X

 

Als Neqs Interesse an sich selbst wieder erwachte, waren drei Jahre vergangen. Er war nun ein narbenbedeckter Veteran von achtundzwanzig, im Kampf noch immer ein tödlicher Gegner, und das in einem Alter, da Verwundung oder Tod schon viele Krieger unschädlich gemacht hatten. Er hatte mehr Menschen getötet als jeder andere Nomade, die meisten davon außerhalb des Ringes, denn der Ring-Codex hatte praktisch aufgehört zu existieren.

 Und urplötzlich wurde ihm dreierlei klar - oder vielleicht waren es sogar diese drei Dinge, die bewirkt hatten, daß er sich seiner selbst wieder bewusst geworden war. Erstens stand er nun in dem Alter, das Neqa gehabt hatte. Zweitens war er der Vollendung seiner Rache nicht ein Stück näher gekommen. Und drittens: die wahren Schuldigen waren nicht Yod und sein Stamm, sondern die ganze Situation, die bewirkt hatte, daß der Ring-Codex sich auflöste. In den alten Tagen war keine Frau belästigt worden, und kein Mann hatte kämpfen müssen, außer er tat es freiwillig.

 Als Folge davon kam er zu der Einsicht, daß die einzige Rache, die wahre Rache nicht zerstörend, sondern aufbauend wirken musste. Weiteres Töten würde ihm gar nichts einbringen. Er wollte nicht mehr die Männer ausmerzen, die ihm all das angetan hatten, sondern er wollte die Umstände, die dazu geführt hatten, ausmerzen.

Das bedeutete, daß Helicon wieder aufgebaut werden musste.

 Gut möglich, daß diese Gedanken in seinem Unterbewusstsein schon lange geschlummert hatten. Ein so komplizierter und ausgeklügelter Plan konnte nicht von heute auf morgen in ihm entstanden sein. Plötzlich hatte er wieder eine Mission vor sich, und der Schmerz, den die Erinnerung an Neqa in sich barg, verebbte. Das Blut an seinem Schwertarm erfuhr eine gewisse Ehrenrettung. Sein Drang zu töten hatte nachgelassen, denn er hatte die Quellen, die diesen Drang speisten, versiegen lassen. Das Bedürfnis, Frauen zu beeindrucken, hatte er nicht. Für ihn hatte es nur die eine gegeben. Einen Stamm brauchte er nicht, auch kein Imperium, denn er wusste längst, was es hieß auf der Höhe der Macht zu sein, und er war dieses Gefühls überdrüssig. Er hatte nun seine Mission, und das genügte ihm.

 Mit dem Wiederaufbau von Helicon würde auch der Ring-Codex wieder zum Leben erwachen. Es würde Nachschub für die Irren geben, die ihrerseits wiederum die Herbergen versorgten und dafür mit sanftem Nachdruck ihre Forderungen durchsetzten. Die Nomaden würden sich wieder zusammenfinden, die Welt, die er gekannt hatte, würde wiederkehren. Vielleicht würde es sehr lange dauern, Jahrzehnte womöglich. Aber die Zeit würde mit Sicherheit kommen. Und wenn der Ring-Codex wieder auflebte, hatten Gesetzlose wie Yod keine

 Chance. Frauen würden sich frei bewegen können, von einer Herberge zur anderen, von einem Armreif zum anderen, unversehrt. Der Ring-Codex bedeutete Zivilisation, und Helicon war imstande, die Forderungen des Codex durchzusetzen.

 Als erstes suchte er die Ruinen des Berges auf. Er drang durch Dicks des Chirurgen Eingang ein und räumte die Gebeine und die Asche aus. Er baute die zerstörten Ausgänge wieder aus, so gut er konnte und sicherte sie ab. Er räumte das gesamte Labyrinth aus und machte es, theoretisch wenigstens bewohnbar. Er ging langsam und sorgfältig zu Werk, legte Pausen ein und ass sich satt und ging auf Vorratssuche. Er stellte fest, daß eine erstaunliche Menge nicht verbrannt war. Wahrscheinlich hatte das Feuer nicht sehr lange gewütet. Unter einer dichten Schicht von Asche lagen die Einrichtungen von Helicon nahezu unversehrt.

Neq suchte keine Hilfe, obwohl seine Metallextremitäten für diese Arbeiten nicht geeignet waren, und er viel länger brauchte, als er sich vorgestellt hatte. Es war sehr mühsam, die endlosen Gänge sauberzumachen, indem er mit seinem Schwert einen Stofflappen weiterschob, und seine Greifklauen waren höchst ungeeignet um in neue Türen Scharniere einzusetzen. Aber dies war der Ort, an dem er gemeinsam mit Neqa geweilt hatte, wenn diese Zeit auch nur kurz und schrecklich gewesen war. Helicon war von ihrer Gegenwart durchdrungen und gesegnet.

Als er fertig war, war auch ein Jahr vergangen.

Und nun machte er sich auf den Weg zu den Irren.

 Die kleineren Vorposten der Irren waren schon lange zerstört, aber das festungsähnliche Verwaltungsgebäude von Dr. Jones war unversehrt geblieben. Und auch der alte Irren-Anführer war da, unverändert. Er sah aus, als wäre er niemals jung gewesen und würde nie älter.

In seinem Vorzimmer aber sass kein Mädchen mehr.

 »Wie habt Ihr überleben können ohne Verteidigungsanlagen?« fragte Neq. »Seit ich hier war, sind vier Jahre vergangen. Keine guten Jahre. Die Menschen überleben nur mit Hilfe des Schwertes. Als ich aber hier eindrang, da stellte mich niemand. Diese Anlage hier könnte jeder überfallen und plündern.«

Jones lächelte. »Hätte ein Wachposten dich am Eindringen

 gehindert?« Und als Neq bloß einen Blick auf seine Waffe warf, fuhr Jones fort: »Ich bin versucht, dir zu sagen, daß unsere Friedensphilosophie den Sieg davongetragen hat... doch das wäre nicht die ganze Wahrheit. Wir hofften, daß die verminderten Dienste, die wir anbieten konnten, die Stammesleute von Gewaltanwendung abhalten würden, doch tauchte immer wieder ein noch wilderer Stamm auf, dessen Leute der Vernunft weniger zugänglich waren. Unsere Organisation wurde wiederholt verwüstet.«

»Aber ihr lebt unverändert?«

 »Hm, auf künstliche Weise. Meine Stellung bleibt schwierig.« Dr. Jones machte sich daran, seine Weste aufzuknöpfen.

Der Alte hat sich sicher versteckt, als die Gesetzlosen eindrangen, dachte Neq bei sich. Und dann, als sie Luft wieder rein war, tauchte er auf und baute alles neu auf. Die Stämme haben sich hier sicher nicht lange aufgehalten, denn hier gab es nur wenig Nahrung, und das Gebäude selbst war der Lebensweise der Nomaden fremd. Aber immerhin, Dr. Jones musste über Mut und über andere Fähigkeiten verfügen, die man ihm nicht auf den ersten Blick ansah.

Der Irre war endlich mit seinen Knöpfen fertig. Er öffnete die Weste und machte sich daran, das saubere weiße Hemd aufzuknöpfen.

 »Wie haben Sie mich erkannt?« fragte Neq. Er hoffte, der Mann wäre noch nicht senil.

 »Wir sind uns schon begegnet. Du hast Miss Smith mitgenommen und Dr. Abraham befreit -«

»Wen?«

 »Den Helicon-Chirurgen. Der war uns eine große Hilfe. Erkennst du die Arbeit seiner Hände?« Jones öffnete sein Hemd und gab den Blick auf seine kochige alte Brust frei.

 Neq sah viele Narben. Es sah aus, als wäre Jones mehrfach ein Dolch in den Leib gestoßen worden, zwischen die Rippen, und wäre dann mehrmals herumgedreht worden. Aber irgendwie war alles wieder zusammengeflickt, und die Todeswunde war verheilt.

»Dick der Arzt«, sagte Neq. »Ja, der hat auch mich behandelt.« Doch er hob sein Schwert nicht, aus Angst, die Geste könnte missverstanden werden.

 »Ich darf mit Sicherheit annehmen, daß ich nach jener speziellen Episode dem Tode geweiht gewesen wäre«, sagte Dr. Jones und machte sich langsam daran, Hemd und Weste wieder zuzuknöpfen. »Aber Dr. Abraham hat mich gerettet. Da er ohne deine zeitgerechte Hilfe nicht zur Stelle hätte sein können, glaube ich, daß die Annahme zutrifft, daß ich dir meine Rettung verdanke.«

 »Auf jedes Leben, das ich vielleicht retten half«, meinte Neq, »kommen fünfzig, die ich ausgelöscht habe.«

Dr. Jones schien das zu überhören. »Sein Bericht bewirkte überdies, daß wir sämtliche Bemühungen in Richtung Helicon einstellten.«

»Neqa lebt nicht mehr.«

»Miss Smith . . . dein Armreif . . .« murmelte Dr. Jones und ging im Geiste seine Informationen durch. »Ja, Dr. Abraham hat uns dahingehend informiert. Er sagte, du und Miss Smith wärt einander sehr nahegestanden. Mir tut es gut, das zu wissen. Sie war eine bemerkenswerte Person, aber immer so allein.» Mehr sagte er nicht. Neq war überzeugt, daß der alte Irre alles wusste.

»Ich bin gekommen, sie zu rächen.«

 »Dein Ruf eilt dir voraus. Glaubst du immer noch, daß weiteres Morden dir eine Genugtuung für deinen Verlust bietet?«

 »Nein!« Mit großen Formulierungsschwierigkeiten erklärte Neq nun, was er für den wahren Grund an Neqas Tod hielt und erklärte auch seinen Entschluss, Helicon wieder aufzubauen.

 Diesmal gab Dr. Jones ihm keine Antwort. Er sass da, als bereite ihm seine Wunde Schmerzen, hielt die Augen fest geschlossen und atmete ganz flach. Neq wartete minutenlang. Dann hob er den Greifarm und berührte den Mann, um festzustellen, ob er noch lebte. Tod aus Altersschwäche war etwas, das ihm noch nie begegnet war. Eine schreckliche Vorstellung. Was für Symptome traten dabei auf?

Aber Dr. Jones war nicht tot. Er machte die Augen auf.

 »Möchten Sie einen Beweis dafür, daß ich im Berg war?« fragte Neq. »Ich habe Papiere für Sie mitgebracht. Was drinnen steht, weiß ich nicht.« Er hatte diese versengten Schriften mitgenommen, weil alles Geschriebene ihn an Neqa erinnerte.

Der Irre reagierte prächtig. »Papiere von Helicon? Ja, die interessieren mich brennend. Aber ich will damit nicht sagen, daß ich deine Wahrhaftigkeit anzweifle. Ich war in Gedanken weit weg.«

Weit weg? Die Irren waren einfach irre!

Und dann stand Dr. Jones auf und ging hinaus.

Neq blieb verblüfft sitzen.

Wenig später kam Dr. Jones wieder - in Gesellschaft eines zweiten, eines rundlichen bebrillten Irren. »Bitte sag jetzt Dr. Abraham, was du mir gesagt hast«, sagte Jones. »Ich meine deine Pläne.«

 Es war Dick der Chirurg - der Mann, den Neqa aus dem Käfig befreit hatte! Jetzt erinnerte er nur mehr entfernt an den mageren Flüchtling von vor vier Jahren.

 Neq legte ihm seine Philosophie und seine Pläne dar. »Und warum kommst du zu uns?« fragte Dick. Das klang so, als hätte er seine Erlebnisse in der Wildnis vergessen.

 »Weil ich ein Schwertkämpfer bin und kein Konstrukteur. Ich kann nicht lesen, ich kann die Maschinen von Helicon nicht betreiben. Ihr Irren könnt es.«

»Er kennt seine Grenzen«, bemerkte Dr. Jones.

»Er ist ein Mörder.«

»Ja«, musste Neq gestehen. »Aber ich habe das Töten satt.« Und seinen Arm hebend fuhr er fort: »Ich werde dieses Schwert zur -«

»Zur Pflugschar machen?« fragte Dr. Jones.

Neq kannte diesen Begriff nicht und schwieg.

»War euer früherer Führer Robert von Helicon nicht ein sehr harter und erbarmungsloser Mensch?« fragte Dr. Jones Dick.

 »Robert? Ach, du meinst wohl Bob. Ja, hart aber überaus tüchtig. Vielleicht hast du recht«, setzte Dick mit einem Blick auf Neq hinzu. »Es ist furchtbar, aber -«

Neq ließ ihn nicht aussprechen. »Ich habe den Berg gesäubert und wiederhergestellt. Ich kann ihn nicht mit Menschen vollstopfen, die alles wieder in Gang setzen. Deswegen bin ich gekommen.«

 »Ein Mann in deiner Verfassung braucht mindestens ein Jahr, um mit diesem Totenhaus aufzuräumen!« rief Dick aus.

»Ja, so lange habe ich gebraucht.«

 Und dann Schweigen. Sehr begeistert schienen die Irren nicht!

 Schließlich holte Dr. Jones ein Blatt Papier hervor. »Bring mir diese Menschen«, sagte er. Er reichte Neq das Papier. »Zumindest jene, die überlebt haben.«

 »Ich kann doch nicht lesen. Ist das der Dienst, den Sie als Gegenleistung für Ihre Hilfe von mir verlangen?«

 »In gewisser Weise ja. Ich muss dich bitten, zu niemandem von deinem Projekt zu sprechen. Und ich muss dir leider sagen, daß deine Waffe dir bei dieser Aufgabe keine Hilfe sein wird, eher ein Hindernis.«

 Weiter äußerte er sich darüber nicht. Neq warf einen Blick auf sein Schwert und fragte sich, ob er dem Alten in Erinnerung bringen sollte, daß er sich seiner Waffe, sei sie nun nützlich oder nicht, unmöglich entledigen konnte. »Nennt mir die Namen«, sagte er.

»Du wirst sie behalten können?«

»Ja.«

 Dr. Jones fasste nach dem in Neqs Greifklauen steckenden Papier und las vor: »Sos, das Seil. Tyl von den zwei Waffen. Jim die Feuerwaffe.«

Neq gebot ihm verdutzt Einhalt. »Sos das Seil ging doch zum Berg . . . ach, ich verstehe, Er könnte noch am Leben sein. Tyl ist Herr des größten übriggebliebenen Stammes. Und Jim -«

 »Du wirst Sos vielleicht eher unter seinem anderen Namen kennen: der Waffenlose.«

 »Der Waffenlose! Herr des Imperiums?« Natürlich, jetzt begriff Neq die Zusammenhänge! Sos war zum Berg gegangen, und der Waffenlose war aus dem Berg gekommen. Um die Frau zu nehmen, die er schon immer begehrt hatte - Sola. Neq wunderte sich, daß ihm das nicht schon früher aufgegangen war.

»Hast du deine Absicht geändert?«

 Verärgert überlegte Neq weiter und sagte kein Wort. Die Irren hatten ihm da eine unlösbare Aufgabe aufgehalst! Aber war es denn ganz sicher, daß er es nicht schaffen würde? Gaben sie auf diese Weise zu verstehen, daß sie nicht mitmachen wollten? Oder meinte Dr. Jones es ernst und hielt es für unbedingt nötig, vor einem Wiederaufbau von Helicon dessen

Zerstörer zu vernichten? Den Waffenlosen, Tyl, Jim - sie waren diejenigen, die Helicons Untergang geplant und herbeigeführt hatten. Der Waffenlose hatte das Motiv geliefert. Tyl die Streitkräfte, Jim die Waffen...

 Aber vielleicht steckte ein Sinn dahinter. Wie sollte er bloß den Waffenlosen finden? Lebte der Mann, dann lebte auch das Imperium noch und Neq selbst schuldete ihm Gefolgschaftstreue!

»Ich glaube, der Waffenlose ist tot«, sagte Neq schließlich.

»Dann bring uns seine Frau.«

»Oder sein Kind«, meinte Dick.

»Und wenn ich euch all diese Menschen bringe, werdet ihr mir eure Hilfe für Helicon nicht verweigern?«

»Da wären weitere Namen.« Dr. Jones las sie vor. Neq hatte sie noch nie gehört.

»Ich bringe euch jeden, der noch lebt!« rief Neq nun verzweifelt aus. »Werdet ihr mir dann helfen?«

Dr. Jones stieß einen Seufzer aus. »Ich bin dann in deiner Schuld.«

»Ich weiß gar nicht, wo ich sie alle finden kann.«

»Ich werde mit dir kommen«, sagte Dick der Arzt. »Ich kenne viele der Helicon Flüchtlinge persönlich und habe so eine Ahnung, wo sie sich verstecken könnten. Aber an dir liegt es, sie zu überreden, daß sie mitkommen - ohne sie zu töten.«

 Neq überlegte. Es gefiel ihm zwar gar nicht, daß der Arzt mitkommen wollte, doch stiegen damit die Aussichten auf einen erfolgreichen Abschluss seiner Mission. »Ich darf ihnen den Grund nicht sagen, und ich darf sie nicht töten. Und doch muss ich sie bewegen, hierherzukommen. Die führenden Krieger des alten Imperiums und dazu den Mann der -« Er schüttelte den Kopf. »Und das alles nur weil ich Helicon wieder aufbauen und eure Nachschubquelle wieder in Gang bringen möchte, damit ihr dem Ring-Codex wieder Geltung verschafft.«

 Dr. Jones begriff Neqs Ironie nicht. »Du hast es erfasst, Krieger«, sagte er.

 Zornig und enttäuscht ging Neq hinaus. Dick der Chirurg folgte ihm.