wieder ließ er es sich nicht nehmen, zweideutig zu antworten: »Gotteshäuser, meine Liebe, sind auch Refugien für Engel. Blonde Engel wie Sie! Also gut, kommen Sie. Aber nur einen kurzen Blick.«

 

Schon beim Betreten der auffällig kleinen, mit Eichenbänken möblierten und recht dunkel wirkenden Deutschordenskirche sah Marie-Claire, dass dort Vorbereitungen für eine besondere Zeremonie getroffen wurden. Die Eichenbänke waren mit roten Tüchern bedeckt. Der Altar vor dem prachtvollen Mariengemälde war festlich geschmückt. An den Wänden hingen Dutzende von Wappentafeln europäischer Adelshäuser und Fürstenhöfe. Die Details der Tafeln ließen ihr wieder einmal Gänsehaut über den Rücken laufen. Diese Kirche strotzte nur so vor heraldischen Zeichen abendländischer Aristokratie!

Zunächst wusste Marie-Claire nicht so genau, wonach sie mit hastigem Blick suchte. Dann aber sah sie es genau. Über dem Eingang stand, versteckt in einer Empore, eine Orgel. Zwei kleine Erkerfenster entlang der Längswand ließen sie erahnen, dass dort oben ein Kreuzgang verlief. Wahrscheinlich führte er zur Sakristei oder zu dem Treppenaufgang, den sie flüchtig registriert hatte und an dem geschrieben stand »Sala Terrena Mozart-Konzerte«.

»So, mein Kind, jetzt muss ich Sie bedauerlicherweise hinauskomplimentieren. Ich habe noch Wichtiges zu tun«, rissen die Worte des Priester sie aus ihrer Euphorie. Ja, sie war euphorisch. Denn dort oben in dem Kreuzgang lag vielleicht der Weg hin zu ihrem Traum! Aufgeregt verabschiedete sie sich und verließ die Kirche auf dem Weg, den sie gekommen war. Plötzlich sprühte sie vor Elan und Einfallsreichtum. Ihre Entscheidung war gefallen. Jetzt galt es nur noch, den Plan in die Tat umzusetzen.

Schnellen Schrittes eilte sie durch den Torbogen, ging zurück zu dem Zaun, der Café und Parkplatz trennte, nahm an der gleichen Stelle wieder Platz und wartete. Es dauerte eine Stunde. Dann kam er. Groß und von kräftiger Statur schritt er auf seinen Jaguar zu. Marie-Claire bewegte sich hinter dem Zaun. Nicht zufällig, sondern unübersehbar und deutlich hörbar. Sie schaute durch den Zaun hindurch, sah sein markantes Gesicht, die dunklen Augen.

Dann sah er sie, blickte verwundert durch den Blätterwald hindurch. Mehr als ihr rot-braunes Kleid und ihre langen, blonden Haare, schoss es ihr durch den Kopf, konnte er nicht von ihr sehen. Ihre Blicke trafen sich durch den Zaun hindurch. Sie sahen sich in die Augen, kaum mehr als einen Meter voneinander entfernt. Sie sah, dass er nicht wusste, wer sie war. Aber sie wusste, wer er war.

Den Blick auf den Boden geheftet, so, als suche sie etwas, kam sie langsam hinter dem Zaun hervor.

»Suchen Sie etwas, junge Frau?«

Sie jubelte innerlich. Bingo! Seine sanfte Stimme ließ die wenigen Worte in ihren Ohren wie Engelsposaunen klingen. Mein Gott, dachte sie, diese Stimme! Dieses Sanfte in der Stimme!

»Ja«, zitterte ihre Stimme wie Espenlaub, »ich habe hier vorhin beim Aussteigen aus dem Wagen eine Karte verloren. Ein Ticket für ein Mozart-Konzert in der Sala Terrena dort in der Kirche.« Sie bemühte sich, sehr traurig zu wirken. »Es ist sehr schwer, für diese Konzerte Karten zu bekommen.«

»Das ist aber höchst bedauerlich, wirklich schade«, reagierte er sehr galant und begann unverzüglich neben und unter seinem Auto den Boden abzusuchen. Auch sie schlich auf dem Parkplatz herum, bückte sich, lugte unter die Autos, suchte und fand nichts. Er fand ebenfalls nichts. Nach einigen Minuten erwies er sich als das, was sie erwartet hatte als Gentleman.

»Das ist ja eine richtige Tragödie! Die Sala Terrena ist nicht nur der älteste Konzertsaal Wiens. Die wunderschönen Fresken im Stil venezianischer Spätrenaissance haben selbst Mozart so begeistert, dass er in den wenigen Monaten, die er hier in diesem Haus im Jahre 1781 wohnte, mehrere Konzerte dort gab.«

Ja, dachte Marie-Claire, er ist, was ich vermutet habe. Ich habe es sofort gesehen. Er ist ein wortgewandter, gebildeter, unglaublich gut aussehender Mann mit Stil. Mit Klasse. Und er hat angebissen!

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, lächelte er sie an. »Da ich weiß, wie schwer es ist, für dieses Mozart-Ensemble Karten zu bekommen, ich aber aus geschäftlichen Gründen zu dem Hausherrn exzellente Kontakte habe, werde ich Ihnen eine neue Karte besorgen. Darf ich Ihnen das anbieten?«

»Oh, das ist ja wunderbar«, jubelte Marie-Claire. Ihre Freude war nicht gespielt, aber dennoch wartete sie noch auf eine weitere Frage. Und die kam prompt.

»Würden Sie es als aufdringlich betrachten, wenn ich Sie fragen würde, ob ich Ihnen bei diesem Konzert Gesellschaft leisten dürfte?« Er sagte es so ehrlich und unwiderstehlich, dass sie viel zu schnell antworte: »Nein, ganz und gar nicht. Sehr gern!«

Zehn Minuten später verließ Marie-Claire de Vries mit wild pochendem Herzen den Hinterhof der Deutschordenskirche St. Elisabeth. Sie war glücklich, hatte Kopfschmerzen, hätte Salto schlagen können und vor Freude hüpfen wollen. So wunderbar hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Heute Abend würde sie wieder hierherkommen. Und in einigen Tagen würde sie ins Konzert gehen. Hier, in den Sala Terrena mit ihm! Mit Gregor Friedrich Albert von Freysing. Jenem Mann, der sich vor einigen Monaten in die Christies-Zentrale in London so auffällig für den Florentiner Diamanten interessiert hatte und der dabei vom Sicherheitsdienst fotografiert worden war. Sie hatte ihn sofort wiedererkannt. Er sah so aus wie auf dem Foto unglaublich gut!

 

Marie-Claire de Vries ging in die kleine Passage bei Haas & Haas. Ihre Gedanken waren längst beim heutigen Abend, und so bemerkte sie nicht, dass Gregor Friedrich Albert von Freysing an der Ausfahrt des Parkplatzes mit seinem Jaguar stehen blieb, durch das Fondfenster hindurch nachdenklich der attraktiven Frau mit den langen, blonden Haaren hinterherblickte. Leise murmelte er vor sich hin: »Seltsam! Da stimmt doch irgendetwas nicht!«

Der Schlagbaum öffnete sich. Der Jaguar rollte hinaus auf die Straße. Gregor Friedrich Albert von Freysing dachte angestrengt nach. Wie konnte diese Frau hier parken und dabei ihre Konzertkarte verlieren? Das war eigentlich unmöglich.

Dieser Parkplatz im Hinterhof des Deutschordens war durch einen Schlagbaum gesichert. Nur die Mitarbeiter mit einer elektronischen Chipkarte durften hier rein. Und einige ausgewählte Mitglieder des Ritterordens vom Goldenen Vlies, die fünf Offiziere. Und der Souverän

7. Kapitel

S

einen Geburtstag hatte sich Freiherr Georg Ludwig von Hohenstein anders vorgestellt. Freunde, Geschäftspartner und Verwandte aus aller Welt hatten kommen sollen. Mehr als vierhundert Gäste waren geladen gewesen. Doch die dramatischen Geschehnisse vor etwa zwei Wochen hatten alle Pläne zunichte gemacht. Sein Leben und das von Klara hatte eine tragische Wende erfahren. Ihre unbändige Lebenslust war einer grausamen Realität gewichen. Er fühlte sich leer, antriebslos, litt unter extremen Stimmungsschwankungen und musste sich zwingen, dem Leben positive Aspekte abzuringen. Aber er war sich längst im Klaren darüber, dass nichts in seinem Leben jemals wieder so sein würde, wie es einmal gewesen war. Die herannahenden kalten Tage und Nächte des Winters verstärkten seine trübsinnigen Gedanken. Klara war noch immer im Sanatorium. Wie sehr er sie vermisste! Die hoch über der Donau gelegene Burg kam ihm ohne sie wie ein finsteres Verlies vor. Klaras Ärzte zeigten sich sehr skeptisch. Ihr fragiler Zustand war weder medikamentös noch mit Hilfe von Therapeuten zu stabilisieren. Ihre Seele war in dem Sanatorium am Chiemsee in eine andere Welt geflüchtet. Sie war hochgradig suizidgefährdet. Die Gegenwart nahm sie nicht wahr, starrte apathisch aus ihrem Fenster hinaus auf dem See. Stunden- und tagelang. Physisch lebte sie. Sie aß, weil die Ärzte ihr sagten, dass sie essen müsse. Sie trank, weil er sie darum bat. Und trotzdem war ihr körperlicher Verfall nicht zu übersehen. Ihre einst so strahlenden Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Nicht ein einziges Wort hatte sie seit jenem grausamen Morgen gesprochen. Sie war körperlich gegenwärtig, aber ihre Seele war tot. Und niemand wusste, ob sich das jemals wieder ändern oder zumindest bessern würde.

Ihm ging es nicht viel anders. Seit dem Überfall durch die Araber hatte er das Gefühl, neben sich zu leben. Er tat alles, was überlebensnotwendig war. Aber was er tat, war kaum mehr als dumpf dem tief in ihm nach bio-chemischen Gesetzen funktionierenden Überlebenstrieb zu gehorchen. Ein Trieb, ein Urinstinkt, der nur von einem einzigen Gedanken genährt wurde: Rache! Er wollte Rache. Um jeden Preis.

Er saß im Erkerzimmer der Bibliothek. Das Kaminfeuer flackerte unruhig. Es war ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit. Die Nachmittagssonne kolorierte Hügel und Wälder. Mit Erstaunen stellte er fest, dass er diesen Tag tatsächlich als angenehm empfand. Das erste Mal seit Wochen. Nervös griff er nach dem Brief, der soeben per Eilboten zugestellt worden war. Schon der Poststempel hatte bei ihm geradezu euphorische Gefühle freigesetzt. Endlich! Das war die Antwort seines guten Freundes und Geschäftspartners Robert aus Frankreich. Hastig riss er den Umschlag auf, entfaltete den Brief und überflog die Zeilen. Bei den letzten Sätzen glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Leise las er die Worte, auf die er gewartet und gehofft hatte, vor sich hin: » nach Rücksprache mit meinem Freund in Ouarzazate steht dir seine Jagdhütte selbstverständlich zur Verfügung. Sowohl für Niederwild als auch für Schwarzwild sind hochwertige Waffen vorhanden. Ich kann dir aus eigener Erfahrung sagen, dass es immer sehr lustig ist, dort zu jagen. Mir persönlich macht die Jagd auf Pendrix-Hühner und Sumpfschnepfen viel Freude. Besonders schön ist es in Sidi Boughaba und auf der Ile de Skhirate! Da die Saison für Schwarzwild bereits am 3. Oktober angefangen hat und einige seiner Freunde die Jagdhütte bereits vor längerer Zeit angemietet haben, müsstest du in der Zeit vom 21. bis 29. Dezember allerdings auf ein Hotel ausweichen. Für Details und konkrete Absprachen setze dich bitte direkt mit meinem Freund Ousmane in Ouarzazate in Verbindung. Denk bitte daran, dass er als Provinzgouverneur viel unterwegs ist. Du erreichst ihn aber am Abend unter folgender Telefonnummer: 00212-44-4465651.«

Das war die beste Nachricht, die er in den letzten Tagen erhalten hatte! Georg Ludwig von Hohenstein spürte, wie plötzlich wieder dieses eigentümliche Gefühl in ihm aufkam. Jagdfieber. Ja, es war das gleiche Gefühl, das er gehabt hatte, als er den Arabern nachgefahren war. Genau so hatte er sich gefühlt, als er durch das Zielfernrohr hindurch das Gesicht des Fahrers anvisiert hatte. Jetzt war dieses Gefühl wieder da! Von dem Moment an, da er erfahren hatte, dass er nicht den Vergewaltiger, sondern einen der anderen Araber erschossen hatte, war er nur noch von einem Gedanken beseelt: Er wollte den Kleinen, den schmächtigen Araber, den, der Klara vergewaltigt hatte, töten. Seit ihm sein beim bayrischen Innenministerium beschäftigter Studienkollege vertraulich mitgeteilt hatte, dass zumindest einer der Araber verwundet nach Marrakesch geflohen war und dort ganz offensichtlich auch wohnte, stand sein Plan fest. Es war ein guter Plan. Mit diesem Brief aus Frankreich rückte dessen Realisierung in greifbare Nähe. Zufrieden faltete er den Brief zusammen, ging zielstrebig zum Bücherregal und holte einen Atlas hervor. Nach längerem Blättern fand er Marokko. Gebannt starrte er auf einen im Süden gelegenen Ort namens Ouarzazate.

»Mehr als zweihundert Kilometer werden das nicht sein«, flüsterte er und tippte mit dem Zeigefinger auf eine Stadt nördlich der von Osten nach Westen quer durch Marokko verlaufenden Gebirgskette. »Marrakesch! Auf gehts, zur Jagd nach Marrakesch!«

 

*

Seit Stunden blätterte Carlo Frattini in den Reisekatalogen herum, ohne auch nur ein für ihn annähernd erschwingliches Angebot zu finden. Er war wütend. Die Erbschaftsangelegenheiten seines Vaters würden sich länger als erwartet verzögern. Bis zur Auszahlung des Geldes würden höchstwahrscheinlich noch zwei Monate vergehen. Das war die schlechte Nachricht. Die gute war, dass sein Vater Leonardo im Laufe seine Lebens ganz offensichtlich sehr fleißig gespart hatte. Wie es aussah, vererbte er Carlo neben dem kleinen Boot und dem Haus bei San Teodoro auch noch die stattliche Summe von einhundertzwanzigtausend Euro. Woher sein Vater so viel Geld hatte, war ihm schleierhaft. Weder als Fremdenlegionär noch als Museumswärter hätte er genug beiseite legen können, um diese Summe anzusparen.

Letztendlich war das Carlo gleichgültig. Früher oder später würde der Notar das Geld freigeben. Das Problem war nur, dass er dieses Geld sofort brauchte. Nach Informationen seines Freundes Gianfranco, der hervorragende Kontakte zu Interpol hatte, stand fest, dass diese Araber sich nach Marokko abgesetzt hatten und noch immer dort waren. Einer war von der Schweiz aus geflohen. Ein anderer hatte sich, ebenfalls mit einem Ambulanzflugzeug, vom französischen Strasbourg nach Marokko abgesetzt. Zusammen mit den Informationen, die ihm dieser kleine, zwölfjährige Killer gegeben hatte, zeichnete sich ein ziemlich klares Bild ab: Wer immer diese Araber auch waren, ob schnöde Kriminelle oder vielleicht sogar Terroristen, sie hatten ein Versteck in Marrakesch. Dort fühlten sie sich ganz offensichtlich sehr sicher. Wahrscheinlich genossen sie Unterstützung und Rückendeckung aus hochrangigen politischen Kreisen in Rabat. Da ihm der kleine Junge in Todesangst auch noch verraten hatte, dass sein eigener Bruder mit zu diesen brutalen Leuten gehörte, die sich den Überfall auf den Palazzo Pitti ausgedacht hatten, zeichnete sich eine realistische Chance ab, an die Killer heranzukommen. Die Frage war nur, wie?

Er musste so schnell wie möglich nach Marrakesch, um anhand der ihm vorliegenden Details dieses Versteck ausfindig zu machen. Es war fraglich, wie lange sich diese Dreckskerle, die seinen Vater auf dem Gewissen hatten, noch dort aufhalten würden. Aber er hatte nicht einmal das Geld für ein Ticket, geschweige denn so viel, um seinen Plan vor Ort umsetzen zu können. Denn einen Plan hatte er bereits. Es war ein sehr simpler Plan. Einer, der bei den vielen Vendetta-Morden in seiner Heimat Sardinien schon oft perfekt funktioniert hatte und sicherlich auch in Marokko funktionieren würde. Besonders in dem in ganz Italien als »Banditendorf« berüchtigten Bergstädtchen Orgosolo waren nach diesem Prinzip über die letzten fünfzig Jahre immer wieder Männer umgebracht worden. Dort oben in den sardischen Bergen, nicht weit von der Provinzhauptstadt Nuoro entfernt, hatten sich über Jahrhunderte und auch noch in den letzten Jahrzehnten grausame Familienfehden abgespielt. Immer ging es um die Ehre. Und immer folgte dem Tod der Tod eines anderen. Manchmal wurden Familien geradezu ausgerottet. Mal wurden Männer erschossen, auf offener Straße, beim Frisör oder fern ihrer Heimat, mal verschwanden sie ganz einfach, was meistens bedeutete, dass sie in eine der unzähligen Grotten und »su disteni« genannten Karstschlünden der Insel gestürzt wurden und damit auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Nicht einmal der Einsatz italienischer Armee- und Sondereinheiten hatte diese grausamen Blutfehden von Orgosolo beenden können.

Ja, dachte Carlo Frattini, es war ein einfacher Plan, den er hatte, einer, der auf außerordentlicher Brutalität basierte und daher von den meisten Menschen nicht für denkbar gehalten wurde. Aber auf Sardinien galten seit jeher andere Gesetze. Das Rechtsprinzip der Vendetta, als eigenes Regulativ eines archaisch strukturierten Hirtenvolkes über Jahrhunderte entstanden, kannte kein Mitleid. War das Opfer auserkoren, stand sein Tod fest. Es war nur eine Frage der Zeit. Und Zeit war der engste Vertraute eines bandito donore di Sardegna. Es gab kein Vergessen, wenn die Schuld feststand und das Todesurteil ausgesprochen war. Die Rache konnte auch manchmal erst zwanzig oder dreißig Jahre später erfolgen. Nein, Zeit spielte wirklich keine Rolle, wenn es galt, ein Urteil zu vollstrecken. Die besudelte Ehre wieder herzustellen steuerte das Denken einer sardischen Familie ein Leben lang. Wer vollstreckte, war ebenso gleichgültig wie das Wann. Hauptsache, es wurde getan.

Und so stand auch für Carlo Frattini fest, dass er den Tod seines Vaters Leonardo rächen würde. Das Problem war lediglich, dass er sich beeilen musste. Die einzige Chance sah er daher darin, sich Geld zu borgen. Ganz gleich von wem und ganz gleich zu welchen Konditionen. Er musste nach Marokko. Erst dort würde er absehen können, wie lange er wirklich brauchte, um seinen Plan umzusetzen. Ja, dachte er, als er an diesem späten Nachmittag durch die nebligen Gassen von Florenz stadtauswärts in seine Wohnung in Borgo San Lorenzo fuhr, ja, du musst auf jeden Fall einen Flug reservieren. Erst den Flug reservieren! Das Geld würde er dann schon irgendwie auftreiben. Ohne Geld kein Flug. Und ohne Geld würde er auch die Waffe nicht bekommen. Die Rache für den Tod seines Vaters, durchfuhr ihn die ernüchternde Erkenntnis, hing von Geld ab.

 

*

»Ich glaube es nicht! Schau dir das bloß an! Eine Luxuslimousine nach der anderen! Chauffeure, Diplomatenkennzeichen und höchstwahrscheinlich sind diese Edelkarossen auch noch gepanzert. Noblesse oblige!«

Als sie die von Chauffeuren gesteuerten schwarzen Nobelwagen mit getönten Scheiben vorfahren und in der Einfahrt neben der Deutschordenskirche verschwinden sah, die zu jenem Parkplatz führte, auf dem sie heute Gregor Friedrich Albert von Freysing kennen gelernt hatte, wurde Marie-Claire de Vries schnell klar, dass sich an diesem Abend nicht nur Aristokraten, sondern auch Geldadel in Wien treffen würde. Nur wenige Stunden waren seit ihrer Begegnung mit Gregor von Freysing vergangen. Stunden, die sie nie in ihrem Leben vergessen würde, denn alles, was am heutigen Tag passiert war, kam ihr wie ein Traum vor. Zusammen mit ihrer Freundin Christiane saß sie in ihrem Suzuki-Geländewagen. In dem Fahrzeug wurde es empfindlich kühl. Sie hatte den Wagen schräg gegenüber des Eingangs der Kirche mit Blick auf die Einfahrt geparkt. Die beiden Sicherheitsbeamten, die seit einer Stunde in der Toreinfahrt standen, hatten schon neugierig zu ihnen herübergeschaut, dann aber Christianes Hund gesehen und sie wohl als Frauen auf Einkaufstour eingeschätzt.

Soeben fuhr wieder eine noble Karosse vor. Ein von einem Chauffeur gesteuerter Audi A8 mit getönten Scheiben. Ein kleines Schild mit den Buchstaben CD neben dem Kennzeichen WD-82313 ließ darauf schließen, dass es ein Diplomatenfahrzeug war. Es war früher Abend. Sie war froh, dass sich Christiane kurzfristig entschlossen hatte mitzukommen. Nach dem gemeinsamen Besuch der Schatzkammer war sie zu dem Schluss gekommen, dass die vor ihr liegenden Aufgaben den üblichen Rahmen ihrer Arbeit für Christies sprengen würden. Und natürlich hatte Chrissie in der Schatzkammer sehr schnell gespürt, dass es hier nicht um eine simple Basisrecherche ging. Obwohl Francis Roundell sie mit Nachdruck gebeten hatte, diese Angelegenheit streng vertraulich zu behandeln, hatte sie ihre Freundin dann doch eingeweiht und sie gebeten, absolut verschwiegen zu sein. Sie ahnte, dass Christiane ihr helfen konnte, und sie spürte, dass diese Aufgabe vielleicht sogar ein bisschen gefährlich werden konnte. Daher war Marie-Claire nun froh, ihre Freundin neben sich zu wissen. Die kramte gerade aufgeregt in einem Stapel Papier. Es waren Informationen über den Orden der Ritter vom Goldenen Vlies. Woher Chrissie sie in den wenigen Stunden seit ihrem Telefonat hatte, wusste Marie-Claire nicht, aber was ihre Freundin da vorlas, verschlug ihr die Sprache.

»Meine liebe Marie-Claire, wenn ich mir das hier anschaue, werden wir heute Abend wohl Zeugen eines geheimnisvollen Treffens der aristokratischen Hautevolee Österreichs und Europas! Schau! Da! Siehst du den Mann dort, der gerade in die Toreinfahrt geht?«

Aufgeregt deutete sie auf einen kräftigen, etwa fünfzigjährigen Mann.

»Was ist mit ihm?«

»Den kenne ich! Das ist der Industrielle Baron Friedrich Mayr-Melnhof! Mitglied des Aufsichtsrates eines Konzerns, der mit Holz und Kartons ein Vermögen macht. Der hat ein riesiges Schloss mit einhundertsechzig Zimmern im Attergau.«

Hektisch blätterte Chrissie in ihren Unterlagen und las sichtlich beeindruckt weiter.

»Gehört angeblich zu den reichsten Männern Österreichs, Landrat a.D., ist Ehrenpräsident des Golfverbandes; mit vierzehn Jahren nach Kanada gegangen, hat dort als Waldarbeiter geschuftet, ist passionierter Jäger, gilt als Naturbursche und «

Chrissie brach abrupt ab und schaute ihre Freundin mit großen Augen an. »Voilà! Der Herr Baron ist «

»Nun sag es schon«, zischte Marie-Claire sie an.

»Der Herr Baron ist einer der fünf Ordensoffiziere des Ordens vom Goldenen Vlies! Und zwar nicht irgendein Offizier, sondern der wichtigste: nämlich der Chancellier!«

Marie-Claire verfolgte gebannt das Geschehen. Wieder fuhren zwei Fahrzeuge vor. Weil die Singerstraße vor der Ordenskirche eine Sackgasse war, mussten alle Autos sehr langsam fahren und direkt vor dem Suzuki wenden. Im Fond des ersten Fahrzeuges sah sie einen Mann, den auch sie aus dem Fernsehen kannte.

»Welch honorige Gesellschaft! Da kommt Seine Exzellenz, der Wiener Erzbischof, Christoph Graf Schönborn-Wiesentheid.«

Chrissie blätterte erneut in ihren Unterlagen, fand und las vor.

»Erzbischof Dr. Christoph Kardinal Schönborn! Studierte Philosophie und Psychologie, ein Jahr in Regensburg, wo der jetzige Papst Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, sein Lehrer war. Lehrte als Ordinarius katholische Dogmatik an der Katholischen Universität im Schweizerischen Fribourg. Und er ist Aumonier «

»Er ist was?«, fragte Marie-Claire.

»Seine Exzellenz ist Aumonier Kaplan des Ordens der Ritter vom Goldenen Vlies, also zuständig für die geistlichen Belange des Ordens. Der Hüter von Moral und Ethik quasi!«

Christiane kramte weiter in ihren Blättern. Immer wieder artikulierte sie ihr Erstaunen, schüttelte verwundert den Kopf und flüsterte bruchstückhaft Informationen vor sich hin.

»Ich glaube, ich bin hier in einem Film über das Mittelalter«, presste sie hervor. »Die Herrschaften da drinnen haben einen so genannten Herold, ein Herr Waldstein, den Chancellier, Baron Friedrich Mayr-Melnhof, natürlich auch einen Greffier namens Alexander Graf von Pachta-Reyhofen. Und, selbstredend, den Trésorier, nach meinen Unterlagen ist das Wulf-Gordian Freiherr von Hauser! Ach ja, fast hätte ich es übersehen: Da gibt es logischerweise auch einen Chef, der neunzehnte Chef und Souverän dieses ehrenwerten Ritterordens: Karl von Österreich, beziehungsweise Karl von Habsburg der Enkel des letzten österreichischen Kaisers! Jener österreichische Kaiser, der erst unlängst vom Papst selig gesprochen wurde. Man sagt, das sei so schnell gegangen, weil die Ritter vom Goldenen Vlies exzellente Verbindungen zum Papst haben. Apropos Papst: Wenn ich richtig informiert bin, war es seit Bestehen dieses Ordens so, dass so genannte unabdingbare Ordensstatuten nur mit Genehmigung des Papstes geändert werden durften. Du siehst also, der Orden vom Goldenen Vlies ist der katholischen Kirche sehr verpflichtet. Und wohl auch umgekehrt.«

Marie-Claire de Vries hörte ihrer Freundin kaum noch zu. Die Namen, die Chrissie da vor sich hinplapperte, kannte sie, hatte sie schon oft gehört. Sie alle waren fester Bestandteil der Klatschspalten von Magazinen. Ihre Familiennamen hatten das monarchistische Österreich der letzten Jahrhunderte ebenso geprägt, wie sie im politischen wie auch wirtschaftlichen Leben dieses Landes noch immer allgegenwärtig waren. Doch all das interessierte sie im Moment nur beiläufig. Ihre Gedanken waren woanders, denn nur wenige Schritte von ihr entfernt hielt soeben eine weitere Luxuslimousine vor der Toreinfahrt zur Kirche. Eine, die sie kannte. Es war sein Jaguar! Gebannt starrte sie hinüber, sah den dunklen Anzug unter seinem schwarzen Mantel, sah, wie er selbstbewusst und zielstrebig in auf Hochglanz polierten schwarzen Lackschuhen auf die Toreinfahrt zustrebte und darin verschwand. Wie elegant er aussah! Aber was hatte er mit diesem seltsamen Orden zu tun? War auch er ein Mitglied des geheimnisvollen Ritterordens?

Marie-Claire merkte, dass seine Nähe sie irritierte. Plötzlich hatte sie dieses seltsame Gefühl im Bauch. Sie kannte dieses Gefühl. Vor einigen Jahren hatte es sich eingestellt, als sie Frederik kennen gelernt hatte, und bald hatte es sich zu einer großen Liebe entwickelt die dann unter grausamen seelischen Schmerzen abgestorben war.

Unwillig versuchte sie, diese Gedanken abzuschütteln. Es gelang ihr nicht. Der hervorgepresste Aufschrei ihrer Freundin riss sie aus ihren Erinnerungen.

»Meine Liebe«, stotterte Christiane, »damit du eine Ahnung hast, was da heute Abend im Wien des 21. Jahrhunderts abläuft, lese ich dir einmal vor, wer da in den letzten Jahrzehnten alles zu diesen Vliesrittern gehörte beziehungsweise immer noch dazu gehört und möglicherweise heute Abend da drinnen anwesend sein wird. Es ist unglaublich! Also, da haben wir den Fürsten von Liechtenstein, Hans Adam II., dann der sechste König von Belgien, Prinz Albert II., und Seine Königliche Hoheit, Großherzog Jean von Luxemburg! Wahnsinn! Könige! Fürsten! Herzöge und das mitten in Wien! Ohne Polizeieskorten, ohne großes Trara einfach so, klammheimlich und direkt vor unseren Augen.«

»Ich muss da rein!«, unterbrach Marie-Claire de Vries ihre Freundin. Sie sagte es sehr leise, aber bestimmt. Verdutzt starrte Christiane ihre Freundin an. Sie sah, wie diese mit einem eigentümlichen Blick hinüber zu der Toreinfahrt starrte.

»Ich muss in diese Kirche rein, egal wie.«

Christiane Schachert war für einen Moment sprachlos. Nervös fuhr sie sich mit beiden Händen durch ihre Haare. Ihre unmissverständliche Bewegung mit dem Zeigefinger zur Stirn leitete einen wahren Wortschwall ein.

»Du hast einen Knall, Marie-Claire! Und zwar einen ziemlich großen! Da drinnen trifft sich der Hochadel Europas zu einer geheimnisvollen Zeremonie, abgeschottet durch Bodyguards, hinter verrammelten Kirchentüren. Die beiden hünenhaften Typen da am Eingang, das sind ohne Frage keine privaten Leibwächter, sondern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Beamte vom Staatsschutz oder so. Die fressen dich bei lebendigem Leibe auf, wenn du auch nur einen Schritt zu nahe an die Kirche kommst. Mademoiselle de Vries belieben wohl zu scherzen?«

»Nein, das ist kein Scherz! Ich will, ich muss da rein!« Marie-Claire de Vries wandte sich zu ihrer Freundin um. Sie war plötzlich sehr ernst. »Der Typ mit dem Jaguar! Ich muss wissen, ob er zu diesem Ritterorden gehört, denn er ist hinter dem Florentiner-Diamanten her. So wie ich.«

Kaum, dass sie es gesagt hatte, wusste sie, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Ja, sie wollte, sie musste wissen, was er mit diesem Ritterorden und mit dem Florentiner zu tun hatte. Sie wollte wissen, was es mit diesem höchst geheimnisvollen Ritterorden auf sich hatte, der im 21. Jahrhundert Zeremonien praktizierte, die schon vor fast sechshundert Jahren praktiziert worden waren, um die einflussreichsten Männer des damaligen Europas zu einer mächtigen Bruderschaft zusammenzuführen. Ja, all das wollte sie wissen. Aber das alleine war nicht der Grund. Da war noch etwas: Marie-Claire war auf dem besten Wege, sich in Gregor von Freysing zu verlieben.

Eine Viertelstunde später stieg Marie-Claire de Vries aus ihrem Wagen. Christiane hatte zwar vehement versucht, sie abzuhalten, aber nichts und niemand hätte sie an diesem Abend stoppen können. Sie wusste, dass es irrational war, was sie tat. Es ging nicht um den Florentiner, nicht um ihren Auftrag. Es ging um dieses Gefühl.

Seit zehn Minuten waren keine Limousinen mehr vorgefahren. Die Kirche wirkte in der Dunkelheit völlig unscheinbar. Nichts verriet nach außen, was sich hinter den drei Kirchenfenstern abspielte. Nur die beiden Sicherheitsbeamten passten nicht zu dieser friedlichen Atmosphäre. Bestrebt, wie eine flanierende Shopperin zu wirken, schlenderte sie die Singerstraße hinab, schaute in die Schaufenster und überquerte nach etwa vierzig Metern die Straße. Sie blickte auf die Armbanduhr. Ihr Herz pochte wild. Würden dort drüben, vor oder in der Einfahrt zum Hinterhof des Café Haas, dem Parkplatz der Deutschordenskirche, auch Sicherheitsbeamte stehen? Fast auf Zehenspitzen schlich sie einen Schritt in die Einfahrt hinein. Der Innenhof war stockdunkel. Sie sah nur die rot-weiße Sicherheitsschranke in der Toreinfahrt hin zum Parkplatz. Misstrauisch schielte sie über ihre Schulter nach hinten, ob einer der beiden Sicherheitsbeamten zu sehen war. Nein! Aber sie sah Chrissie, wie sie aus dem Wagen stieg und mit selbstbewusstem Schritt auf den Eingang zur Kirche zuging. Mach bloß keinen Mist, dachte sie und ging so leise wie nur möglich auf dem Kopfsteinpflaster in den Innenhof.

 

Christiane Schachert steuerte mit festem Schritt auf die beiden Bodyguards zu. Sie fühlte sich sehr mutig, aber sie spürte, wie ihre Knie dabei zitterten. Die Männer starrten sie an. Mit Genugtuung registrierte sie, wie beide ihren Körper taxierten, unverhohlen auf ihren kurzen Rock und ihre geöffnete Weste stierten. Sie kannte diesen Blick nur zu gut und hatte daher auch keine Bedenken, dass der Plan funktionieren würde. Jedenfalls ihr Part des Plans.

»Grüß Gott«, lächelte sie die beiden Sicherheitsbeamten schon von Weitem an und fingerte dabei ihren Dienstausweis des Kunsthistorischen Museums hervor.

»Grüß Sie«, reagierte der etwas Jüngere der beiden. Seinem Blick sah sie an, dass er es sein würde, mit dem sie sprechen musste.

»Sie sind sicherlich die Herren vom Sicherheitsdienst des Innenministeriums, die auf unsere Kunstschätze aufpassen, oder? Mein Name ist Christiane Schachert, ich bin Mitarbeiterin des Kunsthistorischen Museums!«

Demonstrativ hielt sie ihren Ausweis mit dem Dienstsiegel und ihrem Passbild dem Jüngeren hin. Er lächelte sehr nett und fragend, aber sie ließ ihm keine Zeit für eine Frage.

»Ich bin von meinem Chef, Herrn Hofrat Professor Doktor Wilfried Seipp, beauftragt, hier nach dem Rechten zu schauen. Sie wissen ja, wie das ist, wenn so wertvolle Kunstschätze aus der Wiener Schatzkammer außerhalb der Panzerglasvitrinen benutzt werden. Da ist die Versicherung schwer nervös. Sind ja Millionenwerte, die da drinnen sind«, heuchelte sie berufliches Pflichtbewusstsein. Der Titel ihres Chefs zusammen mit dem amtlichen Lichtbildausweis des Museums verfehlte nicht seine Wirkung. In Österreich waren Amtstitel und Dienstsiegel wie ein Passepartout. Wenn nichts mehr in diesem verstaubt-bürokratisierten Land funktionierte, half ein Titel immer weiter.

»Alles in Ordnung hier«, hüstelte der Jüngere und versuchte zu flirten. »Wirklich charmante Wissenschaftlerinnen gibt es im Kunsthistorischen. Da freuen wir uns doch auf die Mitarbeit!«

Beide Männer standen nun nur wenige Schritte von ihr entfernt inmitten der Toreinfahrt, mit dem Rücken zum Hinterhof. Für Bruchteile von Sekunden sah sie plötzlich das Gesicht von Marie-Claire, die hinter dem Rücken der Sicherheitsbeamten um die Mauerecke herumlugte, ihr zuzwinkerte und dann wieder verschwunden war.

»Na ja, ist nur eine Routinesache! Die Versicherungen spinnen eben, seit sie uns vor drei Jahren die berühmte Saliera, das goldene Salzfass von Benvenuto Cellini, aus dem Kunsthistorischen geklaut haben. Wir wissen natürlich, dass die edlen Ritter da drinnen mit ihren Collanen und dem Schwurkreuz vom Sicherheitsdienst professionell bewacht werden und daher werde ich nicht länger bleiben. Ist ja eh alles verschlossen. Nach der Messe schau ich dann noch einmal bei Ihnen vorbei.«

 

Marie-Claire de Vries hörte nur Bruchstücke der Unterhaltung, die ihre Freundin mit den beiden Sicherheitsbeamten führte. Sie lächelte triumphierend. Chrissie war wirklich genial!

Leise huschte sie hin zu der grünen Tür in der rechten Ecke des Hofes. Heute Vormittag hatte sie gesehen, dass dort der Eingang zur Sakristei war. In der Kirche hatte sie dann bemerkt, dass sich in der Höhe des Altars eine Tür befand, die, dessen war sie sich sicher, ebenfalls in die Sakristei führte. Eine zweite Tür gab es links vom Eingang. Vermutlich war dahinter eine Treppe, die hinauf zu der Orgelempore über dem Eingang führte. Die Frage war nur, ob die Empore mit den zwei Fenstern, die sie gesehen hatte, auch ein Verbindungsgang zwischen Sakristei und Orgel war. Wenn sie dort oben in den Emporengang gelangte, würde sie einen fast perfekten Blick von oben herab auf das Innere der Kirche haben. Aber wenn der Orgelspieler durch diesen Emporengang gehen musste, würde sie entdeckt werden. Das war das eigentliche Risiko ihres Plans.

Die Sakristei war fast dunkel. Marie-Claire zog ihre Schuhe aus. Auf Strümpfen lief sie über den Steinfußboden durch den Raum auf eine Tür zu. Ihr Herz pochte wild. Irgendwo hinter der anderen Tür, jener, die ganz offensichtlich direkt in die Kirche führte, hörte sie Männerstimmen. Zitternd drückte sie die schwere Messingtürklinke herunter und öffnete die Tür Millimeter für Millimeter. Im Halbdunkel erkannte sie eine Steintreppe. Ein diffuser Lichtschimmer ließ sie innerlich jubeln. Ja, diese Treppe führte nach oben. Es musste die Treppe zur Empore sein. Plötzlich zuckte sie erschrocken zusammen, presste sich die Hand vor den Mund. Lautes Orgelspiel hallte die enge Treppenstiege herab zu ihr. Die Männerstimmen verstummten. Irgendwo über ihr räusperte sich jemand. Nach vorne gebeugt, mit beiden Händen nach den Treppenstufen tastend, arbeitete sie sich Zentimeter für Zentimeter die Treppe hinauf. Sie zählte jede einzelne Stufe. Wenn sie hier wieder runter wollte, würde sie im Dunkeln kaum etwas erkennen können.

Es kam ihr unendlich lange vor, bis sie einen schmalen Lichtschein vor sich erkannte. Die Tür! Das musste die Tür zur Empore sein. Die Orgel verstummte. Ein Schweißtropfen rann ihr übers Gesicht und klatschte grausam laut auf die Steintreppe unter ihren Händen. Das Geräusch kam ihr wie ein Donnerschlag vor. Sie verharrte, lauschte, hörte nichts und schob die Holztür einen Spalt breit auf. Ja! Es war der Gang der Empore. Sie hätte am liebsten laut gejubelt, denn sie sah direkt vor sich, nur einen Meter entfernt, jenes Erkerfenster, von dem aus sie sicher gut die Zeremonie der Ritter vom Goldenen Vlies beobachten konnte.

Sie kroch fast über den Boden hin zu dem Erkerfenster, kauerte sich darunter und richtete sich dann langsam auf. Ihr Kleid raschelte. Panisch starrte sie nach rechts, den Gang entlang, wo es zu der Orgel ging. Nichts geschah. Millimeter um Millimeter richtete sie sich auf und blickte über den Fenstersims. Das Streiflicht der von der Kirchendecke herabhängenden Kronleuchter touchierte ihr Gesicht und blendete sie für Momente. Sie sah, dass die gegenüberliegende Empore dunkel war. Dann erfasste ihr Blick die gesamte Kirche einige Meter unter sich. Sie war wie paralysiert. Wieder glaubte sie ihren Herzschlag zu hören. Ihr stockte der Atem, denn sie begriff sofort, als sie in die Deutschordenskirche mit ihren rot-weißen Granitkacheln hinunterblickte, dass sie das sah, wovon sie geträumt hatte und von dem sie noch vor wenigen Tagen nicht einmal gewusst hatte, dass es so etwas in Wien, ja auf der Welt noch gab.

Die Kirche war durch sieben schlichte Bronzeleuchter nur dezent erhellt. Einige wenige Kerzen verliehen dem Kirchenschiff eine gespenstische Atmosphäre. Die jeweils sechs Holzbänke beidseitig des Mittelgangs waren mit Tüchern bedeckt. Teppichläufer führten auf dem Granitboden hin zum Altar, auf dem Kerzen standen. Ihr flackerndes Licht spiegelte sich in dem goldenen Rahmen des prächtigen Muttergottesbildes hinter dem Altar.

Zwei dumpfe Klopfzeichen ließen Marie-Claires Puls stocken. Sie sah einen sehr aufrecht und würdevoll in die Kirche hereinschreitenden Mann. Er hatte eine jener unvorstellbar kostbaren goldenen Collanen über Schulter und Brust gehängt, die sie in der Wiener Schatzkammer gesehen hatte. Da war es! Das Goldene Vlies mit dem goldenen Widder, der auf der Brust des Mannes hing. Bedächtig schritt der Vlies-Ritter in die Kirche. Er hielt einen langen Stab in seiner Hand. Der Heroldsstab! Ja, das war der Herold des Ordens, Wie hatte Christiane gesagt, hieß er? C. A. Waldstein? Der Herold des Ordens verharrte, schaute sehr ernst und andächtig und stampfte mehrmals mit seinem Stab auf den Boden.

»Procedamus« hallte seine Stimme durch die Kirche. Im gleichen Moment traten weitere Männer in schwarzem Ornat und mit weißen Handschuhen aus dem Schatten an der Tür in die Kirche ein.

Marie-Claire sah die Schar der schwarz Gekleideten, sah die goldenen Collanen und den Widder im Kerzenlicht erstrahlen und erschauerte. Plötzlich fühlte sie sich um Jahrhunderte zurückversetzt, entrückt in eine Zeit, die von mittelalterlich-romantisch verklärten Idealbildern der Chevaliers, der tugendhaften Ritter mit untadeliger Lebensführung, geprägt war. Ritter, die für Gott, den Papst und andere, oftmals sehr weltliche Ideale lebten, kämpften und starben. Diese Männer dort unten, das begriff sie erst jetzt, erfüllten diese Tradition noch heute mit Leben. Doch für wen oder was kämpften sie?

Hinter dem Herold traten nun zwei Männer ins Licht der Kerzen. Sie schienen besondere Funktionen zu haben. Vielleicht der Trésorier und der Greffier, der Ordenssekretär, dachte sie. Den Namen des Greffiers kannte sie aus den Zeitungen. Er war ein bekannter Manager eines in Österreich ansässigen internationalen Konzerns. Ein gut aussehender Mittvierziger mit grau melierten Haaren schritt der Gruppe voran, wies jedem einzelnen der Männer einen offensichtlich vorgegebenen Sitzplatz zu. Alle Männer knieten vor dem Altar nieder, bevor sie auf den Bänken Platz nahmen. Erst als die etwa dreißig Männer an ihren Plätzen waren, geleitete ein offensichtlich noch bedeutsamerer Vlies-Ritter mit sehr erhabenem Gesichtsausdruck einen verhältnismäßig jungen Mann zu einem kleinen Tisch nahe dem Altar. Neugierig versuchte sie, im Dunkel der Kirche nach Gregor Ausschau zu halten, aber sie konnte von ihrem Versteck aus im Halbdunkel nur die Vlies-Ritter in den ersten Reihen und in den gegenüberliegenden Bänken einigermaßen erkennen. Wer direkt unter der Empore saß, war für sie nicht zu sehen. War das da vorne rechts, der alte Mann mit dem Oberlippenbärtchen, nicht der Großherzog von Luxemburg? Und der neben ihm, war das nicht König Albert II. von Belgien? Ihr Blick glitt über die Bankreihen. Ob er dort unten saß? War auch Gregor von Freysing ein Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies?

Wieder ging ihr Blick hinüber zu dem Ordenssouverän an dem kleinen Tisch vor den Sitzbänken. Sie wusste, wer der Mann war, der dort saß: Karl von Habsburg der Enkel des letzten österreichischen Kaisers! Auf dem kleinen Tisch vor ihm beleuchteten zwei Kerzen eine goldene Schale und das Schwurkreuz! Da war es! Jenes legendäre Kreuz aus dem Besitz der Herzöge von Burgund, das bei ihrem Besuch in der Wiener Schatzkammer gefehlt hatte und auf das jeder Ritter vom Goldenen Vlies seit nahezu sechshundert Jahren seinen Eid ablegte. Das mit funkelnden Rubinen, Saphiren und Perlen besetzte goldene Kreuz mit dem mächtigen Goldfuß strahlte im Kerzenschein der dunklen Kirche wie ein Komet. Marie-Claire fühlte sich plötzlich wie ein kleines Kind, das mit glänzenden Augen die brennenden Kerzen des Weihnachtsbaums anstarrt. Die mystische Atmosphäre, die Erhabenheit in den Bewegungen der Vlies-Ritter dort unten beeindruckten sie maßlos. Ein inneres Leuchten schien vom festen Glauben dieser Männer auszugehen. Und von den hohen Idealen dieses Ritterbundes.

Dann setzte das Orgelspiel ein. Die Männer unten in der Kirche sangen. Der Vlies-Aumonier, Erzbischof Christoph Graf von Schönborn-Wiesentheid, zelebrierte, assistiert von einem Priester, eine feierliche Messe. Plötzlich stand ein Ritter nach dem anderen auf, schritt andächtig hin zu dem kleinen Tisch mit dem Schwurkreuz. Jeder von ihnen warf eine große, goldene Münze in die goldene Schale.

Marie-Claire vergaß zu atmen. Sie war fasziniert von der mittelalterlich anmutenden Zeremonie der Vlies-Ritter und war doch hin und her gerissen in ihren Empfindungen. War das alberner Mummenschanz, aristokratisch-monarchistischer Dünkel? War das in tiefer Religiosität verankerte Tradition? Was wollten diese Männer dort unten? War sie Zeugin der Zeremonie einer Geheimbruderschaft, einer Loge? Nachdenklich hockte sie auf dem Steinboden unter dem Erkerfenster. Ihre Gedanken und Empfindungen überschlugen sich. Wie von ferne hörte sie inbrünstig gemurmelte Gebete, lauschte sie den mystischen Liturgien und dem Orgelspiel. Als sei sie der Realität entrückt, in eine andere, eine unwirkliche Welt entfleucht, nahm sie alles um sich herum eigenartig gedämpft wahr. Wieder setzte das Orgelspiel ein. War das nicht …? Ja, das war sie! Die Orgel in der Kirche spielte soeben jene Melodie, die sie selbst noch aus Kindheitstagen kannte. Ihre Großeltern, Verehrer des letzten österreichischen Kaisers, des in Verbannung auf der Insel Madeira verstorbenen Karl I., hatten sie in ihrer grenzenlosen Bewunderung schon als kleines Mädchen dieses Lied zu singen gelehrt. Ja, sie kannte diese Melodie, die von Haydn komponierte und von Lorenz Haschka getextete »Kaiserhymne« deren Melodie jetzt die deutsche Nationalhymne war.

Entrückt in Erinnerungen, zurückkatapultiert in ihre Kindheit, ergriffen von den plötzlich vor ihren Augen zu neuem Leben erwachenden Bildern ihres so geliebten Großvaters, flüsterte sie ganz leise eine jener Strophen vor sich hin, von denen sie ahnte, dass diese dort unten versammelten Männer, die Ritter vom Goldenen Vlies, sie nun auch vor sich hin flüstern würden: »Lasst uns fest zusammenhalten, in der Eintracht liegt die Macht; mit vereinter Kräfte Walten wird das Schwere leicht vollbracht; lasst uns eins durch Brüderbande gleichem Ziel entgegengehn; Heil dem Kaiser, Heil dem Lande, Österreich wird ewig stehn «

 

»Hände hoch! Keine Bewegung!«

Die kaum hörbar und dennoch Furcht erregend dahingezischten Worte des Mannes, der hinter ihr stand, rissen sie aus ihren Träumen. Bevor sie sich umdrehen konnte, spürte sie einen kalten Gegenstand an ihrem Hinterkopf. Ihr Herz schien stillzustehen. Ihr Puls hämmerte in ihren Schläfen. Ihr wurde übel. Panische Angst bemächtigte sich ihrer, als sie begriff, dass der Mann ihr eine Pistole an den Kopf presste.

»Langsam aufstehen! Ganz ganz langsam aufstehen und keine falsche Bewegung!«

Es fiel ihr schwer, sich aufzurichten. Die Orgelmusik übertönte das Rascheln ihres Kleides, als sie sich Zentimeter für Zentimeter an der Wand hochzog. Plötzlich wusste sie, woher sie die Stimme des Mannes kannte. Sie hätte am liebsten geweint. Denn vor dem, was nun geschehen würde, hatte sie unendliche Angst.

8. Kapitel

D

er nach dem Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry benannte Flughafen von Lyon war in den späten Abendstunden fast menschenleer. Francis Roundell lächelte. Seit Jahren war er nicht mehr hier gewesen. Mit Lyon verbanden ihn viele angenehme Erinnerungen. Während seiner Dienstzeit in der für Kreditkartenbetrug zuständigen Abteilung bei Interpol war er von hier aus zu vielen interessanten Reisen rund um die Welt losgeflogen. Der Umzug Interpols von Paris nach Lyon hatte letztendlich seinen wichtigsten Karrieresprung herbeigeführt. Wäre er nicht nach Lyon gegangen, hätte er nie den Kontakt zum Auktionshaus Christies bekommen. Im Rahmen einer weltweiten Interpol-Ermittlung gegen eine vornehmlich von Saudi-Arabien aus operierende Kreditkartenbetrügerorganisation, die vor allem Kunsthändler schädigte, war der Kontakt zu Christies in London entstanden. Schon sechs Monate später hatte man ihm die Position des Sicherheitschefs bei dem renommierten Auktionshaus angeboten. Da er dort seine private Passion für Kunsthandel mit seinen hervorragenden weltweiten Kontakten zu nationalen Polizeibehörden optimal verbinden konnte, füllte ihn diese Tätigkeit für Christies ganz und gar aus und machte ihm viel Freude. Nur die finanziellen Rahmenbedingungen seiner Tätigkeit ließen zu wünschen übrig, aber das würde sich ja bald ändern.

Knapp dreißig Minuten nach der Landung stieg er bereits vor dem direkt an der Rhône gelegenen Hotel Bellecour aus dem Taxi. Die Bäume der Allee entlang des Quai Gailleton vor dem hässlichen quadratischen Hotelbau mit seinen acht Stockwerken bogen sich unter starken Windböen. Nur noch einige wenige Blätter hingen an den Platanen. Er schaute auf die Uhr. Es war bereits nach neun. Er war etwas spät dran.

»Bonsoir«, grüßte er den Portier und bat ihn, sein Gepäck direkt auf sein reserviertes Zimmer zu bringen, denn er war im Restaurant Les Trois Domes verabredet. Entgegen seiner Erwartung saß Bernhard Kleimann nicht im Restaurant in der achten Etage. Der modern-luxuriöse Speiseraum war auffallend leer. Durch die riesigen Fensterwände hindurch genoss Francis Roundell einen kurzen Blick über die Stadt. Die vier Türme des nahen Doms erstrahlten im Scheinwerferlicht. In den dunklen Fluten der Rhône spiegelten sich die Häuser der gegenüberliegenden Vergnügungsmeile der Stadt.

Seinen ehemaligen Kollege und langjährigen Freund Bernhard fand Francis in der Cocktailbar Le-Melhor direkt neben dem Restaurant. Er war der einzige Gast. Gedankenversunken saß der korpulente Mann mit dem Rücken zur Bar und stierte aus dem Fenster. In der Hand hielt er ein Glas Rotwein. Er war froh, seinen ehemaligen Kollegen wieder einmal zu sehen. Über die Jahre hinweg hatte sich ihre Freundschaft aus alten Zeiten als sehr hilfreich erwiesen. Bernie saß bei Interpol in exponierter Position. Er hatte Zugang zu allen Computern und Informationssystemen und konnte ihm damit manchmal sensible Polizeiinformationen zukommen lassen. Als Gegenleistung hatte er Bernie dafür auch hin und wieder über seine Kontakte zum internationalen Kunstmarkt bei polizeilichen Ermittlungen helfen können. Dieses Eine-Hand-wäscht-die-andere-Prinzip funktionierte hervorragend. Als Freunde vertrauten sie sich und gingen entsprechend vorsichtig mit den oftmals brisanten Daten um.

»Bernie, du alter Terrorist! Was schaust du denn so trübsinnig drein?«, begrüßte er den Interpol-Beamten lachend. Bernhard Kleimann zuckte zusammen, rutschte ungelenk vom Barhocker und umarmte Francis Roundell geradezu stürmisch.

»Mensch, Alter, ist das schön, dich mal wieder zu sehen. Gut schaust du aus! Scheinst den großen Stich gemacht zu haben mit deinem Auktionshaus. Ist ja ein richtiger edler Zwirn, den du da anhast! Wohl kein Anzug von der Stange, was?«

Der Blick des korpulenten Deutschen heftete sich auf die Schuhe seines ehemaligen Kollegen. »Na, sauber! Sehe ich da Maßschuhe an den Füßen des edlen Herrn?«

Francis Roundell blickte verunsichert hinüber zu dem Barkeeper, der die Begrüßungszeremonie seiner beiden einzigen Gäste lächelnd beobachtete.

»Komm, hör auf, mich hier zu blamieren! Lass uns lieber rüber in die Ecke am Fenster gehen und unser Wiedersehen feiern. Mensch, Bernie, ich freue mich so, dich zu sehen! Sind viele Jahre vergangen, seit wir das letzte Mal hier an der Bar saßen «

Beide Männer setzten sich an das große Fenster und bestellten eine Flasche Rotwein. Die guten Freunde redeten über ihre gemeinsamen schönen Zeiten bei Interpol in Paris, besonders aber über die enormen Veränderungen innerhalb der Organisation nach dem Umzug im Jahre 1989 nach Lyon.

»Weiß du, Francis«, resümierte Bernhard Kleimann nach gut einer halben Stunde, »nichts ist mehr so, wie es einst war! Ich kann dir nur sagen, dass es sehr klug war, dir einen Job in der Privatwirtschaft zu suchen. Aus dem alten Interpol ist eine grauenhaft bürokratisierte, lahme Ente geworden! Mit Verbrechensbekämpfung hat meine Tätigkeit kaum mehr was zu tun. Ich schiebe Akten hin und her, mehr nicht! Seit Europa so rasant wächst, gewinnt Europol eine immer größere Bedeutung. Die sind einfach effizienter und leiden nicht unter diesen wahnwitzigen politischen Rücksichtnahmen, die seit jeher Interpol zu einem Adler mit gestutzten Flügeln machen. Den großen polizeilichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, dem Rauschgifthandel und dem Terrorismus, hat Interpol nichts entgegenzusetzen. Solange diese unrühmliche Resolution aus alten Zeiten vorschreibt, dass der politische Charakter von Straftaten im nationalstaatlichen Ermessen liegt, bleibt Interpol eine reine Verwaltungsbehörde. Du weißt ja, die Interpol-Statuten verbieten jede Hilfestellung bei politisch motivierten Delikten, bei militärischen und religiösen Angelegenheiten. Und da gibt es nun einmal zwischen den Mitgliedsstaaten höchst unterschiedliche Interpretationen. Wir sagen, der Typ ist ein Terrorist, und die anderen sagen, er ist ein Freiheitskämpfer, ein Held, dem höchste Ehre gebührt. Das kann ja nichts werden! Ist zwar schön, dass wir jetzt so wunderbare internationale Kommunikationstechniken wie das I-24/7-System haben. Das spart viel Zeit beim weltweiten Austausch von Informationen, aber ohne Exekutivrechte nutzt all das nichts! Wir verwalten das Böse der Welt und informieren quasi all unsere knapp einhundertachtzig Mitgliedsstaaten, dass es das Böse gibt. Aber das war es dann auch schon. Na ja, du kennst die Problematik ja.«

Francis Roundell hatte seinem einstigen Kollegen sehr aufmerksam zugehört. Lange hatte er auf ein Schlüsselwort gewartet, um das Gespräch auf jenes Thema zu lenken, das ihn interessierte und weshalb er extra von London nach Lyon geflogen war. Bei dem Stichwort Terrorismus sah er seine Chance gekommen.

»Deswegen habe ich den Kram damals auch hingeschmissen, Bernie. Als ich neulich las, dass Interpol aus Anlass der Flutkatastrophe in Asien jetzt eine Datenbank für DNS-Profile zur besseren Identifizierung von Vermissten und Toten erstellt, kam mir sofort der Gedanke, dass aus dem, was einmal als weltweit tätige Organisation im Kampf gegen die Kriminalität angedacht worden war, eine karitative Hilfsorganisation geworden ist. Das ist nichts für mich, Bernie! Ich bin noch immer tief in meinem Herzen ein echter Bulle. Aber du weißt ja, entgegen der Darstellungen in vielen Kriminalromanen gibt es nun einmal keine Interpol-Agenten, die Verbrecher rund um die Welt verfolgen. Nicht einmal eine Knarre dürfen die Interpol-Beamten tragen, ohne in den jeweiligen Mitgliedsstaaten freundlichst um Genehmigung fragen zu müssen, und dann wird es meistens abgelehnt. Wozu brauchen sie auch eine Waffe, sie dürfen ja sowieso niemanden festnehmen. Sesselpupser sind es, mehr nicht. Wie gesagt, das ist nichts für mich.«

Francis Roundell sah, wie sein Freund Bernie nachdenklich aus dem Fenster über das hell erleuchtete Lyon starrte. Er wusste, dass auch Bernhard Kleimann ein leidenschaftlicher Kriminalbeamter war, jetzt aber nur noch aus finanziellen und familiären Erwägungen in Lyon blieb. Bernie hatte vier Kinder. Die hohen steuerfreien Auslandszuschläge, die man als Interpol-Beamter erhielt, ließen viele Mitarbeiter dieser Organisation bleiben, obwohl sie die reine Verwaltungstätigkeit hassten. So wie Bernhard, der schon als Kriminalbeamter im einstigen 14. Kommissariat der Kripo in Bonn für politische Delikte zuständig gewesen war, danach ins Terrorismus-Referat des Landeskriminalamtes Düsseldorf und dann als deutscher Verbindungsbeamter für Terrorismus zu Interpol gewechselt war.

»Da wir ja nun schon beim Thema sind, Bernie: Kannst du mir in dieser Sache, die ich am Telefon angedeutet habe, weiterhelfen? Habt ihr da Informationen?«

Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann schaute hinüber zu dem Barkeeper, bevor er antwortete. Der junge Afrikaner hinter der Theke war zu weit weg, um ihr Gespräch belauschen zu können.

»Ja, Francis«, sagte er sehr leise, »da gibt es einige sehr interessante Sachen. Ich brauche dir ja nicht weiter zu erklären, dass ich meinen Job riskiere, wenn du nicht vorsichtig mit dem Material, dass ich dir geben kann, umgehst?«

»Bernie«, war Francis Roundell bestrebt, die Ängste seines Freundes auszuräumen, »du weißt, dass ich Quellenschutz über alles stelle. Du bist mein Freund! Wir kennen uns lange genug und brauchen uns wohl nicht über dieses Thema zu unterhalten.«

»Also gut, Francis « Bernhard Kleimann zog einen Stapel Dokumente aus seinem Aktenkoffer. »Die beiden Überfälle in Deutschland und Florenz sind so ziemlich das heißeste Thema, das es derzeit bei Interpol gibt! Und nicht nur bei uns! Das deutsche Bundeskriminalamt, der Bundesnachrichtendienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz und so ziemlich alle italienischen Polizeibehörden und Geheimdienste sind extrem nervös wegen dieser Sache. Bei Interpol haben sie eine eigene Sonderkommission mit dem Namen Mraksch mit fünf Beamten eingerichtet.«

»Na ja, war ja auch ziemlich brillant, was diese Typen da abgezogen haben«, unterbrach ihn Francis Roundell und ergänzte: »Brillant und extrem brutal! Das waren eiskalte Typen, die das geplant und durchgeführt haben «

»Das Verrückte an dieser Sache ist«, flüsterte Bernhard Kleimann, »dass wir alle noch immer nicht genau wissen, ob das nun professionelle Kriminelle waren oder doch Terroristen! Die Tatsache, dass bei beiden Überfällen jeweils nur ein ganz bestimmter Edelstein geraubt wurde, schließt eigentlich die eine Vermutung aus. Die hätten sowohl in Bayern als auch in Florenz Berge von wertvollem Schmuck klauen können! Haben sie aber nicht. Andererseits tun sich meines Wissens so ziemlich alle Nachrichtendienste Europas mit diesem ominösen Bekennerschreiben schwer.«

»Ein Bekennerschreiben?«, unterbrach Francis Roundell seinen Freund erneut. »Erzähl!«

»Nun ja, wenn er denn authentisch ist, dann gibt es einen Bekennerbrief! Er ist auf Arabisch verfasst. Die Typen nennen sich Heilige Krieger der Tränen Allahs‹. Von einer solchen Gruppierung hat noch nie irgendein Terrorismusexperte in Europa je gehört. Sie haben den Brief an ein französisches Magazin geschickt. Da stehen allerdings so viele Einzelheiten drin, die nur die Täter wissen können, dass man davon ausgehen kann, dass er authentisch ist. Andererseits faseln die in einer für politisch motivierte islamische Straftäter sehr untypischen Terminologie etwas von der Rückführung der von den Kreuzrittern bei den Kreuzzügen gestohlenen Kulturgüter, die dem arabischen Volk gehören.«

»Das ist wirklich höchst seltsam. Von einer solchen Gruppierung habe ich auch noch nie gehört«, brachte Francis Roundell sein Erstaunen zum Ausdruck.

»Eben!« Bernhard Kleimann schaute kurz auf, schien dann aber das von ihm gesuchte Dokument in dem Stapel der mitgebrachten Papiere gefunden zu haben. »Hier, schau dir das mal an! Wenn die Informationen vom deutschen Bundesnachrichtendienst richtig sind beziehungsweise tatsächlich richtig gedeutet wurden, dann haben sich zwei der Täter nach Marrakesch abgesetzt. Und zwar sehr clever! Die sind mit Ambulanzflügen nach Marokko geflogen.«

Der Interpol-Mann reichte Francis Roundell ein Dokument.

»Hab bitte Verständnis dafür, Francis, dass ich bei der Kopie den Briefkopf des Originalschreibens vom BND weggelassen habe. Das Ding da ist als Streng geheim klassifiziert. Wenn man es bei dir finden würde, wäre ich wegen Geheimnisverrats dran! Ich denke, dir reicht der Inhalt des Dokuments. Was die ganze Sache mit diesem vom BND zitierten Buch mit dem Titel Vitrine XIII zu tun hat, weiß ich allerdings nicht! Ist wahrscheinlich ein Code des BND. Weiß der Teufel für was.«

 

Neugierig überflog Francis Roundell das Dokument. Aus seiner Amtszeit bei Interpol wusste er die Details in den Betreff- und Verteilerzeilen sofort zu deuten. Dieses Schreiben war zum Staatsschutz nach Österreich, an das italienische Innenministerium, an diverse Abteilungen des deutschen Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln, aber auch zu seiner großen Verwunderung an die deutsche Botschaft in Rabat gegangen. Plötzlich blieb sein Blick an zwei Namen hängen. Damit hatte er nicht gerechnet. Francis gab das Dokument zurück.

»Scheint so, als seien die beiden Araber, die mit den Ambulanzflügen aus Europa geflohen sind, bereits identifiziert? Glaubt ihr, dass es die Initiatoren der beiden Überfälle oder nur Handlanger waren beziehungsweise sind?«

Auf diese Frage hatte Bernhard Kleimann gewartet. Lächelnd griff er nach seinem Weinglas und prostete seinem alten Freund Francis zu.

»Das werden wohl die Handlanger gewesen sein. Zumindest sind sie weder bei uns noch bei irgendeiner europäischen Ermittlungsbehörde bislang in Erscheinung getreten. Mit den Fingerabdrücken konnten wir nichts anfangen. Es liegen keine Erkenntnisse vor. Die beiden Namen dort sind sicherlich Totalfälschungen. Du siehst also, dass wir alle noch im Dunklen tappen. Aber sobald ich neue Informationen habe, melde ich mich bei dir, Francis. Und jetzt, alter Kumpel, lass uns diese Flasche hier leeren und über die guten alten Zeiten bei Interpol quatschen.«

 

Knapp zwei Stunden später erhob sich Francis Roundell, Sicherheitschef des Auktionshauses Christies, und verabschiedete sich von seinem Freund und einstigen Kollegen mit dem Hinweis darauf, dass er bereits kurz nach sechs zurück nach London fliegen würde. Die kopierten Dokumente, die er von Bernhard Kleimann bekommen hatte, verstaute er in seinem Aktenkoffer. Nach einer sehr herzlichen Verabschiedung verließ Francis Roundell die Bar und fuhr mit dem Aufzug hinab in den vierten Stock. Sein Freund Bernie gab vor, noch die Toilette aufzusuchen.

Kaum dass sich die Aufzugstür hinter Francis Roundell geschlossen hatte, trat Kriminalhauptkommissar Bernhard Kleimann wieder in die Bar. Er hatte hinter der Garderobe gewartet, bis sein Freund verschwunden war. Der Barkeeper war gerade dabei, Flasche, Gläser und Aschenbecher abzuräumen.

»Stopp! Lassen Sie alles so stehen, wie es ist!«, befahl er dem mit Entsetzen auf seinen Ausweis starrenden Afrikaner.

»Interpol! Das Glas, die Flasche und der Aschenbecher da sind sichergestellt! Sie sind verpflichtet, über diese Sache hier Stillschweigen zu bewahren!«

Mit routinierten Handgriffen streifte sich Bernhard Kleimann einen Plastikhandschuh über, steckte Glas, Flasche und zwei der Zigarettenfilter von Francis Roundell in eine Plastiktüte und verließ dann die Bar.

»Das darf ich als bürokratisierter Beamter von Interpol zwar nicht«, murmelte er im Aufzug vor sich hin, »aber wenn alle Bullen dieser Welt immer nur das machen würden, was ihnen die Gesetze vorschreiben, dann wäre unsere Welt längst schon im Chaos der Kriminalität und des Terrors untergegangen «

Um Punkt 23 Uhr 34 französischer Ortszeit verließ er das Hotel Bellecour.

 

Francis Roundell saß zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Bett in seinem Zimmer. Nervös paffte er eine Zigarette, drückte sie aus und zündete sich eine neue an. Sein Blick fiel auf sein Handy. Es lag nur eine Meldung vor. Jemand hatte versucht, ihn anzurufen. Ohne auf die Nummer des Anrufers zu achten, verließ er sein Zimmer, fuhr hinab zur Rezeption im Erdgeschoss. Er wusste, dass nur wenige Meter vom Hotel entfernt am Quai Gailleton eine öffentliche Telefonzelle stand. Aus seiner Zeit bei der Kripo und bei Interpol wusste er, dass es klüger war, nicht das Telefon im Hotel und schon gar nicht sein eigenes Handy für diesen Anruf zu benutzen. Die Nacht war extrem kühl. Francis Roundell fror. Das Telefonhäuschen war in einem fürchterlichen Zustand. »Hoffentlich funktioniert dieses Ding überhaupt«, schimpfte er vor sich hin und begann, die sehr lange Nummer einzutippen. Nach der Vorwahl 00212 44 brach die Leitung zusammen. Wieder und wieder versuchte er es. Er bibberte vor Kälte und fluchte. Endlich hörte er einen sehr leisen Rufton am anderen Ende. Sein Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass es dort jetzt kurz vor 23 Uhr war. Hoffentlich war er da! Eine männliche Stimme krächzte schließlich ein sehr missmutiges »Qui« in den Hörer.

»Ich bin es!«, rief Francis Roundell in den Hörer. Er hoffte, dass er zu hören war und dass der Mann am anderen Ende seine Nachricht verstehen würde, als er leise sagte: »Die Namen der beiden Mitreisenden der letzten Urlaubsreise sind bekannt geworden! Das Ticket nach Wien ist daher nicht mehr gültig. Bitte ein neues Ticket beantragen. Und unbedingt das Buch Vitrine XIII kaufen. Details zu dem Buch habe ich per Mail geschickt. Das Manuskript ist in Wien verfügbar.«

Blitzschnell legte er auf, schaute auf den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr. Vierzehn Sekunden hatte er gebraucht! Sehr gut! Kein Satellitenaufzeichnungscomputer dieser Welt würde schnell genug reagieren und diesen Anruf aufzeichnen können. Und selbst wenn die National Security Agency der Amerikaner rein zufällig dieses öffentliche Telefon hier in Lyon oder gar den Anschluss bei ihm im Visier hätte und per Satellitenpeilung mitschneiden würde, die Bedeutung dieser Nachricht würde niemand verstehen! Bis die Amerikaner vielleicht doch Verdacht schöpfen würden, wäre die ganze Aktion längst abgeschlossen.

Zufrieden rannte er durch den einsetzenden Regen zurück ins Hotel. Im Zimmer angekommen, zog er sein Handy hervor und schaute nach, wer versucht hatte, ihn anzurufen.

»Marie-Claire, das ist ja eine nette Überraschung«, sagte er zu sich selbst und wählte die Nummer seiner Mitarbeiterin. Seit zwei Tagen hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Ob Marie-Claire mittlerweile etwas über diesen Gregor von Freysing herausbekommen hatte? Wusste sie bereits, warum dieser Österreicher hinter dem Florentiner her war?

 

*

Cathrine de Vries saß schweigend in dem Sessel und schaute ihre Schwester mitleidig an. Seit Stunden hörte sie ihr nun schon zu, ohne selbst zu Wort gekommen zu sein. Marie-Claire war in einer solch desolaten Stimmung, dass sie ohnehin nicht gehört hätte, was sie als ihre Schwester zu all diesen Dingen zu sagen hatte. Marie-Claire redete unablässig, rauchte, trank, redete, weinte und schwieg dann immer wieder für lange Zeit. In einem solch fürchterlichen Zustand hatte Cathrine sie noch nie gesehen, und so richtig verstand sie auch noch immer nicht, was der Auslöser für diesen Zusammenbruch gewesen war.

Marie-Claires Handy klingelte. Erstaunt schaute sie erst ihre Schwester Cathrine an und blickte dann auf die Uhr. Es war fast halb eins in der Nacht! Auf dem Display erkannte sie die Nummer ihres Chefs Francis Roundell.

»Auch das noch «, schluchzte sie. Sie fühlte sich absolut nicht in der Lage, jetzt mit Francis zu reden. Sie hatte selbst vor einigen Stunden, kurz nach der Festnahme, versucht, ihn zu erreichen, in der Hoffnung, er könne ihr in der sehr misslichen Situation helfen. Daher hatte sie nun keine Wahl, als sein Gespräch entgegenzunehmen. Sie holte schnell tief Luft, trank einen Schluck Wein und klappte dann das Handy auf.

»Hallo, Francis! Nett, dass Sie noch so spät in der Nacht anrufen. Ja, soweit ist alles in Ordnung. Es gab nur ein sehr unangenehmes Zusammentreffen mit Beamten von der österreichischen Staatssicherheit.«

Marie-Claire erzählte ihrem Chef von der Festnahme im Kreuzgang der Deutschordenskirche, von ihrer sensationellen Entdeckung im Zusammenhang mit dem Vlies-Orden, erwähnte Gregor von Freysing und erzählte von ihrem Versuch, zu erkunden, ob er zu diesem Orden gehörte. Sie berichtete von den beiden Sicherheitsbeamten, die sie mit vorgehaltener Pistole abgeführt und wie eine Schwerverbrecherin in Handschellen in ein Zimmer des Deutschordens gebracht hatten, wo sie von einer Kollegin der beiden peinlich genau durchsucht worden war.

»Ja, natürlich ich habe denen sofort gesagt, dass ich als freiberufliche Fotografin für das Auktionshaus Christies an einer Dokumentation über berühmte Ritterorden in Europa arbeite«, antwortete sie auf Francis Frage. »Nein, nein keine Angst, ich habe nichts von den beiden Sancys gesagt und auch nicht über den Florentiner gesprochen«, schluchzte sie in ihr Handy.

Francis schien nicht sonderlich überrascht, geschweige denn betroffen zu sein. Ungerührt stellte er ihr Fragen, ließ sie reden, hakte nach und schien so gar nicht nachvollziehen zu können, welche Ängste sie hatte durchstehen müssen.

Verdammt noch mal, dachte sie, wie kann ein Mensch nur so gefühlskalt sein? Ich hasse ihn, durchzuckte es sie plötzlich. Ja, ich hasse diese völlig abgeklärte Art vom ihm. Es war nicht das erste Mal, dass sie über diesen Charakterzug von Francis Roundell stolperte. Menschliche Aspekte schienen ihn absolut nicht zu interessieren. Er funktionierte wie ein Uhrwerk: gefühllos, professionell. War das Ergebnis der Arbeit seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seines Erachtens erstklassig, gab er sich extrem großzügig und erging sich in Lobeshymnen. Aber das war nur gespielt, eine perfide Art, seinen Leuten eine optimale Leistung abzuverlangen. Für Francis zählte nur das Ergebnis. Die Mittel und Wege waren ihm egal. Mit Vorliebe spielte er den großen Moralisten, den stilvollen Gentleman: charmant, gebildet jovial! Letztendlich aber war er bereit, für ein Ziel für sein Ziel über Leichen zu gehen. Eigentlich, und diese Erkenntnis erschütterte Marie-Claire, eigentlich weißt du das schon lange. Aber du hast es nicht wissen wollen, hast es verdrängt wie so vieles in deinem Leben.

Dann kam die Frage, die kommen musste. Verlegen hüstelte sie ins Handy. Spontan entschied sie sich zu lügen. Sie log und hatte das Gefühl, lügen zu müssen, als er sie fragte, wieso sie so schnell aus dem Polizeigewahrsam entlassen worden war.

»Ich habe denen einen Auktionskatalog von Christies gezeigt, den ich im Auto hatte. Da stand mein Name im Editorial drin. Und ich habe ihnen außerdem gesagt, dass ich nicht absichtlich in die Kirche eingedrungen, sondern versehentlich dort eingeschlossen worden sei, aber aus reiner Neugierde nicht auf mich aufmerksam gemacht hätte. Das haben sie mir geglaubt und mich dann entlassen.«

Marie-Claire sah, wie ihre Schwester Cathrine die Augen verdrehte und ihr wild gestikulierend einen Vogel zeigte. Sie musste lächeln. Wieder einmal staunte sie darüber, wie unglaublich ähnlich sie sich sahen, besonders, wenn sie lachten. Es war wahrhaftig nicht zu übersehen, dass sie eineiige Zwillingsschwestern waren. Mit heftigen Gesten bedeutete sie ihrer Schwester, sich ruhig zu verhalten. Francis sprach noch immer. Mit Schrecken fiel ihr bei seinen Worten ein, dass sie in drei Tagen im Schloss Charlottenburg in Berlin einen Vortrag über berühmte Edelsteine im Schmuck der preußischen Könige halten musste.

»Ja, Francis, ich habe den Diavortrag noch einmal überarbeitet! Ja, ich werde natürlich nicht auf die beiden gestohlenen Sancys eingehen«, beschwichtigte sie ihn und war froh, dass er wenig später das Telefonat beendete. Sofort begann ihre Schwester wie eine Furie zu schimpfen.

»Bist du total bescheuert? Das war dein Chef! Du kannst doch deinem Chef nicht verheimlichen, was da heute passiert ist! Und schon gar nicht, was vielleicht noch passieren wird!«

Marie-Claire atmete tief durch. Das Gespräch mit Francis Roundell hatte ihr viel Selbstbeherrschung abverlangt, doch das war das Allerletzte, wonach ihr derzeit war. Die Flut von Informationen über die Ritter vom Goldenen Vlies, diese höchst eigentümlichen Verbindungen zwischen den gestohlenen Sancy-Diamanten und dem Florentiner, all das hatte sie in den letzten Tagen mitgerissen, ohne dass sie bisher Zeit gefunden hatte, das alles logisch zu ordnen. Zu Hause stapelten sich mittlerweile Dutzende Bücher und Dossiers über die Diamanten, über den Vlies-Orden, über Karl den Kühnen, Maria de Medici, Marie-Antoinette und über die Habsburger. Zum Lesen war sie aber kaum gekommen. Sie wusste nicht mehr so recht, wo ihr der Kopf stand. Das war vor der Zeremonie der Vlies-Ritter in der Kirche schon so gewesen und das war jetzt, nach den Geschehnissen in der Deutschordenskirche, noch viel schlimmer. Sie war froh, dass sich Cathrine bereit erklärt hatte, sie mitten in der Nacht abzuholen, dass sie heute bei ihr schlafen konnte. Zu allem Überfluss war sie emotional völlig aufgewühlt. Seit Gregor von Freysing zu der Vernehmung durch die Beamten des Staatsschutzes hinzugekommen war, stand ihre Gefühlswelt Kopf. Ja, sie stand Kopf! Marie-Claire ahnte, dass dies erst der Anfang war. Die Worte von Cathrine rissen sie aus ihrer Nachdenklichkeit.

»Du bist schlichtweg zu ehrlich, Schwesterlein! Es ist zum Kotzen! Immer und immer wieder passiert dir das! Das ist zwar ein sehr ehrenwerter und heutzutage höchst seltener Charakterzug, aber irgendwann musst du doch mal lernen, dass Emotionen zwar was Wunderschönes sind, sich aber in den Händen der falschen Männer schnell zu einem Bumerang für dich entwickeln. Am Ende deiner Träumereien von der großen Liebe stand bislang ausnahmslos das Chaos, dein Zusammenbruch! Das hast du nun schon so oft erlebt, und dennoch verfällst du immer wieder in die gleichen Verhaltensweisen, sobald ein auch nur halbwegs passabler Mann am Horizont auftaucht. Langsam zweifle ich an deinem Verstand!«

»Wenn du ihn sehen würdest, Cathi«, unterbrach Marie-Claire ihre Schwester, »wüsstest du, warum ich so durchgeknallt bin, als er plötzlich im Vernehmungszimmer stand. O Gott, was wird er wohl gedacht haben? Ich dämliches Huhn werde vom Staatsschutz wie eine Terroristin abgeführt und durchsucht, stehe halb nackt da im Büro des Deutschordens und genau in dem Moment kommt er rein und sagt nur einen einzigen Satz: Noch immer auf der Suche nach der verlorenen Konzertkarte? Weißt du, Cathi, wie ich mich in diesem Augenblick gefühlt habe? Weißt du das? Du hast keine Ahnung weil du nicht weißt, wie er mich dabei angeschaut hat! Hast du auch nur annähernd eine Idee, wie puterrot mein Kopf wurde? Mein Herz ist mir aus den Ohren rausgehüpft! Mein Verstand war weg!«

»Ja, ich ahne sehr wohl, dass dein Verstand weg war, Schwesterlein! Sonst hättest du wohl kaum so selten blöde Dinge getan und gesagt, kaum dass er dir mal in die Augen beziehungsweise auf den Hintern geschaut hat.«

Marie-Claire musste plötzlich laut prustend lachen. Sie lachte so gelöst und befreit von den Ängsten der letzten Stunden, dass ihr Tränen aus den Augen kullerten. Die Vorstellung, nach der Durchsuchung durch die Beamtin vom Staatsschutz barfuß, nur mit Rock und BH dagestanden zu haben, als er die Tür öffnete, fand sie plötzlich köstlich.

»Cathi, ich weiß, dass du mich sowieso für verrückt hältst, aber war das nicht toll? War das nicht mutig von mir dem verklemmten Mäuschen der letzten Jahren?«

Marie-Claire fühlte sich unglaublich wohl, so wie sie jetzt sprach: selbstbewusst, fest davon überzeugt, das Richtige getan zu haben. Jetzt, wo plötzlich alle Angst gewichen war, fand sie es umwerfend mutig, wie sie in jenem Augenblick Gregor von Freysing in die Augen geschaut und ganz einfach gesagt hatte: »Ich bin eigentlich nur in die Kirche gekommen, weil ich Sie wieder sehen wollte.«

Und das war die Wahrheit gewesen. Sie wollte ihn wieder sehen.

 

Marie-Claire traf Gregor Friedrich Albert von Freysing sehr schnell wieder. Am frühen Abend, Punkt halb sechs stand sein dunkelblauer Jaguar vor ihrer Wohnung in der Nähe des Donaukanals. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit dezent grauen Streifen. Die Krawatte passte so perfekt zu seinem Hemd, dass sie endgültig wusste, dass er Stil und Geschmack hatte und das Geld, sich diesen Stil zu erlauben. Bereits zehn Minuten später, auf der Fahrt in die Innenstadt, gelangte sie zu der Überzeugung, dass er außergewöhnlich charmant und zugleich angenehm zurückhaltend war. Kurz darauf sah sie ihn zum ersten Mal lachen. Er lachte laut und selbstbewusst, und seine Augen glänzten dabei. Es war ein herzliches Lachen. Das wunderschöne Gefühl, das sie bereits bei ihrer ersten Begegnung mit ihm empfunden hatte, war wieder da.

Das Mozart-Kammerkonzert in der Sala Terrena begann um halb acht. Marie-Claire jedoch bekam davon nicht sehr viel mit. Das »Mozart Ensemble«, die vier in historische Gewänder aus dem 18. Jahrhundert gekleideten Musiker, spielte nicht wirklich perfekt, aber sehr engagiert und gefühlsbetont. Die Musik von Haydn, Schubert, Bach und Mozart versetzte sie sehr schnell in eine andere Welt. Als sie wieder auftauchte, wurde Marie-Claire bewusst, dass es erst einen Tag her war, dass sie hier im Gebäude der Deutschordenskirche eine mystische Zeremonie der Vlies-Ritter beobachtet und dann halb nackt jenem Mann gegenübergestanden hatte, der jetzt neben ihr saß!

Dieser Mann war ein wahrer Gentleman! Er war höflich, hielt ihr die Tür auf, half ihr aus dem Mantel, rückte ihr den Stuhl zurecht, plauderte ungezwungen und unaufdringlich. Die Musikstücke des Kammerorchesters erkannte er schon mit den ersten Tönen. Von Erzbischof Colloredo, in dessen Diensten Mozart im Jahre 1781 gestanden und daher hier in diesem Hause gewohnt hatte, wusste er ebenso viel Interessantes zu erzählen wie von Florenz, von dem er im Restaurant Firenze, nur wenige Schritte von der Deutschordenskirche entfernt, schwärmte. Sie waren nach dem Konzert durch den Nieselregen zu dem Restaurant gegangen. Sie sprachen nicht, aber ihre Körper kommunizierten miteinander. Und Marie-Claire genoss es.

 

Das Restaurant Firenze, von dem sie lediglich wusste, dass es eine der besten Adressen für italienische Küche in Wien war, füllte sich an diesem Abend schnell mit vielen Konzertbesuchern. Noch immer fühlte sie sich wie in Trance. Das elegante Interieur des Restaurants verunsicherte sie ein wenig. Sie kannte solche Restaurants aus jenen Zeiten, da sie zusammen mit ihrer Schwester Cathrine als blond gelockte Rauschgoldengel und Vorzeigezwillinge ihres Vaters immer wieder zu seinen langweiligen Dinners mit Geschäftspartnern und honorigen Mitgliedern des Wiener Establishments hatte mitkommen müssen. Brav und nett lächelnd, ausstaffiert wie Barbie-Püppchen, hatte ihr profilneurotischer Vater sie seinen langweiligen Altherrenrunden präsentiert. Er war ein renommierter Universitätsprofessor und ein nicht zuletzt durch seine Tätigkeit als ÖVP-Abgeordneter im Parlament landesweit bekannter Rechtsanwalt. Daher hatte es stets sehr viele dieser gesellschaftlich verpflichtenden Runden und Empfänge gegeben. Seither waren für Marie-Claire bestimmte Jahreszeiten der reinste Horror.

Cathrine hatte all das sehr gemocht. Schon als Kind fühlte sie sich zu dieser Glitzerwelt hingezogen. Die Opernballzeit in Wien war Cathrines liebste Zeit. Schon Monate vorher machte sie sich Gedanken darüber, was sie zu welchem Ball tragen würde. Sie beide waren zwar Zwillinge, die selbst von nahen Verwandten wegen ihrer unglaublichen Ähnlichkeit oft verwechselt wurden, aber sie waren sich nur äußerlich wirklich ähnlich. Cathrine war ganz anders. Das hatte sich schon in der Kindheit abgezeichnet. Und als Jugendliche waren ihre höchst unterschiedlichen Charaktere und Interessen schnell Anlass für viele Streitereien gewesen.

Für Momente versank sie in Erinnerungen. Bilder aus jener Zeit, da sie zusammen mit Cathrine als Zwillings-Debütantinnen zum Wiener Opernball musste, wurden wach. Ihr Vater hatte es sich nicht nehmen lassen, sie wieder einmal als Zwillingspüppchen der Presse vorzuführen. Für Cathrine war der Opernball der Traum ihres Lebens schlechthin gewesen. Marie-Claire dagegen hatte es gehasst, und so war es auch in den letzten zwanzig Jahren gewesen.

Cathrine liebte die Glamourwelt, doch Marie-Claire hatte auf ihren Reisen in Syrien, Ägypten, Tunesien und Marokko eine andere Welt schätzen und lieben gelernt. Als sie ihren höchst langweiligen Job im Außenministerium gegen eine Ausbildung als Goldschmiedin eingetauscht hatte, war ihr längst klar gewesen, dass ihr Leben in Zukunft anders verlaufen würde als das ihrer Schwester. Auch die Kunstgeschichte hatte sie in andere Welten entführt. Nein, sie fühlte sich nicht wohl bei den bürgerlich-republikanischen Nachfolgern der ehemaligen Wiener Hof- und Adelsbälle. Dort gehörte sie nicht hin. Das war nicht mehr ihre Welt, doch sie wusste noch nicht, wohin sie wirklich gehörte.

Ihr Verstand focht mit ihren Gefühlen. War es Zufall, dass er dieses Restaurant vorgeschlagen hatte? Firenze Florenz! In Florenz war vor nicht einmal einer Woche einer der Sancy-Diamanten geraubt worden! Firenze! Glanzvolle Metropole der Medici. Auch dieses Adelsgeschlecht hatte einst den Florentiner-Diamanten besessen! Und er interessierte sich für den Florentiner! Aber warum?

»Darf ich Sie Marie-Claire nennen?«, fragte Gregor von Freysing in diesem Moment. Da war es wieder, dieses gewinnende und offene Lächeln.

»Und wie darf ich sagen? Gregor? Friedrich? Albert?«, antwortete sie keck. Sie erschrak für Bruchteile von Sekunden, weil sie nicht sicher war, ob sie seine drei Namen nur aus den Akten kannte oder ob er sich mit all seinen Namen vorgestellt hatte. Schnell fügte sie hinzu: »Ich habe die vielen Namen unter dem Protokoll vom Staatsschutz gelesen. Ich habe Ihnen ja zu verdanken, dass ich aus dem vorläufigen Arrest entlassen wurde. Danke, dass Sie sich für mich verbürgt haben. Und das, obwohl Sie mich nicht kannten! Wie soll ich Sie nun nennen?«

»Gregor oder Greg.«

»Friedrich und Albert finde ich ehrlich gesagt auch sehr steif.«

»Das hat mir mein Vater eingebrockt. Das ist alter Adelsdünkel. Die ganzen Vorfahren müssen herhalten, um die edle Abstammung zu dokumentieren. Es gibt auch heute noch Menschen, die auf so etwas achten «

»Die Leute vom Goldenen Vlies?«

Kaum hatte sie die Frage gestellt, verfluchte sich Marie-Claire dafür. Es war nicht sonderlich geschickt, ihn so schnell auf dieses Thema anzusprechen. Doch er reagierte sehr gelassen.

»Ja, die auch. Ohne adligen Stammbaum geht da kaum was. Adelig und untadelig muss man sein. Traditionspflege ist eines der tragenden Fundamente dieses Ordens. Seit sechs Jahrhunderten!«

»Und was sind die anderen Fundamente?«

»Glauben, zum Beispiel! Die Werte des christlich-katholischen Glaubens.«

Marie-Claire spürte, dass es nicht gut war, über dieses Thema zu sprechen. Er wirkte plötzlich eigentümlich reserviert. Obwohl ihr die Frage auf der Zunge brannte, ob er Mitglied des Ordens der Ritter vom Goldenen Vlies sei, hielt sie sich zurück. Ihr Blick huschte zu seinen Händen. Er trug keinen Ring! Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass er nicht verheiratet war. Er mochte sicherlich schon fast fünfzig sein. Ein Mann mit dieser Bildung, mit diesem Aussehen und wahrscheinlich noch wohlhabend, wenn nicht gar reich, ein solcher Mann hatte ganz sicher längst eine Familie Frau und Kinder. Seine Händen lagen ruhig auf dem Tisch. Es waren schöne, gepflegte Hände: kräftig, aber ohne jegliche Anzeichen von irgendeiner körperlichen Arbeit. Dieser Mann hatte in seinem Leben noch nie körperlich arbeiten müssen.

»Was machst du beruflich?«, versuchte sie, vom Thema abzulenken. Er schien ihre Gedanken erahnt zu haben.

»Ich bin in leitender Position eines internationalen Elektronikkonzerns. Seit ich von meiner Frau und meinen drei Kindern getrennt lebe, kümmere ich mich sehr intensiv um die historischen Belange des Ordens. Es macht mir viel Spaß, mich mit den ruhmreichen Zeiten des Hauses Burgund und des Hauses Habsburg zu beschäftigen. Es lenkt ab. Und gelegentlich erlebt man auch sehr nette Dinge. Zum Beispiel, wenn man ins Büro kommt und dort völlig unerwartet eine attraktive Einbrecherin in sehr reizvollen Dessous steht. Das passiert nicht jeden Tag. Wenn man dann auch noch hört, dass diese Frau sich letztendlich nur eingeschlichen hat, weil sie mich wieder sehen will «

Marie-Claire de Vries erstarrte. Gregor hatte nur einige wenige Sätze gesagt, aber sie spürte es sofort. Sicher, er war sehr wortgewandt und wusste sich gewählt auszudrücken. Er war nicht so ein dumpfköpfiger Typ wie der in Ägypten, dieser neureiche deutsche Single-Anwalt in ihrem Urlaub, der sie zwei Mal alleine hatte zum Abendessen gehen sehen und danach geglaubt hatte, sie nach zwei Glas Wein an der Bar fragen zu können, ob sie einen Mann fürs Bett suche. Nein, Gregor war für solch billige Anmache viel zu feinfühlig und intelligent. Aber dennoch war sie sich sicher, dass er nichts anderes wollte als dieser ordinäre Deutsche. Diese Zwischentöne, diesen kaschierten Schmäh, all das kannte sie. Sie kannte es von den alten Männer, den Geschäftspartnern ihres Vaters, die sie mit lüsternen Blicken abgetastet und ihr in gewählten Worten letztendlich eindeutige Avancen gemacht hatten. Und sie kannte es von Patrick, von Dirk, von Fredrik und wie sie sonst noch alle geheißen hatten. Jeder von ihnen hatte seine Masche gehabt, mal einfallsreich, mal plump. Manchmal konnten sie den Anschein, sie wollten mehr eine wirkliche Partnerschaft –, über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten. Dann wieder zeigten sie erschreckend schnell ihre wahren Intentionen. Alle hatten sie letztendlich nur eins von ihr gewollt: ihren Körper! Sie aber hatte stets mehr gesucht: Zärtlichkeit, Vertrautheit und Wärme. Die Einheit von Körper und Seele!

Verwirrt räusperte sie sich. Gregor lächelte sie an. Er war sehr attraktiv, aber Marie-Claire spürte, wie sie sich von ihm distanzierte. »Entschuldige mich bitte für einen Moment«, lächelte sie ihm ein wenig gezwungen zu und stand auf. In der Damentoilette holte sie tief Luft. Irritiert starrte sie in den Spiegel. Sie sah heute hervorragend aus. Ein wenig übermüdet vielleicht. Aber in dem schwarzen Kleid hatte sie eine perfekte Figur. Es war ein nahezu perfekter Körper. Ja, sie hatte eine gute, durchtrainierte und zugleich sehr weibliche Figur. Schon als Kind hatte sie Ballettunterricht genommen. Sport hatte in ihrem Leben stets eine große Rolle gespielt. Sie liebte es, Ski zu fahren, hatte Surfen gelernt, war mit den Eltern intensiv gesegelt und ging seit Jahren regelmäßig ins Fitnessstudio. Ja, sie war sich ihres guten Aussehens bewusst!

Ihr langes, blondgelocktes Haar ließ sie noch verführerischer sein. Manchmal hatte sie sich jedoch gewünscht, einen weniger reizvollen Körper zu haben.

Marie-Claire de Vries trat näher an den Spiegel heran und blickte tief in ihre großen, blauen Augen. Ihre Augen hatten in den letzten Jahren ein wenig an Glanz verloren, aber es waren sehr schöne Augen. Und doch sah sie jetzt, hier in der Damentoilette des Ristorante Firenze in Wien, plötzlich einen Schimmer von Traurigkeit. Nicht nur in ihren Augen.

Marie-Claire starrte noch immer in den Spiegel. Sie versuchte, die traurigen Gedanken abzuschütteln. Was hatte sie nur plötzlich an Gregor so gestört? Du weißt es, sagte sie jetzt in Gedanken zu sich selbst. Du weißt es sehr genau! Es waren seine Worte gewesen! Seine bestimmende Männlichkeit! Der Unterton in seinen vermeintlich so netten Worten!

»Du bist völlig bescheuert!«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild.

»Wenn du immer glaubst, dass es sowieso wieder schief geht, dann wird es nie was werden mit den Männern!«

Kaum, dass sie das geflüstert hatte, fiel ihr ein, dass dies die Worte ihres Therapeuten gewesen waren. Ja, er hatte Recht gehabt mit seiner Einschätzung. Sie konnte eine neu entstehende Beziehung nicht locker nehmen. Sofort wurden ihre alten Ängste geweckt, und am Ende stand sie wieder allein da. Demonstrativ warf sie den Kopf in den Nacken, schüttelte ihr Haar locker, zog das Kleid zurecht und ging zurück in das Restaurant. Schon von weitem lächelte ihr Gregor wieder mit dieser unglaublich gewinnenden Art zu. Sie lächelte zurück. Trotz ihrer trüben Gedanken wurde es ein sehr langer und sehr schöner Abend mit Gregor Friedrich Albert von Freysing. Dennoch: Er verlief anders, als sie sich das am Tage zuvor vorgestellt hatte.