9

Tatsächlich: Wer war dieser vierte Mann? Das kann keiner wissen. Vielleicht war es der Teufel, der heraufgekommen war aus dem Reich der Finsternis, um mit einem Schwung gestrauchelter Seelen wieder von dannen zu ziehen. Vielleicht war es der liebe Gott, der, wie man hört, aufgrund gewisser Vorfälle lieber inkognito, möglichst unbemerkt von den Anwesenden auf Erden erscheint und sowieso in aller Regel nur mit Zöllnern und armen Sündern kommuniziert. Oder es war noch ein ganz anderer – dies am allerwahrscheinlichsten. Einer, der weit leibhaftiger ist als alle, die hier am Feuer saßen. Denn wenn sich auch keine Hand in dieses Feuer legen läßt, daß ein Wolodin, ein Kolja, ein Schurik, daß alle diese Hähne, Götter, Teufel, Neuplatoniker und XX. Parteitage je existierten, so gibt es doch immer noch dich, der du eben noch selbst an diesem Feuer gesessen, und deine Existenz läßt sich ja nun wirklich nicht leugnen, und ist es nicht das erste überhaupt, was existiert und irgendwann in dieser Welt gewesen ist?

 

Tschapajew legte das Manuskript zurück auf die Klappe des Sekretärs und schaute eine Zeitlang durch das halbrunde Fenster seines Arbeitszimmers nach draußen.

»Mich dünkt, Petka, der Literat in dir macht sich immer noch mächtig breit«, sagte er schließlich. »Die direkte Ansprache eines in Wirklichkeit nicht vorhandenen Lesers ist ein recht billiges Manöver. Selbst wenn man einmal annähme, daß nach mir noch ein anderer diese abstruse Geschichte in die Hände bekäme, er verschwendete keinen Gedanken an die augenscheinliche Tatsache seiner eigenen Existenz, das versichere ich dir. Viel mehr läge ihm daran, dich zu fassen, den Urheber dieser Zeilen. Und da, fürchte ich …«

»Ich hingegen fürchte gar nichts«, fiel ich ihm nervös ins Wort, während ich mir eine Zigarette anzuzünden versuchte. »Das juckt mich alles schon lange nicht mehr. Ich habe meinen letzten Traum aufgeschrieben. So gut ich konnte. Mehr nicht. Und dieser letzte Absatz, wie soll ich sagen, hat sich so ergeben. Aus alter Gewohnheit. Nachdem ich mit dem Herrn Baron gesprochen hatte.«

»Ach ja, was hat der Baron dir eigentlich erzählt?« fragte Tschapajew. »Danach zu urteilen, daß du dich mit gelber Mütze zurückgemeldet hast, muß euer Gespräch ziemlich emotional verlaufen sein.«

»Das kann man wohl sagen. Es lief im Grunde auf den Ratschlag hinaus, ich solle meine Entlassung aus der Psychiatrie anstrengen. Diese mit Sorgen und Leidenschaften bis oben hin beladene Welt, den Wust an belanglosen Gedanken, die Hatz ins Nirgendwo hat er mit einem Irrenhaus verglichen. Worauf er mir, wenn ich nicht ganz falsch liege, zu verstehen gab, daß dieses Irrenhaus und er selbst und auch Sie, mein lieber Tschapajew, der reine Spuk sind. Es gibt nur mich.«

Tschapajew räusperte sich.

»Sieh an, so hast du ihn verstanden. Ist ja interessant. Wir werden darauf zurückkommen, sei unbesorgt. Was diese Entlassung betrifft, so ist es der trefflichste Ratschlag, den man sich vorstellen kann. Darauf hätte ich eigentlich selber kommen müssen. Richtig! Anstatt sich von jedem neuen Nachtgespenst, das dein überreiztes Bewußtsein produziert, in Angst und Schrecken versetzen zu lassen.«

»Wie denn nun«, unterbrach ich ihn erneut, »produziert mein überreiztes Bewußtsein Gespenster, oder ist es selbst ein Gespenst?«

»Ist doch dasselbe!« Tschapajew winkte ab. »Diese Konstruktionen sind dazu da, daß man sich ihrer ein für allemal entledigt. Leb in der Welt, in der du dich gerade befindest, richte dich nach ihren Gesetzen, und benutze sie, um dich über sie zu erheben. Die Entlassung, Petka, das ist es.«

»Ich glaube, die Metapher leuchtet mir ein«, sagte ich. »Aber was kommt dann? Werden wir uns wiedersehen?«

Lächelnd verschränkte Tschapajew die Arme vor der Brust.

»Das kann ich dir versprechen.«

Plötzlich klirrte es, und die obere Fensterscheibe fiel prasselnd ins Zimmer. Der Stein, der sie durchschlagen hatte, prallte gegen die Wand, ging dann neben dem Schreibtisch nieder. Tschapajew trat zum Fenster und spähte vorsichtig auf den Hof.

»Die Weber?« fragte ich.

Tschapajew nickte.

»Die sind sternhagelvoll«, sagte er.

»Warum stellen Sie Furmanow nicht zur Rede?«

»Der! Der hat sie doch nicht im Griff«, antwortete Tschapajew. »Furmanow ist nur deswegen noch Kommandeur, weil er ihnen genau die Befehle erteilt, die sie hören wollen. Der braucht nur ein einziges Mal danebenzuliegen, und sie suchen sich einen neuen Natschalnik.«

»Wenn ich an die Leute da unten denke, wird mir, ehrlich gesagt, mulmig«, sagte ich. »Die Situation ist völlig außer Kontrolle geraten, möchte ich behaupten. Denken Sie nur nicht, daß ich zur Panikmache neige, aber der Moment dürfte nicht fern sein, da wir … Bedenken Sie, was sich seit Tagen hier abspielt.«

»Heute abend wird sich alles entscheiden«, sagte Tschapajew und sah mich durchdringend an. »Aber wenn dich diese Situation so beunruhigt – wie wäre es, wenn du die Sache selbst in die Hand nähmst? Biete doch den Leuten ein bißchen Unterhaltung. Es kann nicht schaden, den Anschein zu erwecken, als ließen wir uns mit Freuden in diese Orgie hineinziehen. Sie sollen glauben, daß alle im selben Boot sitzen.«

»Und wie soll das gehen?«

»Nachher wird hier eine Art Konzert veranstaltet – die Soldaten führen einander vor, was sie … na, alle möglichen Kunststückchen eben. Da könntest du ihnen gut etwas Revolutionäres zum besten geben, so wie damals in der ›Spieldose‹.«

Der Vorschlag ärgerte mich.

»Ob ich mich dem Niveau einer solchen Veranstaltung anpassen kann, erscheint mir fraglich. Ich fürchte …«

»Du fürchtest? Eben sagtest du noch, du fürchtest gar nichts«, fiel Tschapajew mir ins Wort. »Sieh die Sache nicht so eng. Letzten Endes gehörst du genausogut zu meiner Mannschaft wie die da draußen. Ist es zuviel verlangt, denen mal zu zeigen, was du so draufhast?«

Für einen Augenblick meinte ich aus Tschapajews Worten reichlich Spott herauszuhören, womöglich sogar eine Anspielung auf den Text, den ich ihm eben zu lesen gegeben hatte. Vielleicht aber, dämmerte mir sodann, wollte er mir etwas anderes zeigen. Betrachtet man nämlich das, was Leute tun, aus nüchterner Perspektive, so verliert sich beizeiten jede Hierarchie – und zwischen einer Petersburger Dichterkoryphäe und der Stimmungskanone eines Kavallerieregiments ist kein gravierender Unterschied mehr zu registrieren.

»Schön«, sagte ich. »Ich werd's probieren.«

»Freut mich«, erwiderte Tschapajew. »Dann bis heute abend.«

Er drehte sich zum Sekretär um und vertiefte sich in die dort ausgebreiteten Feldkarten. Auf eine von ihnen war ein Stapel Papier gerutscht, darunter ein paar Telegramme und zwei, drei rotversiegelte Päckchen. Ich knallte die Hacken zusammen (Tschapajew schien den Sarkasmus dieser Geste geflissentlich zu übersehen) und verließ den Raum, rannte die Treppe hinunter und prallte in der Tür mit Anna zusammen, die eben vom Hof hereinkam. Sie trug ein hochgeschlossenes, fast bis zum Boden reichendes Kleid aus schwarzem Samt; es stand ihr besser als alles, was sie zuvor getragen hatte.

Daß ich mit ihr zusammenprallte, ist wörtlich zu verstehen; für einen Moment hielt ich sie in meinen instinktiv ausgestreckten Armen – unbeabsichtigt, ungeschickt und deshalb nicht minder erregend. Im nächsten Moment taumelte ich, wie von einem Stromstoß getroffen, zurück, stolperte über die unterste Treppenstufe und fiel auf den Rücken; es muß unglaublich blöd ausgesehen haben. Anna indes lachte nicht, im Gegenteil – Bestürzung spiegelte sich in ihrem Gesicht.

»Hat es den Kopf getroffen?« fragte sie, besorgt über mich gebeugt, und reichte mir die Hand. Ich griff danach und erhob mich.

»Nein«, sagte ich. »Danke.«

Sie zog, als ich stand, ihre Hand nicht gleich zurück, und nach einer kleinen Pause der Verlegenheit sagte ich, für mich selbst überraschend:

»Daß ich nicht so bin, wie ich Ihnen erscheine, wissen Sie hoffentlich? Sie, nur Sie, Anna, machen mich zum komischsten Geschöpf auf Erden!«

»Ich? Wie denn das?«

»Ja, sehen Sie denn nicht … Gott mag Sie gesandt haben, mich zu strafen. Oder der Satan. Bevor ich Ihnen zum erstenmal begegnete, hatte ich keine Ahnung, wie häßlich ich bin! Ich meine, gemessen an dem erhabenen, unerreichbaren Ideal von Schönheit, das sich in Ihrer Person verkörpert. Sie waren gewissermaßen der Spiegel, worin ich plötzlich sah, welch unüberbrückbarer Abgrund mich trennt von allem, was mir auf dieser Welt lieb und teuer ist, was nur irgendwie Sinn und Bedeutung für mich hat. Und nur Sie, hören Sie, Anna, nur Sie allein können wieder Licht und Luft in mein Leben bringen, etwas, das es dort nicht mehr gibt, seit ich Sie in jener Eisenbahn zum erstenmal sah. Sie allein können mich erlösen.«

All dies stieß ich in einem Atemzug hervor.

Es war natürlich eine Lüge. Seit Annas Eintritt in mein Leben gab es dort so wenig Licht und Luft wie zuvor, also keine Änderung zu beklagen. Doch in dem Moment, da ich die Worte aussprach, schienen sie mir die reinste Wahrheit zu sein. Anna hörte mich schweigend an, eine Mischung aus Unglauben und Argwohn im Gesicht – derartiges schien sie von mir am allerwenigsten erwartet zu haben.

»Wie um alles in der Welt soll ich Sie denn erlösen?« fragte sie und zog die Brauen zusammen. »Wenn ich das wüßte, täte ich es mit dem größten Vergnügen, glauben Sie mir.«

Während ihre Hand immer noch in meiner lag, schien eine heiße Woge törichter Zuversicht meinen Brustkorb zu fluten.

»Ich habe eine Idee, Anna«, beeilte ich mich zu sagen, »Sie mögen es doch, mit der Kutsche auszufahren, nicht wahr? Kotowskis Traber sind mir zugefallen. Hier auf dem Gut ist es blöd – lassen Sie uns einfach heute bei Einbruch der Dunkelheit eine Landpartie machen!«

»Wie?« fragte sie. »Wozu?«

»Was heißt wozu? Ich dachte …«

Ihr Gesicht nahm einen verdrossenen, gelangweilten Ausdruck an.

»Mein Gott«, sagte sie und entzog mir ihre Hand, »ist das geschmacklos! Dann lieber den Zwiebelgestank vom letztenmal.«

Sie ging an mir vorbei, eilte die Treppe hinauf und betrat, ohne anzuklopfen, Tschapajews Arbeitszimmer. Eine Weile rührte ich mich nicht vom Fleck; erst als ich meine Gesichtsmuskeln wieder unter Kontrolle hatte, lief ich hinaus auf den Hof. Furmanow mußte ich nicht lange suchen; er war in der Stabsbaracke, wo er sich offenbar eingerichtet hatte. Auf dem Tisch, gleich neben dem großen Tintenfleck, stand nun ein Samowar – mit einem albernen Operettenstiefel auf dem Rohr, der den Leuten anscheinend als Blasebalg für die Glut unter dem Kessel diente. Daneben lag ein gesalzener Hering auf irgendwelchen Lappen. Nachdem ich Furmanow mitgeteilt hatte, daß ich auf der Abendveranstaltung mit revolutionären Versen aufzutreten gedachte, ließ ich ihn weiter in Gesellschaft zweier Weber seinen Tee trinken (daß die Wodkaflasche unter dem Tisch stand, war mir klar), trat durch das Hoftor und lief langsam zum Wald hinauf.

Seltsam: Das letzte Gespräch mit Anna bewegte mich wenig. Es reute mich nicht einmal sonderlich. Zwar mußte ich einsehen, daß diese Frau mir ein um das andere Mal die Möglichkeit zur Versöhnung vorzugaukeln schien, um mich dann regelmäßig, wenn ich nach dem Lockvogel griff, in denkbar dämlicher Pose stehenzulassen – doch auch ein solcher Gedanke verflog wie von selbst.

Ich lief ein Stück die Chaussee entlang, einfach so vor mich hin, und schaute ziellos in die Gegend. Das Pflaster endete bald; nach wenigen Schritten bog ich ab, kletterte die Böschung hinunter, ließ mich an einem Baum nieder und blieb, mit dem Rücken gegen den Stamm gelehnt, längere Zeit so sitzen.

Einen gefalteten Bogen Papier auf dem Knie, schrieb ich das Gedicht für den Wettstreit der Weber, was recht flott von der Hand ging. Es wurde, wie Tschapajew es sich vorgestellt hatte, ein Sonett im »Spieldosen-Stil«, mit markigem, gleichsam mit dem Säbel gehacktem Rhythmus und sperrigen Reimen. Als ich damit fast schon zu Rande war, ging mir auf, daß jegliche revolutionäre Symbolik fehlte, so daß ich die letzten Verse umzuschreiben beschloß. Schließlich war alles fertig. Ich steckte das beschriebene Blatt in die Jackentasche und wollte mich auf den Rückweg machen, als ich plötzlich spürte, daß durch das bißchen Mühe, welches ich auf das kleine Webergedicht verwandt hatte, die seit Ewigkeiten in mir schlafende Dichtermuse wachgeküßt war; ein unsichtbarer Flügel breitete sich über mich, alles ringsumher wurde unwichtig. Ich dachte an den Tod des Zaren (Furmanow hatte die üble Nachricht mitgebracht), und der verbliebene weiße Raum auf dem Papier füllte sich wie von selbst mit blitzsauberen, von flüssigen Reimen durchsetzten Anapästen, die mir vorkamen wie ein unglaubliches Echo vergangener Zeiten:

Zwei Matrosen im Wald
Stiefeln gegen den Wind und die Dämmerung.
Breit das lederne Kreuz,
Achtlos schändend den grünenden Ast.
Ihre Herzen versenkt
Unter Packen und Gurten mit Munition,
Und die Beine gerammt
Palisadengleich in den Morast.
Müde schleppt sich der Zar,
Da der Marsch aus dem Wald hin zur düstren Stadt
In die Länge sich zieht,
Und die Püffe der Büttel sind rüd.
Pöbel säumt seinen Weg,
Sanitäter bespucken ihn ungeniert:
Nur ein weitres Indiz,
Daß die russische Seele verblüht.
Doch er hört sie nicht mehr,
Ihre Flüche und falschen Belehrungen,
Nicht das »Fick dich ins Knie!«
Noch das Kolbengeklapper auf Stein.
Denn der Zar geht dahin,
Sieht den Wald und die Sonne zum letztenmal,
Und es juckt ihn nicht mehr,
Wie sie Gift spritzen, ihm hinterdrein.
Auf dem Stubben er sinnt:
»In the midst of this stillness and sorrow,
In these days of distrust
May be all can be changed – who can tell?
Who can tell what will come
To replace our visions tomorrow
And to judge our past? –
So, jetzt habt ihr's von mir offiziell.«

Daß der Zar englisch redete, wunderte mich überhaupt nicht. Warum sollte er sich nicht im Angesicht des Todes (oder doch von etwas anderem – ich wußte es selbst nicht) auf eine vom Rat der Volkskommissare per Dekret verunglimpfte Sprache zurückziehen. Weit mehr in Erstaunen setzten mich die Sanitäter – was sie hier zu suchen hatten, war mir vollkommen unklar. Im übrigen hatte ich mich nie groß darum geschert, wie meine Gedichte zu verstehen waren, spürte ich doch seit langem, welch zweifelhaftes Handwerk das Schreiben war. Hatte man einmal die Feder in die Hand genommen und sich übers Blatt gebeugt, blieb nichts weiter zu tun, als die vielen, über die Seele verteilten Schlüssellöcher so hintereinanderzustellen, daß durch sie hindurch urplötzlich ein Sonnenstrahl auf das Papier fiel.

Als ich auf den Gutshof zurückkehrte, war die Vorstellung bereits in vollem Gange. In einer Ecke des Hofes gab es eine improvisierte, von den Webern aus Brettern eines abgerissenen Zauns schnell zusammengenagelte Bühne. Auf Stühlen und Bänken, die man von überall herangetragen hatte, saßen die Soldaten und verfolgten das Geschehen. Ich kam just hinzu, wie unter lautem Hallo und Gelächter der Anwesenden ein Pferd von der Bühne gezerrt wurde – das arme Tier hatte wohl das Pech, über irgendein Talent zu verfügen, welches es soeben hatte demonstrieren müssen. Nun erklomm ein dürrer Mann mit Säbel an der Hüfte den Bühnenrand, der aussah wie ein Dorfklubleiter und hier offenbar den Conferencier mimte. Er wartete, bis der Lärm abgeklungen war, und verkündete feierlich:

»Ein Pferd mit zwei Schwänzen, das ist mal was. Aber nun kommt der Soldat Straminski dran, der mit dem Arsch reden kann, und zwar auf gut russisch, und vor der Volksbefreiung hat er als Artist im Zirkus gearbeitet. Er redet leise, also bitte schön still sein und nicht so laut wiehern.«

Ein kahlköpfiger, bebrillter junger Mann betrat die Bühne. Im Unterschied zu den meisten aus Furmanows Truppe machten seine Gesichtszüge einen erstaunlich intelligenten, mitnichten vertierten Eindruck. Es war der Typ »Spaßvogel vom Dienst«, wie man ihn häufig antrifft, mit einem Gesicht, das von den immerzu aufgesetzten Grimassen Runzeln trug. Er ließ sich einen Schemel reichen, stützte sich, seitlich zum Publikum, mit den Händen darauf, und hielt das Gesicht den Leuten zugewandt.

»Sag, Großer Nostradamus«, begann er, »wird die bluttriefende feindliche Hydra noch lange unserer Roten Armee Widerstand leisten?«

Nostradamus, der Unsichtbare, antwortete:

»Nicht mehr lange.«

»Und warum weicht sie noch nicht, die bluttriefende feindliche Hydra?«

»Entente«, kam die bündige Antwort.

Bei den Antworten blieben die Lippen des Mannes völlig unbeweglich, dafür zappelte der hervorgereckte Hintern um so heftiger. Die nachfolgenden Fragen drehten sich um Politik, um die Gesundheit der führenden Genossen (es ging das Gerücht, daß Lenin mit einem neuen Hirnschlag nach Gorki gebracht worden war und nur die Chefs der Leibwachen zu ihm vorgelassen wurden). Das Publikum hielt gebannt den Atem an.

Ich wußte sofort, was hier gespielt wurde. Vorzeiten hatte ich in Florenz einen Bauchredner auf der Straße erlebt, der Dantes Geist beschwor. Der Mann hier tat ähnliches, freilich mit dem Unterschied, daß die Antworten, die der »Geist« gab, ihn zum größten Marxisten von ganz Europa qualifizierten. Daran, daß der Mann ein Bauchredner war, ließ der eigentümlich tiefe, nicht eben klare, eher gurrende Klang der Stimme keinen Zweifel. Fragen mußte man sich bloß, warum der Künstler den Webern weiszumachen suchte, daß er die Laute mit dem Hintern fabrizierte.

Dies war in der Tat eine sehr interessante Frage.

Mein erster Gedanke war, es hätte damit zu tun, daß man roten Webern nicht so einfach mit Geistern kommen durfte, weil es ihrer Ansicht nach keine Geister gab. Dann aber kam mir die Vermutung, daß es um etwas ganz anderes ging. Wie dieser Straminski dort oben instinktiv begriffen zu haben schien, bedurfte es eines Mindestmaßes an Obszönität, um das hier anwesende Publikum bei der Stange zu halten. Und da des Künstlers Talente diesbezüglich eher neutraler Natur waren (soweit ich weiß, reden Bauchredner nicht einmal richtig mit dem Bauch, sie können einfach sprechen, ohne den Mund zu bewegen), mußte er sie bewußt unter die Gürtellinie ziehen.

Oh, wie bedauerte ich es in diesem Augenblick, keinen von den Symbolisten an meiner Seite zu haben! Sologub zum Beispiel! Oder besser noch Mereshkowski! Ließ sich ein eindringlicheres Symbol finden, ein umfassenderes? So also, dachte ich voller Bitterkeit, sah das Schicksal der schönen Künste in dem Tunnel aus, in den uns die Lokomotive der Geschichte gerade hineinzog und aus dem es keinen Ausgang gab. Wenn selbst ein Schaubudenbauchredner sich gezwungen sah, auf derlei Kinkerlitzchen zurückzugreifen, was hatte dann die hohe Dichtkunst zu erwarten? Ihr war in der neuen Welt kein Platz mehr beschieden – es sei denn, der Autor wäre mit zwei Schwänzen oder doch immerhin der Fähigkeit begabt gewesen, seine Verse mit dem Arsch zu rezitieren. Wie kommt das bloß? fragte ich mich: Jede soziale Verwerfung irgendwo in der Welt führt am Ende dazu, daß dieser trübe Schaum oben schwimmt und alle anderen dazu zwingt, nach seinem schuftigen Klüngelkodex zu leben.

Unterdessen hatte der Bauchredner den baldigen Untergang der Macht des Kapitals geweissagt, noch einen abgedroschenen Witz erzählt, den unten niemand verstand, und zu guter Letzt ein paar gedehnte Laute grob physiologischer Natur von sich gegeben, die das Auditorium mit dankbarem Gelächter entgegennahm.

Der Conferencier erschien wieder und kündigte meinen Auftritt an. Über ein paar durchhängende Planken bestieg ich das Podium, postierte mich am vorderen Rand und betrachtete schweigend das Publikum. Es war, muß ich sagen, kein sehr erfreulicher Anblick. Man kennt die Art Ausdruck in den Glasaugen eines ausgestopften Wildschweins oder Elchs – besser gesagt, die Gefühlslage, die der Betrachter, wüßte er nicht, daß die Augen tot sind und aus Glas, diesem Ausdruck entnähme. Was ich sah, entsprach dem, nur umgekehrt: Zwar schienen die meisten der auf mich blickenden Augen zu leben und ein Gefühl zu vermitteln, das ich durchaus kannte, doch wußte ich, diese Leute empfanden nicht das, was ich zu sehen meinte, und in Wirklichkeit würde ich niemals entschlüsseln können, was in ihren Köpfen dräute. Wahrscheinlich hätte es die Mühe auch nicht gelohnt.

Nicht alle blickten zu mir herauf. Furmanow war betrunken und schwätzte mit seinen zwei Adjutanten; in einer der hinteren Reihen entdeckte ich Anna, die mit verächtlichem Lächeln auf einem Strohhalm kaute. Das Lächeln galt wohl nicht mir – ihr Blick ging sonstwohin. Sie trug noch das gleiche schwarze Samtkleid wie vor Stunden.

Ich stellte einen Fuß nach vorn, kreuzte die Arme vor der Brust, sagte aber immer noch keinen Ton und starrte nach unten in den Gang zwischen den Reihen. Alsbald setzte Murmeln ein und verstärkte sich binnen weniger Sekunden zu kräftigem Getöse; Pfiffe und ein paar hämische Rufe waren gut herauszuhören. In diesem Moment begann ich mit betont leiser Stimme zu sprechen.

»Meine Herren, leider muß ich mich darauf beschränken, mit dem Mund zu euch zu sprechen, da es mir an Zeit und Gelegenheit fehlte, die hier gängigen Umgangsformen einzuüben.«

Die ersten Worte meiner Ansprache gingen vollkommen unter. Doch schon gegen Ende des einleitenden Satzes war der Lärm so weit verebbt, daß man die Fliegen summen hörte, die in Schwärmen über der Hörerschaft kreisten.

»Genosse Furmanow hat mich gebeten, euch ein paar Verse zu rezitieren; etwas Revolutionäres soll es sein. Dem möchte ich, in meiner Eigenschaft als Kommissar, eine Anmerkung vorausschicken. Genosse Lenin hat uns vor allzuviel formalen Experimenten gewarnt, und der Genosse, der vor mir hier aufgetreten ist, der mit dem Hintern redet, ja, Sie meine ich, Genosse, nehmen Sie es mir nicht übel: Lenin hat uns gelehrt, daß revolutionäre Kunst nicht durch äußerliche Extravaganzen entsteht; entscheidend ist die tiefe Durchdrungenheit von der proletarischen Idee. Zur Illustration möchte ich euch ein Gedicht vortragen, das von irgendwelchen Fürsten und Grafen handelt und doch zugleich ein Musterbeispiel ist für proletarische Poesie.«

Nun war das Publikum endgültig mucksmäuschenstill. Ich hob, wie in Ehrerbietung vor einem unsichtbaren Cäsaren, die Hand und rezitierte in meiner üblichen Manier, also ohne Intonation, nur mit kurzen Pausen zwischen den Quartetten:

Fürstin Meschtscherskaja besaß ein erlesenes Fetzchen,
Samtschwarz und schwül wie die spanische Nacht.
Darin erschien sie dem Hausfreund, dem goldigen Schätzchen,
Doch der, schreckensbleich, hat die Fliege gemacht.

O Wonne! O Schmerz! Amoroso al fine!
Sprach die Fürstin, und ihr stand der Sinn jetzt nach Brahms.

Und dem Hausfreund stand er hinter der Gardine
Samt schwarzem Überzieher, und ihm kam's

Schon beinah. Ach, Kinder, denkt nicht, das wäre gelogen!
So war sie, die imperialistische Brut.
Wüstlinge, die dem Volk das Blut aus den Adern sogen!
Die gibt's heute nicht mehr, und das ist gut.

Heut' weht ein andrer Wind, und jeder Arbeiter darf
Den Überzieher tragen wie ein Fürst oder Graf!

Für einige Augenblicke herrschte Stille, und dann brach ein Beifall los, wie ich ihn selbst in besten Zeiten den Petersburger Bohemiens im »Streunenden Hund« nicht abzuringen vermocht hatte. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie Anna aufstand und sich entfernte, doch das scherte mich im Moment wenig; ich fühlte mich zugegebenermaßen geschmeichelt, und aller Sarkasmus bezüglich dieses Publikums war erst einmal vergessen. Einem eingebildeten Feind mit der Faust drohend, zog ich den Browning aus der Tasche und schoß zweimal in die Luft. Augenblicklich wuchs eine Palisade von Flinten- und Pistolenläufen aus den Reihen hervor, und ein Salut, begleitet von einem Mordsgebrüll, war die Antwort. Mit einer knappen Verbeugung trat ich ab und lief im Bogen um den Pulk immer noch applaudierender Weber seitlich der Bühne geschwind ins Haus.

Der Erfolg berauschte mich doch einigermaßen. Wahre Kunst unterscheidet sich von dem, was Kunst zu sein vorgibt, darin, daß sie den Weg zum hartgesottensten Herzen findet und imstande ist, noch das kläglichste, dem Trance der infernalischen Weltrevolte verfallene Opfer für einen Moment in den Himmel zu heben, in eine Welt der völligen und uneingeschränkten Freiheit – so etwa gingen meine Gedanken. Indes setzte alsbald Ernüchterung ein, und mich beschlich die (meine Eitelkeit durchaus kränkende) Ahnung, daß mir vielleicht nur deshalb so viel Beifall gezollt worden war, weil man in meinen Versen eine Art Mandat zu sehen meinte, welches der um sich greifenden Gesetzlosigkeit zusätzliche Räume öffnete: Zu Lenins Aufforderung »Fleddert die Raffkes!« kam nun noch ein obskurer Freibrief, den Gebrauch von Überziehern betreffend.

Zurück in meinem Zimmer, legte ich mich auf das Bett und starrte, die Hände unterm Kopf gefaltet, zur Decke. Wenn ich überdachte, was mir in den letzten zwei, drei Stunden widerfahren war, so schien damit dem russischen Intellektuellen in seinem ewigen, unabänderlichen Schicksal der Spiegel vorgehalten. Heimlich Rotbannerverse schmiedend und sich mit Lobliedern auf den Schutzheiligen des örtlichen Polizeipräsidenten sein Brot verdienend. Oder umgekehrt den letzten Gang Seiner Majestät des Zaren vor dem inneren Auge erschauend und öffentlich der Anbringung gräflicher Präservative auf den schwieligen Genitalien des Proletariats das Wort redend – so war es immer, dachte ich, und so wird es bleiben. Selbst wenn man vermutete, daß die Macht in diesem schrecklichen Lande von keiner der Cliquen übernommen werden würde, die sich im Moment darum rissen, sondern Gaunern und Spitzbuben in die Hände fiele, wie sie in den »Musikalischen Spieldosen« herumsaßen – auch ihnen würde sich der russische Intellektuelle andienen wie der letzte Hundefrisör.

Während mir all das durch den Kopf ging, schlief ich schon halb. Ein plötzliches Klopfen an die Tür riß mich in die Wirklichkeit zurück.

»Ja?« rief ich, ohne mir die Mühe zu machen, mich vom Bett zu erheben. »Herein!«

Die Tür ging auf, doch niemand trat ein. Ich wartete einige Sekunden, dann hielt ich die Spannung nicht mehr aus und hob den Kopf. Anna stand in der Tür, im selben hochgeschlossenen Schwarzen.

»Darf ich?«

»Aber ja«, sagte ich und sprang auf, »bitte schön. Nehmen Sie Platz.«

Anna ließ sich im Sessel nieder – die Sekunde, die sie mir den Rücken zukehrte, nutzte ich, um den auf dem Boden liegenden löchrigen Fußlappen mit einem Kick unter das Bett zu befördern.

Die Hände auf den Knien, saß Anna nun in meinem Sessel und maß mich mit einem langen Blick; dabei schien sie einen noch unausgegorenen Gedanken reifen zu lassen.

»Möchten Sie rauchen?« fragte ich.

Sie nickte. Ich zog die Papirossy hervor, legte sie vor sie hin auf den Tisch, stellte die Untertasse daneben, die mir als Aschenbecher diente, und rieb ein Streichholz an.

»Danke«, sagte sie und blies einen dünnen Strahl Rauch zur Decke. Darauf sank sie in die vorherige Starre zurück. Man sah, in ihr ging ein Kampf vonstatten. Mir lag irgendeine Banalität auf der Zunge, wie man sie gebraucht, um ein Gespräch in Gang zu bringen, als mir gerade noch rechtzeitig einfiel, womit solches bislang stets geendet hatte; so verkniff ich es mir. Auf einmal fing Anna selbst an zu reden.

»Daß mir Ihre Gräfinnenverse sehr zugesagt hätten, kann ich nicht behaupten. Aber gemessen an den übrigen Nummern des Abends haben Sie eine ganz ordentliche Figur gemacht.«

»Danke.«

»Ich habe übrigens schon den ganzen Abend mit Ihren Gedichten zugebracht. In der Garnisonsbibliothek fand sich ein Bändchen.«

»Welches denn?«

»Weiß ich nicht. Die ersten Seiten fehlten. Da hat sich jemand Zigaretten gedreht, nehme ich an.«

»Woher wollen Sie dann wissen, daß es meine Gedichte waren?«

»Ist das wichtig? Ich hab den Bibliothekar gefragt, ganz einfach. Also jedenfalls gibt es da diese Anlehnung an Puschkin, wo es drum geht, daß einer die Augen aufschlägt, und ringsum ist nichts als Schneewüste und Nebel – und dann, dann kommt eine sehr gute Stelle. Warten Sie, wie ging das doch gleich … Ah ja.

Doch in uns glüht ein Rest Verlangen
Züge verkehrn bis Ultimo
Der Geist, er flattert unbefangen
Vom Niemandsland ins Nirgendwo.«

»Ach, ich weiß. ›Gesänge vom Königreich Ich‹ heißt das Buch.«

»Merkwürdiger Titel. Klingt irgendwie selbstgefällig. Tschapajew würde sicher gleich fragen, wen Sie meinen, wenn Sie ›Ich‹ sagen.«

»Das hat er schon. Was dieses Buch betrifft – übrigens eines meiner schwächsten, bei Gelegenheit zeige ich Ihnen die anderen –, da gibt es eine einfache Erklärung. Ich bin früher viel in der Welt herumgereist, bis ich eines Tages begriff, daß ich mich eigentlich immer nur im selben Raum bewegte, und dieser Raum war ich selbst. Dem gab ich damals den Namen ›Ich‹, er hätte auch ›Du‹ oder ›Müllers Kuh‹ heißen können, egal.«

»Und was ist mit den anderen?« fragte Anna.

»Welchen anderen?«

»Na ja. Sie schreiben doch viel über andere. Zum Beispiel …«

Sie runzelte ein wenig die Stirn, suchte sich offenbar einer Stelle zu entsinnen.

»Ich hab's:

Im Göpel schwitzten sie und tropften.
Sie machten Staat. Und sponnen Zwirn.
Um Jahr und Tag zu zählen, klopften
gegen die Wand sie mit der Stirn …
Ihr Anblick war mir so zuwider,
daß es mich doch zu ihnen zog.
Mehr reizt ihr Gleichschritt, je morbider
die Welt sich neigt zum Nekrolog.
So faßte ich …«

»Es reicht«, unterbrach ich sie, »ich entsinne mich. Das ist nun wirklich kein besonders schönes Gedicht.«

»Wieso? Mir gefällt das. Überhaupt hat mir Ihr Buch ungeheuer imponiert, Pjotr. Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet: Was ist mit den anderen?«

»Ich weiß nicht recht, worauf Sie hinauswollen.«

»Wenn alles, was Sie zu sehen, zu fühlen und zu verstehen meinen, sich in Ihnen selbst, in Ihrem Königreich ›Ich‹ befindet, dann bedeutet das, andere sind für Sie einfach irreal, oder nicht? Meine Wenigkeit zum Beispiel?«

»Ach, Anna, glauben Sie mir«, beteuerte ich leidenschaftlich, »wenn für mich irgend etwas auf dieser Welt real ist, dann sind Sie es. Sie ahnen nicht, wie sehr ich darunter leide, daß wir beide uns so, wie soll ich sagen, so mißverstehen.«

»Das liegt an mir«, sagte Anna. »Ich habe einen wirklich fiesen Charakter.«

»Was sagen Sie da! Alles ist meine Schuld. Mit Engelsgeduld haben Sie ertragen, wie täppisch ich mich …«

»Wir sollten einander nicht in Höflichkeitsbekundungen übertrumpfen. Sagen Sie ehrlich: Bedeute ich Ihnen wirklich so viel, wie einige Ihrer Bemerkungen glauben machten?«

»Sie bedeuten mir alles«, sagte ich, und es war ehrlich.

»Also gut«, sagte Anna. »Sie hatten eine Kutschpartie vorgeschlagen? Über Land? Fahren wir.«

»Wie, jetzt gleich?«

»Warum nicht?«

Ich trat dicht vor sie hin.

»Anna, Sie können sich nicht vorstellen …«

»Bitte«, wehrte sie ab. »Nicht hier.«

 

Wir führen zum Tor hinaus, dann lenkte ich den Wagen nach links. Anna saß neben mir, mit einer leichten Röte auf den Wangen, und vermied es, mich anzusehen; anscheinend bereute sie schon, was wir taten. Bis zum Waldrand fuhren wir schweigend. Kaum aber hatten sich die Bögen des Laubwerks über uns geschlossen, so daß kein lüsterner Blick uns aufspüren konnte, brachte ich die Pferde zum Stehen.

»Hören Sie, Anna«, sagte ich, »Ihre Eingebung in allen Ehren, aber ich möchte nicht, daß Sie bereuen, was …«

Sie ließ mich nicht ausreden. Ihre Hände griffen in meinen Nacken, ihre Lippen verschlossen meinen Mund. Das geschah so schnell, daß ich noch redete, während sie mich schon küßte. Und mir war durchaus nicht so viel an meinem Satz gelegen, daß ich sie in ihrem Tun hätte bremsen wollen.

Ich habe den Kuß immer als eine äußerst merkwürdige Form des zwischenmenschlichen Kontakts empfunden. Soweit ich weiß, zählt er zu den Dingen, die erst mit der Zivilisation Einzug hielten – von den auf den Südseeinseln lebenden Wilden wie auch von den Einwohnern Afrikas (soweit sie noch nicht die Schwelle überschritten haben, hinter der das dem Menschen einst verhießene Paradies endgültig passé ist) weiß man zum Beispiel, daß sie sich niemals küssen. Ihre Liebe ist einfach und geradezu; vielleicht ist das Wort Liebe nicht einmal ganz passend für das, was zwischen ihnen abgeht. Im Grunde ist es die Einsamkeit, die Liebe gebiert – wenn das Objekt nämlich fehlt. Ausgerichtet ist sie nicht so sehr auf ihn oder sie wie auf ein im Geiste entworfenes Bild, das mit dem Original wenig gemein hat. Damit etwas entstehen kann, was den Namen Liebe verdient, braucht es die Fähigkeit, Schimären aufzuziehen. Jener, den Anna da gerade küßte, war durchaus nicht existent – es war der, den sie hinter den enthusiastisch aufgenommenen Versen zu sehen glaubte; wie sollte sie wissen, daß auch ich damals, als ich jenes Buch schrieb, verzweifelt auf der Suche nach ihm war. Doch mit jedem neuen Gedicht war die Überzeugung gewachsen, daß ich ihn nie finden würde, es gab ihn einfach nicht, die Worte, die er angeblich hinterlassen hatte, waren eine Fälschung, so wie die Andeutungen von Stufen, die die Babylonier einst von Sklaven in den Granit hauen ließen, um damit nachträglich die Herabkunft einer alten Gottheit zu beweisen. Nun ja: Ist dies nicht im Grunde tatsächlich der Weg, auf dem die Götter zu uns herabsteigen?

Die letzte Frage ging Anna unmittelbar an. Ich spürte das Tasten ihrer bebenden Zungenspitze; ihre Augen hinter dem halb heruntergelassenen Wimpernvorhang waren so dicht vor mir, daß ich mir vorstellen konnte, in ihren feuchten Glanz abzutauchen und für immer darin aufzugehen. Schließlich wurde die Luft knapp, und unser erster Kuß ging zu Ende. Ihr Gesicht drehte sich zur Seite, so daß ich es nun im Profil sah; sie schloß die Augen, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, wie um sie zu befeuchten – all diese kleinen mimischen Bewegungen, die bei anderer Gelegenheit nicht von Belang gewesen wären, rührten mich zutiefst. Ich spürte plötzlich, daß nichts mehr zwischen uns stand, daß alles nun möglich war, und meine Hand rutschte von ihrer Schulter – die einfach so zu berühren noch vor einer Minute einer Schandtat nahegekommen wäre – ebenso selbstverständlich auf ihre Brust. Anna wand sich in meinen Armen ein bißchen, jedoch, wie ich sofort spürte, nur zu dem Zweck, daß meine Hand auf ihrem Weg keinem Hindernis begegnete.

»Woran denken Sie gerade?« fragte sie. »Bitte ohne Umschweife.«

»Woran ich denke?« fragte ich zurück und ließ meine Hände nun in ihren Nacken gleiten. »Daran, daß der Weg zum Gipfel der Erfüllung buchstäblich eine Art Bergsteigen ist.«

»Nicht doch. Sie reißen ja den Haken ab. Nein, lassen Sie mich das machen. Pardon, ich habe Sie unterbrochen.«

»Ja, eine riskante und komplizierte Bergsteigerei. Solange das ersehnte Ziel noch nicht erreicht ist, sind alle Gefühle vom Aufstieg in Anspruch genommen. Der Stein, worauf der Fuß als nächstes zu treten hat, der Strauch, in den die Hand sich krallen kann. Wie wunderschön Sie sind, Anna. Wo war ich? Ja, das Ziel verleiht alledem den letzten Sinn, doch an den einzelnen Punkten dieses Weges verliert man es ganz aus den Augen. Die Annäherung an das Ziel ist selbigem im Grunde genommen überlegen. Hat das nicht irgendeiner von diesen deutschen Opportunisten, Bärstein oder so ähnlich, gesagt: Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts?«

»Bernstein. Wie zum Teufel kriegt man das bei Ihnen auf? Mann, wo haben Sie bloß diesen Riemen her?«

»Anna, o mein Gott, wollen Sie, daß ich den Verstand verliere?«

»Reden Sie ruhig weiter«, sagte sie und schaute einen Moment herauf, »aber sehen Sie es mir nach, wenn ich ein Weilchen den Mund halte.«

»Ja also«, fuhr ich fort, nachdem ich den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen hatte, »der springende Punkt ist, daß einem das Ziel in dem Moment, wo man den Gipfel erreicht hat, abhanden kommt. Wie alle Evokationen des Geistes bekommt man es nicht zu fassen. Gewiß können Sie sich vorstellen, Anna, wie es ist, von der schönsten aller Frauen zu träumen, die Einbildung weiß sie in ihrer ganzen Vollkommenheit zu vergegenwärtigen, doch liegt man in ihren Armen, ist die Vorstellung dahin. Was einem bleibt, ist eine beschränkte Anzahl simpler, oftmals recht grobkörniger Gefühle, die noch dazu im Dunklen … O-ooh. So sehr sie das Blut auch in Wallung bringen mögen, die Schönheit, die einen noch vor kurzem lockte, ist vergangen – an ihre Stelle ist etwas getreten, dem hinterherzulaufen geradezu lächerlich wäre. Mit anderen Worten, Schönheit ist unerreichbar. Das heißt, erreichbar ist sie, trivial gesehen, schon, nur das, was der von Leidenschaft berauschte Verstand hinter ihr zu finden hoffte, existiert nicht. An sich ist Schönheit sogar … Puh, ich glaube, ich kann nicht mehr lange. Kommen Sie her. Ja, so … Ja. Ja! Ist es so gut? O mein Gott. Wie hieß noch mal richtig der Mann, der das mit der Bewegung und dem Ziel gesagt hat?«

»Bernstein«, wisperte Anna mir ins Ohr.

»Finden Sie nicht, daß der Gedanke genausogut auf die Liebe anzuwenden ist?«

»Ja«, flüsterte sie und biß mich sanft ins Ohrläppchen. »Das Ziel ist nichts, Bewegung ist alles.«

»Ja, dann bewegen Sie sich doch, um Himmels willen!«

»Wenn Sie bitte weiterreden würden.«

»Worüber denn?«

»Egal. Hauptsache, Sie reden. Ich möchte Ihre Stimme hören, wenn es mir kommt.«

»Ihr gehorsamster Diener. Wenn ich den Gedanken fortspinnen darf. Lassen Sie uns einmal all das, was eine schöne Frau dem Manne zu geben vermag, mit hundert Prozent an setzen.«

»Sie Buchhalter!«

»Hundert Komma null. Neunzig Prozent davon schenkt sie ihm in dem Moment, da er sie zum erstenmal sieht. Und die ganze, seit Tausenden von Jahren anhaltende Tortur geschieht um des schnöden Restes willen. Die ersten neunzig Prozent lassen sich nicht weiter auseinanderklamüsern, Schönheit ist unteilbar und undefinierbar, da kann dieser Schopenhauer erzählen, was er will. Was aber die restlichen zehn Prozent angeht, das sind bloß ein paar Nervensignale, die man vergessen könnte, wenn nicht Einbildung und Erinnerung zu Hilfe kämen. Würden Sie für einen Moment die Augen öffnen, Anna? Bitte! Ja, Einbildung und Erinnerung hatten wir gesagt. Wenn ich den Auftrag hätte, eine handfeste erotische Szene zu schreiben, würde ich mich auf ein paar Anspielungen beschränken, und der Rest ist Small talk, so wie … Oh, wie … Anna! So wie wir beide ihn gerade pflegen. Weil es keinen Sinn macht, etwas auszumalen – das muß der Geist selber tun. Der Trick ist nämlich, und das ist vielleicht eines der weiblichen Sekrete, ich meinte, der größten weiblichen Geheimnisse, ach, mein holdes Gutsfräulein, der Trick ist, daß die Schönheit wie eine Art Etikett erscheint, hinter dem man etwas ungleich Größeres vermutet, eben das, wonach man sich so unbeschreiblich sehnt. Dabei ist es nur Reklame, und was dahintersteckt, ist wirklich nichts Besonderes. Goldnes Etikett auf leerer Flasche. Riesenschaufenster, tolle Dekoration, und wenn man reingeht, ist es so ein nettes, anheimelndes Büdchen, und, hach, ziemlich eng. Nicht so schnell, meine Liebe, ich flehe Sie an. Und da drinnen ist alles … leer. Das Gedicht für die armen Kerle heute abend, wissen Sie noch? Von der Gräfin und dem schwarzen Überzieher. Anna … Sieht aus wie ein … Zipfelmützchen … glatt und rund und sehr verlockend, aber es kommt … es kommt … der Moment, da … da weißt du … in der Mitte von dem Ding Ding Ding Ding … issis … nurnnn schwa-schwa-wschwa-wschwa-schwaharharzes Lo-lo-lo-lo-oh-oooh-ooch!!!«

 

»Was?«

Ich fuhr vom Kissen hoch.

»Pochpochpoooch!« krächzte es wieder, und ein Fingerknöchel tanzte dicht neben mir auf der Bettstelle.

»Merde«, brummte ich, stützte mich auf den Ellbogen und riß die verklebten Lider auf. Blaues Dämmerlicht füllte das Zimmer. Vor mir stand auf krummen Beinen jener Blondschopf, der, wenn ich mich recht entsann, Semjon hieß und eigentlich mein Bursche war – doch durch den nun schon Wochen anhaltenden, verheerenden Einfluß der Roten konnte man nicht mehr wissen, was in seinem Strohkopf vor sich ging, so daß ich mir abends vorsichtshalber selbst die Stiefel von den Füßen zog und es auch tagsüber vermied, mit ihm zusammenzutreffen.

»Der Teufel soll euch alle holen! Was willst du?«

»Schläfst grade?« fragte er, während er sich dreist im Zimmer umsah. »Hab ich dich geweckt? Wollt ich nich. Hast so 'ne schöne Überraschung aufgesagt heute abend. Guck mal, was für'n Geschenk die Jungs sich ausgedacht haben. Für dich.«

Vor mir klatschte etwas auf die Bettdecke – in Zeitungspapier verpackt und einen Geruch verströmend, der mir seltsam bekannt vorkam. Ich wickelte es auf. Ein Überzieher kam zum Vorschein, wie man ihn in den Petersburger Modesalons um die Jahrhundertwende zu kaufen bekam – abgerissen, beschmiert und nach Stiefelwichse stinkend.

»Was denn, freuste dich nich?«

Der Blick, den ich dem Burschen zuwarf, ließ ihn die Beine in die Hand nehmen. Bevor ich den Browning aus der Jackentasche gewühlt hatte, war er verschwunden; die drei Kugeln, die ich ihm durch das dunkle Viereck der offenstehenden Tür hinterherschickte, pfiffen zwischen den Wänden des Korridors hin und her.

»Sss…suka«, zischte ich und ließ mich auf das Bett zurückfallen.

Dann wurde ich eine ganze Weile nicht mehr gestört. Draußen vor dem Fenster herrschte trunkener Radau, mehrmals knallten Schüsse, zwischendurch klang es nach einer längeren, müden Schlägerei. Wie es sich anhörte, war die kulturelle Abendveranstaltung ins totale Chaos gemündet; ob irgendwer sich noch in der Lage fühlte, diesen, wie man es in Kreisen Petersburger Liberaler ausgedrückt hätte, elementaren Volkszorn unter Kontrolle zu halten, schien mehr als zweifelhaft. Schließlich waren vom Korridor, zu dem hin die Tür immer noch offenstand, leise Schritte zu hören. Für einen Augenblick schöpfte ich Hoffnung (es gab so etwas wie Träume in Fortsetzung, das wußte ich) – doch diese Hoffnung war so schwach, daß ich, als Kotowskis breitschultrige Gestalt in der Tür erschien, kaum Enttäuschung verspürte; der Gedanke, daß nun wohl aufs neue um Pferde und Kokain gefeilscht werden sollte, belustigte mich sogar ein wenig.

Kotowski trug einen braunen Zivilanzug, dazu einen breitkrempigen, geckenhaften Hut und in jeder Hand einen ledernen Reisekoffer. Die Koffer stellte er auf dem Boden ab und legte zwei Finger an die Hutkrempe.

»Guten Abend, Pjotr«, sagte er. »Ich wollte mich nur verabschieden.«

»Sie verreisen?« fragte ich.

»Ja. Und ich frage mich, was Sie noch hier verloren haben«, erwiderte Kotowski. »Es ist eine Frage von Stunden, bis diese Weberbande einem das Dach über dem Kopf abfackelt. Ich weiß nicht, was Tschapajew sich für Hoffnungen macht.«

»Wie er sagte, will er das Problem noch heute in den Griff bekommen.«

»Dafür gibt es immer verschiedene Wege, wie man weiß. Man kann sich zum Beispiel einen hinter die Binde gießen, dann verschwinden alle Probleme für ein Weilchen. Ich packe sie lieber an, bevor sie mich anpacken. Der Zug geht um acht. Es ist also noch nicht zu spät. In fünf Tagen sind wir in Paris.«

»Ich bleibe.«

Kotowski sah mich gespannt an.

»Sie sind übergeschnappt, wissen Sie das?« fragte er.

»Natürlich.«

»Es wird so weit kommen, daß man Sie einlocht, alle drei, und Furmanow übernimmt das Kommando.«

»Davor habe ich keine Angst.«

»Heißt das, vor dem Knast graut Ihnen kein bißchen? Na klar, wir russischen Intellektuellen fühlen uns ja selbst in der Klapsmühle zu Hause, immer bleibt uns ein Zipfelchen geheime Freiheit à la Pushkine, darin kann man sich prima einrichten.«

Ich mußte lachen.

»Sie haben ein erstaunliches Talent, meine Gedanken laut auszusprechen, Kotowski. Das ist mir vorhin tatsächlich durch den Kopf gegangen. Die geheime Freiheit des russischen Intellektuellen, darüber könnte ich Ihnen etwas erzählen.«

»Wenn es nicht zu lange dauert, nur zu.«

»Eine höchst interessante Begebenheit, die sich ungefähr vor einem Jahr in Petersburg zutrug. Irgendwelche Sozialdemokraten aus England waren zu Besuch – natürlich schockiert von dem, was sie zu sehen bekamen – kurz und gut, der Lyrikerverband hatte ein offizielles Treffen mit ihnen organisiert, in der Bassejnaja. Alexander Block war auch dabei und hat ihnen den ganzen Abend von dieser geheimen Freiheit erzählt, auf die wir alle miteinander ein Puschkinsches Hohelied singen könnten, wie er sich ausdrückte. Es war übrigens das letzte Mal, daß ich ihn sah: ganz in Schwarz, in unglaublich düsterer Stimmung. Als er gegangen war, fragten die Engländer, die nichts von alledem kapierten, was er denn gemeint hätte mit secret freedom und so weiter. Keiner konnte es ihnen recht erklären. Da behauptete plötzlich ein Rumäne, der aus irgendeinem Grund zusammen mit den Engländern reiste, er wisse genau, wovon die Rede sei.«

»Aha«, sagte Kotowski und sah auf die Uhr.

»Keine Angst, ich bin gleich fertig. Er sagte, es gebe im Rumänischen eine analoge Redewendung, ›haz baragaz‹ oder so ähnlich, genau weiß ich es nicht mehr. Wörtlich übersetzt heißt es ›das unterirdische Lachen« Und zwar sind die Rumänen im Mittelalter häufig von irgendwelchen Nomaden überfallen worden, deshalb gruben sich ihre Bauern große Hütten, ach, ganze Häuser in die Erde, und sobald am Horizont Staubwolken auftauchten, trieben sie ihr Vieh hinein und versteckten sich dort auch selbst. Und weil die Hütten hervorragend getarnt waren, konnten die Nomaden sie nirgends finden. Die Bauern mußten da unten natürlich mucksmäuschenstill sein, und nur manchmal, wenn sie vor heimlicher Schadenfreude zu platzen drohten, hielten sie sich die Hand vor den Mund und glucksten. Geheime Freiheit bedeutet demnach, so der Rumäne, daß du zwischen stinkenden Hammeln und Ziegen hockst, den Daumen nach oben, und dir ins Fäustchen lachst. Sehen Sie, Kotowski, das war eine so präzise Beschreibung der Situation, daß ich noch am selben Abend beschloß, aus der russischen Intelligenzija auszutreten. Unter der Erde hocken und kichern, das ist nichts für mich. Es gibt keine geheime Freiheit.«

»Interessant«, sagte Kotowski. »Wirklich. Aber ich muß jetzt los.«

»Es ist besser, ich bringe Sie noch zum Tor«, sagte ich und erhob mich. »Da unten ist der Teufel los.«

»Sag ich doch.«

Ich schob den Browning in die Tasche, nahm Kotowski einen der Koffer ab und wollte ihm hinaus auf den Korridor folgen, als mich urplötzlich die merkwürdige Vorahnung beschlich, daß ich in dieses Zimmer nicht mehr zurückkehren würde. Ich blieb in der Tür stehen und warf einen letzten, aufmerksamen Blick zurück: auf die zwei Stühle, das Bett, den kleinen Tisch mit dem gebundenen Jahrgang der »Isis« von 1915. Mein Gott, und wenn es so war! dachte ich beinahe heiter. Warum auch nicht? Hatte ich nicht schon oft einem Ort für immer den Rücken gekehrt? Und was tat es, wenn ich nicht wußte, was mir bevorstand!

»Fehlt noch was?« fragte Kotowski.

»Nein, nein.«

Als wir auf die Freitreppe traten, bot sich uns ein Anblick, der an Brjullows Bild »Der letzte Tag von Pompeji« denken ließ. Nein, keine berstenden Säulen, keine den Himmel verdunkelnden Rauchwolken, nur zwei riesige Lagerfeuer und um sie herum jede Menge besoffene Weber. Aber wie sie einander auf die Schultern klopften, wie sie sich hinstellten und vor jedermanns Blicken ihre Notdurft verrichteten oder sich eine Flasche in den Rachen stemmten, wie dazwischen halbnackte Weiber kichernd über den Hof torkelten, und als Beleuchtung des Bacchanals dieses bizarre rote Flackern der Feuer – in alledem spürte man das Monströse, Unerbittliche, Unwiderrufliche, wie es die Hand nach einem ausstreckte.

Schweigend und ohne zu zögern, gingen wir zum Tor; ein paar der am Feuer sitzenden, bewaffneten Männer winkten herausfordernd, brüllten etwas, das man nicht verstand; Kotowski nestelte nervös an seiner Jackettasche. Gottlob ließen sie von uns ab, doch die letzten Meter bis zum Tor, da wir dem heillosen Getümmel die ungeschützten Rücken zukehrten, erschienen mir sehr lang. Als wir endlich auf der Straße und schon ein paar Schritte gegangen waren, blieb ich stehen. Die Straße führte in Serpentinen abwärts, sie war leer; ein paar Laternen brannten, in deren ruhigem Schein das feuchte Pflaster matt glänzte.

»Bis hierher«, sagte ich. »Viel Erfolg.«

»Ihnen das gleiche. Vielleicht sieht man sich einmal wieder, wer weiß«, erwiderte Kotowski mit seltsamem Lächeln. »Oder man hört voneinander.«

Wir gaben uns die Hand, er legte wieder die beiden Finger an die Krempe und lief, ohne sich noch einmal umzudrehen, die Straße hinunter. Ich wartete, bis sein breiter Rücken hinter der Biegung verschwunden war, und schlenderte dann zurück. Am Tor verharrte ich und spähte vorsichtig auf den Hof. Das Fenster von Tschapajews Arbeitszimmer war dunkel. Plötzlich wußte ich, warum mich das, was da vor sich ging, so beklommen machte: Irgendwie erinnerte es an die Welt des Barons Jungern. Mich noch einmal an den Feuern mit den betrunkenen Webern vorbeizuschleichen, verspürte ich nicht die geringste Lust.

Mir fiel ein, wo Tschapajew stecken konnte. Ich lief ein Stück die Mauer entlang, vierzig Meter vielleicht, und sah mich dabei gründlich um. Niemand war zu sehen. Da nahm ich Anlauf, sprang, klammerte mich am oberen Mauerrand fest, konnte mich gerade so hinaufziehen und darüberwälzen; dann sprang ich auf der anderen Seite zu Boden.

Hier war es vollkommen finster; der Schein der Lagerfeuer wurde vom Gutshaus verdeckt, das schwarz und stumm vor mir aufragte. Ich tastete mich durch die regenfeuchten Bäume bis zum abschüssigen Teil des hinteren Hofes vor, wo ich ausglitt und auf dem Rücken den Hang hinunterrutschte. Der kleine Bach plätscherte irgendwo rechter Hand; mit ausgestreckten Händen ging ich auf das Plätschern zu und sah nach wenigen Schritten das kleine Badestubenfenster zwischen den Stämmen leuchten.

»Komm rein, Petka«, rief Tschapajew, kaum daß ich angeklopft hatte.

Das Bild wie gehabt: der grobgezimmerte Tisch, darauf die bauchige Flasche mit dem Selbstgebrannten, eine Anzahl Gläser und Teller, die Petroleumlampe und ein dicker Ordner mit Papieren; dahinter Tschapajew, das weiße, bis zum Nabel aufgeknöpfte Hemd über der Hose, schon ordentlich betrunken.

»Was macht die Kunst?« fragte er.

»Mir war, als wollten Sie heute dem Problem mit den roten Webern zu Leibe rücken«, sagte ich.

»Bin gerade dabei«, sagte Tschapajew und goß Schnaps in zwei Gläser.

»Ich sehe, Kotowski kennt Sie ganz gut.«

»Stimmt. Und ich kenne ihn.«

»Er hat soeben den Nachtzug nach Paris genommen. Daß wir seinem Beispiel nicht gefolgt sind, scheint mir ein schwerer Fehler zu sein.«

Tschapajew runzelte die Stirn. Gleich darauf begann er in singendem Tonfall zu rezitieren:

»Doch in uns glüht ein Rest Verlangen
Züge verkehrn bis Ultimo
Der Geist, er flattert unbefangen
Vom Niemandsland ins Nirgendwo …«

»Noch ein Leser! Wie mir das schmeichelt«, sagte ich und merkte im selben Moment, daß das »noch« fehl am Platz war. »Hören Sie, wenn wir uns beeilen, kriegen wir den Zug vielleicht noch.«

»Was hab ich denn in Paris verloren?« fragte Tschapajew.

»Was sich hier wohl nicht mehr gewinnen läßt«, entgegnete ich trocken.

Tschapajew grinste.

»Da kannst du recht haben, Petka.«

»Wo ist übrigens Anna? Drüben im Haus ist es nicht ungefährlich.«

»Sie ist mit einem Auftrag von mir unterwegs. Wird gleich zurück sein. Alles in Ordnung mit ihr. Setz dich doch endlich. Ich warte auf dich seit Stunden – die Flasche ist schon halb leer.«

Ich setzte mich ihm gegenüber.

»Auf dein Wohl.«

Achselzuckend gab ich auf. Da war nichts zu machen.

»Auf Ihr Wohl, Wassili Iwanowitsch.«

Wir tranken. Tschapajew glotzte nachdenklich auf das mickrige Flämmchen in der Lampe.

»Ich hab in der Zwischenzeit über deine Träume nachgedacht«, sagte er und legte die flache Hand auf den Ordner. »Die Storys, die du aufgeschrieben hast, hab ich alle noch mal gelesen. Die mit Serdjuk, die mit dem komischen Maria und die mit den Ganoven. Hast du eigentlich mal darauf achtgegeben, wie du aus diesem ganzen Zeug aufwachst?«

»Nein.«

»Dann versuch dich zu erinnern.«

Ich dachte nach.

»In irgendeinem Moment geht mir immer auf, daß es ein Traum ist, und das war's dann«, sagte ich zögernd. »Immer wenn es richtig arg wird, kriegt man plötzlich mit, daß man keine Angst zu haben braucht, weil …«

»Weil?«

»Ich suche noch nach den richtigen Worten. Weil … weil da etwas ist, wo man sozusagen hinerwacht.«

Tschapajew schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Und wohin, wenn ich fragen darf?«

»Ich weiß nicht.«

Tschapajew blickte mir in die Augen und lächelte. Plötzlich hatte ich nicht mehr den Eindruck, daß er betrunken war.

»Alle Achtung«, sagte er. »Ins Schwarze getroffen. Wenn der Traumstrom dich einmal erfaßt hat, wirst du ein Teil von ihm, in ihm ist alles relativ, alles fließt, und da ist nichts, woran man sich festhalten könnte. Du merkst nicht einmal, wenn es dich in einen Taifun hineinzieht, denn du schwimmst mit der Strömung, und es sieht so aus, als stünde das Wasser still. So kommt man im Traum zu einer Art Realitätsgefühl. Aber es gibt einen festen Punkt – fest nicht in bezug auf etwas, sondern absolut und an sich – und der heißt ›ich weiß nicht‹. Wenn du auf den stößt, fliegst du raus aus dem Traum. Genauer gesagt, du wachst in diesem Punkt auf und landest dann hier.«

Er deutete mit der Hand auf den Raum, in dem wir saßen.

Draußen knatterte eine Maschinengewehrsalve, gleich darauf brachte eine Detonation die Fensterscheibe zum Klirren.

»Dieser Punkt aber«, fuhr Tschapajew ungerührt fort, »ist auch im Leben absolut fest, ihm gegenüber ist dieses Leben genauso ein Traum wie alle deine Geschichten. Die ganze Welt ist ein Taifun von Gedanken, und sie wird nur deshalb zur Realität, weil du im Auge des Taifuns sitzt und sagst: Ich weiß.«

Das letzte Wort betonte er übertrieben.

Ich stand auf und trat zum Fenster.

»Tschapajew, ich glaube, die haben das Gutshaus angezündet.«

»Nichts zu machen, Petka. So ist die Welt nun mal. Fragen gibt es viele, Antworten findet man erst, wenn das Haus brennt.«

»Wirklich«, sagte ich, während ich wieder ihm gegenüber Platz nahm, »das klingt alles sehr spannend, Gedankentaifun und so weiter. Daß zwischen realer und nicht realer Welt nur ein subjektiver Unterschied besteht, leuchtet mir ein. Aber jeden Moment könnten ein paar sehr unangenehme Personen durch die Tür treten … Nicht daß ich behaupten möchte, sie wären real, aber es steht zu befürchten, daß sie uns ihren Realitätsgrad handgreiflich demonstrieren wollen.«

»Ha!« machte Tschapajew. »Daraus wird nichts. Paß auf.«

Er ergriff die Flasche, zog ein kleines blaues Schälchen zu sich heran und goß es randvoll. Dann tat er das gleiche mit einem Glas.

»Da, schau her. Schnaps ist für sich genommen ein formloses Etwas. Hier ist das Glas, da die Schale. Welches davon ist die wahre Form?«

»Beide«, sagte ich. »Beide sind gleich wahr.«

Tschapajew trank Schälchen und Glas sorgfältig leer und schleuderte eines nach dem anderen gegen die Wand. Die Gefäße zerschellten in winzige Splitter.

»Hast du gesehen? Merk es dir. Wer wahr zu sein vorgibt, dem ist der Tod gewiß. Dem kann ich auch nicht helfen. Ich frage dich noch einmal. Da sind die Gläser, hier steht die Flasche. Welche Form ist die wahre?«

»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.«

»Kleine Demonstration gefällig?«

»Von mir aus.«

Schwankend langte Tschapajew unter den Tisch und holte seine vernickelte Mauserpistole hervor. Ich hatte Mühe, ihm noch rechtzeitig in den Arm zu fallen.

»Ist gut. Bitte nicht auf die Flasche schießen.«

»Hast recht. Austrinken ist besser.«

Er füllte die Gläser und grübelte. Jetzt war er es, dem die rechten Worte zu fehlen schienen.

»In Wirklichkeit«, begann er, »gibt es für den Schnaps weder Schälchen noch Gläser, noch Flaschen, es gibt nur ihn selbst. Darum ist alles, was auf der Bildfläche erscheint und wieder von ihr verschwindet, eine leere Formenparade – nicht existent, solange der Schnaps sie nicht ausfüllt. Gießt du ihn in ein Schälchen, ist es die Hölle, gießt du ihn in eine Tasse, ist es der Himmel. Wir trinken ihn aus Gläsern. Das macht uns zu Menschen, Petka. Wenn du verstehst, was ich meine?«

Draußen krachte es erneut. Man mußte nicht mehr ans Fenster treten, um den roten Feuerschein zu sehen.

»Weil wir grad von der Hölle reden«, sagte ich, »hab ich Ihnen schon erzählt, warum die Weber immer noch Abstand zu uns wahren?«

»Nein, warum?«

»Weil die ernsthaft glauben, Sie hätten Ihre Seele dem Teufel verkauft.«

»Ach ja?« fragte Tschapajew verwundert. »Ist ja interessant. Wer soll denn da der Verkäufer sein?«

»Wie meinen Sie das?«

»Na, wenn es heißt, jemand hat seine Seele dem Teufel verkauft oder meinetwegen dem lieben Gott – wie hat man sich das vorzustellen? Er muß doch von seiner Ware irgendwie getrennt sein, um sie verkaufen zu können?«

»Entschuldigen Sie, Tschapajew, meine katholische Kinderstube erlaubt es mir nicht, mit solchen Dingen zu spaßen.«

»Verstehe«, sagte Tschapajew. »Ich weiß übrigens, woher diese Gerüchte stammen. Mich hat hier tatsächlich mal ein Mann aufgesucht, der wissen wollte, wie man seine Seele dem Teufel verhökert. Ein Stabshauptmann namens Gärtner. Kennen Sie ihn?«

»Wir sind uns im Restaurant begegnet.«

»Ich hab ihm erklärt, wie er es anstellen soll. Er hat das ganze Ritual sehr gründlich vollzogen.«

»Und was geschah?«

»Nichts Besonderes. Das Geld ist ausgeblieben, die ewige Jugend auch. Nur daß plötzlich in allen seinen Dienstausweisen anstelle des Namens Gärtner der Name Bock stand.«

»Und wie kam das?«

»Keiner steht doch gerne als Betrüger da. Etwas zu verkaufen, was man nicht hat, das tut man nicht.«

»Soll das heißen, Gärtner hat keine Seele?«

»Natürlich nicht.«

»Und Sie?«

Für einen Moment schien Tschapajew in sich hineinzusehen, dann schüttelte er den Kopf.

»Und ich?«

»Du auch nicht.«

Die Bestürzung muß mir anzusehen gewesen sein, denn Tschapajew tätschelte mir grinsend den Ellbogen.

»So ist das, Petka. Ich hab keine Seele, du hast keine Seele, und Stabshauptmann Gärtner hat keine Seele. Aber die Seele hat einen Gärtner, einen Tschapajew und einen Petka. Man kann nicht sagen, daß jeder eine andere Seele hat, aber genauso falsch wäre es zu behaupten, jeder hätte die gleiche. Wenn sich überhaupt etwas von ihr sagen läßt, dann nur, daß es sie auch nicht gibt.«

»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«

»Ist auch vertrackt, Petka. Da war selbst Kotowski auf dem falschen Dampfer. Die Sache mit dem Wachs, du erinnerst dich?«

»Ja.«

»Daß es keine Form gibt, hatte Kotowski gemerkt. Aber daß es auch kein Wachs gibt, das wußte er nicht.«

»Wieso gibt es kein Wachs?«

»Weil, Petka … Paß auf, ich sag dir was: Weil das Wachs so wie der Schnaps zwar jede beliebige Form annehmen kann, selber aber auch bloß Form ist.«

»Form wovon?«

»Das ist die Frage. Was man von solchen Formen sagen kann, ist, daß es nichts gibt, was sie ausfüllt, verstehst du? Deshalb sind Wachs und Schnaps nicht wirklich vorhanden. Nichts ist vorhanden. Sogar weniger als nichts.«

Mir war, als balancierte ich auf der Schwelle zu etwas Neuem – aber dann riß es mich zurück in eine dumpfe, benebelte Schwere. Ich konnte auf einmal kaum noch einen Gedanken fassen.

»Kein Wachs vorhanden«, sagte ich. »Aber immerhin noch eine halbe Flasche Schnaps.«

Tschapajew glotzte mit trüben Augen auf den Tisch.

»Richtig«, sagte er. »Wenn du erst mal kapiert hast, daß es den auch nicht gibt, spendier ich dir einen von meinen Orden. Und bevor er nicht an deiner Brust steckt, rühren wir uns nicht von der Stelle, hörst du.«

Wir tranken jeder noch ein Glas, und ich horchte nach draußen, wo die Schießerei immer weiterging. Tschapajew schien überhaupt nicht darauf zu achten.

»Haben Sie wirklich keine Angst?« fragte ich ihn.

»Du etwa?«

»Ein bißchen schon«, gab ich zu.

»Wovor?«

»Vor dem Tod. Das heißt, nicht direkt, aber … Ich weiß nicht. Mein Bewußtsein hätte ich schon gern gerettet.«

Tschapajew lachte und schüttelte den Kopf.

»Hab ich was Komisches gesagt?«

»Du bist gut. Von dir hab ich das nicht erwartet, Petka. Bist du etwa jedesmal mit solchen Flausen im Kopf Attacke geritten? Da könnte genausogut ein Fetzen Zeitung unter der Laterne liegen und sich vornehmen, die Welt zu retten – da, wo es hell ist. Was hat dein Bewußtsein denn zu befürchten?«

Ich zuckte die Schultern.

»Das Nichts.«

»Aber, gehört das Nichts denn nicht zum Bewußtsein dazu?«

»Jetzt geht die Sophisterei schon wieder los«, sagte ich. »Dann bin ich eben ein sich mit Welterlösungsgedanken tragendes Stück Zeitung unter der Laterne. Das ändert nichts daran, daß ich so denke, und es tut weh!«

»Ein Stück Zeitung kann nicht denken. Es kann höchstens eine Überschrift haben, meinetwegen fett: ›Ich möchte die Welt unter meiner Laterne retten.‹ Und drunter steht: ›O Schmerz! O Wonne!‹ Ach, Petka, wie soll ich es dir bloß erklären? Diese ganze Welt ist ein Witz, den der liebe Gott sich selber erzählt. Und der liebe Gott ist vom selben Kaliber.«

Draußen gab es eine neue Detonation, diesmal so nahe, daß eine Fensterscheibe zersprang. Man konnte deutlich die Granatsplitter durch das Laub der Bäume zischen hören.

»Wissen Sie was, Wassili Iwanowitsch«, sagte ich, »wir sollten die Theorie begraben. Es wäre besser, sich etwas Praktisches zu überlegen.«

»Praktisch sag ich dir eins, Petka: Wenn du Angst hast, sind wir beide geliefert. Denn Angst zieht immer genau das an, wovor man sich fürchtet. Wenn du nichts fürchtest, bist du unsichtbar. Gleichmut ist die beste Tarnung. Geht dir alles am Arsch vorbei, wird keiner, der dir Böses wollte, noch an dich denken. Nur wenn du weiter so auf dem Stuhl herumrutschst wie jetzt, wirst du dich in fünf Minuten vor Webern nicht mehr retten können.«

Er hatte recht. Ich schämte mich meiner Nervosität, die angesichts seiner bemerkenswerten Ruhe um so kläglicher wirkte. Hatte ich mich nicht gerade erst geweigert, mit Kotowski abzureisen? Ich war noch hier, weil ich es so gewollt hatte, und es war dumm, die vielleicht letzten Minuten meines Lebens an Zweifel und Ängste zu vertun. Ich sah zu Tschapajew hinüber, und mir fiel ein, wie wenig ich immer noch über diesen Mann wußte.

»Nun sagen Sie doch mal, Tschapajew, wer sind Sie wirklich?«

»Du tätest besser daran, Petka, nach dir selber zu fragen. Dann erfährst du alles über mich. Sonst mußt du am Ende noch in einem fort ›ich, ich, ich!‹ schreien, so wie der Ganove aus deinem Traum. ›Ich‹ – was bedeutet das? Wer ist das? Sieh genau hin.«

»Das möchte ich schon gern, aber …«

»Das möchte ich schon gern, aber …«, äffte er mich nach. »Warum tust du es dann nicht? Warum lenkst ab auf ein ›das‹ und ein ›möchte‹ und ein ›schon‹ und ein ›gern‹ und ein ›aber‹?«

»Gut«, sagte ich. »Dann beantworten Sie mir meine Frage. Einfach und klar. Geht das?«

»Klar geht das. Locker!«

»Wer sind Sie, Tschapajew?«

»Weiß ich nicht.«

Zwei oder drei Kugeln pfiffen die Außenwände der Badestube entlang, daß die Späne flogen; unwillkürlich zog ich den Kopf ein. Hinter der Tür waren leise Stimmen zu hören – man schien zu beratschlagen. Tschapajew goß die beiden Gläser voll; ohne anzustoßen, tranken wir. Nach kurzem Zögern nahm ich mir eine Zwiebel vom Tisch.

»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen«, sagte ich und biß ab. »Aber die Frage ließe sich bestimmt auch anders beantworten?«

»Ließe sich machen.«

»Also, wer sind Sie, Wassili Iwanowitsch?«

»Ich?« fragte er zurück und sah mir in die Augen. »Ich bin das Licht, das sich in der Flasche da spiegelt!«

Das Licht, das seine Pupillen zurückwarfen, traf mich wie eine Ohrfeige. Es war der Moment, in dem, völlig überraschend für mich selbst, die Erleuchtung eintrat.

Der Schlag war so heftig, daß ich glaubte, eine Granate hätte in der Stube eingeschlagen. Einen Moment später hatte ich mich wieder im Griff. Es gab eigentlich nichts zu sagen. Es geschah aus Gewohnheit, daß mir mein Gedanke unverzüglich über die Lippen ging.

»Ich auch. Komisch, nicht wahr?« flüsterte ich.

»Und wer ist dann das?« fragte Tschapajew und wies mit dem Finger auf mich.

»Pustota«, sagte ich.

»Und das?«

Erzeigte auf sich.

»Tschapajew.«

»Prima! Und das?«

Er deutete mit einer Gebärde auf die Badestube, in der wir saßen.

»Das weiß ich nicht.«

Im selben Moment klirrte das Fenster, und eine Kugel pfiff herein, die zwischen uns stehende Flasche zersprang, ihr restlicher Inhalt spritzte uns ins Gesicht. Sekundenlang schauten wir einander schweigend an. Dann stand Tschapajew auf, ging zu der Bank, wo sein Rock lag, nahm den silbernen Stern ab und warf ihn mir quer durch den Raum zu.

Seine Bewegungen waren auf einmal außerordentlich flink und präzise; man mochte nicht glauben, daß es derselbe Mann war, der eben noch schwankend auf seinem Schemel gesessen und die Schnapsflasche angeglotzt hatte. Er nahm die Lampe vom Tisch, schraubte sie geschwind auf, ließ das Petroleum auf den Boden auslaufen und schleuderte den brennenden Docht hinterher. Das Petroleum flammte auf, kurze Zeit später auch der vergossene Schnaps. Die Stube wurde vom tristen Schein des sich ausbreitenden Feuers erhellt. Tiefe Schatten legten sich über Tschapajews Gesicht, das mir jetzt uralt vorkam – und dabei seltsam vertraut. Mit einem Ruck warf er den Tisch um, bückte sich und zog an einem Metallring im Fußboden, wodurch sich eine kleine, hölzerne Luke auftat.

»Gehen wir«, sagte er, »hier gibt es für uns nichts mehr zu tun.«

Stufen ertastend, begann ich in das dunkle, feuchte Loch hinabzusteigen. Etwa zwei Meter unter dem Dielenboden schien der Grund des Schachtes erreicht; ich fragte mich gerade, was wir dort unten anstellen sollten, als mein Fuß, mit dem ich nach der Wand des Schachtes tastete, ins Leere stieß. Tschapajew folgte so dicht, daß er mir mit dem Stiefel gegen den Kopf trat.

»Mach schon!« kommandierte er. »Schneller!«

Von der Stiege führte ein enger, niedriger, mit hölzernen Stempeln abgestützter Tunnel weg. Ich kroch vorwärts, ohne in der Finsternis etwas erkennen zu können. Da ein frischer Wind durch den Tunnel fegte, konnte der Ausgang nicht weit sein.

»Stopp!« flüsterte Tschapajew. »Wir müssen einen Moment warten.«

Er war etwa zwei Meter hinter mir. Ich setzte mich auf den Boden und lehnte mich mit dem Rücken gegen einen der Stützpfosten. Lärm drang von oben herab, Rufe, die man nicht verstand, nur einmal hörte ich deutlich Furmanows Stimme brüllen:

»Nicht da rein, Mann! Willst du dich abfackeln? Die sind da nicht mehr drin, sag ich dir! Habt ihr die Glatze geschnappt?«

Ich stellte mir diese Leute vor – umherirrend zwischen rauchgeschwängerten Phantomen, wie ihr kollektiv getrübter Verstand sie ihnen vorgaukelte –, und mir war auf einmal sehr zum Lachen.

»He, Wassili Iwanowitsch!« rief ich leise.

»Was ist?«

»Eins hab ich begriffen. Es gibt nur eine Freiheit – sie bedeutet, frei zu sein von allem, was der Geist ausheckt. Diese Freiheit trägt den Namen ›Weiß ich nicht‹. Sie haben hundertprozentig recht. Es gibt da so einen Satz, wissen Sie: Ein ausgesprochener Gedanke ist Lüge. Und ich sage Ihnen, Tschapajew, der unausgesprochene Gedanke ist genauso Lüge, denn in jedem Gedanken steckt schon etwas Ausgesprochenes.«

»Das hast du schön gesagt, Petka«, drang Tschapajews Stimme aus dem Dunkeln zu mir.

»Wo ich weiß, da hört die Freiheit auf«, sponn ich den Gedanken fort. »Nichts zu wissen macht vollends frei. Freiheit ist das größte Geheimnis von allen. Die da« – ich tippte gegen die niedrige Tunneldecke über mir – »wissen nicht, wie sehr sie von allem frei sind. Sie wissen nicht, wer sie wirklich sind. Die denken, haha«, ich bekam einen Lachkrampf, »die denken, sie sind Weber, hihi.«

»Still!« mahnte Tschapajew. »Lach nicht so laut, die könnten dich hören.«

»Das heißt, nein«, verbesserte ich mich, nach Luft schnappend, »sie denken nicht bloß, daß sie Weber sind, sie wissen es sogar!«

Tschapajew stieß mich mit dem Stiefel an.

»Vorwärts!« befahl er.

Ich atmete ein paarmal tief durch, um einen kühlen Kopf zu bekommen, und kroch weiter. Den Rest der Strecke legten wir schweigend zurück. Wohl seiner Enge wegen kam mir der Tunnel unglaublich lang vor. Feuchtigkeit stieg in die Nase, dazu ein vager Heugeruch, der sich mit der Zeit verstärkte. Endlich prallten meine ausgestrecken Hände gegen eine Wand. Ich stellte mich auf, streckte mich und stieß prompt mit dem Kopf schmerzhaft gegen Metall. Blind tastete ich um mich und kam zu der Vermutung, daß ich in einer niedrigen Grube stand, über der sich eine Eisenplatte befand. Zwischen Platte und Grubenrand war ein Abstand von ungefähr einem halben Meter, durch den ich mich nun hinauszwängte; er war mit Heu gefüllt, das ich einen, vielleicht zwei Meter weit vor mir herschob, bis ich auf ein großes Rad aus Vollgummi stieß. Mir dämmerte, wo ich mich befand: Es konnte sich nur um jenen Heuschober handeln, den der wortkarge Baschkire mit seiner Flinte so penetrant bewacht hatte – und nun wußte ich auch, wo Tschapajew seinen Panzerwagen stehen hatte. Einen Augenblick später stand ich neben dem Schober im Freien. An einer Seite war das Heu entfernt worden, so daß man die nietenbeschlagene Tür erkennen konnte, die nur angelehnt war.

Das Gutshaus stand in Flammen; der Anblick war so majestätisch und berückend wie jedes große Feuer. In fünfzig Metern Entfernung, zwischen den Bäumen, gab es noch ein kleineres – da brannte das Badehaus, in dem ich vorhin mit Tschapajew gesessen hatte. Ich meinte dort Leute zu sehen; es konnten aber genausogut die bizarren Schatten der Bäume sein, die zuckten, wenn der Wind in das Feuer blies. Wen oder was immer ich da sah – daß Menschen in der Nähe waren, bewiesen die Schüsse und das wüste Gebrüll. Wäre ich nicht im Bilde gewesen, was vor sich ging, hätte ich glauben müssen, daß zwei Milizen sich ein erbittertes nächtliches Gefecht lieferten.

Ganz in meiner Nähe raschelte es. Ich zog die Pistole.

»Ich bin's«, sagte Anna.

Sie war in Uniformbluse, Reithosen und Stiefeln. In der Hand hielt sie eine dieser stählernen Kurbeln, mit denen man Motoren anläßt.

»Na, Gott sei Dank«, sagte ich. »Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr mich Ihre Abwesenheit beunruhigt hat. Allein der Gedanke, dieser besoffene Plebs könnte …«

»Gehen Sie, schon wieder dieser Zwiebelgeruch«, unterbrach sie mich. »Wo ist Tschapajew?«

»Hier«, meldete sich Tschapajew und kam unter dem Panzerwagen hervorgekrochen.

»Warum hat es so lange gedauert?« fragte Anna. »Ich war schon ganz unruhig.«

»Pjotr war etwas schwer von Begriff«, erwiderte er. »Es gab einen Moment, da dachte ich, wir müßten dort versauern.«

»Und, hat er jetzt begriffen?«

Tschapajew sah mich an.

»Nichts hat er begriffen. Aber wie diese Ballerei losging …«

»Na, hören Sie mal, Tschapajew«, fuhr ich auf, doch er schnitt mir mit einer herrischen Geste das Wort ab.

»Ist alles in Ordnung?« fragte er Anna.

»Ja.«

Sie reichte ihm die Kurbel.

Tschapajew hatte wieder einmal recht. Da war in der Tat nichts, wovon man hätte behaupten können, daß ich es begriffen hatte.

Eilig räumte Tschapajew das Heu zur Seite, das den schrägen Bug des Panzerautos bedeckte, setzte die Kurbel in die Öffnung im Kühler und ließ den Zündmagneten einige Umdrehungen machen. Mit leisem, kraftvollem Tuckern sprang der Motor an.

Anna öffnete den Verschlag und verschwand im Inneren des Wagens; Tschapajew und ich folgten ihr nach. Tschapajew schlug die Tür zu, betätigte einen Schalter, und in einem nach all der unterirdischen Finsternis geradezu grellen Licht erkannte ich die Inneneinrichtung des Fahrzeugs wieder: die schmalen, lederbezogenen Pritschen, das an die Wand geschraubte Gemälde und den Tisch, auf dem ein aufgeschlagener Band Montesquieu und eine Schachtel »Ira« lagen. Anna stieg sofort das Wendeltreppchen hinauf in den Geschützturm und nahm in dem Drehstuhl Platz, wodurch sie von der Hüfte aufwärts nicht mehr zu sehen war.

»Ich bin soweit«, sagte sie. »Man sieht aber nichts. Das Heu!«

Tschapajew nahm die Sprechmuschel, die den Kontakt in die Fahrerkanzel herstellte (dort saß, wie ich vermutete, der Baschkire, den seine Gefährten heimlich Batu Khan nannten), und gab Anweisung:

»Den Schober durchstoßen. Paß bloß auf, daß du nicht mit dem Rad in die Grube rutschst.«

Der Motor heulte auf, man spürte ein kleines Beben unter den Füßen, das schwere Gefährt ruckte an und setzte einige Meter nach vorn. Von oben kam ein ratterndes Geräusch – ich hob den Kopf und sah, daß Anna an etwas drehte, was wie die Kurbel einer Kaffeemühle aussah, wodurch der Turm mitsamt ihrem Stuhl um die eigene Achse schwenkte. »So ist es besser«, sagte sie.

»Licht einschalten«, befahl Tschapajew in die Muschel. Ich preßte das Auge gegen den Spion in der Tür. Das Auto hatte, wie sich jetzt zeigte, rings um die Bordwand Scheinwerfer; und als sie angingen, konnte man meinen, die Festbeleuchtung eines Lustgartens wäre eingeschaltet worden.

Dieser Lustgarten sah allerdings merkwürdig aus. Das weiße Licht, das sich über die Bäume ergoß, überstrahlte den glutroten Schein des Brandes, so daß die tanzenden Schatten, die ich für Menschen gehalten hatte, verschwunden waren und man sich plötzlich sehr allein vorkam.

Doch hielt dieser Eindruck nicht lange vor. An den Rändern des Flutlichts tauchten nach und nach immer mehr Weber mit Gewehren auf, die, die Augen vor dem gleißenden Licht schirmend, stumm herübersahen. Bald schon zog sich um uns ein lebendiger, mit Gewehrkolben gespickter Ring. Gesprächsfetzen wurden hörbar:

»Da sind sie drin. Die entkommen uns nicht. Vielleicht sind sie schon weg? Steck die Granate weg, Blödmann, triffst noch die eignen Leute.«

Vereinzelte Schüsse wurden abgefeuert, die Kugeln prallten sirrend von der Bordwand ab. Einer der Scheinwerfer zersprang, was die Menge mit einträchtigem, begeistertem Geheul quittierte.

»Also«, sagte Tschapajew, »alles geht einmal zu Ende. Anna, fertig.«

Anna zog behutsam das Futteral vom Geschütz. Dicht neben dem Türspion schlug eine weitere Kugel ein, ich rückte vorsichtshalber etwas ab, in Richtung des Treppchens. Anna stand über ihr Gerät gebeugt, preßte den Kopf gegen das Visier, das Gesicht von einer Grimasse kalter Wut verzerrt.

»Feuer! Wasser! Erde! Kosmos! Luft!« brüllte Tschapajew.

Anna drehte schnell an ihrem Hebel, und der Turm begann sich leise knarrend zu drehen. Das Geschütz schwieg. Bestürzt sah ich Tschapajew an, er tat eine beschwichtigende Geste. Als der Turm sich einmal um sich selbst gedreht hatte, bremste er ab.

»Klemmt was?« fragte ich.

»Wieso«, erwiderte Tschapajew. »Das war's schon.«

Es war auffällig still geworden: keine Schüsse mehr, keine Stimmen. Nicht ein Ton drang mehr von draußen herein, nur das leise Brummen des Motors hatte wieder eingesetzt.

Anna kam herunter, setzte sich neben mich und steckte sich eine Zigarette an. Ich sah, daß ihre Finger zitterten.

»Das war das tönerne Maschinengewehr«, sagte Tschapajew. »Ich darf dir nun endlich erklären, worum es sich dabei handelt. Mit einem MG hat es eigentlich wenig zu tun. Die Sache ist die, daß vor vielen tausend Jahren, lange bevor Buddha Dipankara und Buddha Schakjamuni die Welt betraten, schon ein Buddha namens Anagama dagewesen ist. Er hat nie viel Worte gemacht, hat immer nur mit dem kleinen Finger seiner linken Hand auf die Dinge gezeigt, wodurch sich augenblicklich ihre wahre Natur offenbarte. Er zeigte auf einen Berg, und der Berg verschwand, er zeigte auf einen Fluß, und der Fluß war nicht mehr da. Es ist eine lange Geschichte – um es abzukürzen: Am Ende deutete er mit dem Finger auf sich selbst und ward nicht mehr gesehen. Übrig blieb nur dieser kleine Finger, den seine Schüler in einem Klumpen Lehm versteckten. Und das tönerne Maschinengewehr ist ebendieser Lehmklumpen mit Buddhas kleinem Finger darin. Vorzeiten lebte in Indien ein Mann, der es darauf abgesehen hatte, diesen Klumpen zur schrecklichsten Waffe auf Erden zu verwandeln. Doch kaum hatte er in den Lehm ein Loch gebohrt, zeigte der kleine Finger auf ihn, und er verschwand. Seither wurde der Finger in einer verriegelten Truhe aufbewahrt und von Ort zu Ort verschleppt, bis er schließlich in einem mongolischen Kloster landete. Durch eine Verkettung von Umständen fiel er zuletzt mir in die Hand. Ich habe ihn mit einem Stativ versehen und ihm den Namen tönernes Maschinengewehr gegeben. Soeben haben wir davon Gebrauch gemacht.«

Tschapajew stand auf, öffnete die Tür und sprang nach draußen. Ich hörte die Absätze seiner Stiefel auf den Boden knallen. Anna kletterte ihm nach. Ich aber saß immer noch auf meiner Bank und blickte auf die englische Landschaft vor mir an der Wand: den Fluß, die Brücke, den wolkigen Himmel und die verschwommenen Ruinen. Ist es möglich? dachte ich dabei. Kann es sein?

»Petka, willst du nicht rauskommen?« rief Tschapajew.

Ich erhob mich. Mit einem Schritt war ich draußen.

Wir standen auf festem, mit Heu bedecktem Boden in der Mitte eines kreisrunden Plateaus von vielleicht sieben Meter Durchmesser. Dahinter war nichts – nichts als ein ruhiges, dämmriges Licht, das schwer mit Worten zu beschreiben war. Hart am Rand des Plateaus lag die Hälfte eines Gewehrs mit aufgepflanztem Bajonett. Mir fiel sofort eine Szene aus Blocks »Schaubude« ein, und zwar die, wo der Harlekin aus dem Fenster springt, und das Fenster ist aus Papier und reißt mitsamt der darauf gemalten Ferne mittendurch, und in dem Riß erscheint ein leeres Grau. Ich blickte mich um. Der Panzerwagen stand hinter mir, sein Motor lief noch.

»Und warum ist dieses Inselchen übriggeblieben?«

»Es liegt im toten Winkel«, sagte Tschapajew. »Wie der Schatten vom Fuß einer Lampe. Alles, was jenseits dieser Plattform liegt, hat der kleine Finger erfaßt.«

Ich tat einen Schritt zur Seite und wurde von Tschapajew am Arm gepackt.

»Paß auf, wo du hintrittst. Du läufst ihm noch ins Visier.«

Er wandte sich zu Anna um.

»Komm! Bevor noch was passiert.«

Anna nickte und trat vorsichtig unter die Mündung des kurzen Geschützrohrs.

»Paß genau auf, Petka«, sagte Tschapajew.

Die brennende Papirossa zwischen den Zähnen, zog Anna einen kleinen, runden Taschenspiegel hervor. Sie hob ihn über den Kopf, genau vor den Lauf, und bevor ich begreifen konnte, was da passierte, war der Panzerwagen verschwunden. Es geschah so unerhört schnell und reibungslos, als hätte jemand eine Laterna magica ausgeschaltet und das Bild auf dem weißen Laken zum Erlöschen gebracht. Übrig blieben einzig vier nicht sehr deutliche Abdrücke von den Rädern, das Gras begann sich dort bereits wieder aufzurichten. Und die Stille war nun endgültig vollkommen.

»Das war's«, sagte Tschapajew. »Diese Welt ist hinüber.«

»Mist«, sagte ich, »wir haben die Zigaretten dagelassen. Und sagt mal, was ist mit dem Chauffeur?«

Tschapajew zuckte zusammen und sah erschrocken erst mich an und dann Anna.

»Verdammt«, sagte er, »den hab ich glatt vergessen. Anna, hättest du nicht daran denken können?«

Anna hob theatralisch die Hände. In dieser Geste war nicht der Funken eines aufrichtigen Gefühls. Zur Schauspielerin hat sie nicht das Zeug, dachte ich – trotz aller Schönheit.

»Ich kann mir nicht helfen«, sagte ich, »irgendwas ist hier faul. Wo ist der Chauffeur?«

»Tschapajew, ich halt das nicht mehr aus«, meinte Anna. »Macht das unter euch aus.«

Tschapajew seufzte und zwirbelte seinen Schnurrbart.

»Beruhige dich, Petka«, sagte er. »Es hat nie einen Chauffeur gegeben. Du weißt doch, da gibt's so Zettelchen mit einem magischen Stempel drauf, die werden hinter die Zähne gesteckt, und dann …«

»Ach«, sagte ich. Mir ging ein Licht auf.

»Sag doch gleich, daß es ein Golem war. Für ganz blöd mußt du mich nicht halten, weißt du? Der Mann ist mir von Anfang an komisch vorgekommen. Tschapajew, mit solchen Talenten hätten Sie in Petersburg Karriere machen können!«

»Was hab ich denn in Petersburg verloren?« fragte Tschapajew.

»Und was ist mit Kotowski?« fiel mir ein, und ich wurde wieder unruhig. »Hat's den auch erwischt?«

»Insofern er nie existiert hat, wäre diese Frage leicht zu beantworten«, sagte Tschapajew. »Doch falls dich sein Schicksal menschlich gesehen interessiert, kann ich dich beruhigen. Kotowski ist wie du und ich in der Lage, sich sein eignes Universum zu kreieren, glaub mir.«

»Werden wir darin vorkommen?«

Tschapajew dachte nach.

»Interessant. Auf die Frage wäre ich von allein nie gekommen. Ja, vielleicht kommen wir darin vor, aber in welcher Form, wage ich nicht zu sagen. Woher soll man wissen, was dieser Kotowski in seinem Paris für eine Welt ausheckt. Oder besser gesagt, was für ein Paris in seiner Welt.«

»Oje«, sagte ich, »jetzt wird's wieder sophistisch.«

Ich ließ ihn stehen und lief zum Rand des Plateaus. Das heißt, bis ganz nach vorn kam ich gar nicht – ein paar Meter von der Grenze des Kreises entfernt, drehte sich mir schon der Kopf, und ich mußte mich schnell auf den Boden setzen.

»Geht es Ihnen nicht gut?« fragte Anna.

»Mir geht es prächtig«, entgegnete ich. »Aber was machen wir nun? Ménage à trois??«

»Ach, Petka«, sagte Tschapajew, »wie oft soll ich es dir noch erklären. Form ist leer. Weißt du, was das heißt?«

»Was heißt das?«

»Das heißt, Leere ist Form. Mach die Augen zu. Mach sie wieder auf.«

Ich weiß nicht, wie ich die nächste Sekunde beschreiben soll.

Was ich vor mir sah, war ein in allen Farben des Regenbogens leuchtender, unermeßlich breiter Strom, der irgendwo im Unendlichen begann und sich im ebenso Unendlichen wieder verlor. So weit das Auge reichte, nichts als dieser Strom und wir als Insel mittendrin – und dennoch war es kein Ozean, sondern ein Fluß, es gab eine deutliche Strömung. Das Licht, mit dem er uns überschüttete, war sehr hell, jedoch nicht blendend oder sonstwie unangenehm, es war die reine Wohltat, das pure Glück, die unendliche Liebe – wobei diese von soviel Kunst und Literatur besudelten Worte doch nicht wiederzugeben vermögen, was es war. Es reichte, das unaufhörliche Spiel der Regenbogenfarben zu sehen, ihr Funkeln und Blitzen – jeder Gedanke, jeder Traum in mir war Teil des Stroms, ja, dieser schillernde Regenbogenstrom war all das, was ich zu denken und zu fühlen imstande war, all das, was sein oder nicht sein konnte – und er war, das wußte ich bestimmt, von mir nicht zu unterscheiden. Ich war er, nur er, seit eh und je.

»Was ist das?« fragte ich.

»Nichts«, gab Tschapajew zur Antwort.

»Nein, nicht so«, sagte ich. »Ich meine, wie es heißt.«

»Ganz verschieden. Mir gefällt, wie die Amerikaner es nennen: The Uncertain River of Absolute Love. Abgekürzt: Ural.

Mal sind wir es, mal nehmen wir Formen an, aber nichts davon ist wirklich da – wir nicht, der Ural nicht. ›Wir‹, ›Formen‹, ›Ural‹ ist darum alles, was sich sagen läßt.«

»Aber wozu tun wir das?«

Tschapajew hob die Schultern.

»Weiß ich nicht.«

»Und menschlich gesehen?«

»Man muß sich doch irgendwie beschäftigen in dieser Ewigkeit«, sagte er. »Also werden wir jetzt mal eben den Ural durchschwimmen, den es eigentlich gar nicht gibt. Sei kein Frosch, Petka, spring einfach rein!«

»Hab ich denn die Chance, wieder aufzutauchen?«

Tschapajew musterte mich von Kopf bis Fuß.

»Sieht ganz so aus«, sagte er. »Sonst stündest du ja nicht hier.«

»Und werde ich wieder derselbe sein?«

»Petka, ich bitte dich. Wieso denn nicht? Alles nur Mögliche steckt in dir!«

Er wollte weiterreden, doch Anna hatte ihre Papirossa zu Ende geraucht, die Kippe weggeworfen und sorgfältig ausgetreten – nun nahm sie Anlauf und sprang, ohne uns noch eines Blickes zu würdigen, in den Strom.

»So ist es richtig«, sagte Tschapajew. »Genau so. Wozu die ganze Schwätzerei.«

Mich im Blick behaltend, ein hinterhältiges Grinsen im Gesicht, begann er rückwärts auf den Rand des Plateaus zuzulaufen.

»Tschapajew, warten Sie«, sagte ich erschrocken, »Sie können mich doch nicht hier stehen lassen. Erklären Sie mir zumindest noch …«

Es war zu spät. Das Erdreich unter seinen Füßen fing an zu bröckeln, er verlor das Gleichgewicht, breitete im Fallen die Arme aus und stürzte rücklings in die regenbogenfarben schimmernden Fluten, die, ganz wie Wasser, kurz zur Seite schwappten, ehe sie sich im nächsten Moment über ihm schlossen. Ich war allein.

Eine Zeitlang starrte ich wie betäubt auf die Stelle, wo Tschapajew verschwunden war. Dann wurde mir auf einmal bewußt, wie schrecklich müde ich war. Ich scharrte das auf dem Plateau verstreute Heu zu einem Häufchen zusammen, legte mich hinein und sah zum unbeschreiblich hohen, unbeschreiblich grauen Himmel hinauf.

Plötzlich schwante mir etwas. Ob es sein konnte, daß ich schon immer hier lag, von allem Anfang an, und einen Traum nach dem anderen träumte, um zwischendurch aufzuwachen und zu sehen, ich liege immer noch auf meinem Inselchen am Ural? Und falls es so war: Hatte ich mein Leben dann nicht vergeudet? Verschleudert an die Kunst, die Literatur – fauler Zauber, ein Schwarm hektischer Mücken, der über dem letzten kläglichen Heuhaufen im Universum tanzte? Wer würde sie lesen, die Notate meiner Träume? Ich schaute hinaus auf die spiegelglatte Fläche des Ural, die sich nach allen Seiten im Unendlichen verlor. Stift, Notizbuch, Leser, die die aufs Papier gekritzelten Zeichen hätten verstehen können – sie waren nichts als regenbogenfarbene Fünkchen und Flämmchen, die auftauchten, verschwanden und wieder auftauchten. Sollte ich es so weit kommen lassen und ein neues Mal an diesem Ufer entschlafen?

Ohne noch länger zu überlegen, sprang ich auf, rannte los und warf mich in den Ural.

Ich spürte nicht viel. Er umgab mich einfach von allen Seiten, und darum gab es keine Seiten mehr. Ich erblickte den Ort, wo dieser Strom seinen Anfang nahm, und begriff, daß dies mein eigentliches Heim war. Wie eine vom Wind erfaßte Schneeflocke trieb ich auf diesen Punkt zu. Erst war meine Bewegung leicht und schwerelos, dann aber geschah Seltsames: Mir war, als würden Knie und Ellbogen von einem großen Reibungswiderstand zurückgehalten, der mein Fortkommen bremste. Mit dieser Verlangsamung einher schien auch das Leuchten ringsum allmählich abzunehmen, und in dem Moment, da ich gänzlich zum Stillstand kam, war alles Strahlen einem trüben Dämmerlicht gewichen, das, wie ich nun erkannte, von einer Deckenlampe herrührte.

Meine Hände und meine Füße waren an einen Sessel geschnallt, mein Kopf lag auf einem kleinkarierten Kissen.

Kanaschnikows feiste Lippen kamen auf mich zugeschwommen, senkten sich auf meine Stirn und verharrten dort in einem langen, feuchten Kuß.

»Das war die totale Katharsis«, sagte er. »Gratuliere.«