XI

 

Tyls Stamm war bei weitem nicht mehr so groß wie in der Blüte des Imperiums. Er hatte bei der Eroberung von Helicon und während der darauffolgenden Zeit der Anarchie schwere Verluste erlitten. Der Einflussbereich aber war größer, weil die Zahl der Nomaden in den letzten Jahren allgemein abgenommen hatte. Der Stamm stellte nun eine Art eigene Zivilisation dar, denn es waren Unterkünfte gebaut worden. Felder bestellt, Waffen geschmiedet, und der Ring-Codex wurde streng beachtet. Es herrschten nun Stab, Keule und Stöcke vor, meist hölzerne Waffen, denn das selbst hergestellte Metall war spröder, als das von Helicon gelieferte. Die schönen alten Waffen waren kostbar geworden. Neq wusste, daß einer, der eine Waffe alten Typs trug, ein Veteran sein musste, denn heutzutage wurde ein Mann häufig um den Besitz einer überlegenen Waffe zum Kampf herausgefordert, so wie es früher um eine Frau oder um die Gefolgschaft gegangen war.

 Du willst mich herausfordern?« fragte Tyl fassungslos. »Kennst du denn nicht mehr den Codex des Imperiums: die Unterführer des Waffenlosen dürfen gegeneinander nicht antreten?«

»Nicht um die Herrschaft«, gab Neq zurück. »Nein, ich habe es nicht vergessen. Doch das Imperium ist tot und mit ihm seine Regeln.«

»Es ist nicht tot, solange wir nicht wissen, ob der Waffenlose tot ist - und der ist nicht so leicht umzubringen. Wärest du ihm im Ring entgegengetreten, wüsstest du das. Und der Ring-Codex lebt, dort wo mein Stamm lebt.«

»Aber er stirbt ab, wenn dein Stamm weiterzieht.« Doch Neq musste die Zucht und Ordnung anerkennen, die Tyl hielt. »Ich sagte ja nicht, daß ich dich mit der Waffe herausfordere, denn ich darf während meiner Mission mein Schwert nicht benutzen. Sollte jemand meine Kampfkraft in Frage stellen, dann zeige ich ihm gern meine Klinge - aber nicht um die Herrschaft, nicht um den Tod, nur so, als Beweis ohne Blutvergiessen. Ich fordere dich bloß heraus. Du sollst mir und vielleicht der ganzen Nomadengesellschaft einen Dienst erweisen.«

Tyl lächelte. »Ich würde dir jeden Dienst erweisen, gleichgültig wie unklar du dich darüber auslässt, denn wir waren einst Waffengefährten. Und ich würde der Nomadengesellschaft jeden Dienst erweisen, wenn ich nur wüsste, wie. Was willst du von mir?«

»Geh zu den Irren.«

Tyl lachte auf.

»Komm mit«, sagte Neq. Er musste daran denken, wie Sol vor so vielen Jahren auf Ungläubigkeit reagiert hatte. Seitdem ihn Sol aller Waffen bezwungen hatte, war fast das halbe Lebensalter eines Nomaden vergangen.

Tyl sah ihn eindringlich an und ging auf seinen Ton ein. »Ich hörte gerüchteweise, daß du in einem Kampf mit Gesetzlosen schwer verwundet worden bist.«

»Sehr häufig sogar.«

»Ich meine jenes erste Mal. Eine Überzahl von fünfzig hat dich mit einer Feuerwaffe bezwungen und dir die Hände abgeschnitten.«

 Neq warf einen Blick auf seine mit Stoff umwickelten Extremitäten. Er nickte.

»Und daß du dessenungeachtet Rache üben konntest... bis zu einem gewissen Grad.«

»Sie haben meine Frau geschändet.«

»Eine Irre?«

»Ja.«

»Und jetzt nimmst du dich wieder einer Sache der Irren an?«

Neqs Schwertarm zuckte unter der Stoffhülle. »Willst du das Andenken meiner Frau beleidigen?«

»Keineswegs«, versicherte Tyl ihm hastig. »Ich stelle bloß fest, daß du Abenteuer erlebt hast, wie ich sie nie erlebte, und daß du schwerwiegende Gründe für deine Mission haben musst.«

Neq hob die Schultern.

»Ich werde zu den Irren gehen«, sagte Tyl. »Und wenn ich keinen Grund sehe, daß ich bleiben soll, dann kehre ich zu meinem Stamm zurück.«

»Das genügt.«

»Was kann ich noch für dich tun?« fragte Tyl trocken.

»Kannst du mir sagen, wo der Waffenlose sein könnte?«

Tyl konnte sein Erstaunen nicht verbergen. »Er ist seit fünf

Jahren nicht aufgetaucht. Ich möchte bezweifeln, daß er sich im Einflussgebiet der Irren aufhält.«

»Und seine Frau?«

»Die bleibt mein Gast. Ich bringe dich zu ihr.«

»Ich danke dir.«

Tyl stand auf, ein blonder gutaussehender Mann, ein Führer. »Nun haben wir unser Geschäft besprochen. Komm mit zum Ring. Ich möchte meinen Leuten einen Schwertkampf der alten Schule zeigen. Kein Blut, keine Bedingungen.«

 Jetzt war es an Neq zu lächeln. Auf dieser Grundlage durfte er den Ring betreten. Es war lange her, seitdem er nur zum Vergnügen gefochten hatte unter Beachtung der Regeln des Imperiums.

Und ein Vergnügen wurde es. Natürlich war nicht festzustellen, ob Tyl ihm noch immer überlegen war, denn Neqs Technik hatte sich notwendigerweise geändert, und es handelte sich um keinen ernsthaften Kampf. Tyls Kampfstil jedenfalls war prächtig und konnte sich mit dem Sols aller Waffen in den alten Tagen messen. Was die beiden da im Ring vorführten, rief bei den jüngeren Stammesmitgliedern atemlose Bewunderung hervor. Finte, Gegenfinte, Ausfall, Parieren, Angriff, Verteidigung. Und die Sonne, sie ließ die Waffen aufblitzen, als wären die Klingen lebendig, und der Kampflärm hallte vom Himmelsgewölbe zurück über das Lager.

 Als sie den Kampf keuchend beendet hatten, blieben die Leute wie gebannt um den Ring sitzen, Reihe um Reihe.

 »Ich habe euch von Sol erzählt«, sagte Tyl zu ihnen. »Und von Tor, von Neq. Jetzt habt ihr Neq gesehen, der seine Hände verlor. So sah unser Imperium aus.«

 Und Neq erglühte innerlich, ein Gefühl, daß er seit Jahren nicht gekannt hatte, denn Tyl spendete ihm öffentliches Lob. Plötzlich spürte er brennende Sehnsucht nach dem Imperium und nach allem Gutem, das es mit sich gebracht hatte. Und sein Entschluss, seine Mission trotz der von den Irren aufgerichteten Hindernisse zu erfüllen, wurde unumstösslich.

 

*

 

Sola war gealtert. Neq hatte sie als außergewöhnliche Schönheit in Erinnerung, als Frau mit großer Anziehungskraft, die einen Mann bis in die Träume .verfolgen konnte. Nun war ihr Antlitz von Falten durchzogen, ihre Gestalt gebeugt. Das dunkle Haar war nicht mehr seidig sondern glanzlos. Kaum zu glauben, daß sie höchstens zwei, drei Jahre älter war als er.

»Das ist Neq das Schwert«, erklärte Tyl ihr und verschwand sogleich.

»Ich hätte dich nicht erkannt«, sagte Sola. »Du siehst alt aus. Dennoch bist du jünger als ich. Wo ist der schüchterne junge Krieger mit dem Zauberschwert und der goldenen Stimme geblieben?«

Nun, man sollte jedem seine persönlichen Ansichten lassen. »Ist der Waffenlose noch am Leben?« fragte Neq.

»Ich fürchte nein. Aber selbst wenn er am Leben wäre, käme er nicht zu mir zurück.«

Neq staunte. »Zu wem denn?«

»Zu seiner anderen Frau. Zu der aus der Unterwelt.«

Sein Interesse war erwacht. »Du weißt von Helicon?«

»Ich weiß, daß mein Mann den Berg belagerte, weil sie drinnen war. Sie trug seinen Reif und seinen Namen.«

»Sie lebt noch?«

»Ich weiß nicht. Gibt es denn Überlebende - gibt es solche, die das Feuer überstanden?«

»Ja.« Hastig setzte er hinzu. »Es wird jedenfalls behauptet.«

Sie war sofort hellwach. Sola war nie dumm gewesen. Sie hatte den Kriegern den Umgang mit Zahlen beigebracht. »Wenn jemand überlebt hat, dann sie. Ich weiß es. Such sie und sag ihr, daß ich sie sehen möchte. Frag sie - frag sie, ob mein Kind -«

Neq wartete, doch sie weinte leise vor sich hin.

»Du musst zu den Irren«, sagte er schließlich.

»Warum auch nicht? Ich habe nichts, wofür ich leben könnte.«

»Diese Frau des Waffenlosen - wie heisst sie?«

»Sie trägt seinen alten Namen. Sosa. Den Namen, den ich tragen würde, wäre ich kein dummes und von der Mach geblendetes junges Mädchen gewesen. Als er mir gehörte, da war er gar nicht mein eigen, und er war namenlos.«

»Also Sosa. Und sie weiß, ob der Waffenlose am Leben ist?«

»Wenn er noch lebt, dann ist sie bei ihm. Aber mein Kind -frag sie -«

Neq erfasste den Zusammenhang. »Das Kind, das du von Sol hattest? Das mit ihm zum Berg ging?«

»Mehr oder weniger«, gab sie zurück.

Er dachte an die Gebeine, die er aus den unterirdischen Gewölben entfernt hatte. Darunter waren einige kleine Skelette gewesen - Kinder und Säuglinge. Und er dachte an die verschiedenen Ausgänge. Es hatte auch Gewölbe gegeben, die vom Feuer verschont geblieben waren, und dann die kleinen Tunnels, die zu den Depots führten. Eine Anzahl Erwachsener hatte fliehen können, vielleicht sogar sehr viele. Kein Mensch wusste, wie groß die Bevölkerung Helicons gewesen war. Es war gut möglich, daß auch Kinder. . .

»Ich wüsste noch einen Namen«, sagt Sola. »Var - Var der Stock.«

Neq konnte sich vage an einen Krieger dieses Namens erinnern, einen Helfer des Waffenlosen, der gleichzeitig mit diesem verschwunden war. »weiß er, wo der Waffenlose zu finden ist?«

»Er muss es wissen«, sagte sie eindringlich. »Er war der Schützling meines Mannes und steril wie er.«

Neq fragte sich, woher sie dies wissen mochte. Da fielen ihm die Gerüchte ein, die man sich über diese Frau zugeraunt hatte, und wie sie im Ödland-Lager das Zelt von Sos aufgesucht hatte. Er konnte sich nicht genug über sie wundern.

»Ich werde Sosa suchen«, sagte er. »Und Var den Stock.«

»Und mein Kind - Soli. Sie müsste jetzt vierzehn sein. Dunkles Haar. Und -« sie zögerte. »Kannst du dich erinnern, wie ich früher aussah?«

»Ja.« Ihre Gestalt hatte ihn damals vor fünfzehn Jahren oft erregt.

»Ich glaube, sie ist mir ähnlich.«

Dann musste Soli eine Schönheit sein. Neq nickte. »Ich werde sie zu den Irren schicken - wenn sie noch am Leben sind.«

   »Und ich werde hier warten.« Sie fing zu weinen an, warum, das war nicht ersichtlich. Vielleicht war es die Schwäche einer alten Frau, die wusste, daß sie Mann und Tochter nie wiedersehen würde, die wusste, daß deren Gebeine verkohlt und nahe dem Berg des Todes begraben waren.

 

*

 

   In den nächsten Monaten konnte Dick der Arzt mehrere der mit so seltsamen Namen ausgestatteten Flüchtlinge ausfindig machen. Männer wie John und Charles und Robert, alte und schwache Männer, die sich mit dem Nomadenleben nicht hatten abfinden können, obwohl sie schon mehrere Jahre wie Nomaden lebten. Einige waren Flüchtlinge von Helicon, andere schienen Irre, die durch den Zusammenbruch der Zivilisation von allen anderen abgeschnitten worden waren. Dick sprach mit ihnen und in ihren Gesichtern schimmerte Hoffnung auf. Sie waren einverstanden, mit Neq zu gehen - zu Neqs geheimem Widerwillen. Nun musste er für sie auf Nahrungssuche gehen und sie vor den Gesetzlosen beschützen. Sie waren unfähig, für sich allein zu existieren oder den Weg zu Dr. Jones zu schaffen. Ein Mann ohne Hände, der sich um Männer ohne jeden Unternehmungsgeist kümmern musste!

Doch hatten diese Menschen überlebt, weil sie über Fähigkeiten verfügten, die gewisse Stämme gut brauchen konnten - sie konnten lesen und schreiben, waren geschickt in gewissen Handfertigkeiten und konnten mit Feuerwaffen umgehen. Die meisten der auf der Liste verzeichneten Namen aber waren wohl tot. Sicher gehörten sie zu den Gebeinen, die er in Helicon ausgeräumt hatte.

Wenn es ihm möglich war, stellte er Erkundigungen über diese Namen an: Var, Sosa, Soli. Unter den Nomaden aber konnte sich keiner an sie erinnern - nicht seit der Zerstörung von Helicon.

Schließlich hatte er seine kleine Gruppe zu dem Verwaltungsgebäude der Irren gebracht. Ein Jahr war verstrichen.

»Du bist noch immer entschlossen, Helicon aufzubauen?« fragte Dr. Jones ihn.

»Ja.« Das »trotz euch« schenkte er sich.

»Du hast nicht alle auf der Liste aufgeführten Personen mitgebracht.«

»Ich bin noch nicht fertig. Ich bringe euch nur diejenigen, die

 nicht selbst hierherkommen konnten. Viele der anderen sind tot. Sind Tyl und Sola gekommen?«

»Sie sind da.«

Tyl war also geblieben! Wie hatten die Irren ihn bloß herumgekriegt?

»Den Waffenlosen konnte ich nicht finden. Jetzt aber mache ich mich auf die Suche nach seiner Untergrund-Frau Sosa und nach Solas Kind. außerdem suche ich Var den Stock. Die wissen vielleicht wo er sich aufhält - oder aber sie kennen seine Grabstätte.«

 »Hm, interessant, daß du diese Namen nennst«, murmelte Dr. Jones. »So viel ich weiß, kannst du nicht lesen.«

»Ich bin Krieger.«

»Die zwei Fähigkeiten - Lesen und Kämpfen - schließen einander nicht unbedingt aus. Es gibt Krieger, die auch lesen können. Du hast aber keine Ahnung, was in den Papieren steht, die du uns brachtest?«

»Keine Ahnung.«

 »Dann werde ich dir gewisse Stellen daraus vorlesen.« Und der alte Irre kramte aus den Stapeln auf seinem Schreibtisch ein Blatt hervor:

 4. August, B 118. - Die Belagerung ist aufgehoben, die Stimmung aber bleibt gedrückt. Bob hat einen Wettstreit der Krieger ausgehandelt. Bislang hat er noch niemanden aufgestellt, der Helicon vertreten soll. Wir sind ja auch auf diese Ring Wettkämpfe nicht eingestellt. Einfach albern. In Sol dem Nomaden besitzen wir einen der hervorragendsten primitiven Kämpfer unseres Zeitalters. Ich weiß aber, daß er niemals gegen jemanden seiner Art die Waffe erheben wird. Er hasst das Leben hier. Er ist gekommen, um zu sterben, und er lehnt ab, was wir mit ihm gemacht haben. daß wir ihn am Leben behielten, weil wir auch seine Tochter am Leben behielten. Sosa konnte ihn bis jetzt irgendwie zügeln. Ich weiß nicht, wie diese prachtvolle Frau das schafft. Sols Lebensinhalt ist seine Tochter.

 Aber ich vertiefe mich wie ein richtiger alter Bücherwurm in anderer Leute Angelegenheiten. Dabei habe ich wahrlich genug eigene Sorgen. Dieser Vorahnung, daß das Ende nahe

 ist, daß das Leben wie wir es kennen, ausgelöscht wird, daß vielleicht die ganze Zivilisation ausgelöscht wird. . .

»Der Berg!« rief Neq aus. »Die Belagerung von Helicon?«

»Diese Aufzeichnungen stammen von Jim dem Bibliothekar -einem gebildeten und feinsinnigen Mann.«

»Er steht auf meiner Liste! Ein Mann der Unterwelt!«

»Ja, natürlich. Aber es wird nicht nötig sein, daß du sie Suche nach ihm fortsetzt.«

»Um beim Aufbau mitzumachen«, rief Neq nun. Jetzt begriff er, was er längst schon hätte begreifen sollen. »Alle Menschen, die über Wissen verfügen!«

»Gewiss doch. Ist doch klar, daß die Nomaden ohne Hilfe die fremde Technologie von Helicon nicht wieder aufbauen können, mögen ihre Motive auch noch so edel sein. Haben wir aber einen kleinen Kern solcher Überlebender im Verein mit den fähigsten Nomaden und, hm, Irren, unter einem starken und aufrechten Führer- dann könnten wir es schaffen.«

»Und deswegen wollen Sie den Waffenlosen. Sie wollen ihn als Führer!«

Dr. Jones sah ihn mitleidig an. »Hoffentlich bist du nicht enttäuscht, daß wir dir nicht die Führerschaft beim Wiederaufbau übertragen. Was du anstrebst, ist ein wahrhaft edles Ziel, und du wirst für deinen Eifer und dein Streben gewürdigt werden. Doch die komplizierten Zusammenhänge von Technik und Disziplin -«

 »Nein, Sie haben ganz recht«, äußerte Neq mit gemischten Gefühlen. Ja, er war tatsächlich enttäuscht, daneben aber auch erleichtert. »Ich habe nie daran gedacht, selbst in Helicon zu bleiben. Ich habe alles gesehen, die vielen Toten - nur Irre können sich da wohl fühlen, ohne Sonne, ohne Bäume -« Und während er dies sagte, wurde ihm plötzlich klar, warum Tyl auf der Liste gestanden hatte. Man brauchte einen starken und fähigen Führer, und das war Tyl. Er war der Stellvertreter des Waffenlosen gewesen und zuvor der von Sol aller Waffen. Er war in der Menschenführung so erfahren wie kein anderer und dazu ein Krieger der Spitzenklasse, der kein Nachlassen der Disziplin duldete. Die Unterwelt würde als eine Art Imperium wieder auferstehen.

»Freut mich, daß du Verständnis hast. Ausbildung und Charakter sind das Wichtigste. In einer Notlage, in der Schwerter und Keulen nicht die Angwort geben können.«

»Aber der Waffenlose - er zerstörte Helicon! Warum sollte er uns jetzt helfen?« Aber Dr. Jones setzte seine Hoffnung offenbar nicht allein auf den Waffenlosen. Er wollte sich Tyl als Alternative heranziehen.

 »Sos der Waffenlose stammte von Helicon. Dr. Abraham machte ihn zu dem, was er war, und zwar auf den unglückseligen Wunsch des Führers hin.« Dr. Jones dachte nach. »Dr. Abraham war sich nicht im klaren, welche Politik zur Katastrophe geführt hatte. Er schlief, als das Feuer ausbrach, und war halb benommen, als er floh. Er glaubte, die Nomaden hätten es gelegt.«

»Ja, waren es nicht die Nomaden?« Das war der springende Punkt!

»Nicht direkt. Da, ich lese Jims letzte Eintragung vor.«

 8. August, B 118. Wie könnte ich das Entsetzen ausdrücken, das ich fühle? Soli war gewissermaßen auch mein Kind in dem Sinne, als ich sie lesen lehrte, und sie lebte bei mir wie mein leibliches Kind. Fast täglich kam sie zu mir in die Bibliothek, ein reizendes kleines Mädchen - ich glaube, sie verbrachte wirklich mit mir und den Büchern gleich viel Zeit wie mit den Waffen ihres Vaters. Doch jetzt -

 Ich bin selbst schuld. Vor drei Tagen kam sie zu mir, in Tränen aufgelöst, und erzählte mir eine Geschichte, die ich erst gar nicht glauben wollte. Bob wolle Sol und Sosa, ihre Helicon-Eltern, töten, wenn sie nicht gewillt sei, eine gefährliche Mission außerhalb zu übernehmen. Sie behauptete, sie hätte ihm Stillschweigen geloben müssen, ansonsten würden sie auf jeden Fall getötet - aber irgendeinem müsse sie es sagen. Ich versprach, daß ich es nicht weitersagen würde, und hielt es insgeheim für das Phantasiegebilde einer jungen Seele. So sagte ich ihr, daß sie gewiss alles missverstanden hätte, daß Bob nur das Beste für Helicon wolle, und daß er gemeint hätte, das Leben ihrer Eltern könne in Gefahr sein wie unser aller Leben, seitdem die Nomaden uns belagerten. Ich riet ihr, sie solle sich mit der Geheimmission einverstanden erklären, denn es handele sich dabei gewiss (falls das alles nicht ihrer Einbildung entsprungen war) nur um ein Mittel sie vor dem Eintreten einer weiteren Krise vom Schauplatz des Geschehens zu entfernen. »Unsere Kinder sind unser höchstes Gut« sagte ich ihr.

Und jetzt ist sie tot, und ich beklage meine hoffnungslose Naivität. Bob schickte sie zum Mount Muse in einen Wettkampf mit dem Nomadenkrieger, und natürlich hat dieses Ungeheuer sie getötet. Die Nomaden feiern nun ihren Sieg. Wir können ihr Gegröle bis hierher hören. Var der Stock! rufen sie - aber ich glaube nicht, daß sie davon wissen, daß ihr heißgeliebter Held, abgeschirmt von ihren Blicken auf dem flachen Plateau ein Dutzend Meilen südlich von hier gegen ein achtjähriges Mädchen kämpfte.

 Verdammtes Versprechen, das ich gegeben hatte! Ich habe Sosa weitergesagt, was ich von Soli erfahren hatte. Ich musste es tun, denn Sosa ist die Mutter des Mädchens, viel mehr Mutter, als diese Nomadin es je sein konnte. Und Sosa hätte es ohnehin bald erfahren - weniger schonend. Gewiss wird sie es Sol sagen, und was dann geschieht, darüber möchte ich gar nicht nachdenken. Wäre ich als Krieger in eine solche Situation gestellt, dann wäre mein Vorgehen sicher alles andere als sanftmütig.

Ich werde Gift nehmen.

Nun trat eine Pause ein.

»Var der Stock - war er der Nomadenkrieger? Hat er Solas Kind getötet?«

»Ausgesehen hat es danach. An Sols Stelle -«

»Ich bin Krieger! Ich hätte Vars Schädel im Wald aufgespießt, damit alle ihn sehen können. Und daneben Bobs Schädel. Die Schädel aller Schuldigen. Und -«

Dr. Jones stützte die Hände in seiner ihm eigenen Art dachartig gegeneinander. »Und. . .?«

»Und hätte nichts damit erreicht«, sagte Neq nachdenklich. »Rache ist nicht die richtige Antwort. Rache ist einfach Rache. Sonst nichts. Und sie bringt nur weiteres Leid mit sich.«

Dr. Jones nickte. »Ich glaube wirklich, du bist imstande, Sols Motive damals und auch später zu verstehen. Er war trotz seines jahrelangen Aufenthalts in Helicon Nomade durch und durch. Glaubst du, er hat die brennbaren Vorräte angezündet?«

 »weiß nicht«, antwortete Neq. »Ja, ich glaube, unten war Benzin gelagert. Und anderes brennbares Zeug. Ich glaube, er hat alles in Brand gesetzt. Im Namen der Rache. Diese Leichen da unten waren total verkohlt!«

Verkohlt war eine gelinde Untertreibung.

»Ob er später noch zurückgekommen ist?«

»Um sich die Folgen der Zerstörung anzusehen, als er merkte, daß er damit nichts erreicht hatte? Nein, er ist gewiss nicht zurückgekommen . . .«

»Und wenn wir Helicon neu aufbauen - woher sollen wir die Sicherheit nehmen, daß etwas Ähnliches nicht wieder geschieht?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Neq der Wahrheit entsprechend.

»Dann mache dich auf den Weg und versuche, es herauszufinden«, sagte Dr. Jones.

»Sie haben mir versprochen zu helfen, wenn ich Ihnen diese Leute brächte!«

»Wir werden helfen. Aber welchen Sinn hätte es, Helicon aufzubauen, wenn dieselben Kräfte, die es zerstörten, es von neuem vernichten wollen? Die menschlichen Kräfte, meine ich.«

Neq wusste darauf keine Antwort.

»Die übrigen Namen auf der Liste kannst du vergessen«, erklärte Dr. Jones freundlich. »Der harte Kern genügt uns. Suche statt dessen nach Sol, nach Sosa und Var - falls Var Sols Rache entgehen konnte. Bringe in Erfahrung, ob Sos der Waffenlose damit direkt zu tun hatte. Vielleicht steckt hinter seinem Verschwinden eine besondere Bedeutung. Bringe die Wahrheit ans Licht - und denk dir eine Möglichkeit aus, wie wir eine Wiederholung der Geschehnisse verhindern können. Erst dann können wir sicher sein, daß wir unser gesetztes Ziel erreichen.«