XIII

 

Tyl kehrte in der Dämmerung wieder - in Begleitung. »Neq! Neq! Sieh mal, was ich im Dorf gefunden habe!«

Neq sah vom Grabmal auf, das er eben aus Steinen aufstapelte. Als die zwei näher gekommen waren, sah er, daß der Fremde eine Frau war. »Ich bin so froh, daß ich euch gefunden habe!« rief sie aus.

Neq starrte sie verdutzt an. Das war ja eine Irren-Frau! Trotz der Kälte trug sie die für Irre typische Bekleidung, nämlich Bluse und Rock, und das lange Haar war nach Art der Irren gekämmt. Und hübsch war sie obendrein.

 »Miss Smith«, murmelte er und wurde schmerzhaft an seine Liebe erinnert, obwohl in Wirklichkeit die Ähnlichkeit zwischen den zwei Frauen sehr gering war. Aber diese hier war ebenso adrett und sauber wie Miss Smith. Und sie war von zarter Schönheit und passte nicht in die Wildnis. Ja, das hatte sie mit Miss Smith gemeinsam: Intelligenz, Bildung, Unschuld. Ihm war, als dringe ihm ein Schwert durchs Herz.

 »Dies ist eine von den beiden, die wir verfolgten«, erklärte Neq. »Sie war wie ich im Dorf auf Kundschaft, und als wir einander begegneten -«

»War sie mit einem Nomaden unterwegs?« fragte Neq, noch immer nachdenklich wegen der Parallele zu seinem eigenen, sechs Jahre zurückliegenden Erlebnis. »Eine Irre?«

»Ich bin Vara«, erklärte sie. »Ich bin mit meinem Mann unterwegs. Er sollte eigentlich hier irgendwo sein -«

 Neq war noch immer im Nebel seiner Gedanken befangen. »Var? Der Stock?«

»Ja. Bist du ihm begegnet? Tyls Erklärung entnehme ich, daß wir eine gemeinsame Mission haben -«

Da wurde Neq von der grässlichen und totalen Erkenntnis überfallen. Er stieß mit dem Fuss gegen den frischen Grabhügel.

»Ich - ich bin ihm begegnet.«

Tyl erfasste mit einem einzigen Blick die Situation. Die Hand zuckte zum Schwert und sank wieder herab. Er wandte sich um.

Vara ging an den Grabhügel und entfernte vorsichtig einen Teil der Steinumrandung. Mit bloßen Händen scharrte sie die frische Erde weg. Neq sah ihr zu. Schließlich hatte sie einen Fuss freigelegt, einen Fuss mit plumpen hufähnlichen Zehen. Sie berührte ihn, spürte seine Kälte.

Inzwischen war es dunkel geworden, und die Nacht hüllte sie ein, während sie noch immer den verformten toten Fuss ansah. Dann bedeckte sie ihn ganz sacht, füllte die Senke mit Erde aus und legte die Steine wieder zurecht.

»Meine beiden Väter sind tot«, sagte sie tieftraurig. »Und jetzt ist auch mein Mann tot. Sagt mir, was soll ich tun?«

»Wir sind einander begegnet und kämpften.«

»Ich habe Sol gedient«, sagte Tyl von irgendwo aus der Nacht. Er sprach mit abgewandtem Gesicht. Aus seiner Stimme klang ein Schmerz, wie Neq ihn noch nie zuvor bei ihm gehört hatte. »Ich diente dem Waffenlosen. Var der Stock war mein Freund. Ich hätte dich und ihn aus dem Ring gewiesen, hätte ich bloß sicher gewusst, was ich nur ahnte. Erst als ich Vara sah, hatte ich Gewissheit. Du bist Var zu früh begegnet.«

 »Ich wusste nicht, daß er dein Freund war«, brachte Neq mühsam hervor. »Ich kannte ihn nur als heimtückischen Mörder, der ein Kind Helicons tötete.«

»Du hast ihm unrecht getan«, fuhr Tyl in demselben ruhigen Ton fort, in dem auch Vara gesprochen hatte. »Er war kühn und sanft zugleich. Und er verfügte über ein unschätzbares Talent.«

»Var tötete nur, wenn es unbedingt nötig war«, sagte Vara. »Und nicht einmal dann tötete er immer.«

Neq fühlte sich unbeschreiblich elend, obwohl es ein ehrlicher Kampf gewesen war. Er hatte zu voreilig gehandelt, wie schon so oft zuvor. Sein Schwert war schneller als sein Verstand. Er hätte ja den Kampf einstellen und auf Tyls Rückkehr warten können. Jetzt musste er sein Vorgehen rechtfertigen.

»War es denn unbedingt notwendig Sols Kind zu töten?« fragte er.

Vara wandte sich ihm in der Dunkelheit zu. »Ich bin Sols Kind.«

Neq spürte, wie sein Inneres sich aufbäumte. Er ahnte, was nun kommen würde. »Er tötete Soli am Mount Muse, als sie acht Jahre alt war. Alle Berichte stimmen dahingehend überein«, sagte er.

 »Alle bis auf einen«, entgegnete sie. »Bis auf den einzig richtigen. Er behauptete bloß, er hätte mich getötet, damit die Nomaden gewinnen konnten und meine zwei Väter wieder zusammenfänden. Nachher konnte ich nicht mehr zu Sol zurück, um ihm die Wahrheit zu sagen, und der Waffenlose verfolgte Var mit seiner Rache.«

Rache! Verabscheuungswürdig.

 »Wir mussten fliehen. Wir kamen bis China und ich nahm seinen Reif, als ich alt genug war. Soli existiert nicht mehr.«

 Jetzt erst erkannte Neq ihr Gesicht, obwohl er es in der Finsternis gar nicht sehen konnte. Die klassische Schönheit Solas! Ihre Kleidung und seine ihm langsam dämmernde Schuld hatten ihn blind gemacht.

»Der Junge, der mit Var nach Norden ging -« murmelte Neq. »Ein Mädchen, das seine Haare versteckte.«

»Ja. Damit niemand erfuhr, daß ich noch lebte. Jetzt kann ich das nicht mehr.«

 Nein, gewiss nicht! Aus der Achtjährigen war eine Frau von fünfzehn Jahren geworden! Und auch Sol verfolgte mich, ohne zu wissen ... er muss unterwegs dem Waffenlosen begegnet sein!

 »In China erfuhren sie alles. Und sie opferten ihr Leben für uns, indem sie radioaktive Steine in die Festung des Gegners schleppten und uns die Flucht ermöglichten. Var wurde nie das Gefühl los, er wäre an ihrem Tod schuld, aber in Wahrheit war es meine Schuld. Ich wusste genau, daß sie es tun würden.«

Var hatte sich mit Vorwürfen gequält . . . und hatte Neqs

 Anschuldigungen nichts entgegengesetzt. Und nun lastete Vars vermeintliche Schuld auf Neq.

»Es war ein Irrtum«, erklärte Tyl nach längerer Pause. »Var hatte überall herumerzählt, er hätte den Krieger des Berges getötet. Helicon selbst wurde in Brand gesetzt - von wem, das spielt nun keine Rolle mehr. Neq konnte es nicht wissen. Ich allein wusste, daß Var kein Kind getötet haben konnte. Und ich weiß, welche Bedingungen Sola stellt. Sie war gut zu Var, doch ihr Preis war das Leben ihrer Tochter.«

»Var hat so etwas Ähnliches durchblicken lassen«, gestand Vara. »Er hatte schwören müssen, jenen zu töten, der mir ein Leid zufügte. Und lange Zeit war er überaus zurückhaltend, obwohl er mich liebte . . .«

Neq fiel Solas Bemerkung über Vars Sterilität ein. Welch sonderbare, von ihren Gefühlen gehetzte Frau!

»Und doch wusste ich, daß eine kleine Möglichkeit bestand«, fuhr Tyl fort. »Der Mount Muse ist hoch und steil. Immer wieder können Steine herunterrollen. Hätte man Var während des Aufstiegs mit Steinen attackiert, dann hätte er kämpfen müssen, ohne zu wissen, mit wem er es zu tun hatte, und im Kampf war er erbarmungslos. Da wäre es immerhin möglich gewesen, daß er dich tötete. Ich konnte Neq nicht am Kampf hindern, solange ich darüber nicht absolute Gewissheit hatte. Es war mein Fehler. Auch ich trage Schuld am Tod deines Mannes -«

»Nein!« riefen Neq und Vara einstimmig.

Und dann war wieder Stille, als jeder einzelne seinen verwirrenden Motiven nachhing. Was dann gesprochen wurde, war seltsam unwirklich, und das nicht bloß wegen der Dunkelheit. Neqs Gefühle befanden sich in Schwebe. »Warum verfluchst du mich nicht? Warum weinst du nicht bitterlich? Ich tötete -«

 »Du hast getötet, weil du die Zusammenhänge nicht durchschauen konntest«, sagte Vara. »Daran trage ich zum Teil selbst Schuld, denn ich war bereit, mich tot zu stellen. Heute erkläre ich dir alles. Morgen aber werde ich dich töten. Und dann werde ich euch beide beweinen.«

Damit war es ihr ernst. Sie war wie Miss Smith, die als Neqa gestorben war. Und wie diese war sie ihrem Mann in Treue ergeben. Neqa hatte versucht, Yod zu töten, als dieser Negs

Hände abhacken wollte. Warum sollte Vara weniger Treue beweisen?

Yod hatte Neqa eigentlich zufällig getötet. Und jetzt hatte Neq Var getötet - zufällig. Die Schuld war die gleiche. So würde auch die Vergeltung die gleiche sein.

Und sie würde ihre Rache nicht erfüllt sehen, ebensowenig wie er sie erfüllt gesehen hatte. Neq führte den Schwertarm an die Kehle. Es war Zeit für ihn zu sterben.

»Ich fordere meinen Preis«, sagte Tyl, und erschreckte damit Neq, der seine Muskeln zum tödlichen Streich spannte.

Ausgerechnet jetzt! Aber Neq musste seine Ehrenschuld begleichen.

»Nenne deinen Preis!«

»Gib zurück, was du heute genommen hast!«

Neq konnte zunächst nicht antworten, weil er die Bedeutung dieser Worte nicht verstand. Schließlich konnte er Var nicht wieder lebendig machen!

»Was ihr zu tun habt, das tut vor Tagesanbruch«, sagte Vara ruhig. »Wenn der Tag dann anbricht, werde ich dich im Ring töten.«

»Im Ring!« Neq wusste nicht aus noch ein. Frauen kämpften nicht im Ring.

»Welche Waffe führst du?« fragte er.

»Den Stock.«

Tyls Interesse war sofort hellwach. »Hat dich Sol im Kampf unterwiesen?«

»Ja, das hat er. Wir übten täglich, drinnen im Berg. Er hoffte, er könne mich eines Tages aus Helicon wegschaffen, aber Sosa wollte es nicht zulassen. Und ich habe seither regelmässig geübt.«

Tyl konnte seine Besorgnis nicht verhehlen. »Übung allein macht aus einer Frau noch lange keinen Mann. Meine eigene Tochter ist älter als du, sie hat jetzt selbst ein Kind, aber nie hätte sie sich auf männliches Gebiet gewagt. Der Ring ist nichts für dich.«

»Doch.« Sie war Sols Kind, ganz und gar.

Tyl setzte nun seine Überredungskunst ein. »Dieser Mann, Neq das Schwert, stand in der Rangliste des Imperiums hinter mir. Jetzt fehlen ihm zwar seine Hände, seine Waffe aber hat er

 behalten. Seine Technik ist nicht mehr so brillant, aber tödlicher als früher, weil man ihn nicht mehr entwaffnen kann.«

»Sein Schwert ist schneller als sein Verstand. Ich meine, heute hat er mit dem Schwert nicht seinesgleichen.«

»Und dennoch!«

»Ich kann diese Begegnung nicht zulassen«, sagte Tyl.

Varas Stimme war eiskalt, als sie sagte: »Deine Erlaubnis brauche ich nicht.«

»Var war mein Freund. Er lehrte mich den Gebrauch der Feuerwaffe. Sein Tod tut mir weh wie dir. Und dennoch sage ich dir: Erhebe nicht den Stock gegen Neq! Wir dürfen nicht wieder in diesen schrecklichen Irrtum verfallen.«

»Var war für mich mehr als ein Freund«, sagte sie höhnisch.

»Trotzdem.«

»Du hast kein Recht dazu.«

Tyl gab keine Antwort, und damit war diese merkwürdige, gespannte Debatte beendet.

Neq wusste im Nachhinein nicht mehr, ob er in jener Nacht hatte schlafen können oder ob die anderen Schlaf gefunden hatten. Langsam dämmerte schließlich der Morgen herauf.

Vara hatte sich sehr verändert. Sie glich nicht mehr einer unnützen Irren-Frau. Diese Verkleidung hatte sie vermutlich nur den Dörflern zuliebe getragen, die in ihrer Kleidung den Irren ähnelten. Nun aber trug sie ein Nomadengewand, und das Haar fiel ihr lose auf die Schultern und ringelte sich über den sanften Hügeln ihrer Brüste. Aber auch so wirkte sie atemberaubend.

Und sie trug Stöcke - dieselben Zwillingsstöcke, die Var getragen hatte.

Neq überlief ein Frösteln. Er hatte Var nach alter Nomadensitte seine Waffe mit ins Grab gegeben. Mit seinem Schwert hatte er die Erde aufgegraben und seine Greifer hatten die Steine aufgehäuft. Das Werk vieler Stunden. Und doch waren dies hier Vars Stöcke, die noch die Schrunden des Schwertes trugen. Neq erkannte die Narben einer Waffe, so wie er ein Gesicht erkennen konnte.

»Wie du mit meinem Mann kämpftest, werde ich mit dir kämpfen«, rief ihm Vara entgegen. »Ich werde dich töten, wie du ihn getötet hast. Ich werde dich begraben, wie du ihn

begraben hast. In allen Ehren. Und dann wird meine Trauer beginnen.«

»Neq wird keine Frau bekämpfen«, sagte Tyl. »Ich kenne ihn so gut, wie ich Var kannte.«

 Vara hob die Stöcke und nahm neben dem Grabhügel Aufstellung. »Er mag kämpfen oder fliehen, wie er will. Hier ist der Ring - neben dem Grab meines Mannes. Die ganze Welt ist der Ring. Ich will meine Rache.«

Diese Worte trafen Neq wie Schläge. Ihre Gefühle waren den seinen nach Neqas Tod so ähnlich! Er hatte damals Yod und dessen Stamm nicht verzeihen können. Er hatte ihnen bis jetzt nicht vergeben. Sein Verlangen nach Rache hatte zwar eine Veränderung durchgemacht, es war nun gegen die Gesellschaft der Gesetzlosen als Ganzem gerichtet, aber Rache war es immerhin geblieben. Wie konnte er ihr klarmachen, daß die Formel Leben um Leben nicht genügte?

 »Var war mein Freund«, wiederholte Tyl. »Vor meinem gesamten Stamm hat er mich beschämt, damals schon, als er noch ein kleiner Junge war, ein kleiner Wilder aus dem Ödland. Und als aus ihm ein Mann geworden war, da wollte ich ihm im Ring gegenübertreten. Aber Sola setzte sich für ihn ein, und als ich ihn näher kennenlernte -«

Vara fasste nach ihren Stöcken und bewegte sich auf Neq zu. Er sah in ihren Augen Wildheit und Kummer, jenen Kummer, den er selbst mitgemacht hatte, der bewirkt hatte, daß er sämtliche Ehrbegriffe vergass und heimtückisch mordete, sinnlos mordete. Ja, er hatte diese Untaten begangen. Er hatte sinnlos getötet. Und jetzt wollte er das Schwert nicht mehr heben, um weiteres Unrecht zu begehen.

Tyl trat zwischen die beiden. »Var wurde mein Freund«, sagte er. »In jedem anderen Fall würde ich seinen Tod selbst rächen. Diesen Kampf aber verbiete ich.«

Vara sagte kein Wort dazu ... Sie holte mit einem Stock gegen Tyl aus, blitzschnell, und wandte dabei nicht den Blick von Neq. Es war kein schwacher weiblicher Hieb. Sie war hübsch und verstand ihre Waffe zu führen.

Tyl fing den Streich mit dem Unterarm auf. »Du hast mich getroffen«, murmelte er leise. Der Hieb hatte eine sichtbare Spur hinterlassen. Hätte ein Mann den Schlag geführt oder

 wäre Tyl darauf nicht vorbereitet gewesen, hätte er ihm den Arm brechen können. »Lass mir Zeit, meine Waffe zu holen, denn von nun an ist es mein Kampf.«

Vara wartete ungerührt. Es war ganz klar, daß sie einen Kampf mit Tyl nicht beabsichtigt hatte und auch jetzt nicht mit ihm kämpfen wollte. Doch hatte sie ihn getroffen, während er unbewaffnet war - mit voller Absicht unbewaffnet, denn Tyl wusste immer genau, wann er seine Waffe tragen musste und wann nicht. Sie war nach dem Ring-Codex schuldig geworden.

 Tyl holte seine Stöcke. Neq sah es mit Erleichterung. Wäre Tyl ihr mit dem Schwert entgegengetreten, so hätte Neq sich sein Leben lang an ihrem Tod schuldig fühlen müssen. An den Stöcken merkte er, daß Tyl nur dazwischentreten wollte.

Und was kümmerte es ihn überhaupt? Erst hatte er Neqs Selbstmordversuch verhindert. Und jetzt hinderte er Vara am Zweikampf mit Neq. Er schützte Neqs Leben - obwohl er seinen Tod hätte herbeiwünschen müssen.

Vara schlüpfte nun aus ihrem Gewand und stand trotz der Kälte nur mit derben Wandermokassins bekleidet da, so schön von Gestalt, wie Neq es noch nie bei einer Frau gesehen hatte. Volle Brüste, schmale Taille und dazu Muskeln, die ihrer Weiblichkeit keinen Abbruch taten. Schwarzes Haar flutete lose über den Rücken bis an die Hüften.

Volle Brüste . . . Neq war fasziniert von ihren Brüsten. Rund und fest, so standen sie, wahre Meisterwerke an Symmetrie. Lange, lange war es her, seitdem er eine Brust wie diese besungen hatte . . .

Er empfand es nur als passend, daß eine solche Brust ihm nun Rache geschworen hatte.

Aber immer noch stand Tyl zwischen ihnen. Falls Vara ihn mit ihren körperlichen Vorzügen blenden und seine Aufmerksamkeit schwächen wollte, hatte sie wohl vergessen, daß er eine Tochter hatte, die älter war als sie.

Sie ließ sich mit ihm in ein Gefecht ein, leicht ungeduldig ob des Hindernisses, das Tyl für sie darstellte. Sie wollte ja eigentlich nur an Neq heran, der sich nicht rührte.

 Hin und her schwangen die Stöcke, Holz traf auf Metall, immer wieder. Tyl hatte den Vorteil der überlegenen Waffen

 Helicons und dazu seine Erfahrung, die länger währte, als Varas ganzes Leben. Mühelos parierte er ihre Schläge.

 Neq war nicht imstande, seine Teilnahmslosigkeit diesem Kampf und seinem Ausgang gegenüber zu überwinden. Der doppelte Schock, nämlich dieser letzte, völlig ungerechtfertigte Mord an Var und das Auftauchen von Vara samt der Enthüllung ihrer Identität hatten ihn seiner Kräfte beraubt. Er sollte dahinterkommen, was damals mit Helicon schiefgegangen war? Er war ja nicht einmal imstande dahinterzukommen, was bei ihm schiefgegangen war.

Und indessen fochten Mann und Frau. Vara duckte sich und vollführte blitzschnelle Drehungen. Dabei spielte ihr langes Haar um Brüste und Hüften wie ein leichter Mantel. Aus dieser wogenden Haarflut aber schossen ihre Schläge gegen Tyls Hände, einmal rechts, dann wieder links. Ein kühner Schachzug! Vara war womöglich im Stockkampf sogar ihrem Mann überlegen.

Aber Tyl wich geschickt aus und ging seinerseits zu einem so heftigen Gegenangriff über, daß sie wenig anmutig rücklings ins Taumeln geriet.

»Sehr hübsch, Mädchen! Dein Vater Sol hat mich einst mit einem ähnlichen Angriffshieb entwaffnet und mich ins Imperium gezwungen. Das war ehe du geboren wurdest. Er war dir ein guter Lehrer!«

 Im Ring aber war es mit einem guten Lehrer allein nicht getan. Tyl war seither im Stockkampf nicht besiegt worden.

 Hätte Neq jetzt gekämpft, hätten ihn die hüpfenden Brüste unter den schwarzen Haaren einigermaßen verwirrt, und er wäre wohl nicht imstande gewesen, einen Streich gegen Varas reizvollen Leib zu führen. Ja, er war verwirrt, auch wenn er nicht gegen sie kämpfte. Ihre Weiblichkeit war im Kampf ebenso wirksam wie ihre Stöcke.

 Ganz plötzlich drehte sie sich um und trat nach hinten aus. Ihre Ferse zielte genau nach Tyls Knie. Wieder wich er rechtzeitig aus.

»Der Waffenlose - dein zweiter Vater - hat mich mit diesem Tritt zum Krüppel gemacht, als er selbst nach dem Imperium strebte. Nachdem meine Knie aber heilten, wurden sie empfindungslos und wurden seither nicht mehr verletzt.«

 Falls Vara nicht gewusst hatte, daß sie es mit dem Spitzenkämpfer des alten Imperiums zu tun hatte, so wusste sie es jetzt. Tyl war zwar nicht mehr jung, doch hätte allein Neqs Schwert vermocht, ihn aus dem Ring zu treiben. Und Vara war erst fünfzehn und obendrein ein Mädchen. Zwei unüberwindliche Hindernisse.

 Klar, daß Tyl ihre Angriffe nur abblockte. Er hatte kein Interesse, diesem schönen Mädchen eine Verletzung zuzufügen. Er wollte ihr bloß beibringen, daß sie ihren Willen nicht durchsetzen konnte.

Vara aber ließ sich nicht so leicht überzeugen. Sie drehte und wand sich, sie fintierte, sie ließ einen wahren Hagel von Hieben auf den Mann niedergehen. Sie kannte eine staunenswerte Vielzahl an Tricks - aber es war kein Trick darunter, der Tyls Reichweite, seiner Kraft und Erfahrung gewachsen gewesen wäre.

 Schließlich aber musste sie keuchend etwas zurückweichen und stieß mühsam hervor: »Krieger, was willst du erreichen?«

 »Neq besiegte Var im ehrlichen Kampf. So wie ich dich jetzt entwaffnen könnte, so konnte Neq Var besiegen. Ich selbst möchte Neq mit dem Stock nicht gegenübertreten. Entsage deiner Rache.«

»Nein!« rief sie und ließ einen Schlagwirbel gegen ihn los.

 »Nein!« schrie Neq wie sie. »Es war kein fairer Kampf. Var zögerte mit dem Angriff, gab sich eine Blöße, während er sagte, wir hätten keinen Streitgrund. Und da erschlug ich ihn.«

 Tyl wich zurück, enttäuscht von diesen Worten. »Neq, das sieht dir gar nicht ähnlich!«

 »Es sieht mir sehr ähnlich! Ich habe schon zuvor Unschuldige erschlagen. Bei Var begriff ich nicht rechtzeitig. Ich hielt es für einen Irrtum oder eine List. Mein Schwert war zur Stelle -«

»Mädchen, gib nach«, sagte Tyl, als wäre sie seine Tochter, die nur ein Spiel trieb.

»Neq, du stellst mich in ein seltsames Licht!« wandte er sich dann an Neq.

»Soll sie ihre Rache haben. Es ist nur fair«, sagte Neq darauf.

»Das kann ich nicht zulassen.«

»Du gibst also zu, daß du einen Wehrlosen erschlagen hast!« flammte Varas Hass von neuem auf.

»Ja. So wie ich andere erschlug.«

»Im Namen der Rache!« rief Tyl, als wäre damit etwas bewiesen.

»Im Namen der Rache!« Neq konnte das nicht mehr hören, so satt hatte er es.

»Im Namen der Rache«, wiederholte Vara. Tränen liefen ihr über die Wangen.

»Aber hättest ihn fair besiegen können«, sagte Tyl. »Und du glaubtest, du hättest damit sie, nämlich Vara, gerächt.«

 »Es war ein Missverständnis. Und ich ließ ihm keine Zeit, mir alles zu erklären. Ich habe ihn grundlos getötet, und ich habe das Töten satt, habe das Schwert satt, das ganze Leben.« Neq stand Vara gegenüber und sah sie an. »Komm, Witwe. Schlag zu. Ich werde gegen dich die Waffe nicht erheben.«

»Erhebst du nun gegen ihn die Waffe«, mahnte Tyl sie, »dann machst du dich desselben Verbrechens schuldig, das du rächen willst. Wissentlich!«

»Dennoch!« rief sie.

»Erst versuche ihn zu verstehen - nur dann hast du eine Rechtfertigung. Du musst wissen, was er ist und was für Absichten er hat.«

»Was kann er schon sein, was kann er vorhaben! Nichts kann mir wiedergeben, was er mir geraubt hat!« rief sie.

»Dennoch!«

Da brach sie vollends in Tränen aus. Sie fluchte auf Chinesisch und warf ihre Stöcke zu Boden. Doch sie gab sich geschlagen. Wie Neq.