XVIII

 

Fünfzig Mann wurden vor dem verwüsteten Helicon abgeladen. Der Berg sah von aussen aus wie immer - ein abschreckend wirkender Schrotthaufen.

»Bei einer eventuellen Verteidigung werden wir nicht töten«, sagte Neq. »Wer bis zur Schneegrenze klettert, den nehmen wir auf. Und wenn einer sich als ungeeignet erweist, schicken wir ihn weit weg. Keiner der zu uns kommt, darf jemals wieder in die Nomadengesellschaft zurückkehren.«

Die anderen nickten. Alle wussten, wieviel Unglück in der Vergangenheit entstanden war, weil einige zurückgekehrt waren. Hätte Helicon sich auf sich selbst beschränkt und sich nicht in die Nomadenpolitik eingemischt, dann hätte sich die alte Gesellschaftsordnung wohl erhalten. Das alles war eine Lehre - eine Lehre, die Neq selbst am eigenen Leibe erfahren hatte.

Die Nomaden waren die eigentliche Zukunft der Menschheit. Die Irren waren ja bloß Aufseher, die so viel als nur möglich von der Zivilisation zu bewahren suchten, von der die Nomaden dereinst zehren würden. Helicon war das Versorgungszentrum für die Irren. Aber Helicon und die Irren konnten selbst die Zivilisation nicht schaffen, denn die wäre mit dem System der Vergangenheit identisch geworden.

Die Vergangenheit hatte den Weltenbrand verursacht, das katastrophalste Versagen in der Geschichte des Menschen.

Aus demselben Grunde musste man die Nomaden daran hindern, daß sie sich der Gewalt über Helicon bemächtigten, sei es, um es zu vernichten, sei es um seine Technologie direkt in sich aufzunehmen. Es durfte keine erzwungene Wahl zwischen Barbarei und Weltenbrand geben. Die Aufseher-Ordnung musste Jahrhunderte, ja vielleicht Jahrtausende lang aufrechterhalten werden, bis die Nomaden darüber hinauswuchsen. Dann erst würde die neue Ordnung Bestand haben, befreit von der Schuld der Vergangenheit.

Zumindest lautete Dr. Jones' Theorie so. Neq wusste nur, daß ihnen eine Aufgabe bevorstand. Wahrscheinlich begriffen die anderen das alles besser als er, den sogar die vereinzelten Kinder in der Gruppe waren sehr gedämpfter Stimmung.

»Für viele von euch wird das Innere sehr merkwürdig sein«, sagte Neq. »Denkt euch einfach, es wäre ein größeres Irren-Gebäude, das im Moment noch zerstört ist, aber dank unserer Bemühungen bald wieder neu erstehen wird. Dick der Arzt wird sich um den gesundheitlichen Zustand der Gruppe kümmern. Er wird das ganze Gelände mit dem Strahlungs-Messgerät untersuchen, der Irren-Klick-Box - und die sicheren Bereiche kennzeichnen. Nur mit seiner Erlaubnis - und mit meiner -wird jemand diese Grenzen überschreiten dürfen. Der Berg ist Teil des Ödlandes. Der Todesgeist lauert noch immer darinnen.

 Jim wird die Leitung der technischen Wiederherstellung übernehmen. Er wird Strom einleiten und die Maschinen wieder zum Funktionieren bringen. Die meisten von uns werden unter seiner Anleitung arbeiten, solange er uns braucht. Ein Jahr, schätze ich. Ohne Maschinen kann Helicon nicht leben. Die technischen Einrichtungen versorgen uns mit Luft und Wasser. Sie sorgen für eine beständige Temperatur und schaffen für uns Tag und Nacht. Einige von euch sind - waren Irre. Ihr wisst mehr über Elektrizität als Jim. Trotzdem hat er die technische Leitung, weil er eine Führernatur ist und ihr keine. Hätte es damals unter den Irren Führernaturen gegeben, wäre Helicon vielleicht nie gefallen und wäre gewiss schon längst wiederaufgebaut worden.«

Sie nickten ernst. Führer gab es unter den Nomaden, bei den

 Irren aber hatte man andere Prinzipien. Mit der Zeit würde das neue Helicon diese verschiedenen Elemente verschmelzen und seine eigenen Führer und Techniker hervorbringen, kurz, eine ganz neue Gesellschaft bilden. Aber im Augenblick war alles noch ein Provisorium.

Neq fuhr fort, Aufträge zu verteilen, während die anderen den Berg anstaunten. Küchendienst, Kundschafterdienst, Versorgung, Nachschub, Säuberung - das alles hatte er gemeinsam mit lese- und schreibkundigen Irren-Ratgebern während der Fahrt hierher festgelegt. Jeder sollte schon beim Eintreffen im Berg wissen, welchen Platz im Ganzen er einnehmen sollte. Das Verteidigungssystem übertrug er Vara. Sie würde die Schlingpflanzen weiterzüchten, Räume für die Pflanzen freimachen, ein wirkungsvolles Licht- und Düsensystem einrichten, so daß ein ungebetener Eindringling den narkotischen Dünsten nicht entgehen konnte. Ein Überfall würde dem Berg nichts anhaben können! Sola war Quartiermeistern. Sie musste jedem Mann einen Privatraum zuweisen und für Freizeiteinrichtungen sorgen.

»Und was ist mit Räumen für die Frauen?« fragte jemand.

»Wir haben keine eigenen Räume«, erklärte Sola. »Wir teilen uns die Räume mit den Männern - jede Nacht einen anderen, genau der Reihe nach. Das muss so sein, da wir bloß acht Frauen im heiratsfähigen Alter haben, aber vierzig Männer. Es gibt hier keine ehelichen Bindungen. Armreife sind pure Sentimentalität. Das habt ihr alle gewusst, ehe ihr euch gemeldet habt.«

Und dann erzählte Vara die Geschichte von Helicon, denn dem großteil der Gruppe war diese nur bruchstückhaft bekannt. Sie berichtete, wie die Alten, die praktisch Irre mit Nomadengefühlen gewesen waren, die Welt mit Menschen angefüllt hatten, die sie dann nicht ernähren konnten, wie sie Maschinen gebaut hatten, über deren Funktionen sie die Kontrolle verloren, und wie sie sich schließlich selbst in ihrer Verzweiflung in die Luft gesprengt hatten. Das war der Brand gewesen - der große Weltenbrand, der das Land in seiner jetzigen Form geprägt hatte.

Nicht alle waren auf einen Schlag umgekommen. Der entstehenden Strahlung waren viel mehr zum Opfer gefallen, als dem eigentlichen Brand - eigentlich einer ganzen Reihe großer Brände -, und das hatte seine Zeit gebraucht. Es hatte verzweifelte Versuche gegeben, die Zivilisation zu retten, von denen den meisten kein Erfolg beschieden war. Eine Gruppe in Amerika aber stellte eine ganze Armee an Baumaschinen zusammen und häufte mit Hilfe von Bulldozern aus dem Schutt einer der früheren Städte einen Berg auf. Es war der größte jemals von Menschenhand geschaffene Bau und höchstwahrscheinlich auch der hässlichste - in seinen Tiefen, geschützt vor radioaktivem Niederschlag, entstand der Komplex Helicon. Eine Enklave bewahrter Zivilisation und Technik. Nur ein winziger Teil dieses Labyrinths diente Wohnzwecken. Der weitaus größere Teil wurde von Werkstätten und hydroponischen Anlagen eingenommen. Und ein Teil beherbergte die Reaktoranlage, die praktisch unbegrenzt Energie lieferte.

»Dr. Jones hat uns versichert, daß die Anlage noch funktionstüchtig ist«, sagte Vara. »Sie läuft vollautomatisch und wurde für jahrhundertelangen Betrieb geschaffen. Das erste Jahrhundert hat sie nun hinter sich. Wir brauchen eigentlich nur die Leitungen auf unserer Seite wieder anzuschließen.«

 Den Namen Helicon hatte man aus der Mythenwelt der Alten genommen. Es war der Berg, der den Musen Heimat war, den neun Töchtern des Gottes Zeus und der Mnemosyne. Die Musen waren Gottheiten der Kunst und Wissenschaft. Dichtkunst, Geschichte, Gesang - der Geist Helicons in seiner ursprünglichen Form. Es war ein Ort, an dem die Tugenden der Zivilisation immer eine Heimstatt haben sollten.

Doch Helicon hatte in einer Hinsicht an einem unstillbaren Mangel gelitten, nämlich an Menschenmaterial. Seine ersten Bewohner hatten die Elite der verwüsteten Welt gebildet: Wissenschaftler, hochspezialisierte Techniker, Ärzte und Künstler. Meist waren es Männer, alte Männer. Die wenigen Frauen, grösstenteils Kinder dieser Elite-Männer, konnten innerhalb einer Generation die Enklave nicht bevölkern, ohne daß gefährliche Inzucht drohte - außerdem wurden sie diesbezüglich von großen Skrupeln geplagt.

 Es wurde daher nötig, eine begrenzte Einwanderung von außen her zu erlauben. Der Gedanke war den Gründern widerwärtig, denn er bedeutete, daß man eben die Barbaren

 einließ, vor denen Helicon auf der Hut war. Aber man hatte keine andere Wahl. Ohne ausreichenden Nachwuchs, den man in der Tradition der Zivilisation erzog und dem man technische Fertigkeiten beibringen konnte, war Helicon zum langsamen Aussterben verurteilt.

 Dabei hatten sie Glück, denn in der Aussenwelt hatten sich einige Elemente der Zivilisation erhalten. Jene Menschen, die später »Irre« genannt werden sollten, weil ihre von Idealismus geprägte Lebensweise der Mehrheit sinnlos erschien, erfassten sehr rasch die Vorteile einer Zusammenarbeit. Sie versorgten Helicon mit frischem Blut und wiesen darauf hin, daß man viele Barbaren für Helicon rekrutieren könne, wenn man ihnen zu verstehen gäbe, daß eine Rückkehr absolut unmöglich sei. Und so wurde aus Helicon der Berg des Todes - ein ehrenhafter Tod für die Tapferen. Ein regelmäßiger und geheimgehaltener Handel wurde eingerichtet, als Helicon einen Teil seiner gewaltigen technischen Hilfsmittel für die Herstellung von Werkzeug und Maschinen verwandte, während die Irren Holz und Oberflächen-Gewächse lieferten, die den aus hydroponischen Anlagen stammenden Nahrungsmitteln bei weitem vorzuziehen waren.

Die Irren erwiesen sich als weitblickender als die Gründer von Helicon, denn die Irren waren in ständigem Kontakt mit der wirklichen Welt. Daher auch ihre pragmatische Haltung den Nomaden gegenüber, trotz deren geringer Meinung von den Irren. Sie bestellten Waffen aus den Werkstätten Helicons -keine modernen Waffen, sondern einfache Nomadenwaffen. Schwerter und Dolche, Keulen und Stangen. Diese überließen sie den Nomaden als Gegenleistung für ihren Gehorsam in einem gewissen Punkt: die Waffen durften nur im förmlichen Kampf verwendet werden. Wer nicht kämpfte, galt als unantastbar. Niemand durfte seiner persönlichen Freiheit beraubt werden.

Die Einhaltung wurde auf indirekte aber wirksame Weise erzwungen: Gebiete, die sich nicht an diese Regeln hielten, wurden von den Irren nicht mehr beliefert. Da die Metallwaffen den primitiven, selbstgefertigten haushoch überlegen waren, breitete sich das »Irren-Gebiet« sehr rasch und so weit aus, wie der Nachschub transportiert werden konnte. Ihre Dienste schlössen bald auch medizinische Versorgung und die Unterbringung in Herbergen ein, die in Helicon vorfabriziert wurden. Die Irren hatten als Gegenleistung für die vielfältige Hilfe Helicons nichts Direktes zu bieten - doch der zivilisatorische Stand wurde so angehoben, daß es immer mehr Rekruten gab -sowohl für die Irren als auch für Helicon. So profitierten alle drei Beteiligten an der ganzen Entwicklung.

Aber Helicon behielt die Schlüsselstellung. Nur dort konnten qualitativ hochwertige Dinge produziert werden.

Und dann war Helicon zerstört worden. Und das Einflussgebiet der Irren brach zusammen.

»Unser System war das beste der Welt«, schloss Vara. »Es gibt andere Helicons in anderen Teilen der Welt, die aber waren nicht so gut, wie unseres und auch lange nicht so wirkungsvoll. Var und ich mussten das während unserer Wanderjahre entdecken. Im Norden hat man Schusswaffen und elektrischen Strom, doch die Menschen sind alles andere als zugänglich. In Asien hat man Kraftfahrzeuge und Schiffe und Häuser, aber – nun, für uns ist unser System wohl nach wie vor das beste. Und deswegen machen wir uns daran, Helicon aufzubauen ...«

 

*

 

Neq führte sie durch den von der Herberge aus betretbaren Gang ins Innere. »Das bleibt unser Geheimnis«, sagte er. »Die neu Bekehrten müssen es außen über den Berg versuchen. Aber die Irren können aussen keine Laster hochschicken. Sie bringen ihre Sachen hierher. Diese Herberge wird normalerweise von den Nomaden selten aufgesucht, weil sie eine Endstation und keine Wanderstation darstellt.«

Der Tunnel hatte eine Krümmung und verlief in der Finsternis. »Der Lift ist an den Herbergsstrom angeschlossen«, erklärte Neq, dem Neqas Erklärungen einfielen. »Wir werden die Energieversorgung Helicons wieder hinkriegen . . . aber im Augenblick tun es auch Laternen.«

Kaum waren alle im Vorratsraum versammelt, öffnete er die Wandverkleidung und zeigte ihnen die unterirdischen Schienenstränge. Da stand auch ein Wagen. Er hatte ihn heraufgeschafft, als er die langwierige und schmutzige Säuberungsaktion beendet hatte. In dem Wagen fanden nur wenige Platz »nun, für uns ist unser System wohl nach wie vor das beste. Und deswegen machen wir uns daran, Helicon aufzubauen . . .« zudem musste er von Hand geschoben werden, doch würde der Transport auf diese Weise doch kürzer ausfallen, als wenn alle zu Fuß liefen. Und die Neulinge verhielten sich in diesen Tiefen besonders nervös.

Als alle auf der Plattform am anderen Ende versammelt waren, führte er sie die Rampe entlang nach oben und zeigte ihnen die ganze Anlage. Die Nomaden waren beklommen, die Irren beeindruckt, und die Überlebenden von Helicon sprachlos und überwältigt. Alles war leer und aufgeräumt - zweifellos ein großer Kontrast zu ihren letzten Erinnerungen.

Im Speisesaal legte er eine Pause ein. Er spürte, wie ihn ein Frösteln überlief. Er wusste noch, wie er den Raum zurückgelassen hatte, nachdem er die Leichen hinausgeschleppt und die verkohlten Einrichtungsgegenstände weggeräumt hatte. Was noch brauchbar war, hatte er in einer Ecke gestapelt. In der Küche hatte er mehrere Packungen haltbarer Lebensmittel zurückgelassen.

Einer der Tische war verschoben worden. Von den getrockneten Bohnen hatte jemand gegessen. Jemand war hier eingedrungen.

Neq verbarg seine Enttäuschung, und setzte die Besichtigung fort. »Ich kenne den Zweck der meisten Räume nicht und schon gar nicht den Zweck der Einrichtungen«, sagte er. »In diesem Punkt rechnen wir mit der Erfahrung jener, die früher hier lebten.«

Innerlich aber war er zutiefst enttäuscht. Er und die Irren hatten nach jedem nur möglichen Überlebenden Helicons geforscht. Die ausgetauschten Erfahrungen und seine Zählung der Toten hatten ergeben, daß ihnen nur wenige entgangen sein konnten. War der Eindringling von aussen gekommen? Die meisten Nomaden hatten Angst vor diesem Gebiet und würden den Berg nie betreten, selbst wenn sie einen Eingang gefunden hätten.

Natürlich hatten Tyl und seine Truppen sich hier während der Eroberung Eintritt verschafft. Diese Männer konnten hier also nach Belieben jederzeit wieder eindringen. Aber Neq hatte die Eingänge so gut als möglich verschlossen und hatte keine Anzeichen einer gewaltsamen Öffnung entdecken können. Alles war unversehrt.

Jemand war hier frech eingedrungen, hatte sich umgesehen, hatte einen Imbiss eingenommen und war wieder verschwunden. Dieser Jemand konnte wiederkommen.